Die Zeitkrise

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  • Part V: Für die Zukunft!


    Rücken an Rücken standen Raven und Xell und trieben mit tanzenden Flammen und züngelnden Blitzen ihr Gegenüber, 50 Kilo in harte Schalen gepanzerte Krakengestalten, immer weiter zurück. Der schnabelähnliche Mund von Ravens Widersacher rasselte aufgebracht, als ein Funke auf seinen dornenversehenen Rückenpanzer krachte. Raven spürte einen Luftzug, im selben Moment löste sich der Druck von seinem Rücken. Xell hatte Abstand zu Raven eingenommen und ging nun in den Nahkampf. Der Boden zitterte, Staub bröselte von der Decke herab, Xells triumphierender Kampfschrei fegte durch die Höhle, erstarb aber so jäh wie er gekommen war und verwandelte sich in leises Fluchen. Raven hatte keine Gelegenheit, sich herumzudrehen oder um sich um das Wohlergehen seines Freundes zu sorgen. Die Stacheln an dem Panzer von Ravens missgelaunten Widersacher leuchteten alarmierend auf. Raven schnappte nach Luft, seine Beine stießen ihn hart vom Boden ab, Sekunden bevor eine Salve nadelspitzer Lichtpfeile die Erde an seiner noch eben gestandenen Position zersiebten. Ravens Pfoten setzten wieder auf dem Boden auf. Seine Krallen schlugen in den aufgeweichten Höhlenboden und gaben ihn den notwendigen Halt, von der erdrückenden Gewalt seines eigenen Elektro-Angriffs nicht überwältigt zu werden. Der Blitzschlag pflügte über den Boden weg, zertrümmerte auf seinem zerstörerischen Streifzug einen kleinen Felsen und ließ die Luft aufgewirbelte Steindolche weinen. Noch ehe der Stromfluss aber sein Ziel finden konnte, zog sich das krakengleiche Pokémon in seinen Panzer zurück. Seine steinerne Behausung wurde augenblicklich von Ravens Attacke eingehüllt und leuchtete in einem gleißenden Gelb auf. Raven bohrte seine Krallen nun noch tiefer in das Erdreich hinein und ließ die knisternde Verbindung zwischen sich und seinem Gegner nicht abreißen. Sein Herz hämmerte kraftvoll in seinem Brustkorb und begann unter den ihm auferlegten Strapazen laut zu schreien. Ein wütender Kampfschrei entrann gleichzeitig seiner Kehle, der Schmerz in seinem Kopf verdoppelte und der Lärm in seinem Trommelfell verdreifachte sich. Der Fluss aus purer Energie wuchs rapide mit dem Abklingen seines Kampfesschreis an. Qualm stieg an den Stellen auf, an denen flüchtige Blitze auf ihrem zerstörerischen Trieb den Höhlenboden versengten. Inmitten seines regungslos in seinem Panzer verharrenden Gegners hatte sich zwischenzeitlich ein Krater gebildet, der mit jeder Sekunde an Bodenlosigkeit wuchs und das ausharrende Pokémon Millimeter für Millimeter tiefer in den Boden hinein drückte. Die aufgewirbelten Gesteinsfragmente zerfielen mittlerweile bereits in der Luft zu Staub, bevor sie den Boden erreichten. Raven fühlte seinen Herz wie ein kraftvoll auf ihn selbst einschlagender Hammer, jedes Quäntchen Luft hatte seine Lungen verlassen, die Bilder um ihn herum wurden langsam aber sicher unscharf.
    Noch ein letztes Mal beschwor er seine letzten Kraftreserven auf, jagte eine weitere zerstörerische Druckwelle durch die Stromverbindung, bevor er diese endgültig kappte. Länger hätte er sie ohnehin nicht aufhalten können. Augenblicke später füllte er seine Lungen wieder mit Luft – der rettende Atemzug. In seinen Ohren klingelte es noch und alles um ihn herum, das Brüllen seiner Kampfgefährten, die Intensität von Xells Flammenbällen, sogar den fernen Aasgeruch, konnte er nur vage wahrnehmen. Weißer Rauch stieg von dem noch immer in seinem Panzer ausharrenden Gegner auf; nichts aber rührte sich. Keine schlingernden Tentakel kamen zum Vorschein, kein rasselnder Schnabel, keine Augenschlitze funkelten ihm wütend entgegen und kein Leben regte sich mehr.


    „Raven! Ich könnte hier etwas Hilfe gebrauchen!“
    Raven wirbelte um die eigene Achse dem flehentlichen Schrei seines Freundes Xell entgegen, so schnell, auf dass seinen Gliedern ein erbostes Knacksen entfuhr. Seine Pupillen weiteten sich, als er seinen hilfeschreienden Freund und dessen würgende Stimme unter einem Meer von aufdringlichen und wild peitschenden Tentakeln verschwinden sah. Noch immer war Ravens Brustkorb wie zugeschnürt und doch versetzte ihm die unbändige Sorge um Xells Wohlergehen den notwendigen Schub. Vier fuchsige Pfoten trommelten über den vernarbten Höhlenboden, sein eigener Atem peitschte ihm ins Gesicht, die nicht weniger furchterregende Gestalt des gepanzerten Zwillings von Ravens eben erst gefällten Feind kam mit jedem seiner wütenden Schritten näher. Kräftig stieß er sich vom Boden ab und noch kräftiger rammte er im freien Flug seine Schulter gegen die steinharte Schale seines Widersachers, unter dem sein Freund begraben lag, und schmetterte diesen von Xell herunter. Zu der Schwärze, die sich immer mehr von Ravens Orientierungssinns einverleibte, gesellten sich nun noch kleine tanzende Sterne und ein metallischer Geschmack, der ihm in der heißen Kehle lag – Blut. Raven würgte das warme Rinnsal in seiner Galle herunter. Seine Kiefer malmten - vergebliche Versuche, den pochenden Schmerz in seiner Schulter irgendwie klein zu halten. Mit Schmerztränen in den Augen suchte Raven den Blick seines Freundes und konnte glücklicherweise erleichtert ausatmen. Xell sah schrecklich aus: Kleine, rote Pusteln zeichneten sein schweißnasses Gesicht, sein Fell stand wild verstrubbelt in sämtliche Himmelsrichtungen ab und seine Nase blutete - und doch war er in Ordnung. Mit fest an sein Herz gepresster Hand röchelte er seinem Freund entgegen und besprenkelte ihn versehentlich mit seinem Speichel. Ein etwas schwächliches Lächeln formte sich auf seinen Zügen.
    „Ich ...“, er hustete, „ich ... wusste, ... dass du mich ... nicht hängen lässt ...“
    Raven konnte sich wieder fassen, die Gewalt in seinem zertrümmerten Körper schien mit der Gewissheit, Xell in Sicherheit zu wissen, schlagartig wieder die altbekannten Züge anzunehmen. Auch er lächelte seinen noch immer am Boden liegenden Freund entgegen.
    „Ich doch nicht“, sagte er.
    Xells Augen huschten an seinem Freund vorbei, sie weiteten sich, ein wütender Kampfschrei gepaart mit über den Boden peitschenden Tentakeln zerriss die Zweisamkeit.
    „Pass auf!“
    Raven verlor den Boden unter den Füßen und prallte auf selbigen auf, gleichzeitig blieb es ihm aber erspart, das eben erlebte Schicksal seines Freundes zu teilen. Mit ganzer Kraft hatte Xell seinen Freund zur Seite gestoßen und war gleichzeitig seitlich über den Boden gerollt, um nicht wieder unter einem Meer von schlingernden Tentakeln begraben zu werden. Ein Zentner Lebendgewicht hämmerte mit vernichtender Gewalt genau auf die Stelle, an der Xells Leib vor Wimpernschläge noch am Boden gefesselt war. Beide, Raven und Xell, rappelten sich auf und blickten direkt in die starren und zugleich wütenden Glubschaugen des Pokémons, das fast zu Xells Verhängnis geworden war. Ein Wasserschwall entrann seinem schnabelähnlichen Maul, zerfetzte massives Gestein und schlug auf seiner Jagd nach den zurückweichenden Raven und Xell eine zentimetertiefe Bresche in den Boden. Raven konnte die Gewalt des Wassers und die dadurch aufgewirbelnden Steinfragmente auf sein Trommelfell einhämmern hören, während er auf seinem Rückzug Purzelbäume schlug. Wieder griff die Finsternis nach ihm und wieder mobilisierte er seine letzten Kraftreserven. Seinem rasenden Kampfschrei gesellte sich der Xells hinzu. Weißer Qualm stieg auf und schob sich wie ein Nebelschleier vor die Augen. Es zischte und krachte, als sich Xells züngelnder Flammenstrahl mit dem gleichzeitig abgefeuerten Stromschwall Ravens vereinten und die unaufhörliche Wasserfontäne aus dem Maul des Pokémons immer weiter zurückdrängte. Raven knickte ein, die Kraft verließ ihn. Die durch den schweren Dunst ohnehin verworrenen Bilder verschwammen und doch ließ er den Fluss der Elektrizität, die sich direkt aus seinem Fell entlud, nicht abreißen und verlangte seinem zermalmten Körper weiterhin alles ab. Er fühlte seine Beine nicht mehr. Mit seinem nach Atem ringenden Husten verlor er die Kontrolle über seine Attacke, die in diesem Moment schlagartig erlosch – und auch Xells tanzender Feuerstrahl verlor seinen Kampfwillen, bis dieser schließlich gänzlich gebrochen war und erstarb. Eines nach den anderen von Ravens Gliedmaßen klappten nach und nach ein, bis er schließlich vor Erschöpfung bäuchlings auf dem kalten Boden lag. Auch Xell sackte zusammen und fiel atemringend auf den Boden. Nichts regte sich in dem schier undurchdringlichen Nebelschleier, in dem ihr Gegner verschwunden war. Raven und Xell röchelten ihre Erschöpfung im Duett aus ihren Leibern heraus und schnappten nach dem lebensrettenden Sauerstoff. Die Luft war heiß und dunstig und doch zwang sich Raven, Augenblicke vor dem vollständigen Kollaps, jedes Quäntchen von dem Sauerstoff in seinen glühenden und blutschmeckenden Rachen.
    Die Sekunden verstrichen. Sekunden, in denen man bangend den undurchdringlichen Nebelschleier zu röntgen versuchte. War es vorbei?


    Ravens klägliche Aufstehversuche erstickten noch im Keim. Sah man von einfachen Atemholen und blinzeln ab, hatte er nahezu jegliche Körpergewalt verloren. Sein Kopf hing schlaff auf der dreckigen und kalten Erde, sein heißer Atem wirbelte den Staub auf und ließ ihn kurz in der Luft tanzen, bevor er langsam wieder gen Boden schwebte. Auch Xells Bemühungen waren zum Scheitern verurteilt. Kurzerhand ließ er sich von den Knien bäuchlings auf den Boden fallen. Seine Fingernägel kratzten kraftlos über den Boden. Erneut hustete Raven, eine Reaktion auf einem widerlichen Kratzen im Hals, was er im Nachhinein bereute. Drei Mal röchelte er und drei Mal wurde es ihm rabenschwarz vor den Augen. Und doch wurden seine Sinne mit jedem weiteren Luftholen ganz langsam wieder schärfer. Verschwommene Bilder wurden zunehmend klarer, das Gefühl des kalten Bodens und die heiße Luft, die ihn umgaben spürbarer, sogar den Aasgeruch der langsam vor sich hin verrotteten Fische konnte er wieder leicht in der Nase brennen fühlen.
    Ein kalter Schauer jagte Raven urplötzlich über den Rücken und ließ ihn wie im bittersten Winter frösteln. Der Boden zitterte merkbar auf, ein tobendes Brüllen durchbrach den Frieden. Keiner von beiden, weder Raven noch Xell, die in parallelen Abstand von etwa fünf Metern zueinander lagen, mussten lange suchen, um die Ursache des erneuten Tumults zu finden. Hätte er die Kraft gefunden - Raven hätte sich wohl ungläubig die Augen gerieben. Zwei paar krallenbespickte Beine schabten über den Boden und eines von ihnen erkannte Raven in seiner hilflosen Lage sofort. Plaudagei und sein ihm fast dreifach überragender Gegner tauchten vor den Augen Ravens und Xells auf. Die sensengleichen Arme von Plaudageis Gegner lagen über Kreuz und stemmten sich mit aller Gewalt gegen den kleinen rosaroten Schnabel, der ihm erbost Paroli bot. Die braunen Pupillen des sensenschwingenden Monstrums verengten sich hasserfüllt, während ihn der kleine Papagei, mit dem gleichen geringschätzigen Gesichtsausdruck, immer weiter zurückdrängte. Plaudagei setzte einen seiner Füße noch vorne und drückte seinen Gegenüber wie einen sturen Felsen einfach von sich weg. Sein Gegner stemmte sich mit aller Kraft dagegen. Die sichelgleichen Klingen blitzten bedrohlich auf, doch zitterten gleichzeitig. Die Krallen von Plaudageis Widersacher zogen eine tiefe Furche in die Erde, während sein Besitzer Zentimeter für Zentimeter weggeschoben wurde.
    „Kneif mich ...“, entrann es Xell, noch immer atemringend am Boden gefesselt, fassungslos aus dem Hals.
    Auch die wohl gefährlichste Waffe Plaudageis, sein Schnabel, zitterte unter der Last der beiden Klingen nun bedrohlich und doch wagte er einen weiteren Schritt. Wie ein Schwert, das eine gekreuzte Schneide abwehrte, stieß Plaudagei schließlich die beiden Sensen vor ihm gekonnt nach oben. Raven hatte nur kurz geblinzelt, als Plaudagei plötzlich auf dem Kopf seines Gegners thronte, seine Krallen in den glatten Kopf schlug und seinen Schnabel gleichzeitig wie ein Werkzeug, das Metall bearbeitete, auf den schildähnlichen Kopfpanzer seines Feindes krachen ließ.
    „Nicht – noch - einmal – hörst – du?!“ Jedem seiner krächzenden Worte verlieh er mit einem fuchtigen Schlag seines Schnabels mehr und mehr Nachdruck. Die Sensen des aus Leibeskräften brüllenden Ungeheuers heulten auf ihrem hungrigem Kreuzzug durch die Luft, verfehlten aber den kleinen Vogel, der seine hackenden Attacken unbeirrt fortsetzte. Raven schluckte seine Übelkeit, die ihm erneut die Kehle hinaufkroch, herunter, während er die Bilder, die sich vor ihm wie ein Film abspielten, betrachtete. Noch immer nach Plaudageis befiederten Leib dürstend, stolperte das ebenholzfarbene Pokémon langsam aus Ravens Sichtweite. Seine Züge lösten sich zögerlich in dem ungelichteten Dunstschleier auf. Alles, was blieb, waren die Geräusche von wütendem Metall und einem aufgebracht hackendem Schnabel, die die Luft durchsiebten, und das Kampfgeschrei der beiden Kontrahenten.
    Raven robbte verzweifelt über den Boden, schlug seine Krallen in das harte Erdreich. Er musste irgendwie helfen, irgendwie wieder auf die Beine kommen ... Jeder Millimeter seiner kriechenden Fortbewegung kostete ihn sämtliche seiner in dieser kurzen Zeit kümmerlich angesammelten Kraftreserven. Aufgebrachte Funken lösten sich knisternd aus seinem Fell, während er sich zähneknirschend dem weißen Vorhang und dem Getümmel, das er vor neugierigen Augen verborgen hielt, näherte. Dann plötzlich – Stille. Das Aufeinanderkrachen von Sensen und Schnäbeln erstarb jäh, ebenso das Brüllen der Kontrahenten.


