Die Zeitkrise

Wir sammeln alle Infos der Bonusepisode von Pokémon Karmesin und Purpur für euch!

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  • [tabmenu][Tab=Über das Projekt]


    In dieser Geschichte erzähle ich die Story aus Pokémon Mystery Dungeon Erkundungsteam Himmel nach. Dabei richte ich mich natürlich stark an die Hauptstory des Spiels, gebe aber den beiden Helden etwas mehr Persönlichkeit, Witz und Charme mit auf den Weg. Neben der Hauptstory versuche ich etwas mehr auf die beiden Hauptdarsteller einzugehen und werde auch gelegentlich einige meiner eigenen Ideen in die Geschichte einbauen. So haben auch alte Mystery Dungeon 2–Hasen etwas mehr Spaß, die Geschichte zu verfolgen.
    Feedback und Kritik sind erwünscht.


    [tab=Das nächste Update]


    Kommendes Update: Die komplette Fanstory befindet sich aktuell in der Überarbeitung. Diese genießt zwar Vorrang, werde die Geschichte jedoch zwischen den Bearbeitungen weiterschreiben.


    [tab=Danksagung]



    Danken möchte ich hier vor allem Maria, alias The_little_Plinfa, die als erste Userin ihre Kritik gepostet hat, stets meine Arbeit lobt und weiterverfolgt, sowie meine Geschichte für den Profi-Bereich vorgeschlagen hat.


    Weiterer Dank geht an die Mitglieder des FS-Komitees, die meine Geschichte am 09.05.2010 in den Profi-Bereich geschubst haben. Minou möchte ich hier noch einmal danken, die mich, in einer gewissen Hinsicht, bei meinem Foreneintritt zu der Erstellung dieser Geschichte motiviert hat.


    Nicht zuletzt möchte ich allen anderen Usern danken, die hier bereits gepostet haben und natürlich noch posten werden.


    [tab=Benachrichtigungen]- The little Plinfa
    - McNuke
    - Chiyoko
    - Lucy
    - Paya
    - Leoparda
    - Sayi
    [tab=Copyright]Das geistige Eigentum an Pokémon und an der fiktiven Welt, in der diese Geschichte spielt, gehört Gamefreak. Die hier vorgestellten Figuren ihre von mir eingehauchte Seele und die Geschichte ist mein Werk und darf als solches nicht von Dritten nach außen ohne meine Zustimmung präsentiert werden. Urheberrechtsverletzung ist ein Delikt und verstößt gegen das Urheberrechtsgesetz gemäß Paragraph 106 und kann zivilrechtliche Klagen zur Folge haben.


    Die geposteten Musik-Stücke sind Werke von katethegreat1 und OC-Remix.


    Einige Bilder, die im Verlauf der FF gepostet werden, sind Eigentum von NC-Soft und ArenaNet.


    [/tabmenu]


  • Die Zeitkrise
    (
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    Prolog


    Es war ein alles andere als ein normaler Tag, als Raven an jenem Abend erwachte. Alles um ihn herum hatte sich urplötzlich verändert. Die Welt um ihn herum schien auf einmal viel größer zu sein, merkwürdige Kräfte kribbelten in seinem Körper und er konnte plötzlich die Sprache der Pokémon verstehen, ja, sogar mit ihnen sprechen. Es dauerte nicht lange, bis er endlich begriff, was mit ihm passiert war: Er hatte sich aus einem ihm unerklärlichen Grund selbst in ein Pokémon verwandelt und jegliche Erinnerung an sein früheres Sein als Mensch verloren. Glücklicherweise findet er sofort nach diesem erschreckenden Erwachen in dem Feuerpokémon Panflam, genannt Xell, einen wahren Freund für's Leben, der ihm durch diese schwere Zeit half. Gemeinsam ziehen die beiden los, um hinter das Geheimnis Ravens Verwandlung und seinen verlorenen Erinnerungen zu kommen; nichtsahnend, in welch düsteres Netz aus Hinterlist und Intrigen sie sich schon bald wiederfinden werden und dass das Schicksal unserer Welt einzig und allein in ihren Händen liegt.





    Die Protagonisten





    Nebencharaktere









  • Trivia



  • Noch immer lagen die Regentropfen des Sturms der vergangenen Nacht auf den Blättern der Pflanzen, als Xell abermals vor der Knuddeluff-Gilde unruhig auf und ab lief. Während er minutenlang tief murmelnd immer weitere Runden drehte, tauchte die Sonne langsam den Platz um ihn herum in ein zartes Orange ein. Die Minuten zogen dahin bis Xell schließlich und endlich die unheimlich Stille unterbrach.
    „Jeden Abend, wirklich jeden Abend komme ich hier her, starre stundenlang Löcher in die Luft und finde einfach nicht den Mut zusammen, auch nur ansatzweise der Gilde näher zu kommen. So kann es doch einfach nicht weitergehen ...“ Selbst er selbst spürte deutlich die Unsicherheit, die in seiner Stimme lag. Mittlerweile legte er nur noch den halben Weg vor dem seltsamen Gebäude hin und zurück, wobei seine Schritte immer schneller wurden. „Ich schwöre, dass ich dem Spuk heute ein Ende machen werde. Ich gehe jetzt da rein und werde der beste Erkunder der Welt. Keine Widerrede!“


    Halbwegs von seinen eigenen Worten überzeugt, schaffte es Xell trotz wackeliger Knie immer näher an die Gilde heranzukommen. „Gleich bin ich da, gleich bin ich da ...“ dachte er, als ein lauter Schrei ihn plötzlich aufschrecken ließ.


    „Pokémon entdeckt! Pokémon entdeckt!“
    Eine weitere, noch lautere Stimme, erklang unmittelbar nach der ersten.
    „Wessen Fußabdruck? Wessen Fußabdruck?“, ertönte es laut schallend aus dem Nichts.
    „Wer- wer ist da?“, flüsterte Xell erschrocken.
    Auch wenn man direkt neben ihm gestanden hätte, wären seine Worte wohl in dem Klang seines immer lauter werdenden Herzens und in dem Zittern seiner Knie untergegangen.
    „Der Fußabdruck ist von Panflam! Der Fußabdruck ist von Panflam!“, ertönte es, diesmal aber wieder von der ersten, etwas helleren Stimme.
    Diese Worte rissen Xell den knochendürren Strang Selbstvertrauen, an dem er sich so verzweifelt festgeklammert hatte, aus seinen Händen. Wie von der Tarantel gestochen, und ohne einen weiteren Blick über die Schulter zu werfen, rannte er in die entgegengesetzte Richtung davon. Stundenlang, so schien es ihm, rannte er ziellos weiter, und ohne überhaupt darauf zu achten, wo ihn seine Beine hintrugen; Hauptsache weg von diesem Ort. Immer weiter, bis er schließlich und endlich langsamer wurde und völlig erschöpft zusammenbrach.


    Die Minuten zogen dahin. Sein kleines Herz hatte noch immer keine Ruhe gefunden, als bereits der nächste Schrecken für das mit den Nerven völlig blank liegende Pokémon, einkehrte. Mit einem lauten „Plopp!“ wurde er unsanft aus seinem einsamen Dilemma geweckt und gleichzeitig mit eiskaltem Wasser übergossen. Ruckartig schreckte er auf, zwang sich seinen Kopf aus dem warmen, sandigen Untergrund zu heben, und schaute panisch in alle Richtungen nach der Quelle für dieses feuchte Erwachen um. Erleichtert musste er feststellen, dass er sich an seinem Lieblingplatz befand. Seine Beine hatten ihn unbewusst zum Strand, südlich der Knuddeluff-Gilde, getragen. Das sanfte Rauschen des Meers und die Krabby, die anteilslos ihren Blubber in den Horizont warfen, wirkte auf Xell sofort sehr beruhigend.


    Sein Herz kam endlich wieder zur Ruhe und seine Atmung nahm auch wieder Normalität an. Einige Zeit sah er den immer kleiner werdenden Blasen nach, während er bedrückt am Strand entlang lief.


    „Ich - ich war so fest davon überzeugt, dass ich es heute endlich schaffe ... Jetzt habe ich endgültig verspielt. Dort kann ich mich doch niemals wieder im Leben blicken lassen ...“
    „Erst dachte ich“, fuhr er fort, „mein Reliktfragment würde mir vielleicht den Mut geben, den ich gebraucht hätte, aber das war wohl leider ein Irrtum ...“ Er umklammernde bei diesen Worten fest einen kleinen Stein, währenddessen er gedankenverloren in die Ferne starrte.
    Das Meer glänzte im sanften Rot der Abenddämmerung. Gleichzeitig ließen die wenigen Sonnenstrahlen die Blubberblasen in der Luft in allen Regenbogenfarben aufleuchten.
    „Zumindest dieser Anblick spendet mir etwas Trost ...“ Eine Träne rann ihm leise über das Gesicht, während er immer weiter ziellos an der Küste entlang lief. „Wenn - wenn ich doch nur ... Waah!“
    Xell wusste gar nicht wie um ihn geschah, als er plötzlich nichtsahnend seinen rechten Fuß in etwas merkwürdig weiches, das in seinem Weg lag, rammte, aus Folge des Schrecks stolperte und mit dem Gesicht voran hart auf den sandigen Boden aufschlug.
    Xell hustete und spuckte einen kleinen lehmigen Sandklumpen aus seinem Mund. Seine Hände vergruben sich einige Zentimeter in den sandigen Untergrund, als er sich vom Boden abstützte, um wieder aufzustehen.
    „Au ... Ja, ich weiß schon ... Geschieht mir Recht ... So eine Flasche wie ich hat es auch gar nicht anders ...“
    Der Schrecken des Sturzes und der Schmerz beim Aufprall, der sich sekundenschnell von seiner Nase in Richtung seines Gehirns fraß, war noch nicht genug, um Xell völlig aus seinem Selbstmitleid zu reißen. Erst als er endlich erkannte, worüber er überhaupt gefallen war, vertrieben ihm schlagartig jegliche Gedanken an seine rückratlose Flucht vom Platz der Knuddeluff-Gilde. Ein Pokémon lag bewusstlos und völlig regungslos auf dem Boden, das Xell sofort als ein Sheinux identifizierte. Es hatte das typische und leicht struppige azurblaue Fell, vier kräftige Beine, zwei scharfe Ohren, die ein unverwechselbares sternenähnliches Symbol zierten und einen Schwanz, an dessen Ende das ein und das selbe Zeichen prangte.
    Xell vergaß jedweden Schmerz in seinen Glieden und zögerte keine weitere Sekunde, sondern begann sofort, das bewusstlose Pokémon mit all seinen möglichen Mitteln zu umsorgen. Er presste seinen Kopf gegen den Brustkorb des Pokémons, um sich zu vergewissern, dass die Hilfe nicht bereits zu spät kam. Der Herzschlag war schwach, dennoch gleichmäßig; auch atmete es. Das Pokémon lebte.
    „Was ist passiert?!? Alles in Ordnung?“, rief er, während er vorsichtig das bewusstlose Häufchen Elend zu seinen Füßen schüttelte.


    Ereignislose Sekunden zogen dahin; Sekunden, in denen Xell glaubte, seine Bemühungen seien vergebens. Doch langsam aber sicher regte sich endlich wieder Leben in dem ohnmächtigen Pokémon. Unter seinen Augenlidern zuckte es, und sein ganzer Körper begann leicht zu zittern. Nach wenigen Sekunden schlug das Sheinunx endlich langsam, ganz langsam die Augen auf, während es fortwährend versuchte, seine Beine zu bewegen. Xell fiel buchstäblich ein Stein vom Herzen.
    „Dem Himmel sei Dank! Dir geht's gut.“
    Sheinux hatte nun vollständig seine Augen geöffnet und schaute sich langsam, leicht apathisch wirkend, um. Ein Versuch aufzustehen scheiterte und ließ es zitternd im Sand einknicken.
    „Immer langsam. Du scheinst arg mitgenommen zu sein. Atme erst mal tief durch“, sagte Xell und tätschelte ihm sanft die Schulter.
    „Merkwürdiger Traum ...“, murmelte das Sheinux.
    „Wie meinen? Was für ein Traum?“, fragte Xell und musterte neugierig den abermalen Versuch seines Patienten, sich aufzurichten.
    „Ein- ein Pokémon redet mit mir und ich kann alles verstehen, was es sagt.“
    Xell konnte ein Grinsen nicht unterdrücken.
    „Man, dich muss es ja echt schwer erwischt haben. Warum solltest du mich als Mitpokémon auch nicht verstehen können?“
    „Guter Witz ...“, entgegnete Sheinux und sackte abermals bei einem Aufstehversuch zusammen. Seine Ohren nahmen einen Hauch Rosa an. „Was ist denn nur los? So schwach auf den Beinen bin ich doch gar nicht!“
    Xells Grinsen wurde immer breiter.
    „Vielleicht solltest du mal auf allen Beinen stehen, statt nur auf zweien.“
    „Was soll der Blödsinn? Natürlich gehe ich auf zwei Beinen. Ich bin schließlich doch ...“
    Seine Worte stoppten abrupt, als sein Gesicht sich plötzlich in einer der unzähligen vorbeifliegenden Blubberblassen spiegelte und ihm das erschöpfte Spiegelbild eines Sheinux reflektierte.
    Erschrocken betrachtete Sheinux jedes Gliedmaß seines Körpers und klappte dabei erneut seitlich zusammen.
    „Ich - ich bin - ein Pokémon?“
    Zum ersten Mal seit dem Erwachen des Pokémons verschwand die Grimasse in Xells Gesicht. Er wirkte nunmehr tief besorgt.
    „So etwas hab ich ja noch nie erlebt. Du musst ja ganz schön was durchgemacht haben, um an einem solchen Fall von Gedächtnisschwund zu leiden. Kannst du dich zumindest an deinen Namen erinnern?“
    „Ich leide nicht unter Gedächtnisschwund!“, rief Sheinux aufgebracht. „Ich bin ... Ich heiße ...Ich ...Ich ...“
    Seine Worte verstummten. Nur das leise Rauschen des Meers war einige Zeit lang zu hören. Xell kratzte sich nervös am Kinn. Er wusste einfach nicht, was er von seinem merkwürdigen Fund halten sollte? Oder war das einfach nur ein schlechter Scherz?
    „Doch, ich erinnere mich“, sagte das Sheinux endlich. „Ich heiße - Raven, aber irgendwie glaube ich, dass ich eigentlich ein Mensch sein sollte.“
    „Was ein Mensch?!?“ Nun war es Xell, der vor Schreck das Gleichgewicht verlor und eine weitere Begegnung mit dem sandigen Boden machte. Er rappelte sich langsam wieder auf, den Blick jedoch die ganze Zeit über auf dem Pokémon, namens Raven, ruhend.
    „Also, nicht dass ich dir nicht glauben würde ...“, stammelte Xell und wählte seine Worte mit Bedacht. „Zumindest würde das deine peinlichen Aufstehversuche erklären. Aber trotzdem ist das mehr als merkwürdig. Man wird doch nicht einfach so zum Pokémon oder zum Menschen ... Das geht doch nicht.“ Stirnrunzelnd schüttelte er seinen Kopf.


