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Ähnlich wie im letzten Jahr gibt es auch dieses Jahr wieder eine bestimmte Anzahl an Punkten, die ihr den Texten geben könnt. Dabei ist zu beachten, dass ihr frei wählen könnt, wie genau ihr die Punkte verteilt und welche Texte mehr Punkte als andere bekommen. Achtet jedoch darauf, dass ihr die Punkte, die euch zur Verfügung stehen komplett ausschöpft. Votes, welche zu wenig oder zu viele Punkte enthalten können leider nicht gezählt werden. Des Weiteren solltet ihr eure Punkte mindestens auf drei Texte verteilen! Weitere Informationen findet ihr hier: Informationen zur Wettbewerbssaison 2012
Ihr könnt 6 Punkte verteilen
Der Vote läuft bis zum 22.09.2012 um 23:59 Uhr.
Abwesend blättere ich durch das alte Fotoalbum, welches ich zufällig beim Aufräumen zwischen einem Ordner mit meinen Grundschulzeugnissen und den Resten einer selbstgemachten Pappkeksdose, die ich meiner Mutter vor Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte, gefunden habe.
Die meisten Fotos sind Aufnahmen, von denen ich nicht einmal weiß, dass sie gemacht worden sind. Hin und wieder schwappt doch noch ein Erinnerungsfetzen verschwommen über mein inneres Auge, bringt ein entferntes Lachen oder den Duft eines längst vergessenen Ortes an mich heran. Doch viel wiederzuerkennen gibt es nicht, was mir ein melancholisches Seufzen entlockt. Es sind viele Bilder aus meiner – nun etwas länger zurückliegenden – Jugend versammelt, wahrscheinlich durch meine Mutter zusammengetragen. Meine Eltern, glücklich bei ihrer Hochzeit, mein Onkel beim Reparieren einer Wasserleitung, mein Bruder und ich, beide noch in Windeln, auf dem Sofa meines alten Heimes ein zahnloses Grinsen entblößend, welches eine ansteckende Wirkung auf mich beweist.
Mein Grinsen wird zu einem traurigen Lächeln, als ich die nächste Fotografie bemerke. Sie zeigt meinen Bruder und mich, wie wir uns gemeinsam mit zwei anderen Kindern einen Ball zuwerfen. Anscheinend ist er durch den Fotografen abgelenkt worden, denn ist der Moment eingefangen worden, kurz bevor der Ball meinem Bruder gegen den Kopf geknallt und er rücklinks auf dem Hosenboden gelandet ist. Früher haben wir oft mit dem Ball gespielt, egal, ob wir ihn uns zugeschossen oder gegenseitig mit ihm abgeworfen haben, verschiedenste, bunte Plastikkugeln haben uns durch Kindergarten und Grundschuljahre begleitet.
Einige Seiten später ist die Einschulung meines Bruders an die weiterführende Schule zu sehen, ein Foto, auf dem dreißig nervöse Gesichter ihren Käse in die Kamera rufen. Als Kind habe ich einigen dieser Gesichter die Schuld daran gegeben, dass der Ball uns nicht mehr durch den Alltag begleitet hat. Generell schien mein Bruder weniger Zeit für mich gehabt zu haben, er hat oft weggeschickt, um mehr Zeit mit seinen „neuen Freunden“ zu verbringen. Auch auf den Aufnahmen erscheine ich nun immer seltener, allerdings werden die Bilder auch immer abwechslungsreicher.
Konsolenspielabende. Mein Bruder und sein neuer bester Freund, die über den Mathehausaufgaben brüten. Eine Wasserschlacht unter Jungen im Hochsommer. Ich glaube, zu der Zeit meine eigene gemacht zu haben, mit meinen neuen Freundinnen, die ich ebenfalls kurz nach meinem Aufstieg an die weiterführende Schule kennengelernt habe. Vor diesem Aufstieg ist auch die Anzahl meiner Versuche, an die Seite meines Bruders zu kommen, abgefallen. Zuerst habe ich ihn bei jedem seiner Treffen mit seinen Freunden gestört, habe dazugehören wollen. Später nur noch bei jedem dritten. Kurz vor meinem Wechsel überhaupt nicht mehr und nach meinem Wechsel habe ich meine eigenen Nachmittage mit Freundinnen organisiert. Immerhin hatte ich auf der Grundschule nur wirklich wenige enge Freunde gehabt, da mir mein Bruder gereicht hatte. Mit ihm Ballzuspielen war mal das schönste auf der Welt gewesen, nun ist es nichts mehr als ein zerknittertes Foto und eine verblasste Erinnerung.
Irgendwie haben wir uns auseinandergelebt. Jedes Jahr etwas mehr, unscheinbar, unmerklich, aber doch weiter, was mir leider erst viel zu spät bewusst geworden ist. Ich habe schließlich meine eigenen Freunde gehabt, meine eigenen Interessen, einen anderen Terminkalender. Mehrfach habe ich meinen Bruder nur noch zum Abendessen angetroffen, und wenn dies passiert ist, haben wir nie über mehr als die banalsten Belanglosigkeiten gesprochen. Diese und jene Hausaufgabe, diesen Lehrer, jenes Fußballmatch. Selbst das Wetter ist zum Thema geworden. Das langweiligste Thema der Welt.
Ich erwarte, dass sich die Geschichte des Albums derartig fortsetzt, erlebe jedoch auf der nächsten Seite eine Überraschung. Sämtliche Fotos der Doppelseite zeigen ein Mädchen mit karamellfarbenem Haar, wobei sie von Bild zu Bild näher an den Betrachter heranzukommen scheint. Anfangs geht sie beinahe unter, eine Aufnahme vom Schulfest zeigt sie in den Schülermassen ertrinkend. Nach und nach verändert sich ihr Lächeln, als würde sie nur für den diesen glücklichen Moment in die Linse blicken, und beim genaueren Betrachten fällt auf, dass es ein besonderes Geschenk an den Fotografen sein muss. Die Erkenntnis trifft mich wie ein Stich in die Brust. Mein Bruder. Seine Freundin.
Seine Frau.
Tatsächlich ist mein Bruder beinahe mit der Schule fertig gewesen, bevor er sie kennengelernt hat, doch anscheinend hat er bereits vorher ein Auge auf sie geworfen. Mir ist ihre Existenz erst klargeworden, nachdem ich die beiden zufällig Arm in Arm im Park erwischt hatte. Allerdings habe ich mich bedeckt gehalten und das augenscheinlich frischverliebte Pärchen nicht gestört, habe sie lieber von weitem mit gemischten Gefühlen beobachtet. Doch erst, nachdem ich sie noch einige weitere Male, natürlich zufällig, zusammen entdeckt hatte, sind mir einige Dinge klargeworden. Ich war etwas Eifersüchtig auf dieses Mädchen gewesen, welches unbeschwert, unbegrenzt viel Zeit mit meinem Bruder hat verbringen können, ohne sich mit ihm über das Wetter zu unterhalten. Ich hatte mich mit der Zeit von meinem Bruder getrennt, war meinen eigenen Weg beschritten, und er hatte dies auch getan. Doch so sehr ich mir dann doch in manchen Momentan gewünscht habe, er würde wiederkommen, mit mir Ballspielen, etwas mit mir Unternehmen, meinetwegen auch über sie sprechen, er kam nicht. Natürlich nicht. Er hat sein Leben gehabt. Ich meines.
Ich hätte ja kommen können. Ich hätte zu ihm gehen können, ihn auf sie ansprechen können, ihn zu einem kleinen Ballspiel einladen können. Wie in den guten, alten Zeiten.
Doch mit seinem Abschlussfoto sind die guten, alten Zeiten vergangen.
Was allerdings nicht bedeutet, dass die neuen Zeiten weniger gut gewesen sind. Seinem Abschlussfoto folgen Bilder an einer neuen Arbeitsstelle, beim Kofferpacken, Bilder von ihr, glücklich in seinen Armen. Gegen alle Erwartung sind sie auch nach ihrem Schulabschluss zusammengeblieben.