    Die gespenstische Stille lag tonnenschwer auf Ravens zum Zerreisen gespannten Nerven. Warum war es still? Was war geschehen?
    „Pl-Plaudagei?“, rief er verunsichert in den Nebelschleier hinein. Ereignislose Sekunden verzogen. Dann erneut: „Plaudagei?“, rief er erneut. Diesmal beherrschte Furcht den Ton seiner Stimme.
    Schweres Poltern hämmerte plötzlich auf und ließ den Boden, auf dem Raven lag, zittern. Wieder polterte es, und wieder ... Das Geräusch näherte sich schnell und gewann zunehmend an Kraft. Es waren Schritte. Schritte, die zu schwer für den fast schwebenden und federleichten Körper Plaudageis waren. Es war ...
    „Nein!“ Raven versagte die Stimme. Sein Fell flimmerte alarmierend auf. Die Umrisse von Plaudageis Widersacher nahmen durch den weißen Vorhang Gestalt an, ein mahagonibrauner Fuß, an dessen Spitze zwei scharfe Pranken klafften, trat aus dem Nebelschleier hervor, die dunklen, erbarmungslosen Augen des gepanzerten Schalentiers erfassten Raven. Er trat nun gänzlich aus dem Dunst hervor, eine bedrohlich blitzende Sense wurde in die Höhe gerichtet, zerriss die Luft, schnellte herab ... Ravens Herz stand still. Wie im Zeitraffer sah er die blanke Waffe auf sich, noch immer wehrlos auf dem Boden liegend, zuschnellen. Er schloss die Augen. Die panischen Rufe Xells, das Hämmern der Gedanken in seinem Kopf und das Metall, das eine Schneise in die Luft zog – sie waren seine Wiegenlieder, wenn er nun, für das letzte Mal in seinem Leben, die Augen schloss ...
    Der Schmerz aber ... blieb aus. Worauf wartete er? Warum beendete er nicht sein grausiges Werk, beendete das Leid seines ihm schutzlos ausgelieferten Gegners und begrub die Hoffnung der Welt auf einen neuen Morgen? Warum tat er es nicht ...? Raven öffnete die Augen einen Spalt weit – gerade noch rechtzeitig, um zu betrachten, wie der Koloss von einem Schnitter plötzlich ohrenbetäubend mit dem unbarmherzigen Boden kollidierte. Raven riss seinen Kopf zur Seite, wo seine Augen bereits von einem gleißenden Blitzen scharfer Klingen fast geblendet wurden. Die Blätter an Reptains Armen nahmen wieder ihr markantes Grün an, seine gelben Augen leuchteten Raven wie funkelnde Sterne entgegen.
    „Na, alles klar?“

  • Hallo Eagel


    Ich bin von deiner FF total begeistert.
    Ich habe sie von Anfang bis ende durchgelesen.
    Obwohl ich vom Spiel her wusste was als nächstes kommt war ich nach jedem Kapitel überrascht.
    Deine FF ist zwar eine Nacherzählung von MD Himmel aber du hast es geschafft aus etwas alten was völlig neues zu machen.
    Ich kann es kaum erwarten bis es weitergeht.
    Du Arbeitest zwar schon über ein Jahr an deiner FF aber wenn man sie liest weißt man auch warum.

  • Hallo Eagle


    Ich bin auf deine FF gestoßen, als ich mich etwas im Profi Bereich umgesehen habe und dachte, ich werde sie einfach mal kommentieren.



    Zum Startpost: Ich finde der Startpost ist gut struckturiert und schlicht. Das gefällt mir sehr gut, da es übersichtlich ist. Da die Kapitelliste inzwischen schon lang ist, ist es aus meiner Sicht vorteilhaft, dass du ihn in 2 Teilen gemacht hast.


    Allgemeines & Inhalt: Als ich zum ersten Mal auf die länge eines Kapitels geschaut habe, dachte ich zuerst nicht, dass ich alle Kapitel lesen würde, doch da hatte ich mich geirrt.
    Ich war so gefesselt von der Art wie du die Orte, Personen und Emotionen schilderst, dass ich die Zeit völlig vergaß und tauchte vollkommen in deine Geschichte ein. Dein Schreibstil hat mich wahrlich gefangen genommen. Ich bin zwar keine erfahrene Mystery Dungeon Spielerin und kenne mich auf diesem Gebiet kaum aus aber dennoch haben mich die Spiele fasziniert. Einige Handlungsstränge, die ich bei Freunden gesehen habe wie zum Beispiel die Jagd nach Traumato oder die Suche nach den perfekten Äpfeln, kenne ich zwar, aber es zu lesen war keinesfalls so langweilig, dass ich sagen würde "Ach den Teil der Story kenn ich aus dem Spiel, dass muss ich nicht mehr lesen", denn obwohl ich es kannte fand ich es überaus spannend. Ich konnte mich die ganze Zeit über in den Hauptcharakter, in diesem Fall Raven, hineinversetzen. Dies schaffen wiederum nur wenige Bücher / Geschichten. Ich kann nur sagen Hut ab. Deine FF steht aus gutem Grund in diesem Bereich der Fanfictions. Zu kritisieren finde ich eigentlich kaum etwas. Nur ein paar Rechtschreibfehlerchen sind mir in den verschiedenen Kapiteln aufgefallen wie zu Beispiel das fehlen eines Buchstabens bzw. eines Anführungszeichens bei Gesprochenem oder Gedachtem. Meiner Meinung nach hast du ein scönes Thema sehr gut umgesetzt


    Ich würde mich sehr darüber freuen,wenn du mich benachrichtigen würdest, sobald ein neues Kapitel erscheint.
    Lg Leo

  • Hi Eagle,
    Deine Fanfiction ist klasse! Da kann man richtig mitfiebern, selbst wenn man alter Hase in Sachen Pokemon Mystery Dungeon ist. Mach weiter so!
    Es wäre schön, wenn du mich beim nächsten Kapitel benachrichtigen könntest.


    SerperiorXD



    Schreib beim nächsten Mal bitte etwas mehr. ~Aka

  • Part VI: Wiedersehen und Abschied


    „Rept... Reptain ... Woher ...?“
    Ein Traum - es musste ein Traum sein; der wunderschönste, den Raven je erlebt hatte. Ungläubigkeit und Glücksgefühle zugleich machten ihn unempfindlich für seine körperlichen Gebrechen. Das Freudenfeuer in seinem Kopf war wie eine meterhohe Barriere, hinter der er Schutz vor der brandenden Flut von Schmerz und Leid fand. Noch aber hielt die Taubheit seine zermürbten Gelenke fest in der Mangel. Unfähig mit mehr als einer schwachen Miene seiner Begeisterung Ausdruck zu verleihen, lag er da. Seine Augen tränten vor Anstrengung, doch keinen Moment wollte er sie zu schließen wagen, aus Furcht, Reptain könnte in diesem Augenblick der Unachtsamkeit einfach verschwinden. Aus seiner äußerst unangenehmen Position heraus konnte Raven beobachten, wie Reptain eine zielsichere Handbewegung in Richtung seiner eigenen Hüfte machte. Raven hatte bereits den Mund geöffnet. Er wollte mit seinem Freund reden, sich vergewissern, dass ihm sein Verstand keinen Streich spielte. Genau das kam Reptain gelegen: Eben diesen Moment passte er ab und stopfte seinem angeschlagenen Partner eine Hand voll Beeren in den Mund.
    „Iss!“
    Noch nicht einmal im Traum spielte Raven mit dem Gedanken, dieser Anweisung - so harsch sie auch war - zu widersprechen. Entkräftet wie er war, verweigerten seine Kiefer anfangs noch den Gehorsam. Sich zu überwinden, kostete ihn die letzten seiner kümmerlichen Kraftreserven. Als sich dann aber nach dem erlösenden Knacken die wundersame heilende Wirkung der Beeren auf seiner Zunge entfaltete und sämtliche Geschmacksknospen mit einem zartherben Aroma überschwemmt wurden, kehrte ganz langsam das Leben in die zermalmten Glieder zurück. Sekundenschnell breitete sich das angenehme Kribbeln aus bis auch wirklich die letzte versteckte Pore, die letzte Faser und der letzte Muskel von dem Genesungs-Karussell auf eine ekstatisch Rundfahrt mitgerissen wurde. Nur einen Katzensprung weiter, wo Xell sein ebenso jammervolles, ausgebranntes Dasein fristete, nahm dieselbe Prozedur zweiten Schauplatz.


    Ravens Beine fühlten sich noch sehr wackelig an, als sie wieder sein gesamtes Gewicht trugen. Auch wenn sich nichts auf dem bis zur Unkenntlichkeit pervertieren Schlachtfeld rührte, empfand er die rein körperliche Anwesenheit der drei heimtückischen Wegelagerer als äußerst unangenehm.
    Noch immer schien die mit Sensen bewaffnete Panzerbestie ihn aus ihren leeren Augenhöhlen heraus anzustarren. Es war kaum auszudenken, welch makaberes Ende diese Reise zur Rettung der Zukunft genommen hätte, wenn Reptain nicht im letzten Moment eingegriffen hätte.
    „Ich habe schon größere Kakerlaken zerquetscht. Der steht so schnell nicht mehr auf“, merkte Reptain an, dem die tiefe Nachdenklichkeit seines Kameraden nicht entgangen war.
    Raven nickte stumm, beharrte aber fast sämtliche Aufmerksamkeit auf dem niedergestreckten Monster.
    Auch Xell tat sich anfangs nicht sonderlich geschickt auf den eigenen Beinen und taumelte in den ersten Momenten schwerfällig auf der Stelle. Im Vergleich zu seinem besten Freund hatte er nur wenig für das von Reptain erlegte Ungetüm oder das von Raven in einem kleinen Krater zurückgelassene, qualmende Tentakel-Schreckgespenst übrig.
    „Danke! Echt! Pünktlich auf die Sekunde“, keuchte Xell seinem Retter entgegen.
    Endlich hatte sich Raven an den besiegten Leibern satt gesehen. Kein jähes Aufflackern, kein nervöses Schwanzkräuseln - sein übersensibles Frühwarnsystem blieb stumm. Sie schwebten außer Gefahr. Zumindest vorerst. Mit grimmiger Zufriedenheit wandte er sich Reptain zu, der ihn schon die ganze Zeit über beäugt hatte.
    „Du bist da ...“
    Mit Ausnahme eines beiläufigen Lächelns blieb Reptain stumm. Indes schossen tausendfach Fragen durch Ravens Kopf. Über Reptains Erlebnisse der letzten Tage, die Zahnräder der Zeit, ihre Aussichten auf Erfolg ... Am meisten aber ...
    „Wie hast du uns gefunden?“
    „Ihr wisst, die letzten Tage verbrachte ich damit, die Zahnräder der Zeit zu sammeln. In Kooperation mit Tobutz, Selfe und Vesprit benötigte ich nur einen Bruchteil der Zeit.“ Eine fesselnde Ruhe und Gelassenheit ging auch dieses Mal von Reptains Stimme aus. Doch auch etwas Unergründliches, als steckte er voller Geheimnisse, voller Mysterien. Vielleicht war es genau das, warum weder Raven noch Xell ihn mit Zwischenbemerkungen über seine beeindruckende Leistung unterbrachen. Sie beließen es lediglich mit einem flüchtigen Augenkontakt untereinander, der dem anderen mehr als tausend Worte sagte. „Ich befand mich gerade auf dem Rückweg“, fuhr Reptain fort, „als mir euer Gildenmeister begegnete.“
    Reptains Pause gab Anlass für einen Kommentar seiner Zuhörer. Doch zu mehr als ein ungläubiges Nennen von Knuddeluffs Namen waren sie nicht in der Lage.
    „Ja, Knuddeluff“, nickte Reptain. „Ich weiß nicht, wie, ich weiß nicht, woher ... Er fand mich, trotz all meiner Bemühungen, unerkannt zu bleiben. Jedenfalls“, erzählte Reptain weiter, „ging er auf mich zu. Obwohl wir uns nie zuvor begegnet waren und er mich eigentlich nur über euch und natürlich über Steckbriefe her kannte“, Reptains Mund umspielte bei seiner letzten Bemerkung einen Hauch von gleichgültiger Bitterkeit, „schenkte er mir von Anfang an blindes Vertrauen. Er klärte mich über den Stand der Dinge auf, auch über den Nachweis, das Reliktfragment, das uns Zugang zum Zeitturm verschaffen soll. Er gebot mir, ihm zu folgen. Nun ja, und hier bin ich nun ...“ Nur zu deutlich sah Reptain die Verwirrung in den Blicken Ravens und Xells, und bevor seine Zuhörer auch nur die einzig überhaupt sinnige Frage stellen konnten, fuhr er ihnen ins Wort. „Ich weiß wirklich nicht, wie er mich gefunden hat“, ergänzte Reptain kopfschüttelnd. „Euer Gildenmeister, Knuddeluff, er ist ziemlich seltsam. Aber ohne ihn hätte ich es nie rechtzeitig zu euch geschafft. Nehmen wir es hin, wie es ist, und danken dafür.“
    Raven und Xell folgten Reptains Kopfbewegung. Dort, wo sich ihre Blicke kreuzten, waberten noch immer die sich nur langsam auflösenden Dunstschwaden - ein Überbleibsel der gewonnenen Schlacht, verursacht von dem Zusammenprallen von Feuer und Wasser. Inmitten des Nebels musste der dritte und letzte leblose Körper ihrer bezwungenen Feinde liegen. Auch war dies die Stelle, wo sie Plaudagei zum letzten Mal gesehen hatten ...
    Eisigkalt schnürte sich Raven bei dem letzten Gedanken ein Strick um den Hals. In all der Aufregung hatten sie den Letzten in ihrem Bunde völlig vergessen. Erfüllt von Scham und Reue hatten Raven und auch Xell gerade lossprinten wollen, als sich plötzlich Knuddeluffs undeutliche Konturen in dem Dunstschleier lösten. Ihr Gildenmeister trat hervor. Tränen glitzerten in seinen salbeigrünen Augen, sein Mund bebte. In seinen Armen trug er Plaudageis bewusstlosen Körper. Raven fühlte den Strick um seine Hals enger und enger werden, während ihn seine schnellen Schritte Knuddeluff näher brachten. Noch auf halbem Weg hob sich der Kopf des Gildenmeisters. Es war ein gequältes Lächeln, zu dem er sich zwang, doch genügte es, um Ravens Luftzufuhr wiederherzustellen.
    „Er kommt durch ...“ Knuddeluffs Stimme klang erstickend schwer. Zweifelsohne rang er zum gleichen Teil mit Erleichterung wie auch mit unendlicher Sorge, doch widerstand er es irgendwie, das ganze Ausmaß seiner Gefühle auszuschütten. Er fasste sich wieder und während Reptain zu seinen Freunden aufrückte, nahm er alle Kräfte zusammen. „Ich bringe Plaudagei zurück. Ihr ... müsst weiter. Es ist nicht mehr weit. Folgt dem weiteren Weg. Ihr werdet finden, was ihr sucht. Geht! Jetzt!“ Er kehrte ihnen den Rücken zu und entfernte sich mit schnellen Schritten von seinen Freunden. „Reptain ... Xell ... Raven ... Euch allen ... alles erdenkliche Glück“, hauchte er als letzten Abschiedsgruß über die Schulter, bevor er in der Dunkelheit verschwand.