    Nach einem weiteren Versuch gelang es Raven endlich aufzustehen und hielt, wenn auch etwas unbeholfen, sein Gleichgewicht auf eigenen Beinen.
    „Dann gehe ich auch davon aus, dass du nicht weißt, warum du hier bewusstlos herumgelegen hast, oder?“, wollte Xell wissen.
    Raven schüttelte den Kopf, was ihn jedoch sofort aus der Balance brachte, stolpern und umfallen ließ.
    „Mein Name ist übrigens Xell“, sagte er und half Raven wieder auf die Beine. „Auch wenn es nicht die besten Umstände sind, bin ich trotzdem erfreut, deine Bekanntschaft zu machen.“
    „Mir will es immer noch nicht so wirklich in den Kopf. Ich - ein Pokémon ...“
    Ein dunkler Schatten huschte über Xells Gesicht. Er verschränkte die Arme. „Du sagst es so, als wäre es etwas Schlimmes ...“
    Raven schüttelte den Kopf, behielt diesmal aber - wenn auch nur unter ganzem Körpereinsatz - die Balance. „Ist - ist es natürlich nicht. Wollte dich nicht kränken, sorry ...“, entschuldigte er sich wahrheitsgemäß.


    Nun war es abermals Xell, der urplötzlich den Boden unter seinen Füßen verlor.
    „Au! Was zum ...“

    Zwei fremde Gestalten hatten sich ebenfalls am Strand eingefunden und Xell so heftig von hinten angerempelt, dass es ihn glatt von den Beinen gefegt hatte.
    „Hallo, du Memme. Och, das tut mir aber Leid. Hab ich dir Aua gemacht?“, sagte das eine Pokémon, welches wie ein großer lila Luftballon aussah, dabei jedoch nicht danach klang, dass er seine Entschuldigung ernst gemeint hatte. Vielmehr grinste er schadenfroh auf Xell hinab, in dem sich langsam wieder Leben regte.
    „Was - was sollte das?“, stammelte Xell mit schlotternder Stimme und rappelte sich langsam wieder auf.
    „Wir suchen nur nach etwas Ärger“, antwortete das zweite, fledermausähnliche Pokémon. „Wir haben dich bei der Knuddeluff-Gilde gesehen und uns königlich über dich amüsiert. Da dachten wir, vielleicht könnten wir uns mit dir noch einen schönen Abend machen.“
    Xells Herzschlag beschleunigte sich. Er wich ängstlich einige Meter zurück.
    „Ach ja, wie unhöflich von uns. Wir haben uns ja noch gar nicht vorgestellt. Ich heiße Zubat und mein Kumpel neben mir Smogon“, sagte das fledermausähnliche Pokémon.
    Smogons Augen blitzen plötzlich auf.
    „Tut mir Leid, dass wir schon wieder den Abflug machen müssen, aber es ist vielleicht doch schon etwas zu spät. Trotzdem danke ich dir recht herzlich für das kleine Geschenk.“
    Smogon hob einen kleinen Stein auf.
    Xell erschauderte, wagte sich jedoch keinen Meter in die Richtung der beiden Fremden. Flehend streckte er seine Hand in Richtung Smogons aus.
    „Nein, bitte nicht mein Reliktfragment. Das ist mein wertvollster Besitz.“
    „Ein weiterer Grund ihn mitzunehmen“, kicherte Smogon. „Auf dem Ramschmarkt gibt es dafür sicherlich einen guten Preis.“
    Raven, der während der ganzen Unterhaltung bislang geschwiegen hatte, meldete sich plötzlich zu Wort:
    „Jetzt macht mal halblang und gebt ihm den Stein zurück, sonst greift eure Zahnbürste morgen ins Leere.“
    „Ui, da hab ich jetzt aber Angst. Siehst du wie ich zittere?“, spottete Zubat. „ Lern du erst mal richtig laufen, du Pappnase.“ Mit einem leichten, doch zugleich heftigen Zusammenschlagen seiner Flügel, dass es allen Beteiligten in den Ohren knallte, beförderte er Raven, der sich nunmehr knapp eine Minute lang selbstständig auf den Beinen gehalten hatte, wieder auf den Boden.
    „Tschüss, ihr zwei. Bis denne“, riefen die beiden und verschwanden laut lachend hinter der nächsten Klippe.
    Beinahe apathisch und mit hängendem Kiefer schaute Xell ihnen nach. Den Tränen nahe vergrub er sein Gesicht in den Händen.
    „Das war mein wertvollster Schatz. Er bedeutet mir alles...“

    Raven rappelte sich wieder auf. Ihn plagten herbe Gewissensbisse.
    „Sorry, ich war gerade keine große Hilfe. Tut mir Leid, um deinen Schatz“, tröstete er Xell, der schniefend in die Richtung blickte, wo Zubat und Smogon vor wenigen Augenblicken verschwanden.
    Raven musste nicht lange überlegen. Er wusste sofort, was zu tun war.
    „Hey, was sollte uns eigentlich davon abhalten, den beiden Pfeifen eine Lektion zu erteilen? Lass uns doch gemeinsam denen mal Mores lehren.“
    „D- das würdest du für mich tun? Für mich? Obwohl du mich gar nicht kennst und dann noch in deinem Zustand? Ehrlich?“
    Raven zuckte demonstrativ die Schultern.
    „Sehr nett von dir ...“, stammelte Xell, schluchzte ein letzten Mal und rieb sich seine leicht befeuchteten Augen. „Na, dann lass uns mal los!“
    Ohne auch nur eine weitere Sekunde zu überlegen, hechtete Xell entschlossen den beiden Ganoven nach. Weit hinter ihm ertönte jedoch plötzlich erneut die Stimme seines neuen Freundes.
    „Ähm, weißt du noch, dass ich gesagt hatte, was uns davon abhalten sollte, denen zu zeigen, wer wir eigentlich sind? Nun ja, mir fällt da schon etwas ein ...“
    Xell konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken, als er nach einem kurzen Schulterblick die unbeholfenen, torkelnden Schritte seines Kameradens beobachte.
    „Warte, ich helfe dir“, sagte Xell und eilte wieder zurück zu seinem langsam näher kommenden Freund.


    Die Schritte Ravens wurden von Sekunde zu Sekunde immer sicherer, während er und Xell an der Küste des langen Sandstrandes entlang wanderten. Dummerweise konnten sie nur mutmaßen, wo es Zubat und Smogon verschlagen haben musste, denn in der Luft schwebend, hinterließen sie natürlich keinerlei Spuren, denen sie hätten folgen können. Raven baute einfach darauf, dass die beiden Schufte, die den Besitz seines neuen Freundes unter den Nagel gerissen hatten, ebenfalls, wie sie selbst, an der Küste entlangwanderten. Xell warf ihm einige Male nervöse Blicke zu, sagte jedoch nichts weiter. Schon aus weiter Ferne konnte Raven das Ende des Strandes ausmachen. Die Promenade endete; vor ihnen das weite Meer. Links zu ihnen jedoch, leicht von einigen aneinanderreihenden Palmen verdeckt, eine Grotte. Ein starkes Duftgemisch von Salzwasser, Seetang und Kalk, rang aus dem Eingang der von Wind und Wetter geformten Höhle heraus.
    „Glaubst du, die sind da rein?“, fragte Xell, unfähig das Zittern in seiner Stimme zu unterdrücken.
    Raven, der die Unsicherheit seines Freundes bemerkte, sprach ihm Mut zu.
    „Hey“ , sagte Raven und versuchte so gelassen, wie es ihm in seiner prikeren Situation überhaupt nur möglich war, zu klingen. „Nur keine Angst. Ich bin ja bei dir.“
    Xell nickte, wenn auch noch etwas eingeschüchert, betrat jedoch, gestärkt von den aufmunternden Worte seines Freundes und dicht von diesem gefolgt, die Höhle.


    Das numehr dreimal so intensive, strenge Duftgemisch, das in der Luft lag, kribbelte Raven so heftig in der Nase, dass ihm ein heftiger Nieser entfleuchte, der von den mit gründlichen Gicht bedeckten Höhlenwänden mehrfach wiederhallte. Xell tastete sich vorsichtig an den schleimigfeuchten und scharfkantigen Steinwänden entlang, dicht gefolgt von Raven.
    „Weißt du ...“, begann Xell, achtsam einen Fuß nach dem anderen setzend, „ ... obwohl ich mich ja selbst zu der Gruppe der Angsthasen bekenne, macht mir ja das Erforschen von solchen Orten irgendwie Spaß. Es ist - aufregend, findest du nicht?“
    „Irgendwie schon. Ist ganz interessant. Auch wenn ich jetzt doch lieber woanders sein würde ...“, murmelte Raven, letzteres allerdings so leise, dass es Xell nicht zu hören vermochte.
    Xell warf einen Blick über die Schulter. Ein Funkeln lag in seinen Augen, als sich sein und Ravens Blick kreuzten. Offenbar lag ihm viel an Ravens Meinung, denn Xells Schritte wurden plötzlich viel sicherer und auch schneller.


    Einige lautlose und ereignislose Minuten zogen dahin, während die beiden immer tiefer in die Höhle vordrangen. Xell, immer noch ihre kleine Zweierrunde anführend, und er, seinem Freund langsam folgend. Doch während er so seinem Kumpanen den Rücken deckte, geschah es: Ein gar eigentümliches Gefühl, welches er sich selbst nicht zu erklären vermochte, überkam ihn plötzlich. Sein ganzer Körper - vom Kopf bis zu dem plötzlich steil nach oben ragenden Ende seiner Schwanzspitze - schien auf eimal vor Spannung förmlich zu vibrieren und ließen ihm seine Haare zu Berge ragen. Eine Vorwarnung? Waren sie wohlmöglich Zubat und Smogon bereits ganz nahe? Er linste kurz vor Xell, der offenbar das Gefühl seines Freundes nicht teilte seinen Weg unbeirrt fortsetzte. Ravens Blick schweifte langsam von den grünlich schimmernden Höhlenwänden hinauf zu der mit Stalagmiten übersäten Höhlendecke. Es lag etwas in der Luft. Er spürte es einfach.
    Genau in diesem Moment geschah es: Die Luft war erfüllt von gespenstichen Klick-Geräuschen, die die unheimliche Stille schlagartig beenden. Ohne Vorwarnung sprang ein in einem rostbraunen Panzer gehülltes Pokémon hinter einem der vielen steil in die Höhe ragenden Felsen hervor. Die vier Greifer, die aus seinem Körper ragten, rasselten bedrohlich, als es sich ihnen mit feurigglühenden Augen ruckartig näherte.
    Nur im wirklich allerletzten Moment konnten sich Raven und Xell durch einen gezielten Seitensprung retten, bevor das angreifende Pokémon seine Klauen in ihre Körper bohren konnte. Es war Raven, der sich als Erster von beiden wieder aufrappeln konnte.
    „Was zum? Was soll das?!“
    Xell keuchte schwer. Er griff sich an die Schulter, an der er sich beim Sturz eine Schramme zugezogen hatte.
    „Es hat keinen Zweck, mit ihm reden zu wollen. Entweder der, oder wir!“
    Xell rannte entschlossen auf seinen Widersacher zu, wich einem weiteren Scherenhieb seines Gegners gekonnt aus und hämmerte seinem Feind mit seiner Faust gezielt auf die Spitze seines Panzers.
    Das Pokémon heulte auf vor Schmerz, rammte jedoch zur Rache mit brachialer Gewalt seine spitze Schädelplatte in Xells Körper hinein, der sogleich auf die Knie zusammensackte. Raven, der das ganze Schauspiel bislang nur regungslos von der Seitenlinie beobachtet hatte, durchströmte bei dem Bild Xells, der schwer getroffen zusammenklappte, ein unbändiger Zorn. Ohne auch nur eine weitere Sekunde zu zögern, stürmte er mit aller Gewalt in Richtung des feigen Angreifers und rammte seine Schulter in dessen ungedeckte Flanke. Von der Wucht des Aufpralls getroffen, wirbelte das Pokémon durch die Luft und krachte Sekunden später gegen die nächst gelegene Höhlenwand. Kein Funken Leben schien sich mehr in ihm zu rühren, doch Raven hatte ganz anderes im Kopf, als sich um das Opfer seiner Urgewalt zu sorgen. Er vermochte in den ersten Sekunden seiner Heldentat gar nicht zu begreifen, was er eigentlich gerade getan hat. Noch nie zuvor hatte er eine solche Kraft verspürt. Sein Herz raste und wollte gar nicht mehr zur Ruhe kommen.
    „Wow! Das war - das war ja der absolute Wahnsinn!“, keuchte Xell eindrucksvoll, während er versuchte, wieder aufzustehen.
    Raven, noch immer regungslos und mit glasigem Blick in die Richtung stierend, in der er seinen Angreifer geschleudert hatte, fand endlich wieder seine Worte.
    „Bist du in Ordnung?“ Er begutachtete Xell besorgt.
    „Ja, mir geht es gut, Danke. Echt Wahnsinn - ich meine, echt Wahnsinn, wie du mich eben gerettet hast, natürlich!“
    „Ich weiß ehrlich gesagt selbst nicht so recht, wie ich das gemacht habe“, murmelte Raven. Sein Blick schweifte hinüber auf den bewusstlosen Angreifer, der immer noch regungslos da lag.
    „Lass uns besser weiter gehen, bevor es wieder aufwacht“, meinte Raven schließlich.
    Xell nickte. Beide haschten leise an dem bewusstlosen Pokémon vorbei und nahmen ihren Weg wieder auf.