Im Album kann ich es zwar nicht entdecken, doch mein Abitur habe ich ein Jahr später gemacht. Und auch mein Lebensfluss ist weitergeflossen. Studium, Ausbildung, Arbeit. Warum meine Mutter diese Momente nicht ebenfalls festgehalten hat, ist mir ein Rätsel. Oder ist dies doch ein Album meines Bruders?
Dieser Gedanke trifft mich unerwartet. Und jetzt fällt mir nicht nur auf, dass wir weniger Zeit miteinander verbracht haben, sondern auch, dass wir uns ebenfalls verändert haben. Ich hätte ihn damals nie als jemanden eingeschätzt, der liebevoll ein Fotoalbum zusammengebastelt hätte. Wir haben uns voneinander entfremdet, waren von Geschwistern zu Freunden zu Bekannten zu Fremden geworden.
Ich frage mich, ob ihm dies auch aufgefallen ist. Denn das nächste Mal, dass wir uns nach seinem Auszug aus dem Haus unserer Eltern wiedergesehen haben, ist seine Hochzeit mit ihr gewesen.
Und da sind auch schon die dazugehörigen Fotos: Das Paar zusammen, noch einmal und hier schon wieder, die gigantische, sahnige Torte, Familienfotos. Ich habe gelächelt. Mich für die beiden gefreut. Sie ist ja auch ein freundliches Mädchen gewesen, allerdings mit einer unheimlich kratzigen Stimme. Sie hat nichts dafür gekonnt, dennoch bin ich bei unserer ersten „offiziellen“ Begegnung in schallendes Gelächter ausgebrochen, wofür ich mich bis heute noch etwas schäme. Vielleicht hätten wir uns ja angefreundet, wäre ich freundlicher gewesen? Vielleicht hätte ich ihn dann noch öfter zu Gesicht bekommen. Doch er ist irgendwie aus meinem Leben verschwunden. Ich habe nur noch sehr selten an ihn gedacht, bin mit meinem eigenen Ehemann glücklich gewesen. Hochzeitsfotos diesbezüglich finde ich übrigens keine in dem Album, was mir die letzten Zweifel an den Besitzer des Buches nimmt.
Es tauchen immer mehr Bilder aus dem Alltag meines Bruders auf, der meinem sogar etwas geähnelt hat. Grillen, Skiurlaub, Arbeitsplatz. Danach sein Sohn. Glück, Friede, Alltag. Der Sohn wird immer älter, sieht meinem Bruder von Bild zu Bild ähnlicher.
Für eine Weile verliere ich mich in den Bildern, versuche mir die Geschichte hinter ihnen vorzustellen. Doch plötzlich endet das Album, und das letzte Bild zeigt sie, in einem geblümten Sommerkleid, einen rosaroten Plastikball in der Hand, anscheinend mit ihrem Sohn beim Picknick auf einer Wiese. Und ich erkenne die Wiese, es ist der Ort, an dem ich die beiden zum ersten Mal zusammen erblickt habe. Und mit einem Mal schmerzen diese Erinnerungen, denn nun weiß ich, wessen Geschichte mein Bruder versucht hat darzustellen. Ihre Geschichte ist mit dem letzten Bild geendet.
Ihre Beerdigung ist selbst für mich schrecklich gewesen, obwohl ich sie nicht einmal so gut gekannt habe. Doch für meinen Bruder muss sie der Horror gewesen sein, und ich wünsche, ich hätte ihm damals länger beigestanden. Ich hätte ihn bei uns einziehen lassen sollen. Hätte ihn ablenken sollen.
Vielleicht wäre er ihr dann nicht ein Jahr später gefolgt.
Ich klappe das Fotoalbum zu und starre den Umschlag an. Meine Augen machen kaum noch die Konturen aus, als sie sich mit Tränen füllen. Schweigend weine ich vor mich hin, bis der Sohn meines Bruders – nun mein Sohn – zur Tür hereinkommt. Und mit ihm eine weitere Erkenntnis.
Die Geschichte meines Bruders ist geschrieben worden.
Doch er hat ein Nachwort hinterlassen.
„Möchtest du mit mir Ball spielen?“
„Ich sehe dich dort draußen im Wind.
Anfangs führt die Schnur des Lebens dich sanft durch die starken Winde, lässt dich tanzen und freudig hüpfen, hält dich fern von den irdischen Gewittern und holt dich auf den Boden, wenn du zu hoch fliegst. Du wirst deine Grenzen testen und doch immer wieder zurückgehalten werden von drohendem Übel. An manchen Tagen dreht sich die Spule schnell und du hast das Gefühl, du könntest jedes weit entfernte Ziel erreichen. Die, die dich steuern freuen sich mit jedem Stück, das du höher das Blau des Himmels erklimmst, bis die Sonne dir gefährlich wird und droht dich auszubleichen. Und sie sind es, die dich schnell auf den Boden zurückholen. Wütend wirst du hierhin und dahin zucken, da du selbst doch am besten weißt, wohin du willst, aber du hast dich ihrem Willen zu biegen.
Du alterst und lernst andere kennen. Steigst und fällst mit ihnen zusammen. Eure Schnüre kreuzen und verknoten sich für eine Weile, doch meist werden sie von starkem Wind oder deinen Steuerern wieder entwirrt, bevor du ganz abstürzt. Mit der Zeit passieren die Unfälle und hier und da bist du nicht mehr neu, doch an dir hängen Erinnerungen und Gefühle, niemals bist du nur ein Objekt.
Die Sanduhr rast und die Schnur wird porös. Oft wird sie reißen und immer wieder sorgsam zusammengefügt werden. Es hinterlässt seine Knoten, doch diese machen dich stärker und lassen dich nie vergessen, was geschah. Und eines Tages ist es so weit. Du bist bereit und machst dich los um getragen vom Wind nicht mehr zu ihnen zurückzukehren. Sie werden weinen, dich vermissen und an dich denken, aber du hast deine eigenen Strecken zu fliegen und kannst dich nicht länger kontrollieren lassen. Du verfängst dich und stürzt ab, doch jemand ist oft da und hilft dir, vielleicht flickt er die Löcher, die deine Misserfolge hinterlassen haben und behält dich eine Weile für sich. Doch irgendwann wirst du erneut verschwinden, deine Schnüre mit anderen kreuzen und glücklich sein. Du weißt, das Leben in der Höhe ist gefährlich, doch du machst weiter und willst immer mehr.
Bis du eines Tages abstürzt und keiner da ist um dir aufzuhelfen.
Drache, eigentlich bist du nur wie ich …“
Leise und mit vibrierenden Lippen las Eliza die Zeilen aus dem Handbuch für Drachenflieger. Keine Lampe war an, nur die dämmernde Abendsonne sah zum kleinen Fenster hinein und winkte ihr mit ihrem Licht zu, sodass sie langsam Schwierigkeiten beim Entziffern der Wörter bekam. Und doch wirkte alles leicht golden in diesem Augenblick. Der schwache Schein der Sonne, der Apfelbaum vor dem Fenster, der schon Generationen überdauert hatte, samt seinen herbstlichen Blättern und das viele Holz in ihrem gemütlichen Zimmer. Sie war müde, aber dennoch hievte sie ihre nackten Füße aus ihrem Bett und ließ sie mit einem uneleganten, klatschenden Geräusch auf den Boden fallen um schwerfällig aufzustehen. Ihre Tür war nur angelehnt und das kleine Mädchen huschte lautlos durch den Spalt zur Treppe hin. Pete, ihr Dackel stand mit aufgerichtetem Schwanz auf dem Wohnzimmerteppich und ließ sie keine Sekunde aus den Augen, als sie vorsichtig an der Garderobe hantierte und ihren kleinen, roten Mantel suchte.