    „Wisst ihr, ich wollte Plaudagei nicht glauben, als er irgendwann mal zu mir meinte, mit seinem Schnabel viertele er Kokosnüsse. Schätze, ich habe mich geirrt. Wie der mit seinem Gegner umgesprungen ist. Wahnsinn! Ha ha!“ Tonlos hallte Xells gekünsteltes Lachen von den schleimigen Höhlenwänden wider. Nur eine steife, immer stärker werdende Brise schlug ihm als Antwort kaltherzig ins Gesicht. Mit Ausnahme der patschenden Schritte durch teils kniehohe Pfützen blieben seine beiden Begleiter still. Xell, der nun die Gruppe anführte, gab seine zum Scheitern verurteilten Aufheiterungsversuche schnell wieder auf. Seit ihrem Aufbruch war der anfangs noch deutlich gewölbte Tunnel deutlich enger geworden, dafür aber frei von unerwünschten Wegabzweigungen geblieben. Den unerfreulichen Wasser-Tretminen auszuweichen, wurde von Mal zu Mal schwieriger. Mit jedem einzelnen von Xell schon jetzt äußerst vorsichtigen Schritten senkte sich die Höhlendecke weiter und weiter, bis Reptain, der größte der Gruppe, bereits seinen Kopf einziehen musste, damit er sich ihn nicht anstieß. Zwischen dem unheimlichen Schweigen und den widerhallenden Schritten spitzte Raven zunehmend die Ohren. Er konnte das Geräusch des fernen Meeresgrollens in der Luft wahrnehmen wie auch stetig intensiver werdender Salzwassergeruch in seiner Nase kribbeln fühlen. Auf einen flüchtigen Augenkontakt mit seinem Hintermann folgte ein kurzes aber vielsagendes Nicken. Auch Reptain konnte es in seinen Gliedern spüren: Was auch immer vor ihnen lag - es kam näher.
    Wenige Minuten später war das Getöse des Ozeans so weit angeschwollen, dass eine normale Unterhaltung - wenn sie stattgefunden hätte - nicht mehr möglich gewesen wäre. Es zog jetzt an allen Ecken und Enden. Höhlenwände, die Decke und der Boden - sie alle waren so von Feuchtigkeit durchtränkt, als hätte man sie soeben aus dem Meer gefischt. Grüner Schlick bespannte jeden Stein, jeden Fels und jede noch so kleine Granitformation wie Porzellandeckchen oder fraß sich in Wände und Decke. Eine Muschel brach unter Ravens Gewicht mit lautem Knacken entzwei, kurz nachdem einer seiner Schritte zuvor eine Koralle, die den Weg in blassgelber, weißer oder grüner Farbe pflasterten, zu feinem Staub zerbröselt hatte. Sein Aufstöhnen, als sich die feinen Scherben hinterhältig in seine Fußballen fraßen, blieb ungehört.
    „So, das war es für mich! Ende der Fahnenstange! Keinen Schritt weiter!“
    Raven schob sich an Xell vorbei. Zuvor hatte sein Freund mit einer resignierenden Hand- und Kopfbewegung seine kaum hörbaren Worte nur noch weiter untermauert und kehrt gemacht. Der tiefste und auch der feuchteste Punkt der Höhle lag vor ihnen: der Zugang zum Meer. Es war wie eine kleine Bucht, mit dem Unterschied. dass die Brandung nicht auf eine feine Sandbank, sondern auf einen schroffen Kiesstrand traf. Ebbe und Flut im stetigen Wandel der Zeit hatten diesen unwirtlichen Fleck im wahrsten Sinne des Wortes meterhoch ausgehöhlt und vielleicht sogar das ganze Höhlsystem über Urdenken geformt. Auf Augenhöhe mit der schlafenden See zu sein, auf der sich das Licht einer untergehenden Sonne brach, musste herrlich sein, ideal für romantische Stunden zu zweit. Der sich anpirschende Weltuntergang ließ diese Vorstellung aber gänzlich der Phantasie überlassen, und so waren wütend krachende Wellen, ein schäumender Ozean, spritzendes Salzwasser, Sturmgetöse und ein pechschwarzes Himmelszelt das traurige Bild, das sich ihnen stattdessen bot.
    „Hier muss es irgendetwas geben. Sucht!“, brüllte Raven gegen das Geheule des böigen Wind und den ohrenbetäubenden Lärm brandender Wellen an. Viel zu schnell für seinen Geschmack musste er aber bittere feststellen, dass Xell nicht ohne Grund kehrt gemacht hatte - und Wasserscheuheit spielte da nicht die tragende Rolle: Die Wucht des brechenden Ozeans war so gewaltig, dass er alles, was sich ihm so nachlässig anbot, gnadenlos zu sich in seinen kalten Schoß holte. Lediglich Reptain besaß genug Kraft und Masse, sich dem zu widersetzen, und dennoch geriet er bei jeder erneut auf ihn einschlagenden Woge ins Schwanken. Was aber suchten sie eigentlich? Ein Symbol? Ein Anhaltspunkt? Ja, natürlich: Ein Zeichen, das mit dem verborgenen Land und dem Zeitturm in Verbindung stehen musste. Aus einem gewissen Blinkwinkel betrachtet klang es sehr einfach, schließlich waren die Zeichnungen auf Xells Reliktfragment in jeder Hinsicht einmalig. So etwas fand man nicht alle Tage. Ein Verwechseln schien unmöglich. Hinsichtlich des Umstandes allerdings, dass es sich dabei um ein jahrtausendaltes, wohlbehütetes Geheimnis handelte, konnte sich Raven nicht vorstellen, dass es einfach zu finden sein würde. Erschwerend hinzu kam außerdem, dass die Elemente gegen sie arbeiteten. Ein falscher Schritt, ein Moment der Unachtsamkeit und Reptain drohte ins Meer gespült zu werden, und damit auch das letzte bisschen Hoffnung. Raven kniff die Augen zusammen, während er Reptain dabei beobachte, wie er den wiederholt auf ihn einschlagenden Wellen trotzte und durch das eisigkalte Wasser watete. Der Kopf seines Freundes suchte systematisch die Umgebung ab. Ein Hinweis, ein Anhaltspunkt, irgendetwas ... Plötzlich verharrte Reptains Aufmerksamkeit interessiert auf einer Stelle der Höhlenwand. Erst suchte er sie mit den Augen ab, dann ging er vorsichtig auf die Stelle zu. Zum Eiszapfen gefroren kehrte er anschließend zu seinen beiden wartenden Begleitern zurück.
    „Eine Einkerbung in der Wand“, nickte Reptain nach seiner Rückkehr. Er zitterte am ganzen Leib und triefte vor Nässe. Sein Verstand aber arbeitete auf Hochtouren. Er wandte sich Xell zu. „Dein Reliktfragment ... Darf ich es sehen?“
    Frei von Zögern kramte Xell in seiner Tasche. Das Reliktfragment wanderte von einer Hand in die nächste. Raven spürte sein Herz schneller schlagen, als Reptain den Stein kurz beäugte, daraufhin zufrieden grinste und sich wieder von ihnen löste. Reptain festigte seinen Griff um das Reliktfragment, während er sich abermals in die Brandung stellte und zu dem Punkt seines Interesses watete. Er sah den Stein in seiner Hand an, dann die Wand, dann wieder die Wand. Zielsicher presste er das Reliktfragment in die Einkerbung. Zufrieden knackte es ...


    Staub rieselte von den urplötzlich pulsierenden Wänden. Gleißendes, grünes Licht überschwemmte das Höhleninnere. Dort, wo das Reliktfragment Platz gefunden hatte, zogen sich kreuz und quer Linien durch das spröde Gestein, bis sie eine gigantische Nachbildung des Reliktfragmentes bildeten. Ganze Engelschöre schienen das Wunder zu besingen. Dem Sturm stockte der eigene Atem, der brodelnden See wurde der gewaltsam Dämon ausgetrieben. Als ob das, was auch immer gerade passierte, alles Schlechte dieser Welt ausgesperrt hätte, breitete sich eine angenehme Wärme und wohltuende Ruhe aus.
    „Da vorn! Der Meer! Der Himmel!“
    Xell sah es als erster: Der ferne Himmel brach entzwei, pechschwarze Unwetterwolken stoben auseinander und gaben einen klaren, blauen Streifen des Horizonts frei. Dasselbe Schauspiel darunter, auf der Meeresoberfläche: Auf wundersame Weise blieb ein schmaler Streifen unter dem plötzlich wolkenlosen Himmelsriss von den tobenden Wellen gefeit. Links und rechts brandeten die aufgewühlten Wassermassen gegen eine scheinbar unsichtbare Barriere. Voll von Zerstörungswut wehklagten die Windböen, Mahlströme bildeten sich in der aufgebracht schäumenden See. Wind und Wasser peitschten und krachten, donnerten und wüteten, heulten und tosten. Der Streifen dazwischen - mit seinem ruhenden Ozean und der windstillen Luft - blieb trotzig. Und in genau diesem Bruch, wo sich das sanfte Licht gegen die besitzergreifenden Schatten auflehnte, gab es noch etwas, etwas Gewaltiges, und was es auch war - es näherte sich rapide.
    Raven und Xell zitterten beide, doch war es mehr Faszination als Furcht, die die beiden vorantrieb. Xell reckte sich vor. Selbst als er knöcheltief im kalten Wasser stand, hielt er seine Begeisterung aufrecht.
    „Das ist ...!“, hauchte Xell.
    Auch Raven erinnerte sich. Tags zuvor ... Sie hatten es beobachtet, das anmutige Wesen, wie es über das Meer geritten war. Lautlos glitt es auch jetzt über den ruhigen Ozean, begleitet von einer befriedigenden Ruhe. Diesmal aber zielte es direkt auf sie. Ravens Beine bebten vor Erregung. Kurz suchte er den Blick seiner beiden Freunde, verirrte sich aber schnell wieder in den sanften braunen Augen des wunderlichen Wesens. Zu jeder Seite verhalfen zwei flossenähnliche Glieder dem fremden Pokémon sich aufrecht über dem Wasser zu halten. Der gewölbte Unterkörper mündete in einen gewaltigen Hals, ebenfalls von himmelblauer Farbe. Lediglich die Stirnseite des geschmeidigen, langen Hales war cremefarbend. Ein kleines, stumpfes Horn ragte aus dem Kopf, doch selbst wenn es die Länge und Schärfe eines Schwertes besessen hätte, hätte es auf diesem Kopf niemanden wirklich das Fürchten gelehrt. Nur noch ein Steinwurf war es entfernt, als es den Mund öffnete und sprach:
    „Auserwählte! Habt keine Angst! Nichts will ich euch zuleide tun!“
    Noch weiter breitete sich die behagliche Wärme in der Luft und im Wasser aus, als badete man in einer heißen Quelle. Wie glitzernder Morgentau klang die melodische Stimme. Man mochte sich einfach in ihr verlieren, sämtliche Sorgen, all das Leid der Welt vergessen.
    „Raven! Reptain! Xell!“ Jedem der drei Angesprochenen nickte sie zu.
    „Du ... weißt wer wir sind? Wer bist du?“, argwöhnte Reptain.
    „Ja, ich kenne euch“, antwortete die Fremde geheimnisvoll. „Ich sehe alles, ich weiß alles. Auch, was ihr begehrt. Ich sehe eine lange Reise hinter euch. Die eine ferner“, abwechselnd betrachtete sie Raven und Reptain, die jetzt nervöse Blicke wechselten. Raven glaubte sein Schlucken verräterisch laut durch die Höhle echoen zu hören. Wer auch immer die Fremde war, schien tatsächlich zu wissen, dass er und Reptain Zeitreisende waren, woher auch immer, ,die andere näher.“, fuhr das mysteriöse Wesen fort. Sie schenkte Xell einen kurzen Moment ihrer Aufmerksamkeit, bevor sie weitersprach. „So höret: Ich bin Lapras, Hüterin des verborgenen Landes.“ Jetzt verharrte sämtliche ihrer Aufmerksamkeit auf Xell, den sie auch direkt ansprach. „Du, der auf den Namen Xell hört - trete vor!“
    Nur noch wenig von Xells vorherigem Mut war plötzlich auf seinem schnell verblassenden Gesicht zu sehen. Jetzt war er es, der kräftig schluckte. Er forderte seinen Knien alles ab. Für mehr aber als einen halbherzigen Schritt genügte seine Kraft nicht. Lapras aber gab sich damit bereits zufrieden.
    „Besitzer des Nachweises, höre mich an! Wenn es dein Wunsch ist, das verborgene Land zu betreten, so besteige nun meinen Rücken. Wenn deine Absichten reinen Herzens sind, werde ich dir und deinen Freunden sichere Überfahrt gewähren.“
    Xell zögerte. Er suchte Ravens Blick und fand darin ein energisches Nicken, bevor er sich verlegen wieder Lapras zuwandte. „Und was, ähh, wenn meine Absichten nicht rein sind?“, stammelte er.
    Lapras verzog keine Miene, auch antwortete sie nicht. Erschrocken musste Raven feststellen, dass Lapras ihnen den Rücken zukehrte. Hatte Xell die Hüterin etwa mit seiner Frage gekränkt? Alles wäre dann verloren. Stattdessen aber zeigte Lapras ihnen lediglich ihren gewaltigen Buckel, auf dem sich ein unförmiger Panzer befand und leicht eine kleine Gruppe von Leuten mehr oder weniger bequem darauf Platz finden konnten.
    „Mach schon, Xell!“, forderte Reptain Xell auf.
    „Ist ja gut ...!“, wehrte Xell Reptains fordernden Rückenstich mit seiner eigenen Hand ab. „Möchte dich mal sehen, wenn du freiwillig in eine Fegefeuer springen müsstest ...“, grummelte er leise. Sein Blick lag abwechselnd auf Lapras’ gehörntem Rücken und dem absackenden Kiesstrand, auf dem er stand. Ein weiter Schritt, und er stand bis zur Hüfte im Wasser. Ein weiterer, und das Wasser reichte ihm bis zum Hals. Noch einer ... Daran wollte er nicht denken. Dreimal atmete er tief ein und noch fester aus. Fest kniff er die Augen zusammen. Dann riss er sie mit aller Gewalt wieder auf. Seine Füße lösten sich vom Boden. Wasser spritzte in alle Richtungen. Fast schon hätte er sein Ziel verfehlt. Er taumelte, als seine Beine auf Lapras’ rauem Rücken aufsetzten. In einem kurzen Moment überlegte er, ob er sich nun vor oder zurück fallen lassen sollte. Am Ende entschied er sich für Letzteres. Statt sich Lapras im wahrsten Sinne des Wortes ungebührlich an den Hals zu werfen, zog er die harte Landung auf seinem Gesäß dem vor.
    „Au!“
    „Auserwählter Xell!“
    Der Schrecken saß noch tief in Xells Glieder, doch schien es längst nicht überstanden zu sein. Lapras’ geschmeidiger Hals tauchte plötzlich vor ihm auf. In ihren ebenholzfarbenen Augen konnte er sein eigenes furchtverzerrtes Gesicht in zweifacher Ausführung sehen. „Ich blicke in dein Herz.“
    Lapras schloss einige Sekunden die Augen. Dann öffnete sie sie wieder. „Kein Gräuel mag ich zu erblicken, keine Habgier und keine Bosheit. Dein Herz wie auch deine Seele sind rein, und so auch deine Absichten.“
    „Na prima!“ Als ob Reptain die ganze Zeit auf nichts sehnsüchtiger gewartet hätte, rückte er mit einem gewaltigen Satz an Xells Seite, nur dicht gefolgt von Raven. Reptain ließ das Reliktfragment wieder in Xells Tasche gleiten. Mit seinem gezwungenen, halbherzigen Lächeln drückte Xell seine gedämpfte Dankbarkeit für diese Geste aus. Hätte er das Reliktfragment selbst holen müssen ... vielleicht hätte er nicht mehr den Mut für den Schritt auf Lapras’ Rücken aufbringen können.
    Abwechselnd beäugte Lapras die drei Reiter auf ihrem Rücken. Einem jeden zwinkerten ihre Augenlider noch einmal zu, bevor sie sich dem weiten Ozean zuwandte und sich langsam in Bewegung setzte.