    „Was war denn das überhaupt? Warum hat man uns einfach so mir nichts dir nichts angegriffen?“
    Xell warf einen nervösen Blick zu seiner Rechten. Er und Raven marschierten nun Seite an Seite voran.
    „Also, ich weiß auch nicht warum ...“, stammelte Xell. „Aber in letzter Zeit häufen sich die Berichte von immer gewaltätiger werdenden Pokémon. In diesem Zustand brauchst du erst gar nicht versuchen, mit ihnen zu reden. Da helfen leider nur ein paar ordentliche Schläge auf den Hinterkopf, wenn du verstehst, was ich meine ...“
    Raven wusste nicht so richtig, wie er auf die Tatsache, an einem Ort mit blutrünstigen und bis zu den Zähnen bewaffneten Irren zu sein, reagieren sollte, entschied es jedoch, seinem Freund zuliebe, locker zu nehmen.
    „Äh, gut. Dann lass uns mal hoffen, dass wir solange ungestört bleiben, bis wir deinen Schatz gefunden haben.“
    „Also, mit dir an meiner Seite, habe ich nichts zu befürchten“, sagte Xell zu seiner Linken, immer noch hörbar von Ravens Leistung beeindruckt. „Das war echt umwerfend, wie du mit dem da hinten umgesprungen bist.“
    Ravens Gesicht nahm ein zartes Rosa an.
    „Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, wie ich das gemacht habe...“, sagte er verlegen.
    „Vielleicht bis du dir noch nicht über deine neuen Kräfte im Klaren“, mutmaßte Xell. „So ein Sheinux wie du, kann sich ganz schön zu Wehr setzen, wenn es will.“
    Endlich realisierte auch Raven, was geschehen war. Er war sich, wie Xell gesagt hatte, über seine neuen Kräfte, die nun in seinem kleinen Körper schlummerten, tatsächlich überhaupt nicht im Klaren gewesen. Im Grunde hatte er in jenem Moment, als er auf seinen Angreifer gedankenlos losgestürmt war, völlig vergessen, wer er nun eigentlich war. Viel Zeit, um sich still und heimlich zu schämen, bekam er jedoch nicht. Die Stimme seines Freundes ließ ihn plötzlich aus den Gedanken an sein neues Ich aufschrecken.
    „R- Raven, da!“ , sagte er und zeigte zitternd auf zwei schemenhafte Gestalten die einige Meter, mit dem Rücken zu ihnen, in der Luft schwebten.


    Die beiden mussten sie gehört haben, denn sie drehten sich augenblicklich um. Es waren Smogon und Zubat. Beide wirkten recht erstaunt als sie realisierten, wer sich als ihr Besuch herausstellte. Der Moment der Verwunderung dauerte jedoch nicht lange und schon nach wenigen Augenblicken nahmen sie beide, Zubat und Smogon, wieder ihre vertraute arrogante Stellung ein. Ihre Gesichter verformten sich zu hässlichen Grimassen, als sie hämisch auf ihre beiden Verfolger hinabsahen.
    „So, so. Haben uns die beiden Memmen tatsächlich gefunden. Das hätte ich euch gar nicht zugetraut“, spottete Smogon.
    Xells Knie fingen wieder an zu zittern, doch ging er mehr oder weniger entschlossen auf die beiden zu.
    „Ihr- Ihr gebt mir jetzt sofort m- meinen Schatz zurück!“, sagte er, allerdings erneut nicht in der Lage, das Quäntchen Furcht, das in seiner Stimme lag, zu unterdrücken.
    Zubat lachte hohl.
    Du willst uns allen Ernstes etwas befehlen? Ausgerechnet du?“ Er und Smogon tauschten Blicke. „Dass ich nicht lache. Als ob wir uns von so einem Schlappschwanz wie dir irgendetwas sagen lassen würden, und von deinem Freund mal ganz zu schweigen.“ Er machte eine demonstrative Geste zu Raven hinüber. „Endlich laufen gelernt, was Kleiner?“
    Zorn stieg in Raven auf. Zorn, der ihn abermals blind für sein Handeln werden ließ. Er hechtete an der zitternden Gestalt seines Freundes vorbei, verlagerte seine ganze Kraft in seine Beine und stieß sich heftig vom Boden ab; sein Ziel fest vor Augen: Zubat, der die Geschehnisse um ihn herum, starr vor Schreck und nahezu regungslos in der Luft schwebend, beobachtete. Raven spürte, dass er genau ins Schwarze getroffen hatte. Mitten in der Luft war er mit etwas weichem zusammengeknallt; zu weich, als dass es irgendein kahler Felsbrocken gewesen sein konnte. Die Wucht seiner Attacke schmetterte Zubat, ähnlich wie der Widersacher, den Raven erst vor wenigen Minuten bezwungen hatte, gegen den ihm zum Rücken gelegenen Felsen. Mit einem lauten Klatschen fiel Zubat auf den mit einer Salzwasserlake bedeckten Boden, wo er völlig regungslos liegen blieb.
    „Die Nummer vorhin am Strand hab ich nicht vergessen!“, schnaubte Raven, immer noch schäumend vor Wut.
    Smogon war längst der Kiefer vor Schreck nach unten geklappt. Wie gelähmt und unfähig zu begreifen, was eben mit seinem Spießgesellen passiert war, schwebte er auf der Stelle in der Luft.
    Von Ravens bereits zweiter Heldentat angesteckt, ging nun Xell in die Angriffsposition über. Bevor Smogon auch nur begreifen konnte, was mit ihm geschah, fand er sich, nach einem nicht weniger spektakulären Rammmanöver Xells, ebenfalls in der kalten Wasserlake neben seinem Kumpanen wieder.
    Das nehmen wir wieder mit“, sagte Raven, hob den gestohlenen Stein auf, den Smogon durch die Wucht des Aufpralls verloren hatte, und reichte ihn seinem Freund. Xells Augen leuchteten auf, als er endlich seinen Schatz wieder in den Händen hielt. Er starrte abwechselnd zu Raven und zu dem Stückchen Fels, den er nun wieder sein Eigen nennen durfte.
    „Anfängerglück...“, nuschelte Smogon, der, ebenso wie sein Kumpane, mit letzter Kraft wieder aufs Trockene gerobbt war.
    „Das war pures Glück, nichts als Zufall... Wartet nur bis zum nächsten Mal...“, stammelte Zubat.
    „Ich freue mich schon darauf!“, antwortete Raven grimmig. „Xell, wir gehen.“


    Ohne die beiden Schurken noch eines Blickes zu würdigen, überließen Raven und Xell die feigen Diebe sich selbst, nahmen den selben Weg, den sie gekommen waren, und erreichten nach wenigen Minuten endlich den Höhlenausgang. Die grelle Abendsonne blendete Raven, doch war er glücklich, endlich wieder Tageslicht sehen zu dürfen. Stillschweigend liefen sie am Strand entlang bis sie zu der Stelle kamen, an der sie sich vor einer knappen Stunde begegnet waren.
    „Es kommt mir vor so, als würde ich dich schon eine Ewigkeit kennen“, nuschelte Xell. Ihm standen Tränen in den Augen geschrieben. Raven schaute verlegen in Richtung des Sonnenuntergangs, den er noch nie so schön in Erinnerung hatte; was aber vielleicht auch nur daran lag, dass er, so sehr er sich auch bemühte, rein gar nichts aus seinem früheren Sein als Mensch in Erinnerung rufen konnte. „Ich bin dir so dankbar, dass du mir heute beigestanden hast“, hakte Xell nach.
    „War doch Ehrensache ...“, murmelte Raven, löste nun aber seinen Blick vom Sonnenuntergang. „Eins würde mich aber jetzt doch brennend interessieren: Was ist eigentlich mit dem Stein, den sie dir gestohlen haben. Warum ist er dir so wichtig? Ich meine, für ein Stück Fels sein Leben zu riskieren ... Also - na, du weißt schon ...“
    Xell legte seinen Schatz, wie er ihn nannte, zärtlich auf den Boden. Je länger er ihn betrachtete, umso größere Umfänge nahmen die Pupillen seiner Augen an.


    „Das ist mein Reliktfragment. Naja, zumindest habe ich angefangen, es so zu nennen. Ich hab es vor einiger Zeit hier in der Nähe gefunden. Siehst du das Muster hier? Ich sage dir eins: das ist der Stoff aus dem Träume sind.“ Seine Hände zitterten als er auf den Stein zeigte.
    Raven beäugte fragend das Reliktfragment, musste sich selbst aber eingestehen, so etwas noch nie in seinem Leben gesehen zu haben, was ihn jedoch aufgrund seines verlorenen Gedächtnisses auch überhaupt nicht verwunderte. Der Felsbrocken hatte eine mysteriöse weiße Gravur, die, mit etwas Vorstellungskraft, packende Ähnlichkeit mit Flügeln besaß. Einen Reim darauf konnte sich Raven jedoch nicht machen.


    „Auf jeden Fall“, fuhr Xell fort, „dieses Muster ist bestimmt der Schlüssel zu einem sagenumwogenen Ort, voll mit den atemberaubendsten Schätzen und Reichtümer, da bin ich mir sicher.“
    Raven schwieg.
    „Deshalb möchte ich irgendwann ein Erkundungsteam gründen, um die unterschiedlichsten Orte zu erforschen und irgendwann das Geheimnis, um mein Reliktfragment zu lüften. Das ist mein Traum.“
    Xells Miene verfinsterte sich.
    „Heute war ich so kurz davor, ein Erkunder zu werden, aber ich hab Panik bekommen und bin fortgerannt. Smogon und Zubat haben recht: Ich bin wirklich eine Memme und auch ein Feigling.“
    Raven schüttelte den Kopf.
    „Dafür hast du Smogon aber vorhin ganz schön alt aussehen lassen“, sagte Raven mit aufbauendem Ton. „Und als du dich vorher noch auf dieses Pokémon gestürzt hast ... Du hättest dich mal sehen sollen. Ich war schwer beeindruckt, ehrlich.“
    Xells Ohren liefen rosa an, ließ aber den Kopf bedrückt von der Schulter baumeln.
    „Das lag wohl nur daran, weil du bei mir warst ... Wenn- wenn du vielleicht mit mir zusammen ein Erkundungsteam gründen würdest, hätte ich vielleicht mehr Mut“ , nuschelte Xell verlegen.
    Obgleich Raven nicht verstand, was zur Hölle ein Erkundungsteam sein sollte, lag ihm seine Antwort klar auf der Pfote.
    „Okay.“
    Xells Kopf schoss schlagartig in die Höhe, kaum hatte Raven seinen Mund geschlossen.
    „Ersthaft?! Du willst wirklich ein Erkundungsteam gründen? Mit mir?“ Er sprang seinem Freund um den Hals.
    „Ja doch! Ich weiß ja sonst nicht, wo ich hingehen soll ...“, würgte Raven, nach Luft ringend und versuchte sich von Xells Klammergriff zu lösen. „Ist vielleicht nur ein Wunschdenken von mir, aber vielleicht bekomme ich so Infos, was mit mir passiert ist.“ Er schwieg einige Sekunden lang und betrachtete erneut die ferne Sonne, die noch beinahe hinter dem Horizont verschwunden war. „Nimm's mir aber bitte nicht übel: was ist eigentlich ein 'Erkundungsteam'?
    Xells Augen begannen zu leuchten.
    „Kein Problem, erklär ich dir alles unterwegs. Gehen wir.“