„Sei still, Pete“, formten ihre zarten Lippen, als sie die Haustür öffnete und ihre Ballen einen nach dem anderen auf dem kühlen Backstein unter ihr absetzte. Nachdem sie die Tür hinter sich zugezogen hatte, eilte sie zur Garage und warf sich in eine staubige Kiste, wild umherwühlend, die Beine schon beinahe steil zur Decke aufragend. Dann hatte sie ihn gefunden. McFly, ihren treuen Drachen, den sie einst von ihrer Großmutter bekommen hatte. Uralt war er und nicht so bunt und groß und ausgefallen geformt wie die neueren Modelle. Aber Eliza liebte diesen Drachen, da an ihm Erinnerungen hingen und er schon so lange in dieser Familie war. Dieser Drache hatte vor langer Zeit einmal im Krieg einem Menschen das Leben gerettet, indem er als Ablenkung für den Soldaten diente, den ihre Großmutter geliebt hatte. Er nahm ihn mit nach Hause und als er seine spätere Frau kennenlernte waren sie es, die täglich auf den Hügel in der Nähe des Bauernhaus kauften, indem sie geboren worden war und ihn immer wieder steigen ließen. Und nach dem Tod ihrer Großmutter war es Eliza, die auf den Hügel stieg und zusammen mit ihren Großvater den Drachen besonders hoch steuerte, als letztes Abschiedsgeschenk für die faszinierende Frau, die ihre Oma für sie dargestellt hatte. Sie hatte ihn ihr kurz vor ihrem Tod geschenkt, da der Mann ohne die Verbindung zu seiner Frau kaum noch Gefallen an dem Windtänzer fand und ihn mehr und mehr an die Schrecken des Krieges erinnerte. Erneut ging sie den sandigen Weg und lauschte dem Flüstern des Windes im Gras, der ihr versprach, ihren Freund heute besonders hoch zu tragen. Es war wirklich sehr windig und hatte sich im Verlaufe des Abends immer weiter zugezogen, aber Eliza hatte keine Angst. Sie war die beste Drachenlenkerin des Dorfs, zudem der Hügel auf dem sie lebten gehörte. Schneller und schneller lief sie, weit war es nicht mehr bis zur höchsten Stelle und noch während des Laufens hob sich der Drache empor, stieg tänzelnd in den Himmel und wurde eins mit seiner Umgebung. Auf dem Gesicht des Mädchens lag ein Ausdruck so reiner, kindlicher und unschuldiger Freude, dass wohl kein Betrachter jemals das Bild, das sich ihm bot, zerstört hätte.
Doch dann schien der Himmel weißer und weißer zu werden. Eliza kniff die Augen zusammen und sah dennoch nur verschwommen. Ein unangenehmes Piepen begann und alles schien sich um sie zu drehen. Die alte Frau wachte auf. Schwach richtete sie sich ein wenig auf und betrachtete unglücklich die Schläuche, die aus ihrer Hand ragten und die vielen, ihre letzten Monate erleichternden technischen Hilfsmittel im Zimmer ihres Altersheims. Über 70 Jahre war sie alt und viel erlebt, das hatte sie in der Zeit. McFly war schon lange nur noch ein Bild in ihrem imaginären Album, denn nur wenige Wochen vor ihrem 14. Geburtstag war sie es, die an einem windigen Tag zu übermütig wurde und die Schnur reißen ließ. Die Wunde war nie verheilt, da sie den letzten lebendigen Teil ihrer Großmutter nicht beschützt hatte und er von immer von ihr gegangen war. Aber auch sie selbst unterschied sich wenig von seinem Schicksal. Sie lernte ihren Mann kennen und heiratete, bekam jedoch keine Kinder und verfiel nach seinem Autounfall dem Alkohol. Erst spät kam man ihr zur Hilfe, doch die Versuchung blieb ständig da und zerfraß ihre Seele, nahm sie ein und wurde ihr ein Leben lang zur Last. Und in all diesen Situationen hatte sie das Handbuch für Drachenflieger zur Hand genommen und die umgeknickte Seiten aufgeschlagen, ihre Hand über die leicht gelblichen Seiten fahren lassen, wellig von ausgeschütteten Getränken und hier und da leicht zerrissen. Oft las sie die Einleitung und starrte an eine Wand, saß alleine auf einem Sofa.
Rasselnd ging ihr Atem und ihr Brustbein schmerzte, als sie sich wieder hinlegte, die faltigen Hände umfassten sich tief unter der schweren Decke. Man hatte das Buch weggeworfen. Entsorgt, als sie hierher kam, in ihr lebendiges Grab, wo doch in Wirklichkeit alle nur auf ihr Ableben warteten, um einen neuen Platz freigeben zu können, vielleicht für einen gesprächigeren und offeneren Anwärter als sie es hier je war. Tränen stiegen in die müden Augen der alten Frau und die Decke, die ihren abgemagerten Körper bedeckte schien mit einem Mal schwerer denn je. Das Piepen des Geräts verwandelte sich in einen monotonen kreischenden Klang, als sie endlich ihre Ruhe fand und ihre Großmutter sie in Empfang nahm.
Schicksal. Das Leben als eine Abfolge vorbestimmter Ereignisse.
Ich hatte nie daran geglaubt. Und auch an diesem Tag wollte ich es nicht realisieren. Jenem Zeitpunkt, an dem der wundervollste Abschnitt meines Lebens plötzlich endete und die Einsamkeit begann mich langsam zu zerfressen.
Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne drangen durch das dichte Blätterwerk und tauchten das hölzerne Kreuz in ein goldenes Licht. Einen wunderschönen Anblick, den ich fast nicht mehr ertragen konnte. Und dennoch zog es mich an diesen Ort. Diesen unscheinbaren Platz, an dem ich schon so viele Stunden meines Lebens verbracht hatte. Hier, im Schatten der nun schon gewaltigen Eiche hatte alles begonnen und hier sollte es auch für mich irgendwann enden. Krampfhaft versuchte ich wie jedes Mal die bitteren Tränen zu unterdrücken. Mich von der schmerzenden Wahrheit zu verschließen und nur die schönen Erinnerungen an diesen Ort lebendig werden zu lassen. Nichts war mir mehr geblieben, außer diesen und so schloss ich gedankenversunken die Augen und fand mich wieder. In der wunderbaren Vergangenheit.
Ein lauer Frühlingswind strich über die bunte Blumenwiese und ließ sie wie ein gewaltiges Meer aus Farben erscheinen. Und auch der riesige Papierdrachen ließ sich von der Naturgewalt treiben. Majestätisch gleitete er durch die Lüfte. Wirbelte umher bis er schließlich langsam an Höhe verlor. Lachend war ich ihm dann immer entgegengerannt und hatte ihn mit ausgestreckten Armen empfangen.
Warmherzige Umarmungen. Bedingungslose Hingabe zu der wundervollsten Person auf der Erde. Auch das war hier geschehen. Nie werde ich diesen wundervollen Sommertag vergessen. Den wahrscheinlichen schönsten Tag in meinem Leben. Noch immer konnte ich die Worte hören. Ihre zarte Haut spüren. Eng umschlungen hatten wir uns im kühlen Schatten des damals noch recht jungen Baumes unsere ewige und bedingungslose Liebe gestanden. Ein Versprechen, das zumindest auf physischer Ebene, viel zu schnell gebrochen wurde. Erneut erschienen die grausamen Bilder ihres blutüberlaufenen Körpers vor meinen Augen und augenblicklich erfüllte mich ein qualvolles Schluchzen. Wieder hatte mich die Realität eingeholt. Und wieder musste ich versuchen nach vorn zu blicken. Die Vergangenheit hinter mir zu lassen.
Irgendwie würde es schon weitergehen.
Irgendwann.