    Raven blickte voraus in die Ferne. Noch immer lag der klare Streifen, zwischen dem die Elemente wüteten, vor ihnen. Er wusste nicht, was hinter dem Horizont verborgen lag, welchen Untiefen er, Xell und Reptain vielleicht auf dieser gefahrvollen Reise trotzen mussten oder ob sie gar jemals wieder zurückkehren würden. Die gewaltige Bürde der Hoffnung einer ganzen Welt zu schultern ... In stillen Gedanken nickte sich Raven selbst zu. Gemeinsam würden sie es schaffen. Sie mussten es einfach ...

  • Kapitel IXX: Zwischenstopp auf dem Meer der Zeit


    Die weite, offene See: Endlose Wassermassen bis zum Ende der Welt. Kein vergleichbares Gefühl wollte Raven in den Sinn kommen, wie jenes, das in diesen besonderen Stunden in ihm wohnte. Seit ihrem Abschied vom Festland waren sie stur dem wunderlichen Durchbruch zwischen der Unwetterfront gefolgt; unbehelligt von den zuckenden Blitze, brechenden Wellen, auftuenden Mahlströmen, kräftigen Regen- und Hagelniederschlägen und unberechenbaren Orkanböen auf den zwei gegenüberliegenden Seiten der unsichtbaren Barriere. Doch auch kein Geräusch drang in das Innere. Nur die Worte, die auf ihrer Seite der Barriere ausgesprochen wurden, fanden auch dort Gehör. Ebenso musste es außerhalb sein, wo der Sturm gegen die ignoranten Eindringlinge aufbegehrte. Es war damit vergleichbar, als wäre er und seine Begleiter inmitten einer aktionsreichen Theateraufführung, bei der die Akteure die bildliche Handlung stillschweigend vorführten.
    Nur schwer vorstellbar, dass man sich irgendwann von diesem einzigartigen Naturschauspiel desinteressiert abwenden könnte. Doch genau das trat ein. Nach und nach verloren erst Xell, dann Reptain und schließlich auch Raven das Interesse an ihrer erlebnisreichen Umgebung. Nachdem er Reptain über alles Nennenswerte sein Herz ausgeschüttet hatte, widmete sich Raven seiner längst überfälligen, lästigen Fellpflege; im Anschluss daran versuchte er den entgangenen Schlaf der letzten Nacht nachzuholen - mit nur bescheidenen Ergebnissen. Xell vertrieb sich die Warterei damit, den Reiseproviant abwechselnd nach seinen Eigenschaften zu sortieren; nach Größe, Farbe, Ähnlichkeit mit Gildenmitgliedern oder ohne erkennbare Struktur. Nicht nur eine äußerst persistente, sondern auch hirnlose Aufgabe, wie er auch selbst insgeheim fand. Reptain tat es in etwa Raven gleich: Mit dem Rücken voran saß er angelehnt an Lapras’ langem Hals und döste vor sich hin. Keinen Augenblick ließ er dabei aber seine Wachsamkeit sinken - seine Augen blieben unentwegt geöffnet. Ein starrer, unnatürlicher Blick ins Nirgendwo, bei dem es Xell mulmte. Abseits einiger Proteste von Xell gegen Reptains aufdringliches, nervös machendes Starren war es still. Kein Lufthauch rührte sich diesseits der Barriere. Die einzige Geräuschquelle lag bei der von Lapras befahrenen Wasserstraße und einem gelegentlichen Aufseufzen seitens Xell, wenn er gerade dabei war, seinen Zeitvertreib aufs Neue auszuüben. Irgendwann dann - Xell hatte inzwischen das Zählen seiner Auftakte aufgegeben - stopfte er den eben erst sortierten Proviant mürrisch in die Reisetasche zurück. Xell hielt es nicht mehr aus, diese Stille. Er wollte reden, mit irgendwem, über irgendetwas. Sein leiser Protest verschaffte ihm zumindest kurz Reptains Aufmerksamkeit. Das war dann aber auch schon alles. Xell sah über die hölzerne Leere in Reptains starrem Blick hinweg. Raven konnte und wollte er bei dessen hoffnungslosen Einschlafversuchen einfach nicht mit Smalltalk belästigen. Was blieb ihm anderes übrig - Xell nahm seinen ganzen Mut zusammen und sprach die einzig ihm verbliebene Person an: Lapras.


    „Ähm, hallo ...!“
    Gerade so, dass Lapras ihren unerwarteten Gesprächspartner erfassen konnte, drehte sie ihren Kopf etwas zur Seite. „Auserwählter Xell, was ist dein Begehr?“
    „Einfach nur Xell“, antwortete er, während ihm die Hitze in den Kopf stieg.
    „Nun, Xell, was wünschst du?“
    Xell bemerkte einen flüchtigen, dafür aber umso schärferen Seitenblick von Reptain in seine Richtung. Er tat sein Bestmöglichtes, die starren, gelben Augen unter keinen Umständen zu begegnen. Stattdessen konzentrierte er sich auf Lapras. „Och“, sagte er und überkreuzte dabei die Arme am Hinterkopf, um irgendwie lässig zu wirken, „eigentlich nichts Besonderes. Ich wollte nur etwas plauschen, das ist alles. Wenn du aber zu beschäftigt bist ... also, naja, dann will ich auch nicht weiter stören.“
    Soweit Xell es beurteilen konnte, lächelte Lapras sanft. „Wenn dir der Sinn nach Unterhaltung steht, so will ich dir deinen Wunsch erfüllen. Also, worüber möchtest du mit mir reden?“
    Es folgte fahriges Armkratzen und ein verlegener Gesichtsausdruck. Sein überstürztes Stammeln setzte dem dann noch die verräterischste aller verräterischen Kronen auf. Xell fluchte innerlich. Warum hatte er nicht vorher alle Eventualitäten oder überhaupt den Beginn eines möglichen Gesprächs einzustudiert? Jetzt stand er da wie der letzte Trottel ... Zu der wallenden Hitze in seinem Kopf gesellte sich nun noch die völlig überflüssige Schamesröte.
    „Nun, möchtest du vielleicht etwas über mich erfahren?“, nahm Lapras den von Xell gereichten Faden wieder auf. Xell nickte dankbar. Seine geröteten Wangen aber nahmen noch lange nicht ihre normale Farbe an.
    „Über die Jahrhunderte hinaus bekam ich in meiner Rolle als Hüterin des verborgenen Landes nur selten Gelegenheit, um Kontakte mit Außenstehenden, insbesondere Landbewohnern, zu knüpfen. Eine dieser seltenen Ausnahmen war euer Freund Knuddeluff.“
    Worüber er nun mehr Verblüffung zeigte, ob nun Lapras’ unscheinbar hohes Alter und die Beharrlichkeit für die von ihr getragenen Aufgabe, oder die überraschende Bekanntschaft mit niemand anderem als Knuddeluff, konnte man aus Xell nicht deutlich heraussehen. Zumindest Raven hatte erst beim Nennen von Knuddeluffs Namen geistesgegenwärtig mit den Ohren gezuckt.
    „Du kennst unseren Gildenmeister?“, fragte Xell ungläubig.
    „So ist es“, nickte Lapras und lächelte gleichzeitig seltsam zufrieden. „Bitte missversteht meine Haltung über euer Unwissen nicht falsch, doch bin ich froh darüber. Es bedeutet, Knuddeluff hielt Wort. - Damals, müsst ihr wissen“, fuhr sie fort, als sie das offensichtliche Interesse ihrer Zuhörer bemerkt hatte, „war euer Freund in einer privaten Angelegenheit in dem Ort unterwegs, den ihr Salzwasserhöhle nennt. Tief drang er und sein Begleiter in das Allerheiligste ein, ohne zu wissen, welchen Frevel er damit beging.“
    Raven lauschte aufmerksam. Ohne Zweifel berichtete Lapras über den Tag, als Knuddeluff und Plaudagei die Salzwasserhöhle erforscht hatten; Informationen, die Knuddeluff ihnen vorenthalten hatte. Wohl aus gutem Grund, wie Raven nun mutmaßte.
    „Die Wächter des Heiligtums gingen gewissenhaft ihrer Aufgabe nach.“ Lapras ignorierte das abfällige Schnauben aus Ravens Richtung und fuhr fort. „Dennoch gelang es eurem Freund, auf seiner Flucht den tiefsten Punkt zu erreichen. An jenem Tag befand ich mich des Zufalls Willen in der Nähe.“
    „Du hast ihn gerettet?“, fuhr Xell Lapras’ Gedankengang fort.
    „Ja, das tat ich. Ihn und seinen niedergestreckten Begleiter. Auf meinem Rücken trug ich sie in Sicherheit. Leider hatte Knuddeluff deutlich mehr vernommen als einem Außenstehenden je zuteil wurde.“ Ein dunkler Unterton ging von Lapras’ Stimme aus. „Insbesondere zeigte er großes Interesse an den Gravuren des Schlüsselportals.“
    „Das klingt sehr nach Knuddeluff ...“, murmelte Xell. Mit einem stummen Nicken pflichtete Raven dem bei.
    „Als Gegenleistung für die Rettung seines und dem Leben seines Partners rang ich Knuddeluff ein Versprechen ab: Das Geheimnis um diesen Ort musste gewahrt bleiben. Er willigte ein, und wenn ich mich nicht täusche, hielt er sein Wort, bis zum heutigen Tage. Seine Treue stimmt mich sehr froh.“
    „Du hast nicht wirklich geglaubt, dass er Wort hält“, meldete sich Reptain beiläufig zu Wort. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
    Lapras seufzte. „In der Tat ... Um euch gegenüber völlig aufrichtig zu sein: Als ich Knuddeluff auf meinem Rücken in Sicherheit trug, empfand ich Reue für mein Handeln. In meiner Rolle als Hüterin des verborgenen Landes hätte ich niemals eingreifen dürfen. Etwas aber hielt mich ab.“
    „Mitleid“, stellte Reptain abermals fest.
    „Mitleid ... vielleicht, ja“, meinte Lapras. „Oder vielleicht nicht? Eine Fügung des Schicksals? Eine Vorahnung, dass Knuddeluffs Teil in dieser Geschichte noch lange nicht beendet war? Einige der wenige Fragen, nach deren Beantwortung ich noch heute suche.“
    „Was es auch war - ohne es wären wir heute allesamt nicht hier und befänden uns nicht auf dem Weg zur Rettung des Zeitturms“, sagte Xell.
    „Die Wege der Zeit sind unergründlich. So auch der Umstand, wie du in den Besitz eines Fragments des Zeitturms gelangen konntest. Sag mir, Xell, wie kam es dazu?“
    „Mein Reliktfragment ist ein Stück des Zeitturms? Das wusste ich nicht ...“, antwortete Xell wahrheitsgetreu. „Hm, ich muss dich leider enttäuschen, wenn du jetzt eine spektakuläre Geschichte erwartet hättest, aber es ist einfach so, dass ich einiges Tages am Strand spazieren ging und es dort fand. Das war dann auch schon alles. Die Wahrheit lässt ,den Auserwählten' in keinem schönen Licht stehen, ich weiß. Aber was soll ich sagen? So ist es nun einmal passiert ...“
    „Es sind nicht die Umstände, die dich letztendlich zum Auswählten machen, sondern deine Absichten. Ohne die wärst du nicht anders als jene, die diese Fragmente einst zu ihrem egoistischen Nutzen entwendeten.“
    Die Neugierde nach der Geschichte, die hinter dem Reliktfragment stand, war Xells fragendem Gesicht maßgeschneidert. Ohne weitere Umschweife begann Lapras zu erzählen.
    „Hörtet ihr je von dem Volk der Aeta?“
    Xell und Raven bejahten die Frage. Reptain schwieg.
    „Eine altertümliche Hochkultur. Sie stehen mit dem verborgenen Land in Verbindung. Der Rest ist mir irgendwie entfallen“, erinnerte sich Xell an Qurtels Erzählung.
    „Sie waren mehr als das. Sie waren Akolythen Dialgas, seine Anhänger. Von handverlesenen Hohepriestern bis zu Hundertscharen von niederem Gefolge. Pokémon und Menschen vereint unter ihrem Gott. Sie verehrten den Boden, auf dem Dialga der Legende zufolge seine ersten Schritte tat und errichtete dort ihm zu Ehren einen Tempel als Symbol ihrer tiefen Demut.“
    „Den Zeitturm“, sagte Reptain.
    „Ja. Aus Erkenntlichkeit für ihre Hingabe segnete Dialga den Zeitturm, indem er ihm einen Teil seiner göttlichen Macht einhauchte, und residierte fortan auf dessen Zinnen. Mit Wohlgefallen blickte er von der Spitze des Turms auf sein treues Volk nieder, das ihm seine Aufwartungen machte und Opfergaben erbrachte. Den treusten seiner Anhängern erfüllte er deren Herzenswünsche und bestrafte die wenigen unter ihnen, die ihn schmähten. Er war ein gerechter Regent, gerecht und weise.“
    Raven fing Xells doch sehr zwiegespaltenen Blick auf, den er nicht weniger teilte. Auch in seinen Ohren klang es sehr unangenehm, nach einer strickten Monarchie mit Dialga als unumstrittenen Alleinherrscher. Zuckerbrot und Peitsche - keine Welt, in der Raven gerne leben mochte. Im Moment brachte er leicht mehr Sympathie für den Dreck unter seinen Krallen als für Dialga auf.
    „Wie ging es weiter?“, fragte Reptain.
    „Wie ihr euch sicher denken könnt, war es Außenstehenden untersagt, den heiligen Boden zu betreten. Die Gesetze waren sehr streng, und noch strenger die Bestrafung bei Missachtung.“
    „Und das soll gerecht sein? Abstammung und Blut, die eine Grenze zogen? Ein gesegnetes Leben für die, die das Glück besaßen, auf der richtigen Seite das Licht der Welt zu erblicken, und Pech für alle anderen? Oh ja, ein Musterknabe von einem Herrscher“, höhnte Reptain.
    „Du täuschst dich, Reptain. Diese Entscheidung lag nicht bei Dialga, sondern bei den einflussreichsten seiner Anhänger. Der kleine Orden innerhalb von Dialgas Dienerschaft, angeführt von ihrem Propheten, sah schon lange das Potenzial ihres Herrn als Verschwendung für das gemeine Volk an und tat alles daran, diese Macht einzig für sich allein zu nutzen. Im Verborgenen zogen sie die Fäden und gewannen von Tag zu Tag mehr Einfluss, während sich mehr und mehr von Ihresgleichen in den eigenen Reihen scharten. Das Wegsperren der Schlüsselsteine, so wie du, Xell, einen besitzt, und somit die Ausgrenzung der Außenweltler war der erste Schritt. Sanktionen und weitere Gesetze folgten, stets in dem eigenen, egoistischen Nutzen. Über Jahrzehnte hielten sie die Illusion aufrecht und ließen die restlichen Anhänger in dem festen Glauben, einzig in Dialgas Namen zu sprechen und seinen Willen auszuführen. Sie tröpfelten die falschen Wahrheiten wie Gift in die Ohren der Gläubigen und zogen ihren Würgegriff enger. Doch blieb ihr Ränkespiel nicht ewig unbemerkt. Die ersten Unruhen wurden laut und obwohl die Stimmen jener Aufsässigen schnell unter dem gewaltigen Joch der machthungrigen Unterdrücker erstickten, wuchs die Gegenseite weiter an und somit auch die Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Es kam zum Bürgerkrieg. Auf der einen Seite der Prophet mit seinen Anhängern, gesegnet durch die Macht ihres arglosen Herrn. Auf der anderen Seite das einfache Volk. Bauern, Separatisten, Sympathisanten und Milizen. Der Glaube war die Stimme ihres Protests, die Überzeugung das Wehen ihrer Banner. Doch waren sie sich im Klaren, dass Glaube und Überzeugung sich nicht der göttlichen Macht Dialgas entgegensetzen konnten. Daher entschieden sie sich für die einzige Möglichkeit, das Blatt zu ihren Gunsten zu wenden: Unter dem schützenden Schleier jener schicksalhaften Nacht schlich sich eine kleine Gruppe Separatisten in einen Tempel, wo die Schlüsselsteine unter Verschluss gehalten wurden. In einem blutigen Gemetzel überwanden sie die Verteidigung, stahlen die vier Schlüsselsteine und brachen die Siegel zur Außenwelt.“
    „Sie wollten weitere Anhänger unter ihrem Banner scharen“, sagte Reptain.
    „Dies war ihr ursprünglicher Gedanke, ja. Mit einer Übermacht hoffen sie den Zeitturm zu stürmen und sich so von dem Joch der Unterdrücker zu befreien“, antwortete Lapras. „Niemals aber kam es so. Die Eindringlinge sahen keinen Unterschied in den Herzen derer, die ihnen Einlass gewährt hatten oder in den unnachgiebigen Klerikern. Ganze Heerscharen fielen in das geweihte Land ein, brandschatzten und töteten. Kein Kampf um Befreiung, sondern ein Massaker.“
    Raven spürte ein unangenehmes Stechen in seiner Brust. Er fühlte sich zum Mitleid verleitet. Obwohl ... Schon seltsam. Mitleid für Dialgas Anhänger? Eigentlich undenkbar. Und die Unschuldigen? Was war mit denen? Oder waren es sogar beide Seiten, für die er plötzlich Reue empfand? Am Ende - und so bitter es auch klingen mochte - hatten die Priester Dialgas Recht behalten, indem sie den Außenweltlern den Zutritt in das verborgene Land untersagt hatten. Es schüttelte ihn innerlich, eine gute Seite in den Unterdrückern gesehen haben zu wollen. Doch irgendwie ...
    „Was hat Dialga getan?“, fragte Xell.
    „Zu jener Zeit des Aufruhrs befand sich Dialga in einem tiefen Schlaf. Die drei Seiten hatten sich in wochelangen Gefechten beinahe zugrunde gerichtet. Die Rebellion war zerschlagen, die Priester Dialgas besaßen nur noch einen Bruchteil ihrer einstigen Macht. Nur die Flut der Eindringlinge, die das Land plünderten, wollte nicht abreißen. Als Dialga endlich aus seinem Schlummer erwachte und von den Zinnen des Zeitturms herabsah, befleckte Blut und Zerstörung das Land. Enttäuschung und Zorn ummantelten sein Herz und ließen ihn für jegliche Vernunft und Gnade erblinden. In seinem Rausch beging er eine Tat, für die er noch heute tiefe Scham zeigt.“ Lapras’ Augen schlossen sich. Tief atmete sie durch. „Dialga spülte die Verderbnis hinfort, indem er über alle richtete. Die Priester im Tempel, das Volk auf dem Lande und die fremden Besatzer. Alle. Keine Partei blieb von seiner Wut verschont. Nur wenige unter ihnen überlebten.“
    Erdrückend schwer lag plötzlich die Bestürzung über die Geschehnisse, die sich vor Jahrhunderten zugetragen hatten, in der Luft. Zweimal öffnete Xell seinen Mund, kein Wort aber wollte ihm von den Lippen kommen. Wie es Lapras schaffte, ihre Geschichte nach nur kurzem Verschnaufen fortzusetzen, war Raven - ebenfalls zutiefst betroffen - schleierhaft.
    „Das Land war geläutert. Doch um welchen Preis?“, erzählte Lapras weiter. „Erst als die Dinge bereits unumgänglich waren, erkannte Dialga, was er getan hatte. Doch nichts konnte sein Blutvergießen sühnen, und schon gar nicht umkehren.“
    „Hätte Dialga nicht die Dinge ändern können? Einfach in der Zeit zurückreisen und ... naja ...“, warf Xell ein.
    „ Dialga ist mächtig, aber diese Möglichkeit steht nicht in seiner Macht. Eine Entscheidung aus den Geschichtsbüchern tilgen, weil sie nicht die erwünschte Folgen hat. Mit der Zeit spielt man nicht! Die Konsequenzen könnten fatal sein!“
    „Fataler als das? Wohl kaum ...“, warf Reptain ein.
    „Dieses Wissen besitzt weder ihr, ich noch Dialga!“, antwortete Lapras knapp.
    An der Strenge ihrer Stimme hörte Raven deutlich heraus, dass Lapras wahrscheinlich noch nicht einmal ihr Tun um die Rettung des Zeitturms guthieß. Raven aber kannte die Folgen, und was auch immer Lapras dachte - dieses Blatt in Geschichtsbüchern durfte unter keinen Umständen geschrieben werden.
    „Zumindest einen Teil dieser gewaltigen Schuld, die Dialga auf seinen Schultern trug, wollte er damit abtragen, dass sich das Geschehene niemals, niemals wiederholen durfte. Er raubte sich selbst einen Teil seiner göttlichen Macht, indem er die Zahnräder der Zeit, denen er zuvor einen Fragmente seiner Selbst eingehaucht hatte, von dem Zeitturm entfernte und über die Welt verteilte. Was er aber nicht vermochte, war, die Zugänge zum verborgenen Land zu verschließen, denn die vier Schlüsselsteine, von denen du einen besitzt, Xell, waren verschollen.“
    Xell festigte den zittrigen Griff um sein Reliktfragment.
    „Wer die damalige Tragödie überlebt hatte, suchte sein Heil in der Flucht. Die übriggebliebenen Menschen verließen das unwirtliche Land; einige Pokémon folgten ihrem Beispiel, doch die meisten unter ihnen fingen an den fernen Gestaden ein neues Leben an. Über den ganzen Kontinent verstreuten sie sich, ließen sich an den verschiedensten Orten nieder und siedelten unter denjenigen an, die sie vor gar nicht allzu langer Zeit überfallen hatten. Dies sind die Ahnen der Aeta. Über die Jahrhunderte hinweg mag ihr Blut dünner und dünner geworden sein, doch noch heute fließt es. Auch in dir, Xell“, nickte Lapras ihm zu. Schließlich wandte sie sich seit langer Zeit wieder dem Meer zu. Betrübt schaute sie in den fernen Horizont. „Bedauerlich - erst nachdem so viel unschuldiges Blut vergossen worden war, sah man endlich über die Differenzen und die Abstammung hinweg und lebte ein gemeinsames Leben.“