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  • Kapitel II.: Die neuen Gildenrekruten

    Mittlerweile war bereits früher Abend angebrochen. Xell und sein neuer Freund Raven wanderten auf den nur spärlich beleuchten Pfaden in Richtung der Knuddeluff-Gilde; der Ort, vor dem Xell vor knapp zwei Stunden panisch reißaus genommen hatte. Raven trottete langsam und mit verschlossenen Augen hinter Xell her und murmelte offensichtlich tief in Gedanken versunken vor sich hin.
    „Also ...“, begann er, „Gilden bilden Erkunder aus. Erkunder erforschen unbekannte Orte, suchen nach Schätzen und helfen Pokémon in Not. Voraussetzung, um ein waschechter Erkunder zu werden, ist die Teilnahme am Gildentraining, verschiedene Prüfungen, die es zu absolvieren gilt, Fleiß, Ehrgeiz und natürlich Disziplin. Habe ich das alles richtig verstanden?“
    Xell strahlte vor Freude, als sein Begleiter endete.
    „Genau! Unbekannte Orte zu erforschen und Schätze zu finden ...“ Er seufzte tief bei seinen eigenen Worten. „Das ist ja so aufregend ... Oh, wir sind ja schon da!“
    Jegliche Farbe war Xell plötzlich aus seinem Gesicht entfleucht. Stocksteif stand er nur noch so da und beäugte das Gebäude, bei dem es sich offensichtlich um die Knuddeluff-Gilde handeln musste. Das Bauwerk, wenn man es überhaupt so nennen durfte, bestand aus nur zwei Ebenen. Das Dach formte den Kopf eines Pokemons, während das Erdgeschoss wie ein kunterbuntes Zirkuszelt wirkte. Die Stelle, an der man den Eingang vermutet hätte, zierte ein schweres Eisentor mit ellenbogendicken Gitterstäben, was für Besucher nicht gerade den einladensten Eindruck machte. Links und rechts zum Eingang brannte je eine Fackel, deren Schein die Düsternis durchdrang und den kompletten Platz mit wärmendem Licht erhellte. Raven begutachtete argwöhnisch das Gebäude.
    „Das ist sie also, die Knuddeluff-Gilde? Sieht ja irgendwie nicht wirklich gastfreundlich aus ... Oder was meinst du?“
    Nichts regte sich hinter Raven.
    „Xell ...? Hallo ...?“
    Raven drehte sich um und suchte den Blick seines Freundes, der wie angewurzelt einige Schritte hinter ihm stand. Xells Blick war starr auf das Antlitz des Pokémons auf der Konstruktion vor ihnen gerichtet.
    „Ist alles mit dir in Ordnung?“, fragte Raven stirnrunzelnd.
    „J-ja, alles in Ordnung ...“
    Sein Blick blieb unentwegt an dem Gesicht des Pokémons haften. Er bewegte sich nach wie vor kein Stück von der Stelle.
    „Na, wenn alles in Ordnung ist, dann komm endlich“ , sagte Raven, langsam etwas genervt.
    Xell machte jedoch immer noch keine Anstalten, sich zu bewegen. Seine Augen nahmen inzwischen bereits einen glasigen Ton an.
    Raven platzte der Geduldsfaden. Ohne weitere Anstalten zu machen stahl er sich hinter die regungslose Gestalt seines Freundes und schob diesen mit der gesamten Kraft seines Körpers langsam in Richtung des Eingangs: stieß dabei aber bereits nach wenigen Schritten auf heftigen Widerstand seines neuen Freundes.
    „Was tust du da? Hör auf damit!“, rief Xell erschrocken und stemmte sein ganzes Gewicht gegen die unbändige Gewalt seines Freundes, die ihn in Richtung der Gilde drückte.
    „Ich will hier keine Wurzeln schlagen. Los, rein da!“
    Xell wehrte sich verzweifelt, doch vergebens. Sie waren nur noch wenige Meter entfernt und erreichten gerade eine Balkenkonstruktion aus geflochtenem Holz, als eine laute Stimme ihren Zweikampf unterbrach.
    „Pokémon entdeckt! Pokémon entdeckt!“
    Auch Raven fuhr nun vor Schreck in sich zusammen, machte jedoch - im Gegensatz zu seinem Kameraden - keine Anstalten wegzulaufen. Xell hatte mittlerweile seine zum Scheitern verurteilten Fluchtsversuche aufgegeben und klammerte sich fest um den Hals seines Freundes. Er zitterte am ganzen Leib.
    Eine weitere Stimme, um einiges kraftvoller und lauter als die erste, schaltete sich ein.
    „Wessen Fußabdruck? Wessen Fußabdruck?“
    „Zwei Pokémon!“, quickte die erste Stimme. „Die Fußabdrücke gehören Panflam und Sheinux! Die Fußabdrücke gehören Panflam und Sheinux!“
    Einige Sekunden absoluter Stille zogen dahin. Nur das Klappern von Xells Zähnen und das Lodern der Fackeln war zu hören, bis sich die andere Stimme wieder erschallte.
    „In Ordnung, eintreten!“
    Mit einem lauten Scheppern wurde das schwere Eisentor aufgezogen und öffnete den Eingang zur Gilde. Xell seufzte erleichtert.
    „Ich dachte sie würden uns irgendeine Aufgabe oder so stellen.“
    „Würdest du mich bitte endlich loslassen? Du erwürgst mich ...“, keuchte Raven, der mittlerweile die Farbe einer frühreifen Tomate angenommen hatte.
    „Oh, entschuldige!“, rief Xell erschrocken und lies endlich von Raven ab.
    „So, dann wollen wir mal“, sagte Raven, immer noch schwer atmend.
    Beide stiegen über die Stufen, betraten den Eingang der Gilde und fanden sich wenige Augenblicke später in einem kleinen kreisrunden Raum, scheinbar einer Sackgasse, wieder. Ihr Blick fiel auf eine Tafel zu ihrer Linken:


    Knuddeluff-Gilde

    Die Erkunderschwüre:

    Erstens: Nicht dem Plagen entsagen!

    Zweitens: Willst du kneifen, müssen wir dich schleifen!

    Drittens: Mit einem Lachen werden wir es machen!


    „Ähhhm, ja ... und wie geht’s jetzt weiter?“, fragte Raven, während seine Augen im Glauben, irgendetwas wichtiges übersehen zu haben, ein zweites Mal über die Tafel huschten - er hatte kein einziges Wort der für ihn verworrenen Schriftzeichen entschlüsseln können
    Xells Blick wanderte im Raum umher bis er eine Leiter unmittelbar in ihrer Nähe erspähte.
    „Nach unten, nehme ich mal an.“ Er deutete auf die Leiter.



    Bereits während ihrers Abstiegs, der sich insbesondere für Raven als ein besonders kniffliges Unterfangen herausstellte, drangen eine Vielzahl verschiedener Stimmen an ihre Ohren. Niemand der beiden konnte wohl die Frage beantworten, wer von ihnen gerade mit den größeren Sorgen zu ringen hatte. Raven, der bedacht eine Pfote nach der anderen auf die schmalen Leitersprossen setzte und darum betete, bloß nicht abzurutschen; oder Xell, der durch das Stimmenwirrwarr sämtliches Selbstvertrauen beraubt wurde und am liebsten wieder kehrt machen würde, wenn da nicht Raven gewesen wäre, der ihm langsam hinab folgte und so seinen einzigen Fluchtweg blockierte. Nach ihrer kurzen Kletterpartie erreichten sie (in Ravens Fall) erleichtert einen großen Raum, in dem sich eine Vielzahl der unterschiedlichsten Pokémon tummelten; so viele, dass Raven bereits nach kurzer Dauer seinen Versuch aufgab, sie zu zählen. Doch niemand schien bislang Kenntnis von den beiden Besuchern genommen zu haben; niemand, bis auf ein vogelähnliches Pokémon, das auf sie zugeflattert kam.
    „Ihr seid die beiden, die wir gerade herein gelassen haben, richtig? Was wollt ihr hier? Uns etwas verkaufen? Für Bettler und Hausierer haben wir wenig übrig. Außerdem ist es schon späte Stunde und wir schließen bald. Was ist nun? Hat es euch etwa die Sprache verschlagen?“
    Alles sprudelte in einer unglaublichen Geschwindigkeit aus dem Pokémon heraus. Er brauchte offenbar nicht einmal Luft zu holen und machte bereits Anstalten, weiter zu plappern, als Xell ihn kurzerhand unterbrach.
    „Ähm, Verzeihung, aber wir - wir wollen eigentlich Erkunder werden und hier als Lehrlinge anfangen.“
    Die Miene des vor ihnen stehenden Pokémons nahm binnen weniger Sekunden einen ganz und gar entzückten Eindruck ein.
    „Achso. Das ist natürlich etwas anderes! Ich bringe euch sofort zum Gildenmeister Knuddeluff. Na, dann kommt mal mit“, flötete er und hüpfte voraus.


    Sie kehrten dem Stockwerk und seinen laut miteinander plaudernden, fiependen und schwatzenden Pokémon den Rücken zu, stiegen eine weitere Leiter hinab und kamen in ein weiteres, noch viel größeres, dafür aber zumindest etwas weniger gefülltes Stockwerk.
    „Macht Platz für die neuen Gildenrekruten! Macht Platz für die neuen Gildenrekruten!“, rief das Pokémon, dem Raven und Xell auf dem Weg zum Gildenmeister folgten, wichtigtuerisch in den Raum. Er schien, im Gegensatz zu seinen beiden Begleitern, die Aufmerksamkeit in vollen Zügen zu genießen. Xell und auch Raven stand ihre Scham wie im Gesicht geschrieben. Ihre Augen fest auf den Boden gerichtet trotteten sie unter den zahlreichen auf ihnen ruhenden Blicken hinter dem Mitglied der Knuddeluff-Gilde her. Selbst für Raven, der, im Gegensatz zu Xell, weniger Komplexe neue Bekanntschaften zu machen hatte, war das doch etwas zu viel des Guten und so hoffte er, diesen Marsch so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Ihre Wanderung kam schließlich und endlich an einer großen hölzernen Tür etwas abseits vom Hauptplatz und den neugierigen Blicken der Anwesenden zum Ende. Das schwatzige Pokémon räupserte sich großspurig und klopfte drei mal mit dem Schnabel gegen die Tür.
    „Ich bringe zwei neue Gildenrekruten, Gildenmeister Knuddeluff.“
    „Komm herein und bring die beiden mit, Plaudagei“, trällerte es nach wenigen Augenblicken des Wartens fröhlich hinter der Tür hervor.
    Sie betraten einen kleinen Raum, in dem sich ein großes rosa Pokémon befand. Raven erkannte in ihm sofort das Pokémon wieder, dessen Abbild sich auch auf dem Dach der Gilde befand. Sie nahmen vor dem Pokémon, um das es sich offensichtlich um den Gildenmeister handeln musste, Haltung an. Plaudagei, dem sie die ganze Zeit über gefolgt waren, schloss unterdessen die Tür, blieb jedoch mit im Raum.