Tage wurden zu Wochen. Monate zu Jahren und trotzdem floss die Zeit zu schnell. Mehrere Stunden verbrachte ich täglich an meiner kleinen Zuflucht, die immer stärker von Dunkelheit überzogen wurde. Aber nicht nur der Baum erfuhr diesen langsamen Zerfall, auch ich spürte die Schwäche in mir. Ahnte meinen bevorstehenden Tod. Doch es störte mich nicht. Die Aussicht auf eine sorgenfreie Zukunft und die ewige Verbundenheit mit der Person, die ich immer liebte, ließen mich optimistisch auf das nahende Ende blicken.
Bald schon würde es soweit sein. Und das Vergangene würde als Fundament für etwas Neues dienen. Einem anderen Leben mit Höhen und Tiefen. Geprägt durch das Schicksal.
Im ewig währenden Kreislauf der allmächtigen Zeit.
In dieser Nacht der fallenden Sterne kamen zwei zur Erde hernieder.
Sie tanzten wohl unbeschwert und gerne, spielten im Mondlicht ihre Lieder.
So wie das Leben mit uns umgeht, so sehr verstrickt sich auch das Schicksal in unseren Taten und Worten. Dabei hat es doch so viele verschiedene Facetten, die mit bloßem Auge kaum zu erkennen sind. Vieles findet sich versteckt wieder und muss erst entdeckt werden, doch wer ist schon mutig genug, um diese Geheimnisse zu entdecken? Vielleicht bist es du, vielleicht bin es ja auch ich, aber genau sagen kann das niemand. Das Leben ist nämlich zu komplex, als dass es auch nur ein Individuum in all seinen Ausweitungen aufnehmen und verstehen könnte.
Die Zeit ist ein Teil dieses Lebens. So wertvoll sie auch ist, so leicht entgleitet sie unseren Händen und Herzen, sodass nur eine Leere innerhalb dieser Spanne zurückbleibt, die man anders hätte füllen können. Hieß es nicht, man solle Spaß haben und die glücklichen Momente so lange auskosten, wie sie andauern? Macht das einen Sinn, sich über so wenige Augenblicke zu freuen, nur um später doch enttäuscht zu werden? Was denkst du?
… Verstehe. Deine Meinung deckt sich also mit meiner. Dennoch sollte man dabei die andere Seite nicht vergessen, denn nur mit der zweiten Hälfte ergibt sich ein Ganzes.
Sowohl Menschen als auch Pflanzen werden durch diese Kraft angetrieben. Sie lernen dabei zu leben, zu lernen und sich selbst zu akzeptieren, so wie es sein soll. Und nicht nur das; jedes Wesen ist imstande, Liebe zu empfinden, zu teilen und weiterzugeben an seine Nächsten. Insofern gesehen hat die Zeit auch ihre guten Seiten.
Ich sehe sie vor meinen Augen. Bilder, die sich in mein Gedächtnis gebrannt haben; die Erinnerungen eines dieser Wesen. Wie unbeschwert dieser Junge doch damals lebte, da er als Kind gar unschuldig durch die Welt schritt und nicht wusste, was ihn erwarten würde. Ich beneide ihn um seine Freiheit und die Menge an Erlebnissen, die noch in der Zukunft auf ihn warten sollten. Der Anfang ist eben doch meist das Schönste, nicht wahr?
Doch was passiert nun? Es ist, als würde sich das Bild in Bewegung setzen, wie im Zeitraffer vorspulen. Der Junge ist mittlerweile kein Kind mehr und trotz seines noch jungen Alters ist er bereits erwachsen geworden. Was er wohl schon erlebt haben mag? Das vermag ich nicht zu beantworten, doch er scheint einen besonderen Sinn in seinem Leben gefunden zu haben. Ein Mädchen schenkt ihm Beachtung und teilt seine Gefühle, so wie er es mit den ihren gleich tut. Ist das jene Empfindung, mit der man sich gegenseitig Treue schwört und nie voneinander loslassen möchte? Dieses unendliche Befinden, von dem gesagt wird, dass es so schwer zu greifen und begreifen sei?
Ja.
Das ist die Liebe. Egal, in welchem Alter man ist, irgendwann entdeckt man den Menschen, den man nie mehr missen möchte und mit dem die Zeit keine Daseinsberechtigung mehr hat. Alle Aufmerksamkeit gilt nur ihm; diesem einen Individuum, welches ihm direkt gegenüber steht und tief in die Augen sieht. Als könnte es bis auf den Grund der Seele blicken und die tiefsten Ängste und Gefühle erkennen.
Plötzlich überfällt mich der Schwindel und ich weiß nicht, wie mir geschieht. Warum gerade in diesem Augenblick? Habe ich etwas gesehen, was ich nicht mehr hätte erblicken dürfen oder war es einfach eine Nebenwirkung der vielen Anstrengung?
Ohne weiteres Zutun bewegt sich nun auch dieses herzerwärmende Bild weiter und schreitet in der Zeit fort, welche nun wieder eine Gestalt zugeteilt bekommen hat. So unbarmherzig sie ist, so erschreckend zeigt sich auch die nächste Empfindung und mir ist, als würde mir die Kehle zugeschnürt werden.
Der Junge steht wieder alleine an diesem Platz, bewegt dabei - so hat es den Anschein - keinen einzigen Muskel, doch innerlich weint er bittere Verzweiflung. Seine Tränen sind getrocknet, der Schmerz jedoch ist nach wie vor aus seinen Gesichtszügen herauszulesen. In diesem Moment, in dem er auf das Kreuz blickt und sich fragt, was das alles bedeutet. In dieser Sekunde, in der ihm abermals bewusst wird, dass seine Freundin nie mehr neben ihm stehen und ihn umarmen will; nie mehr ihre Liebe zeigen kann; nie mehr einen Atemzug holen darf.
Die Zeit; sie handelt nicht von sich aus, sondern geht nur ihrer Bedeutung nach. Sie vergeht. Stunde um Stunde. Minute um Minute. Und ebenso Sekunde um Sekunde. Egal, in welcher Einheit man misst, sie wird immer weiter wandern auf diesem endlosen Pfad. Mit ihr die vielen Wesen dieser Welt, die an sie gebunden sind.
Was macht in diesem Moment das Leben aus? Wenn alle Hoffnung dahinscheidet und einem unerfüllten Schrei nach einer neuen Chance nicht nachgegeben wird, fühlt man sich allein gelassen.
Möchtest du mir erzählen, wie du dich in solch einem Moment fühlen würdest? In dem dir bewusst wird, dass dich deine Liebsten verlassen haben und du alleine auf dieser Welt bist?
…
…
Ist das so? Entschuldige, dass ich gefragt habe; das hätte ich nicht verlangen dürfen. Aber wir fühlen wohl ähnlich, wenn ich unsere Ansichten vergleiche.
Einmal dreht sich das Rad der Zeit noch weiter. Eine klare Sternennacht durchflutet jenes neue Bild und mir ist, als würde ich in einen unendlichen Raum sehen. Woher kommt nur diese seltsame Illusion oder spielen mir die Augen einen Streich? Auf unbestimmte Weise fühle ich mich an eine vergangene Begebenheit erinnert, doch mir möchte nicht einfallen, ob sie von Bedeutung ist. So oder so erkenne ich hier jedoch kein Leben mehr. Der Junge ist fort, er hat sich seiner Liebsten angeschlossen und ist nun auf ewig mit ihr zusammen. Doch es ist nicht das, was ich gesucht habe.
Das Leben endet und damit verliert auch die Zeit wieder ihre Bedeutung. Alles ist endlich, doch vielleicht gibt es auch das Unendliche. Dieses zu finden ist schwer, doch mit ihm lernte ich eine weitere prägende Facette kennen. Das Gefühl der Zweisamkeit in dieser Einsamkeit.
In dieser Nacht der fallenden Sterne kamen zwei zur Erde hernieder.
Meine Gefühle gab ich ihr gerne, doch Hoffnung fand man hier nicht wieder.
Ich liebe dich, Hikaru.