    Schon die ganze Zeit über fühlte sich Raven sehr schläfrig. Nun, nach Lapras’ letzten, nachdenklichen Kommentar, übermannte ihn der Schlaf. Seine Augenlider schlossen sich, sein Geist driftete von der wachen Welt ab.
    Vor den hohen, reich verzierten Säulen hing der Vollmond am Himmel. Es war Nacht. Das unbeständige Licht etlicher Fackeln flackerte und ließ seinen schwachen Schein auf eine Reihe vermummter Gestalten fallen. Sie befanden sich in wilder Extase, sangen und tanzten. Raven befand sich etwas außerhalb, als einer von ebenfalls vermummten Menschen. Sie bildeten eine Reihe. In ihren Händen trug jeder eine Kerze. Raven wusste nicht wieso, aber er summte dasselbe berauschende Lied, zu denen die Tänzer sich bewegten. Als Raven plötzlich seinen Kopf hob und sich überhaupt die Frage stellte, warum er eigentlich wieder Hände besaß und diese Kerze trug, löste sich die Szenerie auf.
    Ein blutroter Mond hing über dem Land. Jetzt war er wieder ein Pokémon - und ein mächtiges noch dazu. Mit langen Klauen, einer Reihe zermalmender Zähne im Maul und einem dornenversehenen Schwanz. Schwellende Feuer lagen in der Luft, Schreie und Angst. Rauchschwaden kratzten ihm im Hals. Behausungen aus Holz und Lehm standen lichterloh in Flammen. Er fühlte den Hass wie seinen Herzschlag in der Brust schlagen, während seine schweren Schritte über den Boden donnerten. Rechts neben ihm schmetterte ein gleißendes Licht gegen die Schulter eines seiner ebenfalls heranstürmenden Kameraden. Er ging zu Boden, rührte sich nicht mehr. Der feige Angreifer schnitt Raven eine Grimasse und entblößte dabei seine gelben Zähne. Wut und Hass ließen Raven laut aufheulen. Aus seinem heißeren Rachen löste sich ein gebündelter Energiestrahl. Er zog eine Schneise der Verwüstung und äscherte seinen Widersacher ein, bevor sich Raven dem nächsten Feind zuwandte.
    Die Kulisse änderte sich wieder. Noch immer hing ein blutroter Mond über dem Himmel; so rot wie das Glühen seiner Augen, als er von der Spitze des Zeitturms hinabblickte. Der brennende Schmerz in seinem Kopf verzehrte seine Seele, Kälte griff nach seinem Herz und ließ es erkalten. Ein Schrei löste sich aus seiner Kehle, der den Boden zum Beben brachte. blutbefleckte Schwerter fielen klirrend zu Boden, Stimmen noch voller Kampfeswut verstummten, Häuser stürzten ein, Feuer erloschen, Leiber wurden hinfortgerissen. Stille ...