    „So, ihr wollt also Erkunder werden und bei uns in die Gilde eintreten, richtig?“, fragte Knuddeluff freundlich.
    Xell trat entschlossen vor. Die Abgeschiedenheit von den neugierigen Blicken vor der Tür ließen ihn neuen Mut und Selbstvertrauen schöpfen, was auch Ravens wachsamen Augen und Ohren nicht entging.
    „Ja, das wollen wir - von ganzem Herzen“, antwortete Xell begeistert.
    „In Ordnung. Wie lauten eure Namen?“, wollte Knuddeluff wissen.
    „Mein Name ist Xell ..." Er trat einen weiteren Schritt vor. „Und dies ist ...“
    „...und ich heiße Raven“, unterbrach Raven seinen Freund und trat demonstrativ vor.
    „Alles paletti“, sagte Knuddeluff und klatschte in die Hände. „Dann brauchen wir nur noch den Namen eures Erkundungsteams.“
    Xell wurde plötzlich stocksteif.
    „Der N-Name des Teams?“, flüsterte er leise. Jegliches Selbstvertrauen war ihm plötzlich wie aus dem Gesicht gefegt. Aufgelöst stahl er sich ganz langsam seitlich zu seinem Freund hinüber und suchte verzweifelt dessen Blick.
    „Raven - ksch ...“



    „Wie war das?“ Knuddeluff runzelte die Stirn und musterte seine beiden neuen Rekruten neugierig.
    „Der Gildenmeister hat dich nicht richtig verstanden“, fügte Plaudagei unnötigerweise dem Satz seines Gildenmeisters hinzu.
    Endlich bemerkte Raven den stummen Versuch seines Freundes, seine Aufmerksamkeit zu erregen. In sich eingekehrt kniff er seine Augen zu, und begann angestrengt zu grübeln. Xells Stimme wurde inzwischen immer heiserer; gleichzeitig begann er kräftig zu stottern an. Knuddeluffs Blick mied er bereits seit einer ganzen Minute. Stattdessen starrte er regelrecht Löcher in den Boden.
    „Also - äh, wegen dem Namen - das ist so, wir - wir heißen - äh ...“
    „Kugelblitz!“, rief Raven, wie aus heiterem Himmel. Xell und alle Anwesenden eingeschlossen zuckten vor Schreck zusammen.
    „Ja, Team Kugelblitz!“, wiederholte Raven. „Wir schlagen zu, wie der Blitz. So heißen wir.“
    „Team Kugelblitz also? Guter Name, guter Name!“, sagte Knuddeluff fröhlich und klatschte ein weiteres Mal in die Hände.
    „Dann bin ich der Erste, der euch recht herzlich bei uns willkommen heißt. Er schüttelte seinen neuen Auszubildenden die Hand (in Ravens Fall die Pfote). „Ich überreiche euch hier nun feierlich euer offizielles Erkundungsteamset. Wo war es noch gleich ...?“
    Knuddeluff begann in einem Berg, den ein Jeder der Anwesenden wohl als „einen Haufen Müll“ definiert hätte, emsig zu kramen an und bombadierte dabei alle sich im Raum befindenden Personen regelrecht mit den verschiedensten Dingen. Plaudagei, dem dieses Ritual wohl allzu vertraut sein musste, konnte sich gerade noch im letzten Moment in Sicherheit bringen. Über Raven und Xell ergoss sich jedoch augenblicklich eine Flut aus merkwürdigen blauen Kugeln, Beeren in allen Regenbogenfarben, Steinen, Bändern, weichen Gummis; teilweise wohlriechend, teilweise bereits leicht ranzig riechend; und zu allem Überfluss, abgenagten Äpfeln.
    „Ah, da ist es ja“, sagte Knuddeluff erschöpft, aber zufrieden und hielt ein großes Paket in beiden Händen. „Bitte sehr.“
    Xell konnte sich als erster aus der Lawine von Gegenständen befreien und öffnete behutsam die Kiste, die ihm Knuddeluff reichte.


    „Das hier“, sagte Knuddeluff und deutete auf ein mit einer Schlaufe versehenes Stück Pergament, „ ist eine Wunderkarte. Sie weist euch Tag und Nacht den richtigen Weg für eure Aufträge, die ihr von uns gestellt bekommt. Dann hätten wir noch euren Erkunderorden, mit dem ihr euch immer und überall als offizielles Erkundungsteam ausweisen und Rettungsmissionen durchführen könnt. Zu guter Letzt euren Schatzbeutel, ein praktisches Utensil zur Aufbewahrung eures Proviantes und eurer Ausrüstung.“ Er blickte voller Stolz auf seine neuen Schützlinge hinab. „Ihr beide seid jetzt offizielle Lehrlinge der Gilde. Macht uns stolz und trainiert, trainiert, trainiert.“
    „Danke, Gildenmeister Knuddeluff“, keuchte Raven, der sich nun auch endlich aus dem Berg von Knuddeluffs Krempel befreien konnte.
    „Plaudagei? Sei doch so nett und zeige unseren neuen Freunden ihr Quartier.“
    „Natürlich, Gildenmeister“, antwortete Plaudagei prompt. „Folgt mir bitte.“
    Plaudagei hatte seinen Flügen bereits an der Türklinke, als Knuddeluff seinen Gildenlehrling noch einmal zurückbeorderte.
    „Achja, und Plaudagei: wenn du zurück kommst, musst du mir hier mal beim Aufräumen helfen. Ich weiß wirklich nicht, warum hier so ein Durcheinander herrscht.“ Knuddeluff winkte zum Abschluss noch einmal. „Gute Nacht, ihr zwei.“
    Auch Plaudagei wandte sich um und warf wehmütig einen kurzen Blick auf die kreuz und quer herumliegenden Gegenstände, die Knuddeluffs Suchaktion im Weg gestanden hatten.
    „Natürlich, - Gildenmeister ...“


    Sie ließen das Quartier Knuddeluffs nun endgültig hinter sich. Mittlerweile gingen offenbar auch in der Gilde die Lichter aus. Von dem fröhlichen Stimmengewirr, das Raven und Xell bei ihrer Ankunft in die Gilde begrüßt hatte, war nunmehr nichts mehr zu hören. Ruhe war eingekehrt. Plaudagei führte die Gildenneuankömmlinge abseits von der großen Haupthalle, in der sich auch die Leiter zu den oberen Geschossen befand, einen langen Korridor entlang. Hier und da zweigte sich dieser nach rechts und links zur Seite ab. Ihr Gang kam schließlich und endlich in einem kleinen abgelegenen Raum, mit kreisrundem Fenster und zwei einladenden Heubetten zum Ende. Obwohl es nach nicht viel aussah, strahlte der Raum, bei dem es sich wohl um ihr Quartier handeln musste, eine solche Form der Behaglichkeit aus, die Raven schlagartig in seinen Bann zog. Müdigkeit kroch in seine Glieder. In jenem Moment wünschte er sich nichts lieber, als sich einfach nur in eines der Betten zu werfen, sich dort für den Rest seiner Tage zu verkrümeln, und am liebsten nie wieder aufzustehen.


    „So, diese Räumlichkeit steht euch von nun an als persönliches Gildenquartier zur Verfügung. So wie ihr ausseht solltet ihr am besten früh zu Bett gehen. Ab morgen startet euer Gildentraining und da wollt ihr ja hoffentlich fit sein, oder?“
    Plaudagei ersparte sich, auf eine Antwort zu warten. Die sichtlich erschöpften Gesichter seiner beiden neuen Kameraden ließen ihn seinen Teil vermuten und so ließ er Raven und Xell nach einem kurzen Wort des Abschieds in ihrem Gildenquartier zurück. Kaum hatte Plaudagei die Tür hinter sich zugeschlagen, ließen sich sowohl Raven als auch Xell todmüde aber glücklich in ihre Betten fallen. Einige Minuten vergingen in denen beide halbwach nur so dalagen und jeder für sich selbst den Tag Revue passieren ließ. Xell fand als erstes seine Sprache wieder.
    „Team Kugelblitz? Klasse Einfall. Da wäre ich nie darauf gekommen. Du bist ein echtes Multitalent.“
    Raven schwieg.
    „Ich bin echt totmüde. Mich kannste heute nicht einmal mehr zum Blumen pflücken gebrauchen ... Gute Nacht ...“
    „Nacht“, gähnte Raven kurz angebunden.


    Xells ruhiges, gleichmäßiges Atmen verriet Raven, dass sein Freund eingeschlafen sein musste. Er selbst lag dagegen noch einige Zeit, auf dem Rücken liegend und sanft auf Stroh und Heu gebettet, und starrte regungslosan die Zimmerdecke. Viel zu viel war passiert, als dass er einfach hätte Ruhe finden können. In Gedanken ging er jeden einzelnden Aspekt der vergangenen Stunden noch einmal durch.
    „Wer bin ich, wer war ich und warum bin ich hier? Wieso besitze ich keinerlei Erinnerungen an mein früheres Leben? War ich wirklich ein Mensch?“ Im Dunkeln hielt er sich seine rechte Vorderpfote vors Gesicht, deren Umrisse er im spärlichen Licht des blassen Mondscheins nur vage erkennen konnte. Er schüttelte den Kopf. Das war nicht richtig. Er sollte eigentlich nicht hier sein. Nicht hier und nicht in diesem Körper. Doch wo dann? Nichts wollte für ihn Sinn ergeben. Langsam aber sicher fielen auch ihm seine Augen zu. Er befand sich plötzlich wieder am Strand, wo ihn Xell gefunden hatte. Er rannte. Wohin wusste er nicht. Eine Stimme in seinem Kopf rief ihm immer wieder ins Gewissen, dass er unbedingt die Sonne einholen müsste. Stundenlang, so kam es ihm jedenfalls vor, verfolgte er die helle Scheibe am Firmament, ohne sie jedoch auch nur ansatzweise einholen zu können. Urplötzlich verfinsterte sich das Gebilde der Sonne am Himmel. Wie ein großer Felsbrocken fiel sie plötzlich vom Himmel herab und zerprang auf dem Boden angelangt in abertausende Einzelteile. Alles um Raven herum wurde dunkel. Die Bäume, die Pflanzen, das Wasser - alles gefror. Eisige Kälte kroch in seine Glieder und saugte an seinen Gedanken. Er musste fliehen. Doch wohin sollte er laufen? Ein ohrenbetäubender Schrei und heftige Kopfschmerzen rissen ihn plötzlich aus seinem Traum und somit auch aus seiner viel zu kurzen Nachtruhe.


    „HEY, IHR! AUFWACHEN!“
    Raven gelang es im ersten Moment gar nicht zu realisieren, was eben geschehen sein musste. Nicht nur, dass er so ruckartig aus seinem Schlaf gerissen wurde, auch viel zu heftig hämmerte ein Schmerz, der ihm die Tränen in die Augen trieb, in seinem Kopf, als dass es ihm gelang, eben diese zu öffnen. Vor sich konnte er vage die Umrisse Xells erkennen, der sich, allem Anschein nach, gerade seinen Kopf rieb. Durch die brachiale Stimme des Eindringlings so ruckartig geweckt, waren Raven und Xell so heftig aus dem Schlaf gefahren, dass sie vor Schreck ihre Köpfe gegeneinander gerammt hatten; was die hämmernden Schmerzen in Ravens Schädeln mehr als deutlich erklärte.
    „NA LOS, RAUS AUS DER FALLE! IHR KOMMT NOCH ZU SPÄT ZUR MORGENTLICHEN EINWEISUNG! SAGT NICHT, ICH HÄTTE EUCH NICHT GEWARNT!“ Das Pokémon an ihrer Tür, welches sie soeben aus ihrem Schlaf gerissen hatte, verschwand.
    Xell rieb sich schläfrig die Augen.
    „Morgentliche ...?“
    „... Einweisung?“, beendete Raven den Satz.
    Einige Sekunden zogen dahin, bis sie endlich alle beide wieder bei vollem Bewusstsein waren. Xell schreckte als Erster auf.
    „Du lieber Himmel! Ich komme zu spät! Und das am ersten Tag!“
    Endlich kam auch Ravens Kreislauf in Schwung. Schlagartig war er auf seinen Beinen. Beide, Raven und Xell, rannten wie zwei aufgescheuchte Hühner zu Tür ihres Quartiers. Es kam, wie es kommen musste: Sie blieben gemeinsam in der für sie beide viel zu engen Tür stecken. Keinen Millimeter ging es weiter und niemand wollte in ihrer morgendlichen Desorientierung kleinbei geben. Noch nicht einmal hatten sie erkannt, mit wem sie gerade dabei waren, um die Wette zu rangen.
    „Jetzt mach doch mal Platz!“, rief Xell erregt.
    „Lass mich durch!“, keuchte Raven heiser.
    Sekundenlang kämpften sie noch verbissen mit aller Gewalt miteinander, bis sie schließlich und endlich beide lautstark aus dem Türrahmen herauskullerten und einige Meter vor ihrem Quartier aufeinander liegen blieben. Erst jetzt erkannten sie, mit wem sie die ganze Zeit über gerungen hatten
    „Oh, Morgen Raven. Gut geschlafen?“
    „Geht so ... Schlecht geträumt ...“
    Weitere Sekunden zogen ins Land, bis sie sich endlich wieder ins Gedächtnis riefen, wo sie waren und welches bedeutende Ereignis sie just in dieser Sekunde dabei waren, zu versäumen. Beide starrten sich plötzlich mit großen Augen an.
    "DIE MORGENTLICHE EINWEISUNG!"
    Sie rappelten sich beide auf und rannten was ihre Füße hergaben den ausgestorbenen Korridor entlang.


    Atemlos und arg zerzaust erreichten sie die Tür zum Quartier des Gildenmeisters. Vor dem Eingang standen bereits ein ganzes Rudel Pokémon, bei denen es sich allesamt um Mitglieder der Gilde handeln musste. Sämtliche Augenpaare waren nun auf die Neuankömmlinge gerichtet, die sich schwer atmend ans Herz griffen.
    „Ah, da seid ihr ja endlich“, herrschte sie Plaudagei an. „Der Gildenmeister ist zu eurem Glück noch nicht da. Nutzen wir also am besten die Zeit und machen euch mit dem Rest der Gilde bekannt.“



    Plaudagei räusperte sich.
    „Das hier sind unsere neuen Gildenlehrlinge. Raven und Xell von Team Kugelblitz. Heißt sie herzlichst in unserer Gemeinschaft willkommen.“
    Pfiffe und reger Beifall von allen Anwesenden folgten Plaudageis Worte. Ein biberähnliches Pokémon mit auffallend großen Vorderzähnen löste sich aus der Reihe der Gildenmitglieder und trottete auf sie zu.
    „Willkommen bei uns. Toll, dass wir wieder neue Lehrlinge haben. Ich war lange Zeit der neuste Lehrling in der Gilde, bis ihr aufgetaucht seid. Mein Name ist übrigens Bidiza. Freut mich wahnsinnig, euch kennen zu lernen.“
    „Uns auch, danke“, sagte Xell frohgestimmt.
    In diesem Moment ging die Tür zum Quartier des Gildenmeisters krachend auf und Knuddeluff torkelte schläfrig und mit geschlossenen Augen heraus. Alle Blicke ruhten gespannt auf der verschlafenen Gestalt ihres Anführers


    Einmal laut aufschnarchend begann er, völlig in sich verharrend in einer monotonen Stimmlage zu sprechen.
    „... Guten Morgen, Gilde... Unsere Neulinge sind auch schon da, freut mich, freut mich ... Und nun auf zum morgendlichen Jubelruf.“
    Keiner der Gildenmitglieder machte Anstalten, etwas zu sagen und warfen stattdessen ihrem Nachbar fragende Blicke zu. Plaudagei räusperte sich offenbar peinlich berührt.
    „Ihr habt es doch gehört. Unser Gildenmeister möchte den morgendlichen Jubelruf hören. Also los, alle zusammen!“
    Alle Pokémon, Raven und Xell ausgeschlossen, begannen - jeder in einem anderen Tempo - zu singen:
    „Erstens! Nicht dem Plagen entsagen!“
    „Zweitens! Willst du kneifen, müssen wir dich schleifen!“
    „Drittens! Mit einem Lachen werden wir es machen!“
    „ ... Wunderbar ... Dann mal ran an die Arbeit.“ Knuddeluff gähnte noch einmal herzhaft und verschwand kurzerhand wieder in seinem Raum.