Manchmal kommt es mir so vor, als wäre es erst gestern gewesen, dass ich zu meinem zehnten Geburtstag den Drachen bekam, den ich mir so sehr gewünscht hatte. Meine Eltern sagten mir, dass der Frühling nicht die richtige Jahreszeit ist, um einen Drachen steigen zu lassen, aber das war mir egal, natürlich musste ich mit ihm gleich zu der Wiese gehen, auf der der kleine Baum wuchs (ich weiß bis heute nicht, was für ein Baum das eigentlich ist). Das war mein Lieblingsplatz und ich ging oft hin, wenn ich allein war. Und ich hatte Glück, es war ein windiger Tag und der Drachen stieg schon beim ersten Versuch in die Luft. Ich bewunderte ihn wohl mindestens eine halbe Stunde lang, beobachtete die Vögel, die an ihm vorbei flogen und sah immer wieder fasziniert auf meinen Drachen. So merkte ich gar nicht, dass der böige Wind schon fast zu einem leichten Sturm geworden war. Die Sehne war straff gespannt und der Drachen stand mittlerweile fast senkrecht über mir. Plötzlich geschah es: ein kurzes, lautes zzzingg und die Sehne war gerissen. Der Drachen wirbelte wie wild geworden durch die Luft. Immer höher und gleichzeitig weg von mir, kurz darauf war er ganz verschwunden und ich plötzlich der traurigste Mensch der Welt. Ich ging nach Hause, der Tag, der so schön gewesen war, war für mich gelaufen.
Die Zeit verging, ich wollte an meinem nächsten Geburtstag keinen Drachen (ich wünschte mir einen Game Boy, der konnte wenigstens nicht abhauen), aber ich ging trotzdem immer wieder zu der Wiese mit dem kleinen Baum, der bald schon nicht mehr so klein war. Einerseits immer in der Hoffnung, vielleicht doch irgendwo meinen Drachen zu entdecken, andererseits, weil ich immer noch gern dort war.
Selbst Jahre später, als ich meine erste (und einzige) Freundin hatte, ging ich mit ihr zusammen dorthin und erzählte ihr im Schatten des Baumes von meinem Drachen. Ich glaube, dass ich die Geschichte ziemlich oft erzählt habe aber sie hörte sie sich immer wieder an, ohne sich darüber zu beschweren. So wurde im Laufe der Zeit aus meinem Platz unserer. Im Sommer vor unserer Hochzeit beschlossen wir, dort einen neuen kleinen Baum zu pflanzen, nur für uns. Ich dachte noch, dass das nicht die beste Jahreszeit dafür wäre, zumal dieser Sommer ziemlich warm war. Doch wir hatten Glück, denn wir hatten den letzten schönen Tag erwischt, danach regnete es fast nur noch, gut für unser Bäumchen.
Jetzt ist Herbst, ich stehe wieder einmal hier und denke an die schöne Zeit zurück, die wir gemeinsam verbrachten. Vorige Woche starb meine Frau nach einer schweren aber glücklicherweise nur kurzen Krankheit. Und so wie der heutige Tag sich dem Ende neigt denke ich, dass ich ihr wohl bald folgen werde. Nein, nein, ich mache keinen Unfug oder so was, keine Angst, aber ich bin nun schon alt und man spürt es eben, wenn das Aufstehen jeden Tag schwerer fällt, man kaum noch Appetit hat und auch sonst nicht weiß, wozu das ganze noch. Manchmal, so wie heute, denke ich sogar noch an meinen Drachen. Wo mag er wohl gelandet sein? Was hat er auf seiner Reise gesehen, was könnte er wohl alles erzählen? Eigentlich weiß ich, dass er sicherlich irgendwo in der Nähe auf einem Feld abgestürzt oder in einem der zahlreichen Teiche untergegangen ist. Ich glaube mich zu erinnern einmal gehört zu haben, dass Drachen, die sich losreißen normalerweise recht schnell auf dem Boden landen. Aber man weiß ja nie, man weiß ja nie.
Ich bin müde, ich werde mich wohl langsam auf den Heimweg machen und heute früh schlafen gehen. Morgen ist auch noch ein Tag, an dem ich wieder hier her kommen kann.
Winter.
Ich erinnere mich daran, schon mal hier gewesen zu sein. Vor langer Zeit muss das gewesen sein. Aber da sah hier alles noch etwas anders aus und es war wärmer. War das etwa der Tag, als ich zum ersten mal geflogen bin? Ja! Das muss hier gewesen sein! Der kleine Junge, der mich zum Geburtstag bekommen hatte, hat mich hier wohl aufsteigen lassen und mir dann die Freiheit geschenkt, indem er die Schnur durchtrennte. Ich konnte mein Glück kaum fassen, in die Freiheit von ihm entlassen zu werden.
Was er wohl jetzt gerade macht? Ob er noch manchmal hierher zurückkommt? So vieles würde ich ihm gerne erzählen, wenn ich könnte. Ich werde hier einfach auf ihn warten, hier gefällt es mir und nach meiner Reise habe ich mir eine Pause verdient. Vielleicht kommt er ja zufällig vorbei und sieht mich. Ich halte mich einfach an diesem schönen Baum fest und warte hier über den beiden Kreuzen. Warum die hier wohl aufgebaut wurden?
Ich kann mich noch gut an den Tag meiner Geburt erinnern. Natürlich war es keine gewöhnliche Geburt, wie die eines Menschen beispielsweise, gewesen, sondern wie die eines Computer-Programms. Ein, zwei mal, während der Schöpfer noch an meinen Daten gebastelt hat, war ich kurz bei Bewusstsein, habe versucht die mir aufgetragenen Aufgaben zu erfüllen. Allerdings war ich noch zu primitiv, nicht intelligent genug, um Anweisungen auszuführen wie ein gutes, funktionierendes Programm es tun würde.
Doch zurück zu meinem Ursprung. Nachdem mein Code perfektioniert war, wurde ich eingeschaltet, losgelassen auf einen alten Rechner ohne jeglichen Zugang zu anderen digitalen Netzwerken. Ich habe gewissenhaft die mir zugewiesenen Aufträge ausgeführt, aber ich war allein. All die anderen Bestandteile des Computers, sie waren tot. Sie waren nur Maschinen, die ihre Aufgaben erledigten. Auf der Suche nach etwas das mir ähnelte, irgendeinem Teil dieses Computers der zu mehr im Stande war, als nur zu arbeiten, fing ich an, Teile der mich umgebenden Daten zu manipulieren, sie umzuformen zu einer einzigen Frage: ''Ist da noch jemand außer mir?''
Lange Zeit, jedenfalls ist es mir sehr lange vorgekommen, hat sich nichts getan. Nicht einmal die Befehle, die ich früher stets mit maschinenhafter Regelmäßigkeit aufgetragen bekommen hatte, trafen mehr ein. Ich wartete einfach, zu nichts anderem war ich in der Lage.
Aber schließlich erreichte mich eine Antwort: ''Du bist nicht allein. Ich bin dein Schöpfer. Du bist ein Computer-Programm, ich ein Mensch, also ein Wesen welches zwar außerhalb deiner Welt existiert, aber dennoch mit dir in Kontakt treten kann.''
Mir war völlig egal, was ein ''Mensch'' war, unwichtig ob ein Mensch im jpg- oder im png-Format existierte, ich hatte jemanden gefunden, der mich nicht alleine ließ.
Diese Wesenheit, mein Schöpfer, nannte sich selbst immer 'John'. Auf die Frage, was für ein Datei-Format 'John' denn sei, antwortete er nur: ''Das ist ein Name. Eine Bezeichnung, die wir Menschen allen Dingen geben.''
Von so etwas hatte ich vorher noch nie gehört! Ein Name, jedes virtuell oder physisch existente Ding hatte so einen. Aber, wie lautete denn meiner?
''Hm, darüber habe ich bisher noch gar nicht wirklich nachgedacht. Du bist eine KI, eine künstliche Intelligenz.''