    „Wir überqueren jetzt das Meer der Zeit.“
    Zerstreut öffnete Raven sein rechtes Auge einen Spalt weit. Ein spiegelglatter Ozean erstreckte sich unendlich weit vor ihm, nur wenige Wolken befleckten den blauen Himmel. Sie hatten die Unwetter hinter sich gelassen. Wie lange hatte er geschlafen? Der Kopf war noch immer voll von den Bildern seines Traums, der restliche Körper dagegen unausgeruht und matt. Oder schlief er etwa immer noch? Ein Traum? Jetzt öffnete er auch das andere Auge, ebenfalls einen kleinen Spalt weit. Er musste genau hinsehen, den Blick unentwegt auf eine Stelle richten. Lichtreflexionen in der Luft. Bilder und Szenen. Raven fixierte einen Punkt noch weiter, verhärtete die bis zum Anschlag geschärften Augen, dass sie schmerzten. Etwas mit rotem Fell, großen, erwartungsvollen Augen ... Was auch immer es war, Raven kannte es, oder ihn ... Es war ... Xell?
    „Xell?“
    „Hm?“
    Raven erhob sich. Seine Beine fühlten sich geleeartig an und schienen dieser Bürde kaum gewachsen. Er schaute nicht in die Richtung seines Freundes, sondern visierte weiterhin die seltsame Reflexion in der Luft an. „Siehst du das? Da.“
    „Hä? Was?“ Xell trottete zu Raven hinüber. „Versteh ich nicht? Was soll ich sehen?“
    „Das da!“
    „Was?“
    „Na, das!“
    „Hä?“
    „Siehst du das nicht? Das bist du! In der Luft.“ Die Überwindung war stark, als er sich Xell zudrehte. Alles, was Raven in dem Gesicht seines Freundes fand, war dessen Unverständnis. „Schau genau hin, dann ...“ Als ob er es geahnt hätte, drehte sich Raven wieder den Bildern in der Luft zu - sie waren verschwunden. Nein, nur anders! Wenn er jetzt genau hinsah, erkannte er ein weites Ödland. Sand so weit das Auge reichte. Eine Wüste.
    „Das ist ... die Nordwüste?“, hauchte Xell ungläubig.
    „Siehst du es auch?“
    „J-ja ... Aber wie kann das ...?“
    „Das Meer der Zeit“, sagte Lapras. Wie zuvor, als sie ihren Begleitern die Geschichte über das Volk der Aeta erzählt hatte, hatte sie ihnen wieder ihren Kopf zugewandt. „Hier fließen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammen. Ihr werdet Bilder sehen aus eurer Vergangenheit. Alte Freunde und Bekannte, Erlebnisse aus alten Tagen, längst eurem Geist entschwunden.“
    Die Nordwüste löste sich auf. Abermals tauchte Xell auf. Diesmal war das Bild schärfer. Mit aller Gewalt zerrte er an einem rosaroten Edelstein.
    „Das sind wir, als wir die Höhle hinter dem Wasserfall entdeckt haben!“, rief Xell.
    Es war wie ein Zusammenschnitt ihrer gemeinsamen Abenteuer. Xell fand Raven auf der Sandbank nahe Schatzstadt; eine Zelle in der Zukunft; Skunktank im Apfelwald; das Zahnrad der Zeit, das am Grunde des Nebelsees schlummerte. Das nächste Bild hingegen kannte Raven nicht: Ein tiefer, staubiger Krater, übersäht mit hässlichem Gestein. Das musste aus der Zeit Xells stammen, bevor er Raven gefunden hatte.
    „Irre! Absolut irre!“, wiederholte Xell nun bereits zum fünften Mal. Nur kurz danach versagte ihm die Stimme.
    Ravens Glieder versteiften sich, sein Mund formte ein gequältes „Nein!“, doch kein Ton wollte ihm über die Lippen kommen. Das nächste Bild zeigte einen in der Zeit gefangenen, zur Salzsäule erstarrten Xell. Die Umgebung glich der, die sie bei ihrer Reise in die Zukunft durchquert hatten.
    Xell fiel auf die Knie, die Hände zu Fäusten geballt. Er zitterte am ganzen Körper. „Wir ... werden versagen ...! Es ... es ist vorbei ...!“
    Jetzt tränten Ravens Augen. Nicht aber vor Anstrengung. Die Wahrheit hatte sein Herz durchlöchert. Alles, wofür sie gekämpft und gelitten hatten, war vergebens. Am Ende würden sie scheitern. Sie und der Rest der Welt waren dem Untergang geweiht.
    Das Bild löste sich auf und ein neues erschien. Dialgas rote Augen tauchten hinter zwei Säulen auf. Einer der massiven Träger wurde in Stücke gesprengt. Ein Flammenstrahl schoss den Gesteinsfragmenten entgegen und prallte gegen Dialgas Brust. Aus Dialgas aufgerissenem Mund löste sich ein lautloser Schrei.
    „Das sind wir ... und Dialga ...“ Ravens Stimme zitterte. „Wie aber ...? Wir haben doch eben gesehen ...“
    „Die Zukunft ist ungewiss ...“, schüttelte Lapras ihren Kopf. „Voller Lügen und doch voller Wahrheiten. Wie Ebbe und Flut befindet sich die Zeit stets im Wandel. Niemand kann sagen, was die Zukunft für euch bereit hält. Versagt oder triumphiert ihr? Das liegt allein bei euch.“
    Auch wenn Lapras’ Erklärung befreiend auf Raven wirkte, fühlte er sich verletzbarer und angreifbarer denn je. Natürlich wusste er, was auf ihn und Xell wartete, wenn sie versagten. Die seelenlose Leere in Xells versteinertem Blick aber mit eigenen Augen zu sehen, war eine Folter, die sich Ihresgleichen suchte. Er wollte die Bilder nicht mehr sehen, sie einfach wieder vergessen. Er brauchte Schlaf ...
    Xell schöpfte schneller neue Kraft. Einige Zeit noch beobachtete er fasziniert die Bilder, als ob er in einem Poesiealbum blätterte. Schließlich wandte er sich Reptain zu. Auch vor dessen Augen lief ein wild zusammengewürfelter Film ab. In gerade diesem Auszug seines Lebens streckte er gerade Selfe mit einem waghalsigen Hieb nieder.
    „Da weiß sich aber jemand seiner Haut zu wehren“, sagte Xell. Er spielte zum gleichen Teil mit Vergnügen und Abneigung dafür, was er sah.
    „Ich empfinde keinen Stolz dafür, was getan werden musste“, antwortete Reptain knapp.
    „Wollte ich damit auch nicht andeuten. Meinte ja nur ...“
    Eine neue Seite von Reptains Geschichte wurde aufgeschlagen. Celebi redete mit ihrer unhörbaren Stimme auf ihn ein. Ihr Gesicht wirkte noch genau so freundlich und einfühlsam, wie es auch Xell in Erinnerung hatte. Sie lächelte Reptain zu, der sich im selben Moment von ihr abwendete. Passend dazu nahmen die Wangen des anwesenden Reptain einen zarten Hauch rosa an. Xell verkniff sich den Kommentar und sah zu, wie Reptain allein eine einsame Straße entlang wanderte und versteinerte Menschen und Pokémon scheinbar teilnahmslos hinter sich ließ.
    „Muss schlimm gewesen sein“, murmelte Xell.
    Reptain schwieg.
    Die weiteren Bruchstücke aus Reptains Erinnerungen waren stets von Gewalt oder Leid angefüllt. Entweder kämpfte er oder aber sah sich allein in einer ihm feindlich gesonnenen Umgebung. Da war nichts Schönes, woran er sich erinnerte. Keine Freunde, keine Familie, außer ...
    „Ist das Raven?“
    „Ja, das ist er, mein Raven.“
    Als er seinen eigenen Namen hörte, konnte er nicht anders: Unweigerlich hob Raven seinen Kopf und drehte ihn in die Richtung seiner Freunde. Die Luft projizierte das Abbild eines Menschen. Er wirkte sehr schäbig. Schulterlanges, braunes Haar, zerfledderte Kleidung, groß und schlank. Verständnisvoll sah er dem Projektions-Reptain in die Augen. Kurz danach löste sich der lächelnde Menschen-Raven auch wieder auf und wurde von einem anderen Gedächtnisfragment Reptains ersetzt. Raven wandte sich wieder ab. Es war schon seltsam. Noch vor Wochen hätte er alles dafür gegeben, um zu erfahren, wer er wirklich war. Nun aber, an diesem Punkt seiner Reise, war es ihm völlig gleichgültig. Woher sollte er auch wissen, wohin er gehörte? In die Gegenwart oder in die Zukunft? Als Pokémon oder als Mensch? Er fühlte sich gewaltsam in zwei verschiedene Richtungen gerissen. Im Moment konnte er sich selbst nicht leiden, ob nun in dieser oder in seiner menschlichen Form, und noch weniger mochte er Xells neugierigen Blick auf sich leiden.
    Der Zufall musste einen Sinn für Ironie besitzen; ausgerechnet jetzt erschien eine Erinnerung, in der Reptain vergebliche Versuche unternahm, seinen schlafenden Menschenfreund aufzuwecken. Raven wehrte die beiden ihn schüttelnden Hände mit seiner eigenen ab, drehte sich zur Seite und schlief einfach weiter - zur allgemeinen Belustigung derer, die dies aus der Gegenwart beobachteten.
    „Den meisten Stress kann man entgehen, vermeidet man es aufzustehen“, brummte Raven und tat es seinem Menschen-Ich gleich.
    „Eigentlich“, begann Reptain langsam, „hat sich der gute Raven überhaupt nicht verändert.“
    „Abgesehen von dem Fellgeschmack in meinem Mund“, brummte Raven abermals.
    „Und noch immer ein Morgenmuffel wie eh und je.“
    „Wenn allzu früh der Morgen graut, ist der ganze Tag versaut.“
    Der Anflug eines selten zu sehenden Lächelns huschte über Reptains Gesicht. „Mein Raven ...“


    Unerwartet erschütterte ein Beben Lapras’ Körper. Vom Kopf bis zur Schwanzspitze schüttelte es sie durch, und mit ihr auch Raven, Reptain und Xell auf ihrem Rücken. Fast sogar wäre Xell in die kalten Fluten gestürzt, hätte Reptain ihn nicht im letzten Moment am Genick gepackt.
    „Seid ihr unversehrt?“
    „Was - was war das?“, keuchte Xell. Er war kreidebleich.
    „Entschuldigt. Ich fühle mich nicht sonderlich wohl. Die Reise war lang und beschwerlich.“
    Tatsächlich stand Lapras die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben, wie Raven - plötzlich hellwach - bei näherer Betrachtung feststellen musste. Da war aber noch mehr, was Raven herauszulesen glaubte. Viel mehr ...
    „Es ist der Zeitturm, oder?“
    Ein gezwungenes Lächeln klaffte auf Lapras’ vor Anstrengung gezeichnetem Gesicht. „Ich sehe, ich kann euch nichts vormachen. Meine Existenz ... ist unweigerlich an die des Zeitturms geknüpft. Ist er nicht mehr, so auch ich.“
    „Das heißt ...“, flüsterte Raven. Er teilte die schwere Sorge, die Lapras in ihrem Blick trug.
    „Ich spüre mein Ende nahen. Beeilen wir uns.“

  • Bonuskapitel II: Echos der Zeit


    (Die nachfolgende Geschichte ereignet sich vor dem schicksalhaften Zusammentreffen von Raven und Xell.)


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    Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Was wir waren, was wir sind, was wir sein werden. Erlebnisse prägen ein Leben lang. Sie entscheiden, wer wir sind, was wir tun und wohin die Straße des Lebens uns wohl noch führen mag. Holprig mag der Weg manchmal sein, voll von Tücken und unangenehmen Erfahrungen. Vielleicht fällst du auf deinem Wege, schrammst dir die Knie auf, weinst. Jemand hilft dir auf, nimmt dich in den Arm und spendet dir seinen Trost. Fortan wirst du deine Schritte mit Bedacht wählen. Einen Stolperstein auf der Straße deines Lebens überspringst du und denkst vielleicht an jenen Tag zurück, an dem du fielst. Oder du fällst wieder, und machst eine neue Erfahrung. Vielleicht bist es sogar du, der einem Gestürzten irgendwann wieder auf die Beine hilft und ihm deinen Trost spendest. Ihm sagst, dass das Leben weitergeht. Du machst eine gute Erfahrung, fühlst dich besser.
    Was aber, wenn diese Straße nun endet? Wenn es kein Vor mehr gibt, kein Links, kein Rechts, kein Zurück? Welchen Weg sollen wir dann gehen, wenn es doch keinen mehr gibt? Warum dann eine Entscheidung treffen? Eine Straße, die ins Leere verläuft. Ins Nichts. Niemand kann dir mehr aufhelfen, weil du nicht mehr fallen kannst. Niemand kann dich mehr in den Arm nehmen und dich trösten, weil dir niemand mehr aufhelfen wird. Es gibt keine Erfahrungen mehr, die du machen kannst, weder gute noch schlechte. Du kannst stillstehen oder weiterlaufen - es ändert nichts. Für dich gibt es nichts mehr zu tun, keine Entscheidung mehr zu fällen. Eine Leere, die durch nichts mehr zu füllen ist. Dein Lebensweg endet hier. Oder aber du stellst dir die Frage nach dem „Was wäre wenn ...?“.


    Die Zeit war an einem Punkt angelangt, an dem die Saat der Hoffnungslosigkeit das einzige war, was fruchtbaren Boden fand. Eine Welt, in der niemals mehr ein neuer Morgen auf eine herrschsüchtige Nacht anbrechen konnte. Eine Welt, in der der eigene Lebensinhalt nur noch darin bestand, seinem eigenen Ende entgegenzuschlafen. Eine Welt im Stillstand. Der Zerfall schritt unnachgiebig voran, Verzweiflung griff um sich wie eine todbringende Krankheit. Schwindend gering war die Zahl derer, die sich noch an das einlullende Säuseln einer warmen Sommerbrise erinnerten, an ungetrübtes Gelächter und das goldene Licht am fernen Firmament, wenn die aufgehende Sonne den Beginn eines neuen Tages verkündet hatte. Zu dieser aussterbenden Art gehörte Celebi. Als eine von ihnen, gefangen in dieser dunklen Stunde der Zeit, litt sie dieselben Qualen, atmete dieselbe verdorbene Luft ein und träumte denselben niemals enden wollenden Albtraum. Und doch war sie anders, ganz und gar einzigartig. Etwas, durch das sie herausragte, gleichzeitig vielleicht aber auch die größte Bürde von allen trug. Denn Celebi besaß eine einzigartige Gabe: In gewisser Hinsicht konnte sie das Geschehene ungeschehen machen, oder besser gesagt: das, was geschehen wird, hinauszögern. Sie vermochte den Raum zu krümmen und so eine Kluft in die Zeit zu schlagen. Es waren Portale, Tore in die Vergangenheit oder in die Zukunft, zum Anbeginn allen Seins bis hin zum Ende aller Tage. Seit Celebi zurückdenken konnte, hatte diese besondere Kraft stets in ihr innegewohnt. Sie wusste nicht, wie und woher, auch nicht, warum. Nur, dass sie diese Gabe besaß, und das war letzten Endes alles, was dieser Tage zählte. In jener dunklen Stunde trug sie das Licht der Hoffnung in die Welt hinaus. Sie vermochte all jenen zu helfen, die längst die Hoffnung verloren hatten. Auch wenn dies bedeutete, dass sie mit jedem Portal, das sie schuf, Lebewohl sagen musste, bis sie irgendwann ganz allein in dieser Welt wandelte. Doch Celebi selbst hatte es sich zur Aufgabe gemacht, diese Verantwortung zu schultern. Erst wenn ihr Werk vollendet sein würde, könnte auch sie reinen Gewissens diesen Punkt der Zeit den Rücken zukehren. Bis dahin gab es aber noch viel zu tun, so vielen armen Seelen beizustehen ...


    Oberhalb einer Reihe von abgestorbenen Bäumen schwebend, spähte Celebi über den Waldrand hinaus. Eine raue, unwirtliche Kraterlandschaft, Überbleibsel zermürbter Vegetation, karges Ödland so weit das Auge reichte. Diese Bilder waren Celebi nur allzu vertraut, doch weder wollte sie sich mit ihnen abfinden noch sich mit ihnen anfreunden. Verbittert lächelnd setzte sie auf einem knochigen Ast zur Landung an. Wie die anderen Gewächse um sie herum, trug auch diese Baumkrone schon lange keine Blätter mehr. Nur ein falscher Blick, ein falsches Wort, und der Baum könnte in sich zusammenfallen, und niemand würde sein Verschwinden bedauern. Celebi lehnte sich noch weiter zurück. Die dünnen Äste ächzten dabei verräterisch auf. In Gedanken kehrte sie zurück; zurück zu dem Punkt, an dem sie sich zum ersten Mal auf jenem Ast niedergelassen hatte, auf dem sie auch heute saß. Damals hatte der Baum noch einige Blätter getragen. Spröde waren sie gewesen, in der Hand waren sie schnell zu Staub verfallen. Seit jener Zeit hatte Celebi unzähligen Hoffnungssuchenden ein neues, besseres Leben beschert. Menschen und Pokémon auf der Suche nach Rettung. Die Bedürfnisse anderer hatten seither über ihren eigenen gestanden, und noch heute hatte sich daran nichts geändert. In jüngster Zeit waren Hilfesuchende aber deutlich seltener geworden. Doch noch immer gab es sie, auch wenn deren Zahl deutlich abgenommen hatte. Ihre Aufgabe aber stand noch lange nicht vor der Vollendung. Erst vor wenigen Stunden hatten sich weitere Hilfesuchende bei ihr eingefunden. Den meisten unter ihnen hatte sie helfen können. Das von ihr geöffnete Portal hatte in eine Zeit geführt, die noch fern von jenen schrecklichen Tagen lag. Einer unter ihnen jedoch war bereits zu schwach gewesen, um einen Zeitsprung zu riskieren. Für diese arme Seele war jede Hilfe leider bereits zu spät gekommen. Doch die Nachricht von Celebis Bereitschaft, jedem, der ihre Hilfe erbat, war auch auf eine seltsame Form des Widerspruchs gestoßen. Celebi erinnerte sich gut an sie: Zänkisch und streitlustig waren sie gewesen, alle derselben Art zugehörig. Zobiris, eingeschüchterte Lakaien Dialgas, dem einstigen Herrn der Zeit, der nach dem Einsturz des Zeitturms den Verstand verloren hatte. Celebi war mit den Krawallbrüdern nicht gerade zimperlich umgesprungen. Nach zwei weiteren Überfällen schienen sie die Lust verloren zu haben. Warum die Zobiris überhaupt diese Übergriffe ausgeübt hatten, war Celebi noch im Nachhinein mehr als schleierhaft. Wie konnte man nur freiwillig diesem Despoten dienen, statt ebenfalls die Chance nach einem neuen, besseren Leben wahrzunehmen ...?