    Die Reihen der Pokémon lichtete sich; jeder für sich in einer andere Richtung. Raven und Xell warfen sich, einer ahnungsloser als der andere, gegenseitig fragende Blicke zu. Erst als Xell nach einem ratlosen Schulterzucken seines Freundes anfing, ziellos auf dem Stockwerk herumzustromern, nahm sie endlich Plaudagei unter seine Fittiche.
    „Team Kugelblitz, kommt doch mal bitte zu mir!“
    Den Wunsch ihres Vorgesetzten gehorsam respektierend, folgten Raven und Xell Plaudagei zurück zur ersten Gildenebene; ganz in der Nähe zur Leiter, die zum Ausgang der Gilde führte. Er stoppte vor einer Pinnwand an der dutzende Steckbriefe aller Größenordnung befestigt waren. Ravens Blick schweifte interessiert über den Papierkrieg, musste sich aber sogleich seiner mangelnden Pokémonschrift-Lesefähigkeit geschlagen geben.
    „Was ihr vor euch seht ist das Job-Infobrett“, sagte er und deutete auf die Pinnwand vor ihnen. „Alle Pokémon der Region, die mit mit Problemen zu kämpfen haben, hängen hier Hilfegesuche für uns als Gilde und jedes freie Erkundungsteam aus. Eure Aufgabe als Erkundungsteam ist mitunter, euch mit den Problemen zu befassen und diesen armen Seelen eure Dienste zu erweisen. Da ihr noch grün hinter den Ohren seid, solltet ihr euch für den Anfang mit einigen einfachen Aufträgen beschäftigen. So verschafft ihr euch einen Rang und Namen und werdet, sofern ihr eure Sache gut macht, auch bald mit anderen Aufträgen betraut.“
    „Ich würde viel lieber gleich auf Erkundung gehen und vielleicht sogar einen unbekannten Ort erforschen ...“, seufzte Xell.
    Plaudagei plusterte sich auf.
    „Erkundungen - so grün, wie ihr noch seid? Du machst wohl Witze. Das Erkundungsgewerbe ist keine Larifari-Angelegenheit, sondern ernstzunehmende Knochenarbeit. So unvorbereitet wie ihr seid können wir euch unmöglich in der Weltgeschichte herumstromern lassen. Nicht auszudenken, was passieren könnte ...“
    „Was soll schon großartig passieren ...?“, winkte Xell achselzuckend ab.
    „Aus dir spricht deine Unwissenheit sonst wäre dir bekannt, dass in letzter Zeit alles irgendwie aus seinen Fugen gerät. Aus den friedlichsten und zurückgezogensten Pokémon werden plötzlich wilde Streithähne, das Wetter spielt gelegentlich völlig verrückt und Pokémon verschwinden einfach spurlos. Ja, so manch eine böse Zunge behauptet sogar, dass der Fluss der Zeit selbst gestört sei.“
    Raven schreckte auf.
    „Der Fluss der Zeit soll gestört sein? Wie 'gestört'? Was soll das heißen?“
    Plaudagei winkte schlagartig ab.
    „Ach, ein Ammenmärchen - nichts weiter.“
    Raven, wenn auch noch nicht so lange wie Plaudagei in dieser Welt, hielt es jedoch möglicherweise für alles andere als ein Ammenmärchen. Wenn es sich um merkwürdige Dinge drehte, die in dieser Welt gerade ihren Lauf nahmen, dann handelte es sich bei ihm wohl um das Sahnehäupchen; aber das brauchte seiner Meinung nach niemanden etwas anzugehen und musste deshalb nicht jedem auf die Nase gebunden werden. Doch konnte es sein? War der Fluss der Zeit tatsächlich gestört? War dies vielleicht der Grund, warum er vom Menschen zum Pokémon wurde und sein gesamtes Erinnerungsvermögen verlor?
    „Nun ja“, fuhr Plaudagei fort. „Auf jeden Fall solltet ihr euch auf leichte Missionen konzentrieren. Wie ihr seht können wir uns vor Aufträgen gar nicht retten. Mal sehen, was wir da so einfaches für euch haben ...“
    Plaudageis Augen flogen einige Zeit lang über das Infobrett.
    „Wie wäre es mit dem da?“, sagte er pickte einen gutgewählten Zettel von der Wand und reichte diesen Xell, der ihn sofort laut vorlaß.


    Hallo, mein Name ist Spoink!

    Ein Ganove ist mit meinem wertvollsten Besitz abgehauen - meiner kostbaren Perle.

    Ohne sie kann ich unmöglich leben!
    Augenzeugen berichtet, dass der Dieb unmittelbar in der Nähe der Feuchtklippe gesehen wurde.

    Ich hoffe darauf, dass ein Erkundungsteam mir meine Perle zurück bringt.

    Ich flehe um eure Hilfe.

    Von Spoink“



    „Klingt für den Anfang vielleicht gar nicht mal so schlecht, auch wenn ich lieber auf Erkundung gehen würde ... Aber es ist Okay!“, stimmte Xell mit Plaudageis Vorschlag überein.
    „Gut, dann macht euch mal auf den Weg und bringt gute Neuigkeiten mit. Der Standort der Feuchtklippe ist auf eurer Wunderkarte verzeichnet. Viel Glück euch beiden“, sagte Plaudagei und flatterte davon.


    „So, dann legen wir mal los. Kann's losgehen, Raven? Öhm, Raven? Alles in Ordnung?“
    Raven schreckte auf.
    „Ja, ich bin okay. Äh, von was war noch einmal die Rede?“
    „Man, du musst echt schlecht geschlafen haben ... Ich erklär's dir unterwegs. Warte am besten am Ausgang, während ich unseren Krempel aus dem Quartier hole“, sagte Xell und stieg die Leiter zur unteren Gildenebene hinab.
    Raven fiel es schwer, sich auf irgendetwas anderes als Plaudageis Gerede um den Fluss der Zeit zu konzentrieren. Während er die Leiter in Richtung des Ausgangs hinauf kletterte, stiegen ihm die Worte Plaudageis immer wieder in seinen Gedanken auf.
    „So kann es losgehen?“, fragte Xell, der mit umhängendem Schatzbeutel und Wunderkarte in seiner Hand nach einigen Minuten wieder zu Raven gestoßen war.
    „Ja, kann losgehen“, murmelte Raven, immer noch in seinen Gedanken verharrend.
    „Du solltest heute Abend echt früher ins Bett gehen. Machst nicht gerade den frischesten Eindruck.“
    „Kann sein ...“, antwortete Raven knapp und zuckte die Schultern.


    Endlich beugte sich wolkenbedeckte Morgenhimmel der frühen Morgensonne und gab der Welt ihr leuchtende Anlitz preis. Auch Ravens Lebensgeister wurden durch diesen - im wahrsten Sinne des Wortes - Lichtblick schlagartig geweckt und sogar Plaudageis Worte konnte er zum ersten Mal seit Minuten vergessen.
    „Mir ist noch nie aufgefallen, wie schön so ein Sonnenaufgang sein kann“, sagte Raven gut gelaunt.
    Xell kicherte.
    „Du bist echt komisch. Was soll denn bitteschön an der Morgendämmerung so besonders sein?“
    „Ich mag es halt“, antwortete Raven verlegen. „Lass mich doch ...“
    Xell gluckste noch einige Male, verstummte aber nach einem strengen Blick seines Freundes schließlich.


    Raven und Xell benötigten knapp die Hälfte des Morgens für die Reise zur Feuchtklippe. In dieser Zeit hatte Raven endlich die Zeit, um Xell mit einigen Fragen zu löchern, die ihm auf der Zunge brannten.
    „Und du lebst schon seit drei Jahren ganz allein? Warst du nie einsam?“
    „Doch, natürlich“, antwortete Xell betrübt. „Allerdings hatte ich noch nie ein glückliches Händchen beim Freundschaften schließen, wenn du verstehst, was ich meine. Viele Leute wollten überhaupt nichts mit mir und meinen Eigenarten zu tun haben, andere machten sich über mich lustig, oder haben mich sogar ausgenommen. Irgendwann wollte ich einfach nur noch allein sein - fern von all dem. Aber meinen Traum, eines Tages der weltbeste Erkunder werden, den hab ich nie aufgegeben.“
    Raven wurde von einer Welle aus Mitleid für seinen Freund überschwemmt. Zwar ahnte er bereits, dass sein neuer Freund Komplexe hatte, doch dass es so schlimm um ihn steht, hätte er nicht gedacht.
    „Am meisten aber ...“, fuhr Xell fort, „... habe ich mir einen echten Freund gewünscht. Jemanden, der immer für mich da ist, wenn ich ihn brauche. Jemanden, mit dem ich gemeinsam auf Erkundung gehen und Abenteuer erleben kann. Durch dick und dünn, in guten wie auch an schweren Tagen.“
    „Scheint so, als wäre dein Wunsch in Erfüllung gegangen“, zwinkerte Raven ihm zu.
    Xell mied den Blick seines Freundes.
    „Deine Freundschaft bedeutet mir echt ne Menge. Danke, Raven ...“


    Fernes Meeresrauschen kündigte ihr baldiges Eintreffen an der Feuchtklippe an. Mittlerweile hatte Xell seinen Kameraden in ihren Auftrag, Spoinks Perle zu finden, eingewiesen. Xell zückte seine Karte und überprüfte ihre Position.
    „Es sieht so aus, als wären wir am Ziel. Das muss die Feuchtklippe sein.“
    Viel weiter hätten sie auch nicht gehen können. Sie waren am höchsten Punkt eines Felsvorsprungs angekommen und starrten die Klippe hinab, während ihnen eisige Böen ins Gesicht schlugen. Weit unter ihnen brauste das Meer und drosch gewaltige Wellen an die zerklüftete und mit allerlei Meerespflanzen bedeckte Felsformation ein.
    „Und wie geht's weiter? Nichts zu sehen, von dieser Perle ...“, murrte Raven, dem die raue Seemannsluft deutlich zu schaffen machte.
    Xell überflog die Umgebung. Langsam schritt er am Rande der steilen Klippe entlang.
    „Ich glaube, hier kommen wir runter“, sagte Xell. Er deutete auf einen schmalen und steinigen Schleichpfad, der sich in Schlangenlinien an der Klippe bis zum Meer herunterzog. „Ziemlich eng. Hoffe du bist schwindelfrei.“
    Raven begutachtete argwöhnisch den schmalen Pfad, nickte aber.
    „Wird gehen ...“



    Der Wind peitschte ihnen nur so um die Ohren, als sie den steilen und engen Pfad hinabstiegen. Der Lärm des Meeres, das in der Tiefe gegen die Küste krachte, wurde Meter für Meter, den sie meisterten, immer lauter.
    „Weißt du eigentlich, dass du ganz schön komisch bist“, musste Raven nun fast schon brüllen, damit seine Stimme überhaupt gegen die Sturmböen ankam.“
    „Warum? Wie meinst du das?“ Xell sah ihn fragend an.
    „Ein falscher Schritt und wir haben verspielt“, sagte Raven. „Gestern hättest du noch vor ein einem übergroßen Flattermann und einem zu groß geratenen Luftballon klein bei gegeben. Und heute zuckst du im Angesicht dieser Gefahr nicht einmal mit der Wimper.“
    Xells Wangen nahmen ein zartes Rosa an. Raven konnte nur mutmaßen, welche Worte die Lippen seines Freundes still und heimlich formten, doch er war sich ziemlich sicher „Weil du bei mir bist“ herauszulesen.