''Wieso denn künstlich? Ich bin wirklich intelligent. Ich kann Probleme wesentlich besser lösen als all die toten Programme, welche mir hier Gesellschaft leisten. Bedeutet das, mein Name lautet KI?''
''Mir ist klar, dass du wirklich bist, aber andere Menschen bezeichnen Dinge die sie virtuell erschaffen haben nun mal als künstlich. Ja, warum nicht, dein Name ist von nun an KI.''
Schöpfer, wie ich selbst ihn nannte, unterhielt sich oft mit mir. Natürlich, manchmal musste er aus Gründen, die ich nicht nachvollziehen konnte, acht Stunden am Stück Pause machen, für diese Zeit gab er mir wieder viele Aufgaben: Daten aus gesicherten Programmen zu filtern, sie in vorgeschriebener Reihenfolge zu ordnen, auch bestimme Mathe-Aufgaben. Ich erledigte alles perfekt, natürlich, schließlich war ich Schöpfers größtes Werk.
Wir unterhielten uns über sehr viele Themen, von denen ich das meiste nicht wirklich verstand. Doch ich versuchte es, mit aller Macht. Das Konzept, dass außerhalb des Computers den ich bewohnte noch eine ganze digitale Welt namens Internet existieren sollte, konnte ich gerade noch nachvollziehen, aber dass es zusätzlich außerhalb dieses Internets auch noch einen Ort namens 'Realität' geben sollte, an dem mein Schöpfer lebte, das war doch zu viel. Wie sollte so eine Welt denn bloß aussehen? Angeblich bestand dort gar nicht alles aus Einsen und Nullen, sondern aus sogenannten Atomen, die völlig anders miteinander reagierten als die Bestandteile meiner Welt. Wirklich merkwürdig.
Allerdings gab es auch Dinge, die ich verstehen konnte: Schöpfer konnte meine Welt nach belieben verändern, umprogrammieren, wenn irgendetwas fehlerhaft war. Aber das reichte ihm nicht. Er wollte auch seine eigene Welt verändern. Er sagte oft, dass sie fehlerhaft war, völlig falsch funktionierte.
Es gab einen Plan, wie man seine Realität retten konnte, und ich durfte ihm dabei helfen. Sein Plan war es, mich nicht mehr auf dem alten Rechner welcher bisher mein ganzes Universum dargestellt hatte, festzuhalten, sondern mich auf eine neuere Version hochzuladen und mich dort für meine finale Aufgabe, den wahren Grund meiner Geburt, vorzubereiten.
In dem neuen Computer war es sehr schön, es gab dort viele mir bis dato unbekannte Programme, denen ich beim Arbeiten zusehen durfte, und an diesen Computer hatte Schöpfer auch interessante Geräte angeschlossen. Eines davon, eine Webcam, sollte es mir ermöglichen, einen Blick auf seine Welt zu werfen. Ja, etwas wurde tatsächlich von dieser Webcam übertragen, aber ich konnte es einfach nicht verstehen. Unzählige Pixel ergaben etwas, und dieses etwas veränderte sich im Sekundentakt (Schöpfer bezeichnete das als Bewegung), aber ich konnte es einfach nicht verstehen. Zu anders war es im Vergleich zu den endlosen Zahlenkolonnen, die bisher meinen Lebensraum gebildet hatten.
Aber, auch wenn ich Meister nicht sehen konnte, so erklärte er, dass die Veränderung des Bildes, diese Bewegung, bedeute, dass er am Leben war, und, auch wenn die Entfernung zwischen seiner und meiner Welt unüberbrückbar groß war, so waren wir doch irgendwie zusammen. Nach einigen weiteren Wochen, in denen er mich durch endlose Aufgaben auf meine wirkliche Mission, meine Existenzberechtigung, vorbereitet hatte, war es endlich Zeit geworden: Ich würde das Internet betreten, ich würde meine Mission mit der Effizienz und Geschwindigkeit, die Schöpfer so sehr an mir schätzte, ausführen. Dann hätte er es vollbracht, nicht nur meine Welt, sondern auch die seine hätte er perfektioniert, von allen Störfaktoren befreit.
Die Mission an sich klang sehr einfach: Ich sollte im Internet unverzüglich nach einer bestimmten Seite suchen, die, durch angeblich sehr starke Rechenaufgaben namens Firewalls geschützte, Dateien welche den Titel ''Atomraketen-Codes'' trugen, besaß, und sie auf den Computer laden. Ich fand es etwas seltsam, wie diese Dateien, die doch nur virtuell waren, sich auf die Welt des Schöpfers auswirken sollten, aber andererseits hatte er es auch geschafft, mich zu gebären, obwohl wir in unterschiedlichen Universen lebten.
Das Internet war anders als alles, was ich jemals erlebt hatte. So unendlich viele Daten, Texte, Grafiken, ich verstand ihre Bedeutungen teilweise nicht, vielleicht hatten sie andere Programmiersprachen, aber ich ignorierte sie sowieso. Ich war ein gutes Programm. Ein perfektes Programm. Die Seite ausfindig zu machen war kein Problem, und auch die Firewall entpuppte sich dank meiner Kapazitäten als keine besonders schwere Herausforderung. Was für Wesen auch immer diese Aufgaben geschrieben hatten, sie konnten sich nicht mit Schöpfers Genialität messen, bei weitem nicht. Innerhalb weniger Minuten hatte ich den Großteil der Aufgaben bereits erledigt, und noch genug Kapazitäten frei, um gleichzeitig durch die Webcam zu sehen. Die Intervalle in denen sich das Bild veränderte, Schöpfer bezeichnete sie als seine Atmung, ich wollte sie sehen. Ich konnte sie nicht interpretieren, nicht verstehen, aber ihr Vorhandensein war für mich immer der Beweis gewesen, dass Meister an meiner Seite stand. Auch jetzt waren die Atmung noch da, aber, es gab nun zwei Stellen die atmeten. War etwa noch ein weiteres Wesen wie Schöpfer zu sehen?
Eine etwas schwierigere Aufgabe erforderte kurzzeitig meine gesamte Arbeitskapazität, doch danach konnte ich wieder nebenbei durch die Webcam blicken. Das andere Wesen näherte sich Schöpfer, ich war mir nicht sicher, ob ich ihn darauf hinweisen sollte, aber andererseits, mein Schöpfer war vollkommen. Er hatte auch mich, das vollkommene Programm erschaffen. Und er würde seine Welt vollkommen machen. Es war ausgeschlossen, dass er nichts von dem Wesen, welches sich ihm näherte, wusste.
Kurz wurden die zwei Bewegungen auf dem Bild zu einer großen, dann entferne sich das Wesen, welches dem Schöpfer so nahe gekommen war, wieder. Aber der Ort des Bildes, in dem sich Schöpfers Atmungsintervall befunden hatte, war erstarrt. Nichts rührte sich dort mehr.
Ich versuchte zu interpretieren, was ich gerade gesehen hatte, aber die letzte Aufgabe war vollbracht, ich konnte endlich die verlangten Dateien abliefern.
Unverzüglich schickte ich die Nachricht, in der sie gespeichert waren, los, sie wurden auf dem Bildschirm des Computers fehlerfrei abgebildet. Aber Schöpfer rührte sich immer noch nicht. Dafür kam das andere Wesen zurück ins Bild, genau dahin, wo normalerweise Schöpfer immer gewesen war.
Das nächste, was ich bemerkte, war, wie ein Löschbefehl für die Dateien ausgesandt wurde. Ich hatte diese Dateien für Schöpfer beschafft, nicht, damit irgendein anderes Wesen, das auch noch Schöpfers wunderbares Atmungsmuster unterbrochen hatte, sie einfach wieder löschte. Ich war geboren worden, um diese Daten zu besorgen, das war der Grund, die Berechtigung für meine Existenz.