    Es war das Ende des dünnen Astes, auf dem sich Celebi zurückgelehnt hatte, und mit ihm auch das Ende ihrer Gedankengänge. Unter verräterischem Knacken brach die Sitzgelegenheit entzwei. Die Augen vor Schreck weit aufgerissen und sich wild überschlagend, stürzte Celebi dem Boden entgegen. Weiteres sprödes Geäst trotzte ihrem Fall oder brach unter dem wenigen Gewicht auseinander, bremste zeitgleich aber auch den Sturz ab. Dass Celebi zwei kleine Flügel auf ihrem Rücken besaß, mit denen sie wieder in luftige Höhen hätte entschweben können, hatte sie in diesem Schreckensmoment völlig vergessen. Und der Boden näherte sich rasend schnell ...
    „Huch!“
    Zuerst erschrak Celebi aufs Heftigste. Unverhofft weich hatte sich das Ende ihres Fall gestaltet, und bei näherer Betrachtung ihrer Umgebung wurde ihr auch gewiss, wie das zustande kam. Celebi war direkt in zwei klauenartigen Hände gefallen. Schneller als erwartet konnte sie diesen ersten Schreck aber überwinden, denn trotz des durchbohrenden Blicks der stechend gelben Augen ihres Retters, spürte Celebi keine Feindseligkeit. Im Gegenteil: Noch nie hatte sie sich so geborgen und so wohlbehalten gefühlt wie in diesen irgendwie doch sehr sanften Händen des mysteriösen grünen Fremden gebetet. Begleitet wurde das unbekannte Pokémon von einem Celebi nicht weniger unbekannten Menschen. In lange zurückliegenden Tagen mag dieses Bild durchaus gang und gäbe gewesen sein, dieser Tage jedoch ein sehr seltener, ungewohnter Anblick. Zum gleichen Teil rührte das durch die gewaltigen Unterschiede dieser beiden Spezies heraus wie auch, dass echte Freundschaft in jener dunklen Zeit so zerbrechlich war wie ein junger Setzling, der in dieser verdorbenen Erde wachsen wollte.
    Abwechselnd sah Celebi in die Augen der beiden Fremden, wobei sie sich immer wieder in das Paar ihres Retters verlor. Und obwohl sie sich in dieser Lage eigentlich so verletzbar wie nie zuvor hätte fühlen müssen, unternahm sie dennoch keinen Fluchtversuch. Nach kurzem Blickkontakt nickte der Mensch seinem ungleichen Begleiter geheimnistuerisch zu und entfernte sich etwas, sodass Celebi nun mit ihrem Retter alleine war.
    „Ich heiße Reptain, das da drüben ist Raven.“ Passend zu den kühlen Augen besaß das Pokémon namens Reptain eine gefasste, distanzierte Stimme. Er gehörte wohl zu der abgebrühten Sorte und hatte in seinem bisherigen Leben wahrscheinlich viel durchgestanden. „Und du ... ich nehme an, du bist Celebi.“
    „Du hast von mir gehört? Du schmeichelst mir.“ Obwohl sie niemals zuvor derartige Worte für einen ihrer seltenen Besucher verwendet hatte, bereute Celebi keineswegs, sie laut ausgesprochen zu haben. Hier hatte sie keinen gebrechlichen Hilfesuchenden vor sich, den sie mit Samthandschuhen hätte anfassen müssen. Reptain war in jeder Hinsicht anders. Und warum auch immer - Celebi glaubte, Reptain, unter dessen rauer Rinde sie einen weichen Kern vermutete, bereits ein ganzes Leben lang zu kennen.
    Reptain wirkte etwas verlegen, was ihn - ohne dass er es wahrscheinlich wollte - doch äußerst schöntat. „Du ...“ Er tat sich schwer, die richtigen Worte zu finden. Ein wenig hilfesuchend schaute er zu seinem menschlichen Freund hinüber. Dieser schulterzuckte nur ratlos. Reptain räusperte sich vornehmlich. „Du kannst sicher wieder stehen, oder laufen, fliegen ... was auch immer ...“
    „Bin ich zu schwer für dich, magst du mich nicht mehr halten?“, schmollte Celebi künstlich. Bevor aber Reptain zu einer Antwort ansetzen konnte, erhob sich Celebi aus dessen Armen. Ein kurzer, stechender Schmerz durchbohrte ihr Herz. Das warme Gefühl, das Reptain ihr mit seiner bloßen Berührung gegeben hatte, war verschwunden. „In deinen Händen habe ich mich wohler gefühlt“, kicherte Celebi.
    Abermals drehte sich Reptain betreten etwas zur Seite; gerade weit genug, damit sich sein und Celebis Blick sich nicht kreuzte. Ein leichtes Rosa stieg ihm in die limettengrünen Wangen. „Wir, Raven und ich, sind hier ... wir ersuchen deine Hilfe.“ Nachdem er die letzten Worte besonders laut ausgesprochen hatte, drehte er sich wieder Celebi zu. Seine plötzlich wiedergekehrte Entschlossenheit gab den Ernst der Lage zu verstehen.
    „Niemand sucht mich ohne gewissen Grund auf oder weil ihm einfach gerade danach ist“, flüsterte Celebi kaum hörbar. „Ich nehme an, ihr wisst davon.“
    „Du kannst Personen in der Zeit zurückschicken.“
    „Ja, das vermag ich.“
    „Egal an welchen Punkt.“
    „Vor und zurück. Vom Beginn allen Seins bis zum Ende der Welt, wenn es sein muss. Es macht keinen Unterschied.
    Obwohl Celebi Reptains Absichten spätestens daran erkannt hatte, dass er ihren Namen bereits im Vorfeld gewusst hatte, wurde Celebi erst jetzt richtig schwer ums Herz. Sie hatte solche Momente bereits unzählige Male erlebt. Auf den kurzen Zeitpunkt der Zusammenkunft folgte stets der noch viel kürzere Abschied. Und dann ... wieder der zeitlose Augenblick des Alleinseins. Das war ihre Bürde, unsäglicher Abschiedsschmerz ein Leben lang. Warum hätte es mit Reptain auch anders sein sollen ...?
    „Ich möchte dich um einen Gefallen bitten“, begann Reptain.
    „Wann?“
    Die Frage nach dem Wann hatte Celebi schon oft gestellt. Meist war sie auf Gesichter voller Unverständnis gestoßen, denn nur die wenigsten verstanden den tieferen Sinn. Nicht das Wohin, sondern das Wann. Zu welchem Ausgangspunkt der Zeit sollte das Portal führen? Ausnahmslos jeder hatte sich schließlich für einen Punkt entschieden, der so weit zurückreichte, dass man sich sicher sein konnte, dass selbst auf die finsterste Nacht stets das Licht eines neuen Tages folgen konnte, und dies ein Leben lang. Als Celebi diesmal ihren gewohnten Text aufsagte, klang sie in ihren eigenen Ohren kälter als sie sich jemals selbst gehört hatte. Es waren geheimer Trotz und Enttäuschung, die ihre sonst so sanfte Stimme grausam entstellten. Sie würde Reptain verlieren, so wie sie alle anderen verloren hatte ... Doch eben da täuschte sich Celebi schwer, denn Reptain überraschte gleich in zweierlei Hinsicht. Anstelle eines fragenden, Furchen ziehenden Gesichts lächelte er zufrieden. Zeitgleich näherte er sich wieder Celebi und nahm sie mitfühlend in den Arm. Jene unerwartete Geste ließ Celebi all ihren Kummer, all ihren Gram völlig vergessen. Sie hatte sich doch nicht getäuscht: Reptain war anders als alle anderen.
    „Die Dinge waren nicht immer so“, murmelte Reptain geheimnistuerisch.
    „Es war nicht immer so schlecht um die Welt bestellt“, bestätigte Celebi ihm.
    „Der eingestürzte Zeitturms hat das alles bewirkt“, sagte Reptain.
    „Und das Land verdorben“, ergänzte Celebi.
    „Komm endlich auf den Punkt, Reptain!“ Der Mensch namens Raven, der sich die ganze Zeit über im Hintergrund aufgehalten hatte, gestikulierte ungeduldig in die Richtung seines Partners.
    „Sag uns, Celebi, lässt sich die Vergangenheit ändern? Kann das alles hier verhindert werden?“, fragte Reptain.
    Selten hatte etwas solchen Mut in Celebi geweckt wie jene Frage. Schier unendlicher Glaube und Zuversicht verliehen Celebi Flügel, die ihr die notwendige Kraft gaben, um sich von Reptains Armen zu entsagen. Tief schauten ihre minzgrünen Augen in jene grellgelben Reptains. Beidseitige Hoffnung spiegelte ihr lächelnd entgegen.
    „Ich kann die Vergangenheit nicht ändern. Aber ihr ... ihr könnt es“, antwortete Celebi. „Behebt ihr rechtzeitig den Schaden, den der Zeitturm genommen hat, so wird es diese Zukunft mit seinem unsäglichen Leid niemals existieren. Nicht dieser Baum“, Celebi drehte sich einem morschen Baum entgegen, „nicht dieser Strauch“, wieder wandte sich Celebi dem genannten Objekt zu, bevor sie Reptain noch tiefer in die Augen sah. Ihre Stimme verfinsterte sich, „und auch nicht du, oder dein Freund Raven.“
    Reptain senkte den Kopf etwas. Ernst lag in seiner Antworts Blick. „Dem sind wir uns bewusst. Und du ... was ist mit dir?“
    Celebi lächelte grimmig. „Meine Rolle wird in dieser Zukunft enden, aber ich werde in einer anderen Vergangenheit weiterexistieren. Ihr aber, Raven und du, ihr seid zu jung. Die Zeit wird euch vergessen, als ob ihr nie existiert hättet. Wollt ihr tatsächlich dieses große Opfer erbringen? Ein Opfer, an das sich niemand erinnern wird? Ein Opfer, das niemand von euch abverlangt? Ein Opfer, das das Ende eurer eigenen Existenz bedeutet?“


    In ihrem tiefsten Inneren kannte Celebi bereits die Antwort auf ihre Frage. Schließlich kam es auch so: So oft hatte Celebi einen Zeittunnel geschaffen, und doch war dieses Portal, das sie für Reptain und Raven öffnete und durch das die beiden schließlich schritten, anders. Nicht optisch, auch nicht die Art, wie es geschaffen wurde, sondern der Zweck, dem es diente: für einen neuen Tag.
    Bis zum endgültigen Verklingen des Portals schaute Celebi den beiden in dem unwiderstehlichen Wirbel aus Raum und Zeit nach. Schneller als es Celebi lieb war, löste sich die Pforte auf. Und wieder blieb Celebi zurück. Allein. Doch Reptain hatte ihr etwas hinterlassen. Mehr als ein bloßer Abschiedsgruß, mehr als nur beschwichtigende Worte. Es war das Gefühl von neuer Hoffnung.
    „Ich werde auf dich warten, Reptain, und wenn ich bis zum Ende der Zeit auf dich warten muss ...“

  • Kapitel XX: Am Ende der Welt


    Part 1: Von Unterschieden und Gemeinsamkeiten


    Befreiend war das Gefühl, als der erste Schritt aufs trockene Festland getan war; gerade so, als aus einem ewig währenden Schlaf aufzuwachen. In Xells Fall hätte dieser am liebsten den Boden geküsst, nachdem er als erster von Lapras’ Rücken gesprungen war. Ihm folgten erst Reptain, dann Raven.
    Das war es also, das verborgene Land am Ende der Welt. Rau und unwirtlich hatte es sich Raven gedanklich vorgestellt, gezeichnet von dem Blutvergießen vergangener Jahrhunderte, vielleicht aber auch einfach nur verwahrlost, wie man es von einem Ort hätte annehmen müssen, der seit Urdenken unbewohnt war. Nichts von alledem traf allerdings zu. Unzählbar mussten stattdessen die Jahre sein, seitdem ein einziger, glücklicher Augenblick hier in einem unerbittlichen Griff gefangen gehalten wurde. Beginnend von den flachen, überlappenden Klippenplatten aus Schiefer, die direkt ins Meer mündeten, erstreckte sich eine weite, idyllische Graslandschaft, die sich bis zu einem zartblauen Horizont ausdehnte und nur selten von einem einzigen Weidenbaum unterbrochen wurde. Sah man noch weiter, erkannte man die schwachen Umrisse schneebedeckter Hügel in der Ferne hochragen. Alles wirkte so unbefleckt, so rein, und keineswegs verwildert. An jedem noch so kleinen Grashalm schien man persönlich Hand angelegt zu haben, in absoluter Übereinstimmung waren sie auf den Nachbarn angepasst. Dieser Ort schien von der Zeit vergessen ...
    „Das ist es also, das verborgene Land ...“ Mit der gleichen Neugierde wie im Fall seiner beiden Begleiter suchte Raven den Horizont ab. Schlussendlich landete er wieder am Ausgangspunkt seiner Suche. Die lange Wartezeit auf Lapras’ Rücken war Öl, das man in schwelende Erwartungsfeuer gegossen hatte, das nun lichterloh in Flammen stand. Die anfängliche Müdigkeit hingegen hatte Raven irgendwo auf den Weiten des Ozeans zurückgelassen. Trotz eingeschlafener und nur langsam aufwachender Glieder war er bereit. Begierig drehte sich Raven Lapras zu. Seine beiden Begleiter taten es ihm gleich. „Wohin müssen wir?“, fragte Raven.
    Deutliche Spuren der langen Reise zeichneten sich auf Lapras. Oder war es der vor dem Zusammensturz stehenden Zeitturm, unter dem sie litt? Sie schien müde, unendlich müde. Schon allein den Augenkontakt mit den Besuchern des verborgenen Landes herzustellen, kostete sie starke Überwindung, denn immer wieder drohten ihre Lider einfach zuzufallen. Das Wehen einer kühlen Brise durchbrach den Klang ihrer schweren Atemzüge und das Perlen des Schweiß auf ihrem verschwitzen Gesicht. Begierig sog sie den Windhauch ein und stillte ihr stummes Leid wie einen mächtigen Durst. „Haltet eure Blicke ins westliche Landesinnere gerichtet und ihr werdet finden, was ihr sucht. Doch wisset, dass ihr euer Ziel nicht auf normalen Wege erreichen könnt.“
    „Aber wie sollen wir dann ...?!“
    Ravens wütender Protest wurde von der schnellen Hand Reptains, die er ihm auf den Mund presste, schnell zum Ersticken gebracht. Mahnend sah Reptain seinen Freund an. „Lass sie ausreden!“
    Erregt schüttelte Raven Reptains Griff ab. Sich bemuttern lassen war das letzte, was er wollte. Sie hatten keine Zeit zu verlieren, das musste doch auch Reptain klar sein.
    Unter Qualen schenkte Lapras Reptain ein kurzes Lächeln und fuhr fort. „Sucht die verblichenen Ruinen jenseits dieser Ebene auf. Ersucht dort um Einlass in den Zeitturm.“
    „Was werden wir dort vorfinden? Wen werden wir finden? Jemanden wie dich?“, fragte Reptain.
    „Niemanden wie mich werdet ihr vorfinden und doch wird eure Bitte Gehör finden, wenn es euch gelingt, eure Befugnis zu belegen. Eilt euch nun! Es bleibt nicht mehr viel Zeit.“