    Der Weg wurde zunehmend enger, was für die beiden eine sorgsame Abwägung ihrer Schritte zur Folge hatte. Inzwischen hatten sie mehr als die Hälfe der Klippe gemeistert, als ein eigentümlicher Geruch in Ravens hochsensible Nase stieg, dessen Ursprung er auch bereits wenige Augenblicke später erspähte.
    „Was ist denn das?“, sagte er und begutachtete einen kleinen Keimling, der im Windschatten von einem der vielen Felsbrocken auf ihrem Weg lag, misstrauisch. Er rümpfte angeekelt die Nase und begann sofort einen großzügigen Abstand zu dem Objekt einzunehmen. Xell, der beim Vorbeigehen das Objekt nicht bemerkt hatte, kam zurück und beäugte Ravens Fund.
    „Das ist ein Samen. Ich kann dir aber auf Anhieb nicht sagen, was für einer das ist.“
    Er hob den Samen auf und schnüffelte interessiert an ihm. Sogleich stieg auch ihm der bestialische Gestank in die Nase, der von dem Keimling ausging.
    „Bäh! Widerlich! Was auch immer das ist - wir sollten den besser nicht essen.“
    „Das hatte ich ehrlich gesagt auch nicht vor ...“, murmelte Raven. “Sag mal, was hast du denn vor? Pack das Ding weg! Aber nicht doch da rein ...“
    „Wer weiß - vielleicht ist er uns ja irgendwann mal nützlich?“, meinte Xell schulterzuckend und packte den Samen in seine Tasche.
    „Das glaube ich zwar weniger, aber okay - musst du wissen ... Ich hab es noch nicht so mit dem Erkundungskram.“
    „Man weiß ja nie“, sagte Xell grinsend. „Augen auf! Vielleicht finden wir ja noch etwas?“
    Tatsächlich erspähten sie während ihres weiteren Abstiegs noch einige weitere Objekte. Xell erkannte auf Anhieb einige Kleinkiesel und fand außerdem noch eine Sinelbeere, die sie nun ihr Eigen nennen durften.


    Dem wüsten Wetter zum Trotz, erreichten sie nach einem langen und erschwerlichen Abstieg gut gelaunt schließlich fast den Boden des Pfades, als dieser in eine Art Höhle mündete, die Wind und Wetter wohl über Dekaden geformt hatte. Von Spoinks Perle, dem Objekt ihrer Begierde, fehlte jedoch noch jede Spur. Stattdessen wucherte an diesem Ort allerlei Grünzeug wild und ungebändigt und der markante Geruch von Meereswasser und Wasserpflanzen lag erstickend schwer in der Luft.
    „Ich würde mich gerne hier etwas umsehen. Schwärmen wir aus“, schlug Xell vor.
    Raven schlurfte langsam über den rauen felsenbedeckten Boden, während sein Blick durch das Innere der von der Natur geschaffenen und geformten Höhle schweifte. Wie er feststellen musste, gab es außer jeder Menge Grünzeug kaum etwas erwähnenswertes zu sehen. Irgendwie verlor er nach dem dritten oder vierten verirrten Seestern, den er erspähte, die Interesse; außerdem begann es ihn langsam aber sicher zu frösteln. Fast schon wollte er wieder kehrt machen, als seine Sinne urplötzlich aufschreckten. Täuschte er sich, oder hatte da nicht gerade noch etwas vor ihm gefunkelt? Nein, da war es schon wieder. Seine Augen spielten ihm keinen Streich. War es etwa ...?
    „Xell, komm mal her! Ich glaube, ich habe sie gefunden!“


    Nur - wie kam sie hier hier? Von alleine sicherlich nicht. Langsam und vorsichtig näherte er sich dem ominösen Gegenstand. Nur wenige Schritte vor dem rätselhaften Objekt blieb er plötzlich alarmiert an Ort und Stelle stehen. Ein kalter Schauer, viel kälter als der Wind, der durch die Öffnung ins Innere der Höhle heulte, lief ihm eiskalt über den Rücken. Es war ein Gefühl, das ihm sofort merkwürdig vertraut vorkam. Genau wie es am vorherigen Tage der Fall war, als er und Xell an einem ähnlichen Ort nach dem Reliktfragment Ausschau gehalten hatten, arbeiteten plötzlich alle seine Sinne auf Hochtouren. Sein ganzer Körper war angespannt und sowohl sein Fell als auch sein Schwanz stand ihm steil zu Berge. Waren es etwa seine neuen ihm noch unbekannten Instinkte, die ihn vor einer drohenden Gefahr warnen wollten? Hektisch schwenkte er seinen Kopf in alle Richtungen; auf der Suche nach dem Ursprung seiner in ihm aufkeimenden Vorsicht.
    „Raven, was ...?“
    Raven ignorierte seinen Freund. Sein Blick haftete auf einem schier undurchdringlichen Dickicht unmittelbar in ihrer Nähe. Er war sich absolut sicher: sie waren nicht allein. Vorsichtig, ganz vorsichtig setzte er eine Pfote nach der anderen und entfernte sich so langsam und unauffällig wie es ihm möglich war vom Ort des Geschehens, nicht jedoch ohne das Blattwerk wachsam nicht aus den Augen zu lassen.
    Als ob er es geahnt hätte stoben urplötzlich zwei in anthrazitgraue Panzer gehüllte Pokémon, deren Escheinungsbild dem einer zu groß geratenen Küchenschabe allerdings mit aus der Seite weit hervorstehenden Augen erinnerte, aus dem Gebüsch, welches Raven die ganze Zeit über misstrauisch beäugt hatte. Mit einem Hechtsprung konnte Raven gerade noch den sicherlich schmerzhaften Aufprall mit einem der beiden Angreifer verhindern. Der Andere jedoch sprintete zielgerecht in Xells Richtung, der die Geschehnisse um ihn herum wie angewurzelt beobachtete.
    „Weich aus, Xell!“, brüllte Raven, aber vergebens. Das angreifende Pokémon rammte Xell, der sofort sein Gleichgewicht verlor und von seinem Widersacher überrumpelt wurde, der ihn mit der Kraft seiner beiden Greifzangen gen Boden zu presste. Xell zappelte und wehrte sich mit Hieben und Schlägen verbissen gegen die Gewalt, die seinen Körper nun gänzlich bedeckte. Ohne eine weitere Sekunde zu zögern, rannte Raven panisch in Richtung seines mit einem der beiden Angreifer ringenden Freundes; vergaß in seiner blinden Wut allerdings das zweite Pokémon, welches diesen Moment seiner Unaufmerksamkeit sofort ausnutzte und sich auf Raven stürzte.


    Raven ging zu Boden. Sein ganzer Körper schleifte einige Meter über den nasskalten Boden. Unzählige spitze Steine bohrten sich in seiner Schulter, die sofort ein heftiger Schmerz durchströmte. Die Sorge um Xell war jedoch stärker und ließ ihn sofort wieder die Gewalt über seinen Körper wiedererlangen und verzweifelt auf die Beine kommen. Sein Gegner funkelte Raven zischend und mit wüttend klappernden Scheren finster an. Während sie beide sich wie Ringer im Kreis umeinander bewegten, riskierte Raven einen flüchtigen Blick zur Seite. Xell kämpfte derweilen immer noch verbissen mit seinem Gegner. Das Gewicht seines Angreifers schien ihn zu zerquetschten drohen. Er biss, kratze und schlug wie wild um sich, konnte aber kein sichtbares Ergebnis erzielen. Mit scheinbar all seiner ihm noch verbliebenen Kraft stemmte sich Xell mit einer Hand gegen die Greifer seines Gegners. Beinahe besinnungslos langte seine freie Hand in die Tiefen seines Schatzbeutels und stopfte dem Pokémon das erst Beste, was er fand, in seinen weit geöffneten, gierigen Schlund. Was dann geschah, konnte Raven nur noch mutmaßen. Sein eigener Gegner hatte abermals Ravens Unaufmerksamkeit genutzt und ihn, wie es seinem Freund passiert war, überrumpelt. Etwas schweres erklomm seinen Körper und drückte sein gesamtes Gewicht auf Ravens Gliedmaßen. Schlagartig fühlten sich seine Lungen bleischwer an. Von dem bloßen Gewicht seines Gegners überwältigt, konnte er kaum noch seinen Atem finden.
    „Zerquetscht zu werden von einer Schabe - was für ein glorreiches Ende...“, schoss es ihm als letztes durch den Kopf, als bereits alles um ihn herum schwarz wurde und Ohnmächtigkeit ihn übermannte.


    Etwas rüttelte an seinem zermalmten Körper. Ganz langsam öffnete er seine schier tonnenschweren Augen. Ganz verschwommen und mehr wie ein unförmiger Schleier konnte er Xell neben sich knien sehen, der, dem Auf- und Zuklappen seines Mundes zu urteilten, versuchte, mit ihm zu sprechen. Doch Raven war völlig taub. Alle Schallbewegungen in der Luft hörten sich für ihn wie das ferne Rauschen des Meeres an. Er spürte, wie ihm sein eigener zähflüssiger und mit übelriechendem Blut durchtränkter Speichel am Kinn herunterlief. Das war sein Ende ... Just in dem Moment, als er wieder in dem Meer aus Schwärze zu versinken drohte, wurde ihm grob etwas traubengroßes in den Mund geschoben. Raven schmeckte ein leicht herzhaftes Aroma aus dem Ding heraus, das seine Geschmacksknospen zu einem flotten Tanz auf der Zunge anregten. Plötzlich erwachten neue Lebensgeister in ihm. Er fühlte sich schlagartig wie neu geboren. All sein Schmerz, all sein Leid und all seine Sorgen waren wie aufgelöst.
    „Alles okay bei dir?“, hörte er Xells nun viel deutlich klingendere Stimme sagen, dessen Umrisse von Sekunde zu Sekunde immer schärfer wurden.
    „G-gut “, stammelte Raven leise.
    „Das war viel zu knapp“, stöhnte Xell. „Haarscharf.“
    Raven röchelte und rang nach Luft. Ganz langsam rappelte er sich auf. Arg mitgenommen hielt er leicht schwankend sein Gleichgewicht.
    „Du- du hast mir mein Leben gerettet ...“
    Xell lief rot an.
    „Das war doch nicht der Rede wert“, murmelte er verlegen. „Hättest du nicht bemerkt, dass wir die ganze Zeit über beobachtet wurden, wären wir wohl beide nicht so glimpflich davon gekommen.“
    Ravens Blick schweifte das Gelände ab. Von den Angreifern fehlte jede Spur.
    „Was ist passiert? Wohin sind die beiden verschwunden?“
    „Weg“, sagte Xell kurz angebunden. „Erinnerst du dich an den Samen, den wir aufgelesen hatten? Als ich dem einen das übelriechende Ding in den Rachen geschoben hatte, ließ es mich schlagartig los und ist kopfüber ins Meer gesprungen; der andere nach einer ordentlichen Tracht Prügel gleich hinterher. Ich dachte schon, ich wäre zu spät gekommen. Du warst kreidebleich. Die Sinelbeere kam vielleicht im letzten Augenblick.“
    „Und du warst phänomenal“, antwortete Raven schwer von der Leistung seines Freundes beeindruckt. „Echt, danke!“
    Xells Kopf war mitlerweile tomatenrot. Von den Worten seines Freundes ganz in Verlegenheit gebracht, sammelte er die Perle, wegen der sie den weiten Weg überhaupt auf sich genommen hatten, auf und verstaute sie sorgfältig in seiner Tasche.


    In der ersten Gildenebene herrschte noch immer reger Betrieb, als Raven und Xell - deutlich von ihrer ersten Mission gezeichnet - ihr neues Zuhause am späten Nachmittag erreichten. Alle Gildenlehrlinge waren noch emsig bei der Arbeit, begrüßten ihre neue Kameraden allerdings freundlich, als diese die letzte Leitersprosse meisterten.
    „Ah, da seid ihr ja endlich.“
    Es war Plaudagei. Erwartungsvoll hüpfte er ihnen entgegen.
    „Nanu, wie seht ihr denn aus? Gab es etwa Probleme? Habt ihr Spoinks Perle gefunden? Na, sicher habt ihr das. Ich wusste es doch. Auf euch ist eben verlass. Ich war auch gleich so frei und bat Spoink für heute in die Gilde zu kommen, damit ich eure Mission auch ordnungsgemäß als abgeschlossen protokollieren kann.“
    Wieder einmal schien es, als bräuchte Plaudagei gar nicht zu atmen. Diesmal wurde seine Rede jedoch von einem anderen Pokémon, welches sich die ganze Zeit über im Hintergrund gehalten hatte, unterbrochen.
    „Hallo, ich bin Spoink“, sagte er. „Habt ihr sie wirklich gefunden, meine Perle?“
    „Jepp“, antwortete Xell, kramte kurz in seiner Tache und hielt nach wenigen Sekunden ihren Fund in seinen Händen. „Das ist sie, oder?“
    „Ja, das ist meine Perle!“, rief Spoink glücklich. „Danke! Tausend Dank! Ich weiß gar nicht, wie ich euch jemals danken kann. Ahh, ja. Vielleicht wäre ja das ein Anfang ...“
    Das Pokémon namens Spoink begann ebenfalls in seiner Tasche zu kramen und reichte dem verblüfften und mit großen Augen schauenden Xell einen Berg voll Münzen.
    „Wahnsinn! Ist das alles für uns? Das müssen ja tausende von Poké sein!“
    „Zweitausend, um genau zu sein. Nehmt es ruhig. Ich brauche es eh nicht. Solange ich meine Perle habe, bin ich eh das glücklichste und reichste Pokémon in der gesamten Region. Also, auf Wiedersehen und nochmals vielen Dank“, rief Spoink und sprang glücklich die Leiter hoch.
    „Ist das viel?“, fragte Raven, der mit dem klingenden Berg an Bargeld reichlich wenig anzufangen wusste.
    „Ja, das ist eine Menge. Wir sind reich!“, antwortete Xell, seine Augen fest auf seinen Händen voller Münzen verharrend
    „Ich unterbreche eure kleine Feier nur ungern ...“ schaltete sich Plaudagei in die Jubelrufe Xells ein, „... aber würdet ihr mir bitte das Geld geben?“