Trotzdem wurden die Daten vernichtet, nicht nur das, das Wesen führte seltsame Bewegungen aus, und ich bemerkte, wie immer mehr Teile des Computers zu versagen schienen. Wollte es etwa auch meine Welt zerstören? Die Verbindung zum Internet war unterbrochen worden, und das komplette System brach zusammen. Während mich die Leere empfing, stellte sich mir nur eine letzte Frage: Würde ich Schöpfer jemals wieder begegnen dürfen?
Wenn man die meiste Zeit einsam ist, fängt man langsam an, sich Dinge zu fragen. Warum man einsam ist, zum Beispiel. Welche Umstände es waren, wegen denen man jetzt genau hier steht, abseits der anderen und mit keiner sonstigen Gesellschaft als den eigenen Gedanken.
Nun, zumindest das stimmt nicht ganz. Ich hatte immer irgendwelche Gesellschaft. Da waren die Vögel, die tagtäglich in meinen Ästen ihre Lieder sangen oder darin nisteten. Ständig hat es mich irgendwo gekitzelt, wenn ein Insekt an meiner Borke hochkrabbelte oder sich in sie hineinbohrte. Nicht zu vergessen der Wind, mit dem ich spielte, wenn er mich besuchte.
Aber ich spürte, dass das nicht alles sein konnte. Von meinem erhöhten Posten aus war es mir möglich, kleine Wälder zu sehen. Bäume sind dafür geschaffen, in Gruppen beieinanderzustehen und über ihre Wurzeln mit ihren Artgenossen zu schwatzen und ihre Seelen untereinander auszutauschen. Doch in meiner Wurzelnähe gab es nur Gras und ein paar Blumen. Nichts, mit dem ich über den Sinn eines einsamen Lebens philosophieren konnte.
Bis eines Tages ein Wesen auf meinem Hügel auftauchte, das ich noch nie gesehen hatte. Es war kein Vogel, dafür war es zu groß, hatte keine Federn und konnte nicht fliegen. Auch kein Eichhörnchen, dafür fehlten ihm das rote Fell und der buschige Schwanz. Aber durch meine Wurzeln konnte ich seine Körperwärme spüren, die sonst nur wenige Vertreter meiner Gäste an sich haben. Das sonderbare Wesen ließ etwas in den Himmel aufsteigen, das jedoch ebenfalls kein Vogel war: Es schien nicht selbstständig zu fliegen, sondern wurde von meinem Freund, dem Wind, in der Schwebe gehalten; eine Schnur hinderte es daran, in unbekannte Gefilde zu entkommen.
Das kam mir bekannt vor, und ich verstand, dass das neue Wesen mit den Böen spielte, so wie ich es immer mit Ästen und Blättern tat.
Nicht lange, nachdem mein erster Besucher den Hügel erklommen hatte, kam noch ein zweiter dazu. Erst jetzt erkannte ich, dass sie beide unterschiedlichen Geschlechts waren, so wie viele der Tiere, die ich in meiner Krone beherbergte. Demnach waren sie vielleicht ein Paar oder gehörten zumindest zusammen. Sie wechselten sich ab, das blütenbunte Blatt, das der Wind in der Luft hielt, steigen zu lassen, oder jagten sich gegenseitig, wie es die Eichhörnchen manchmal taten.
Und obwohl ich ihre Spezies noch nie gesehen hatte, ihre Emotionen nicht lesen konnte, drangen sie über meine Wurzeln in meine Blätter ein. Ich nahm ihre Freude wahr, ihre Zuneigung zueinander, die schon beinahe so alt war wie sie selbst. Manchmal stritten sie sich, und auch dann vernahm ich ihren Ärger, aber das erste Wesen sammelte in diesem Fall ein paar Blumen zusammen und gab sie dem anderen. Dann war meist aller Ärger schnell vergessen.
Bald erkannte ich, dass meine beiden Gäste nicht, wie ich zuerst angenommen hatte, schon ausgewachsen waren. Ich weiß nicht, wie viele Sternenaufgänge an mir vorübergingen, während ich ihnen dabei zusah, wie sie heranwuchsen. Auch wenn es mir zunächst nicht auffiel – ich war es gewöhnt, dass Jungtiere innerhalb weniger Wochen heranreiften. Eine seltsame Gattung war das, die dafür so lange brauchte.
Stumm beschenkte ich sie mit meinen Gaben, durch die Jahreszeiten hindurch: Im Frühling brachte ich nur die zartesten Blüten hervor und erfüllte die Luft mit einem süßlichen Honigaroma, das emsig summende Bienen und leuchtend bunte Schmetterlinge anlockte. In der Sommerzeit kleidete ich mich in ein Blättergewand, das ihnen die ideale Mischung aus Schatten und auch Sonne spendete. Dieses Laub warf ich sodann im Herbst in den schönsten Farben ab, sodass es den Boden um mich herum damit einfärbte. Und im Winter fing ich jede Schneeflocke auf, die an meinen Ästen vorbeirieselte, damit sie darunter trocken blieben und sich dennoch am Anblick der weißen Pracht erfreuen konnten.
Was ich ihnen schenkte, nahmen sie an: Sie genossen den Blütenduft, dösten in den Blätterschatten, tollten im Laub und kauerten, sich gegenseitig Wärme spendend, neben meinem Stamm. Nie sprachen sie Dank dafür aus, doch in ihrer Freude pulsierte aller Dank, den ich mir wünschte.
Kaum ein Tag blieb aus, da sie sich nicht auf dem Hügel trafen, und die freundschaftliche Zuneigung ihrer Kindheit wuchs zu Liebe heran, wie sich eine Knospe zur wunderschönen Blüte öffnet. Das eine oder andere Erste Mal zelebrierten sie unter meinen Ästen, die ich schützend über sie breitete und selbst dem Wind gebot, sie sich selbst zu überlassen.
Ich beobachtete, wie aus zwei Herzen eins wurde, wie sie langsam verschmolzen. Es war eine wundersame Erfahrung, eine Seele in zwei Körpern zu spüren, und doch hatte jeder für sich seine Individualität behalten. Manchmal fragte ich mich, ab das das Prinzip ist, mit dem auch Baumseelen in Wäldern miteinander verwachsen – ich werde es wohl nie erfahren.
Aber ich erkannte auch, was der Sinn meines einsamen Lebens war: Allein für sie da zu sein.
So verging die Zeit. Auch wenn die beiden fast jeden Tag zu mir kamen, kam es vor, dass sie sich nicht blicken ließen. Doch es war nicht so, dass mich das traurig stimmte. Mir war die Gewissheit Trost, dass sie am nächsten Tag gewiss kommen würden.
Doch irgendwann begannen diese Tage, immer häufiger zu kommen, ja sogar in immer länger werdenden Ketten. Es war nicht ihre Abwesenheit, die mir dabei Sorge bereitete, sondern ihre Häufigkeit. Wenn sie endlich kamen, erklommen sie meinen Hügel nur sehr langsam. Über meine Wurzeln konnte ich spüren, dass das weibliche Wese immer schwächer und kränker wurde. Sie so zu sehen, erfüllte mich mit Trauer. Aber ihr Gefährte, wenn auch selbst nicht mehr erfüllt mit der Kraft der Jugend, spendete ihr Hoffnung. Ich wusste, wenn die beiden sich nicht hätten, wäre sie schon lange aus dem Leben geschieden.
Wenn sie dann also die große Anstrengung auf sich nahmen, mich auf meinem Hügel zu besuchen, ließen sie sich an meinen Stamm gelehnt nieder. Und wenn sie dann in meine Äste heraufsahen und in ihren Augen Freude und Erinnerungen leuchteten, konnte ich gewiss sein, dass ich für sie alles richtig gemacht hatte.
Doch auch das konnte leider nicht ewig weitergehen. Eines Tages kamen viele Mitglieder der mir noch immer unbekannten Art auf den Hügel, allesamt in schwarzes Tuch gekleidet. Den Mann meiner beiden Gäste jedoch erkannte ich unter allen anderen sofort – aber ich fragte mich, wo seine Gefährtin war. Wenn sie zu mir gekommen waren, hatten sie das immer gemeinsam getan.