    Der erste Sturm sein Jahrhunderten Sturm erhob sich über dem ruhenden Land; der Ansturm dreier Besucher auf den Zeitturm. Wer sich zuvor der Verlockung von dem Reiseproviant zu kosten hatte hinreisen lassen - also jeder -, empfand nun ein rebellierendes Gefühl von Reue in der Magengegend. Angeführt von Reptain, dem schnellsten Läufer der ungleichen Gruppe, eilte man im Laufschritt in die von Lapras vorgegebene Richtung. Ungeachtet von Xell Protesten, Reptain solle gefälligst einen Gang zurückschalten, kamen sie erstaunlich gut auf dem gleichförmigen Landschaftsbild voran. Keine plötzlichen Stolperstellen auf dem gut begehbaren, harten Boden, kein undurchdringliches Dickicht, durch das man sich hätte durchkämpfen müssen, kein reißender Fluss. Besser hätte es gar nicht sein können. Es war ... stinklangweilig. Fast schon sehnte man ein Ärgernis herbei. Eine lästige Fliege, ein hämisch auf die Erdbodenbewohner herabschauendes Vogel-Pokémon, .... Irgendetwas, das einem zumindest flüchtig von dem bröckelnden Turm hätte ablenken können, der seltsamerweise noch immer nicht in Sichtweise von Ravens schweißgebadetem Gesicht gerückt war.
    Ein Kloß so dick und rund wie eine geballte Faust staute eine innerliche Wut in Ravens Kopf. Die Sache war ernst, so verdammt ernst, und doch trieb Lapras ein Spielchen mit ihnen. Warum hatte sie nicht einfach klar und deutlich sagen können, was zu tun war? Wer wenn nicht sie musste am besten wissen, was zu tun war, und noch dazu, was überhaupt auf dem Spiel stand? Stattdessen hatte Lapras sie schier nackt und unvorbereitet entsandt. Ein wenig ihres schleierhaften Lateins - das war es dann auch schon gewesen ...
    Selbst Reptain konnte nicht anders, auf Ravens unüberhörbares Zähneknirschen einen flüchtigen Blick über die Schulter zu werfen.
    „Alles klar? Stimmt was nicht?“
    „Ist das so offensichtlich?“
    Reptain bremste etwas seine Schritte ab, sodass Raven leicht zu ihm aufschließen konnte. Raven tat schließlich so und schritt im Anschluss Seite an Seite mit Reptain voran. Dabei vermied er es allerdings, seinen Freund direkt anzusehen.
    „Ich kenne dich, auch wenn du es vielleicht nicht gerne hörst. Also, was ist?“, fragte Reptain.
    Oh ja, Reptain hatte verdammt recht: Raven hörte es tatsächlich nicht gerne, dass ihn Leute besser kannten als er sich selber kannte. Was schließlich konnte er dafür, dass man Jahre voller Erinnerungen einfach aus seinem Gedächtnis getilgt hatte?
    „Also?“, hakte Reptain nach.
    „Ärgert dich das nicht?“
    Reptains rechte Wimper wanderte fragend in die Höhe. „Ich kann dir nicht ganz folgen.“
    Ob das Gefühl von verärgerter Zufriedenheit darüber, doch kein offenes Buch für einen der besten Freunde zu sein, zu den erstrebenswerten Dingen im Leben gehörte, war fraglich. Nichtsdestotrotz war das Wohlbehagen über diese Erfahrung so sättigend, dass Raven schadenfroh lächeln musste, während er innerlich noch immer vor Wut leise vor sich hinköchelte.
    „Wohin wollen wir eigentlich?“
    „Zu den Tempelruinen jenseits der Ebene.“
    „Und dann?“
    „Dann schauen wir, wie wir zum Zeitturm kommen.“
    „Und was, wenn wir nichts finden? Wie können wir uns überhaupt sicher sein, das zu finden, was wir brauchen?“
    „Alles zu seiner Zeit.“
    „Du weißt es also nicht.“
    So wie es Reptain bereits einige Male getan hatte, besaß diesmal auch Ravens abschließender Kommentar mehr die Nachdrücklichkeit einer Feststellung als die einer Frage. Aus seiner typischen Beherrschung heraus entgegnete Reptain den bissigen Blick seines Freundes.
    „Du magst dich vielleicht nicht mehr daran erinnern, Raven, aber wir haben schon wesentlich ausweglosere Situationen gemeistert. Irgendwie haben wir es immer geschafft. Und jetzt, wo wir so kurz davor sind ...“ Reptain schüttelte den Kopf. „Wir werden nicht scheitern.“
    „Es wäre nur halb so ausweglos, wenn man uns nur etwas entgegen gekommen wäre“, knurrte Raven.
    „Du meinst Lapras?“
    „Natürlich!“, brach die aufgestaute Wut endlich aus Raven heraus lautstark heraus. Sollte es doch die ganze Welt hören, dass er unzufrieden war. Es kümmerte ihn nicht. „Warum die ganze Heimlichkeit? Sie muss doch genau wissen, was getan werden muss. Und stattdessen lässt sie uns hier blind herumtappen. Wenn wir zu spät kommen, ist alles aus. Vorbei. Das muss ihr doch klar sein?!“
    Noch während er an Ravens Seite weiter in die von Lapras vorgegebene Richtung schritt, schloss Reptain die Augen. Nach kurzer Nachdenklichkeit antwortete er schließlich: „Sie wird schon ihre Gründe haben. Ein Schwur vielleicht, ein Eid, den sie zum Schutze dieses Landes abgelegt hat, eine weitere Prüfung, von der sie uns nichts erzählen durfte, oder es ist einfach ihre Art? Wer kann das schon sagen?“
    „Oh ja, das rechtfertigt natürlich alles! Ist doch egal, was auf dem Spiel steht, lass den Zeitturm ruhig einstürzen. Hauptsache man ist am Ende sich und seinen Idealen treu geblieben!“, höhnte Raven.
    „Wie gesagt: Wir kennen die Hintergründe nicht“, antwortete Reptain ruhig. „Wir sollten sie deshalb nicht verurteilen.“
    „Ich ... finde ... Raven hat ...verdammt Recht!“ Xell hatte das Zwiegespräch zwischen Reptain und Raven nutzen können, um zu seinen Freunden aufzuschließen. Gerade noch genug Luft war ihm nach diesem notwendigen Spurt geblieben, um diesen kurzen Satz herauszuwürgen.
    Ravens Herz schlug Purzelbäume vor Freude, begleitet von einem angenehmen Kribbeln, das sich vom Kopf bis hin zur Schwanzspitze ausbreitete. Dass er mit seiner Meinung doch nicht so mutterseelenallein dastand, ließ sogar den aufgestauten Sturzbach seiner Wut versiegen, was ihn allerdings nicht davon abhielt, rechthaberisch in Reptains Richtung zu schielen.
    „Da sind wir uns eben nicht einig, was solls?“
    Für Reptain schien das Thema damit erledigt. Nicht aber für Xell. Auch wenn er sich äußerst schwer damit tat, mit Reptains wiederaufgenommener Geschwindigkeit Schritt zu halten, würgte er aus heiserer Kehle hervor: „Ihr beide ... seid euch uneinig? Gibt es das?“
    „Du sagst das so, als sei das außergewöhnlich. Auch als Raven nicht so ein possierliches Kerlchen war, waren wir oft nicht einer Meinung“, antwortete Reptain knapp.
    „Wart ihr?“
    „Waren wir?“
    Wie oft, wenn Raven und Xell im gleichen Moment antworteten, grinste auch hier einer den anderen an. Angesichts der neuen, bisher unbekannten Tatsachen verschwand ihr gegenseitiges Lächeln allerdings schneller als es sonst der Fall war. Zurück blieb eine energische Neugierde, auf die Reptain antwortete.
    „Seitdem wir uns kennen, sind wir Freunde. Das heißt aber nicht, dass wir nicht unsere Höhen und Tiefen hatten. Um ehrlich zu sein“, Reptain verlangsamte seine Schritte. In sich gekehrt spähte er in Richtung des unendlichen Horizonts , „haben wir uns sogar sehr oft gezankt.“
    „Ge-gezankt?“ Reptains Antwort warf einen schier unendlich tiefen Schatten auf die von Raven bislang geglaubte harmonische Beziehung zwischen ihnen. Die Last seiner eigenen Vergangenheit und einer schier unlösbaren Aufgabe, die er aus der Zukunft in die Gegenwart getragen hatte, war auch so schon viel zu schwer für seine kleinen Schultern. Bislang hatte Raven aber stets darin Trost finden können, dass er auf eine gemeinsame Vergangenheit mit Reptain schauen konnte; auch wenn sich Raven an diese nicht mehr erinnerte. Er hatte sich ihre gemeinsame Freundschaft stets als etwas Vorbildliches vorgestellt, ein Licht im Dunkeln für alle Hoffnungssuchenden in der dunklen Zukunft. Dass nun aber eben dort des Öfteren die Fetzen geflogen sein sollen ... es war für Raven kaum vorstellbar.
    „Das kann ich irgendwie kaum glauben ...“, murmelte Xell betroffen.
    „Glaub es lieber“, antwortete Reptain. Sein Lächeln hatte eine Form von Bitterkeit, doch auch etwas Gleichgültiges. „Raven wollte oft mit dem Kopf durch die Wand, während ich Umwege bevorzugte, um bei unseren Nachforschungen nur wenig Aufsehen zu erregen. Allein das gab mehr als genug Anlass, uns in die Wolle zu kriegen. Manchmal haben wir stundenlang nicht mehr miteinander geredet.“ Beiläufig fing Reptain Ravens angeschlagenen Blick auf. „Am Ende hat es unserer Freundschaft allerdings nie geschadet. Wir sind über unsere Differenzen und unterschiedlichen Meinung hinausgewachsen, sonst wäre jetzt wohl keiner von uns hier. Könnt ihr damit leben?“
    „Eigentlich kann es mir ja egal sein“, schulterzuckte Xell. „Ich war nur etwas verwundert. Das ist alles.“
    „Und du, Raven?“, fragte Reptain vorsichtiger als sonst.
    Raven gab sich weiterhin schweigsam. Nach Reptains Rede ging es ihm schon leicht besser, doch das von ihm erdachte Bild einer musterhaften Freundschaft lag nicht mehr zu kitten in Scherben; eine Welt, an die er sich nicht mal mehr erinnerte und ihm doch so viel bedeutet hatte ...
    „Was ist mit euch beiden? Hattet ihr nie Differenzen?“
    Raven und Xell tauschten Blicke, einer ratloser als der andere.
    „W-wir?“, stammelte Xell. „Ähm, also ... eigentlich ...“
    Raven ahnte den Grund von Xells Zögern. Differenzen? Es gab keine. Zumindest keine, an die sich Raven zu erinnern glaubte. Ein kleines Missverständnis damals auf der Gildenexpedition. Hin und wieder gab es mal eine Phase, bei der jeder für sich etwas Abstand gesucht hatte, so zum Beispiel der Rückschlag damals im Apfelwald, den Xell nur sehr schwer hatte verdauen können, oder eben Ravens Alleingänge, wenn die Hoffnung gerade mal wieder brach gelegen hatte. Aber sonst ...
    „Nein?“ Erstaunt zog Reptain eine Wimper in die Höhe. „Huh, das kommt jetzt unerwartet ... oder vielleicht auch nicht ...“
    Man wollte gar nicht seinen Ohren trauen. Unerwartet war eigentlich nur Reptains zögerliche, fast schon kleinlaute Antwort. Was hatte er denn erwartet? Oder war es gerade das? Dass bei Raven und Xell dieselben Probleme aufgetreten waren?
    „Bist du jetzt etwa enttäuscht deswegen?“, stutzte Xell.
    Reptain lächelte bitter. „Enttäuscht? Nein. Neidisch? Vielleicht.“
    „Wieso neidisch?“, wunderte sich jetzt auch Raven.
    „Bevor ich das beantworten kann, muss ich euch eine Frage stellen ...“ Reptains Zögern weitete sich sogar auf seine Bewegungen aus, bis er gänzlich zum Stillstand kam. Keine Reaktion, noch nicht einmal ein Wimpernzucken, als Xell seinem unerwartet innegehaltenen Kameraden versehentlich anrempelte. Tief atmete Reptain ein. Erst dann drehte er sich demonstrativ um. „Wofür kämpft ihr? Warum nehmt ihr das alles auf euch?“
    Xells Stirn zog tiefe Furchen. „Ist doch klar - für die Rettung des Zeitturms ...“
    Beipflichtend, doch nicht weniger verwirrt nickte Raven Xell zu.
    „Nicht der Anlass, sondern das, was sich dahinter verbirgt. Das, was ihr damit bezwecken wollt“, antwortete Reptain.
    „Warum stellst du ausgerechnet jetzt die Frage? Etwas sehr spät ...“, meinte Xell.
    „Antwortet einfach!“, drängte Reptain.
    Raven und Xell schauten sich fragend an. Stumm gestikulierten sie einander mit Schulterzucken, Augenrollen und undeutlichen Lippenbewegungen zu. Beidseitiges Zögern ging ihrer Antwort heraus, doch Raven schaffte es als erster, seine intimen Gedanken in Worte zu fassen.
    „Ich kämpfe für einen neuen Morgen; für alle, die einen weiteren Sonnenaufgang herbeisehnen“, antwortete er ohne Spuren eines Selbstzweifels.
    „Ich ... für die Gilde, meine Freunde, Knuddeluff, Bidiza, sogar Plaudagei, einfach alle, denke ich ...“, reimte sich Xell zusammen, wenn auch nicht ganz so überzeugt wie Raven.
    Als ob er genau das erwartet hatte, lächelte Reptain zufrieden. „Das habe ich mir fast schon gedacht ...“
    „Und was sollte das jetzt?“, hakte Xell nach.
    Ich“, betonte Reptain sehr stark, „sehe die Welt, meine Welt, anders. Endlich aus der Finsternis zu treten, das Gefühl des Regens auf meiner Haut und das der Sonne in meinem Geist zu spüren - dafür lebe ich, dafür kämpfe ich. Nicht aus Nächstenliebe, sondern in erster Linie für mich selbst. Und deshalb verspüre ich euch gegenüber Hochachtung; Hochachtung und auch Neid. Auf eure Einigkeit, wie sie mir nie zuteil wurde, und auch niemals mehr zuteil werden wird. Ich bin allein in dieser Welt, und doch trauere ich nicht, denn solange ich für das Gefühl kämpfen kann, am Leben zu sein, habe ich einen Platz in eurer Welt. Ich kämpfe, weil ich kämpfen muss, weil ich nie etwas anderes kennen gelernt habe.“
    „Ich finde, du gehst viel zu streng mit dir selbst ins Gericht“, entgegnete Raven.
    Und doch erkannte auch Raven, dass Reptain nicht die Unwahrheit gesagt hatte: Sie waren sich nicht einer Meinung. Einmal wieder ...


    Reptains Umrisse wurden zunehmend kleiner, während Raven ihm nachdenklich nachschaute. Reptain rückte sich selbst in ein sehr schlechtes Licht, wie Raven dachte. Abseits des Punktes ihrer beidseitigen Differenzen schien er noch in einem weiteren Punkt Recht zu haben ... Raven blickte zu seiner Linken, wo Xell es ihm gleich tat.