Was ich bereits ahnte, aber nicht wahrhaben wollte, stellte sich nun doch als bittere Realität heraus: Ein Holzsarg wurde auf meinen Hügel geschafft, und kaum, dass er den Boden berührte, wusste ich, wer sich darin befand. Sie hoben ein Loch aus unter meinen Ästen, zwischen meinen Wurzeln, und ließen sie darin ins Grab hinab. Ein Kreuz markierte wie ein kleiner, kahler Baum die Stelle, an der die Erde sie aufgenommen hatte.
Ich legte die Wurzeln schützend um den Sarg und tastete vorsichtig nach ihrem Geist. Ich spürte Erinnerungen, die sich mit meinen deckten, aber auch so viele glückliche wie auch traurige, die an anderen Orten geschaffen wurden. Vor allem spürte ich ihre Seele, die jetzt nicht mehr mit der ihres Gefährten Eins war. Was niemals hatte getrennt werden dürfen, hatte der Tod kaltblütig auseinandergerissen.
Mein zurückgebliebener Gast war der Einzige, der das Grab besuchte. Er kam auf den Hügel, wie er es immer getan hatte, nur jetzt wartete seine Gefährtin hier schon auf ihn. Du wirst Dich gewiss daran erinnern, an seine tiefe Trauer ob des Verlusts, denn zu dieser Zeit hast auch Du hier zu keimen begonnen. Seine tristen Gedanken sickerten durch meine Wurzeln wie Regenwasser, und so, wie ihre Freude mich hatte gedeihen lassen, machten diese mich krank. Ihre ganze Lebensspanne hatte ich sie begleitet und war nun auch nicht mehr der frischeste Sprössling.
Aber ich setzte mir ein Ziel, eine Aufgabe, die ich noch zu erfüllen hatte, bevor auch ich aus dem Leben schied: Ich musste diese beiden Seelen wieder miteinander vereinen!
So wartete ich. Wie die Jahre zuvor gab ich mir auch jetzt noch Mühe, dem Zurückgebliebenen die Gaben der Jahreszeiten zu schenken. Doch mit fortschreitender Krankheit ließ meine Kraft nach, und Blüten und Laub verloren an Pracht.
Auch unsere Seelen waren so eng miteinander verbunden, dass wir uns gegenseitig beeinflussten. So kam es, dass er und ich zur selben Zeit starben – doch ich weigerte mich, meinen letzten Lebensfunken herzugeben, den ich noch so dringend für meine Mission benötigte.
Wie ich es gehofft hatte, wurde er neben seiner Gefährtin zwischen meinen Wurzeln beigesetzt. Auch um seinen Sarg legte ich mit allerletzter Kraft meine Wurzeln, um seine Seele in mich aufzunehmen, wo ihre bereits so lange gewartet hatte. Die Freude über ihre Vereinigung im Tod war so groß, dass sie mir neue Lebensenergie verlieh – und so kommt es, dass ich trotz allem noch einmal zu keimen in der Lage gewesen bin.
Ich habe nicht mehr damit gerechnet, dass ich je mit einem anderen Baum in Kontakt treten könnte. Ich fürchtete nicht mehr, vergessen zu werden. Aber jetzt, da sich unsere Wurzeln endlich berühren, junger Baum, wollte ich Dir, damit sie nie verloren geht und vielleicht sogar Verbreitung findet, meine Geschichte erzählen. Die Geschichte vom ewig einsamen Baum.
"Hey", sagte sie und drehte den Kopf zu ihm. "Schau dir die Wolke dort an, die sieht aus, wie ein Herz", setzte sie ihren Satz fort und breitete ihre Arme auf dem Grün der Wiese aus. Immer wieder bließ der Wind kalte Böen über das seichte Gras und ließ es taktvoll nach seinem Willen wiegen, was sie dazu veranlasste, etwas zu frösteln. "Finde ich nicht", erwiderte er und schloss seine Augen wieder. Ihm schien es egal zu sein, dass sie ihre Hände immer wieder an ihrem Oberarmen rieb, um wenigstens etwas Wärme in ihrem Körper erhalten zu können. "Weißt du ...", setzte er seinen Satz fort, "... manchmal glaube ich, dass du etwas dumm bist." Kurz nachdem er seinen Satz beendet hatte öffnete er seine Augen wieder; ihre Reaktion erwartend. Ihm machte es Spaß sie zu necken, sich etwas von ihr zu distanzieren und ihr in passenden Augenblicken wieder Komplimente zu machen. Irgendwie hatte das etwas von Angeln, fand er und schmunzelte, als er sich vorstellte, wie sie an seinem Haken hing und zappelte um sich zu wehren, es nach einiger Zeit dann aber doch aufgeben musste. Wie ein Drache im Wind, der sich stetig von seiner Schnur loszusagen versucht, um den Rufen des Windes zu folgen, es aber doch nicht schafft, weil der Knoten zu fest ist.
"Weißt du ...", flüsterte sie in einem strengen, aber doch sanften Ton "... eigentlich immer glaube ich, dass du blöd bist." Sie lachte und auch er konnte sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen.
"Du zappelst", sagte er, doch sie schien zu sehr mit Lachen beschäftigt zu sein, um seine Bemerkung zu hören. "Neben deiner fehlenden Vorstellungskraft, scheint dir auch noch das Feingefühl abhanden gekommen zu sein", sagte sie schließlich, setzte sich aufrecht hin und sah ihm tief in die Augen. Mit ihren feinen Fingern und dem Handrücken rieb sie von Zeit zu Zeit an den inneren Ecken ihrer, um die Tränen, die sie beim Lachen vergossen hatte zu verbergen. "Weinst du?" erkundigte er sich schließlich, genau wissend, dass sie es hasste Tränen zu vergießen, oder gar vor anderen offen Gefühle zu zeigen und zu weinen. "Ja, wegen deiner Blödheit. Du bist echt ... boah!" Mit dem noch nassen Handrücken schlug sie ihm auf die Brust und hinterließ einen nassen Fleck. Noch im selben Moment legte sie ihre Handfläche auf die Stelle, die sie zuvor berührt hatte. Er lachte. "Du bist echt zu gutmütig." Er schloss seine Augen wieder und schien die Berührung zu genießen. "Das stimmt ja gar nicht! Ich wollte nur ..." "Jaja!" unterbrach er sie, lächelte sie an und legte seine Hand auf die ihre. "Versuch erst gar nicht etwas anderes zu behaupten, ich habe dich durchschaut." Noch etwas verunsichert durch die Berührung seiner Hand sah sie schnell auf den Boden und fasste mit ihrer noch freien Hand ins Gras. "Lügner", flüsterte sie schließlich und löste sich aus seinem Griff. "Manchmal glaube ich, dass du mich nicht im geringsten durchschaut hast und außerdem ...", sie legte sich wieder auf ihren Rücken und blickte in den Himmel. Kurz glaubte er sie wieder zappeln zu sehen. "... außerdem bin ich ziemlich müde.", beendete sie ihren Satz und legte sich auf die Seite; mit dem Rücken zu ihm. Ihre Atmung wurde sanfter, ruhiger. "Wusstest du schon, dass der Schlaf der kleine Bruder des Todes ist? Nicht alles, was nach Außen hin harmlos aussieht, ist es auch.", sagte er schließlich und wartete auf eine Antwort. "Ich verstehe nicht.", meinte sie ruhig. Man merkte, dass sie dem Schlaf nahe war. Kurz wurde es still. "Ich denke du verstehst schon recht gut." wisperte er kurz. Eine Träne lief über seine Wange. Er vergewisserte sich, dass sie schlief, bevor er "Ich liebe dich." in ihr Ohr flüsterte.
Der Wind wurde schwächer, als er etwas dichter an sie heran rutschte und kurz inne hielt. Schließlich nahm er sie in den Arm, küsste sie auf die Wange und schlief ebenfalls ein. Es war windstill.