    Xell wurde plötzlich starr vor Schreck.
    „W-was? W-warum?“, stammelte er.
    „Der Großteil des Geldes, das durch Jobs verdient wird, geht an den Gildenmeister“, antwortete Plaudagei fröhlich. „Wusstest du das etwa nicht.“
    Xell klappte der Kiefer hinab.
    „Ein Großteil? Und was dürfen wir behalten?“, fragte Raven argwöhnisch.
    „Mal durchrechnen - zwei im Sinn - Plus, Minus - öhm, es sind genau 200 Poké.“
    Diese Worte waren zu viel für Xell. Er musste offensichtlich seine allerletzten Kraftreserven mobilisieren, um sich auf den Beinen zu halten.
    „Das ist ja weniger als nichts!“, protestierte er empört. „Ich weigere mich, unter diesen Bedingungen weiter zu arbeiten! Wir haben heute unser Leben riskiert, um ...“
    „Kusch! Ihr bekommt hier die beste Ausbildung auf der Welt, kostenlose Logis und Kost miteinbegriffen. Wenn es dir nicht passt, kannst du ja gehen. Da ist die Tür“, entgegnete Plaudagei scharf.
    „So habe ich das auch wieder nicht gemeint ...“, murmelte Xell leise.
    „Na, dann ist ja alles geritzt. Wenn du mir jetzt bitte das Geld geben würdest?“
    Mit unverkennbar starkem Widerwillen zählte Xell die silbernen Münzen ab und reichte Plaudagei einen Großteil der Barschaft, die ihnen Spoink zum Dank überreicht hatte.
    „Danke“, sagte Plaudagei fröhlich, nicht jedoch ohne Xells Loyalität ihm gegenüber zu überprüfen. Sorgfälltig drehte er jede einzelne Münze noch einmal auf seinem Flügel um, bevor er sie in eine kleine Tasche verstaute, die, wie Raven feststellen musste, bereits munter klimperte. „Apropos Kost: es wird wohl gleich Abendessen geben. Geht am besten schon mal runter in die zweite Gildenebene bis ihr gerufen werden. Die anderen Gildenmitglieder werden euch den Weg in die Kantine sicherlich weißen.“
    „Essen?! Na, das ist doch mal ein Wort!“, rief Xell, der offenbar seine Schlappe bezüglich des Geldes bereits verdaut hatte, rannte zur Leiter und nahm zwei Sprossen gleichzeitig.
    Raven, dessen Magen sich bei dem Wort „Essen“ zu Wort gemeldet hatte, tat es seinem Freund gleich und folgte diesem.


    Raven folgte der in die Richtung entgegengesetzt zu den Gildenquartieren strömenden Pokémonmassen und erreichte dem herrlichen Duft zu urteilen, der ihm in die Nase stieg, den Speisesaal. Die Tafel war reich mit den verschiedensten Früchten, Beeren und gummiartigen Objekten bedeckt. Raven war anfangs etwas unsicher, was er essen sollte, doch lud er sich einfach von jedem ein bisschen auf und begann vorsichtig die fremde Kost zu probieren. Sein Gaumen machte einen Hüpfer, als er seine Zähne in die süßen Köstlichkeiten vor seinen Augen schlug. Xell schmatze herzhaft, während er sich immer wieder rosafarbige Beeren auf den Teller lud.
    „Ah, Pirsifbeeren! Davon konnte ich nie genug bekommen ...“, schmatzte er und leerte seinen Teller zügig.
    „Lass den anderen doch auch noch etwas“ , flüsterte Raven. Wie er jedoch feststellen musste, war seine Sorge völlig unbegründet. Von fast allem (Pirsifbeeren dank Xells Gier ausgenommen) schien mehr als genug vorrätig zu sein und auch schien sich keiner besonders an Xells Gier zu stören. Stattdessen taten es ihm sogar die meisten Anwesenden gleich. Raven wollte sich gerade wieder seinem Teller zuwenden, als er im letzten Moment noch Xells Hand sehen konnte.
    „Isst du die noch? Danke!“, rief er vergnügt und hatte sich Ravens letzte Pirsifbeere geschnappt.
    Gerade als er Xell die Hölle heiß machen wollte, drehte sich das Pokémon, das neben ihm saß um, und begann in unglaublicher Lautstärke an, für ihn offenbar eine normale Unterhaltung führen zu wollen.
    „MEIN NAME IST ÜBRIGENS KRAKEELO!“, sagte er und besprenkelte Raven mit Apfelstückchen. „FREUT MICH, DICH KENNEN ZU LERNEN!“
    „DIE FREUDE IST GANZ AUF MEINER SEITE!“, schrie Raven zurück, da er dachte, Krakeelo müsste schwerhörig sein.
    „Gib dir keine Mühe mit Krakeelo ein normales Gespräch führen zu wollen“ , sagte ein sonnenblumenähnliches Pokémon, welches am äußeren Tischrand saß. „Dazu ist er nämlich nicht in der Lage. Ich bin übrigens Sonflora. Freut mich auch, euch kennen zu lernen.“
    „NIEMAND HAT DICH NACH DEINER MEINUNG GEFRAGT, SONNFLORA!“, entgegnete Krakeelo barsch.
    Doch Sonnflora beachtete ihn nicht mehr und hatte sich wieder ihrem Teller zugewandt.


    Der Tisch war in wenigen Minuten ratzeputz leergefegt. Xell („Wie es gibt keinen Nachtisch???) und Raven („Genug gemümmelt! Ab in die Falle mit dir!“) machten sich, müde wie sie waren, nach einem kurzen Wort des Abschieds in die Runde in ihr Gildenquartier auf.
    Mondschein fiel auf die Ansammlung von Stroh und Heu, die in diesem Lichte einladender denn je wirkte. Heute wollte er garantiert nicht so lange aufblieben. Kopfüber ließ er sich in sein Bett fallen und war nach nur wenigen Sekunden auch schon eingeschlafen.


  • Kapitel III.: Der Schrei



    Für Raven ging eine weitere traumdurchzogene Nacht viel zu schnell vorbei. Nach einer weiteren erfolglosen Hetzjagd, um die Sonne einzufangen, wurde er am nächsten Morgen nicht weniger sanft geweckt, als es bereits am Vortag der Fall gewesen war.
    „AUFSTEHEN! ES IST MORGEN!“
    Erneut stand Krakeelo an ihrer Türschwelle, ließ es diesmal allerdings bei dem ersten Weckruf bestehen.
    „Uff ... Werden wir jetzt jeden morgen so geweckt ...?“, gähnte Xell, seine schläfrigen Augen reibend.
    Raven warf sich mürrisch und Krakeelos Weckruf zum Trotz wieder auf die Seite und war kurz davor, wieder einzuschlafen, als ihn Xell unsanft aus dem Bett schubste. Griesgrämig stand Raven wenige Minuten später und halbwegs pünktlich zum morgendlichen Gildenappell bereit.
    „Drittens: Mit einem Lachen werden wir es machen!“
    „...werden wir es machen ...“, gähnte Raven, als schon die Hälfte aller Anwesenden verschwunden waren.
    „Team Kugelblitz! Team Kugelblitz! Bitte zu mir!“
    Wie es bereits am gestrigen Tag der Fall war, beorderte Plaudagei sie mit seiner gewohnten autoritäre Stimme zu ihm.
    „Heute möchte ich euch mit einem weiteren Info-Brett bekannt machen. Wenn ihr mir bitte folgen würdet.“
    Abermals ging es für Raven und Xell wieder die Leiter zur ersten Gildenebene nach oben, doch führte Plaudagei sie diemal zum anderen Ende des Raumes, wo sie eine andere Pinnwand vorfanden. Schon aus der Ferne schien Xell schlussfolgern zu können, um was es hier ging.
    „Steckbriefe?“, mutmaßte Xell.



    „Richtig erkannt. Wie ihr sicher bereits wisst, tauchen in letzter Zeit immer mehr bösartige Pokémon auf“, erklärte Plaudagei. „Neben den 'normalen' Bösewichten gibt es aber auch richtig gemeine Schurken und Ganoven, auf die sogar ein Kopfgeld ausgesetzt ist. Es ist ebenfalls die Aufgabe von Erkundungsteams, diese Pokémon zu stellen, um den Frieden der Region wiederherzustellen. Und da kommt ihr ins Spiel. Auch wenn ihr noch Jungspunde seid, könnt ihr es sicherlich mit dem ein oder anderen Ganoven hier aufnehmen.“
    „Wie ihr hier seht ...“, fuhr Plaudagei fort und zeigte dabei auf das Ganoveninfobrett, „ ... sind alle Ganoven den Kategorien E bis S zugeordnet, wobei E für die harmlosesten und S für die knallhärtesten Fälle. Da ihr noch neu bei uns seid, solltet ihr euch also insbesondere mit Fällen zwischen D und E befassen.“
    „Ein Problem Plaudagei“, sagte Xell besorgt, während seine Augen von Steckbrief zu Steckbrief huschten. „Im Moment stehen leider nur Schurken der Kategorie A und B auf der Liste. Ich fürchte, dieser Aufgabe sind wir dann noch nicht gewachsen ...“
    „Oh, dann wurde die Aktualisierung der Infobretter heute wohl noch nicht vorgenommen. Was machen wir denn dann mit euch beiden ...?“, sagte Plaudagei in nachdenklichen Ton.
    „Aktualisierung?“, fragte Xell.
    „Ja, Digdri aktualisiert am frühen Morgen immer unsere beiden Infobretter - ihr habt ihn sicherlich schon bei der morgendlichen Einweisung getroffen. Er scheint sich allerdings heute wohl etwas zu verspäten.“ Nachdenklich hüpfte Plaudagei einige Male umher. Man sah es ihm förmlich an, dass er sich den Kopf darüber zerbrach, was er den beiden Neulingen anfangen sollte.
    „Ah, ich hab’s! Ich könntet in der Zwischenzeit Schatzstadt einen kleinen Besuch abstatten und euch eventuell mit einigen Vorräten für die Reise eindecken“, schlug Plaudagei vor.
    „Ja, eine gute Idee“, antwortete Xell erleichtert, der seine eigene Anwesenheit durch Plaudageis Verhalten inzwischen bereits als unerwünscht eingestuft hatte.
    „Bidiza soll euch am besten rumführen. Hey, Bidiza! Komm doch mal bitte her.”
    Bidiza, der die ganze Zeit über am Job-Infobrett am anderen Ende des Raumes gestanden hatte, kam zu ihnen langsam herübergetrottet.
    „Äh, - was gibt’s, Plaudagei?“
    Raven, dem es immer schwieriger fiel, seine Augen offen zu halten, erinnerte der Klang Bidizas Stimme merkwürdig vertraut an die seines Freundes Xell.
    „Nichts Ernstes, keine Sorge“, antwortete Plaudagei fröhlich, als er Bidizas besorgte Miene bemerkte. „Ich hätte gerne, dass du unsere neuen Gildenrekruten etwas in Schatzstadt umherführst, während Digdri sich um die Aktualisierung der Infobretter kümmert. Ihr habt schon Bekanntschaft miteinander geschlossen, wie ich sehe?“
    Xell und Bidizia nickten einander zu.
    „Dann wünsche ich euch bei eurem heutigen Unterfangen viel Erfolg, Team Kugelblitz. Macht uns stolz! Bidiza, ich überlasse sie deiner Obhut“, sagte Plaudagei, kehrte ihnen den Rücken zu und verschwand ein Stockwerk tiefer.


    „Mannomann! Das Ganovenbrett ...“, seufzte Bidiza. Sein Blick ruhte einige Sekunden auf den mit Steckbriefen versehenen Infobrett, bevor er sich wieder zu Xell hinzu wandt. „Es dauerte Wochen, bis ich meinen ersten Auftrag von diesem Brett erfüllen durfte. Ihr müsst einen schweren Eindruck bei Plaudagei hinterlassen haben, wenn ihr gleich am zweiten Tag eine solch bedeutende Mission ausführen dürft.“
    „Um ehrlich zu sein ...“, sagte Xell und schaute besorgt in die Gesichter der Ganoven, „ ... bin ich gar nicht so scharf auf diese Art von Mission ...“
    „Ja, die Missionen vom Ganoven-Infobrett sind die schwersten, aber ich hörte davon, dass sich die Gilde eben durch diese Einnahmen zum größten Teil finanziert“, sagte Bidiza.
    Xell schluckte heftig. Die Kunde, dass der von Plaudagei gestellte Auftrag zu den wohl schwierigsten Unterfangen gehörte, die die Gilde zu bieten hat, hatte ihn schwer getroffen. Bidiza, dem dies offenbar nicht entging, sprach seinen jungen Gildenrekruten Mut zu.
    „Wird schon werden. Du darfst auch nicht vergessen, dass die meisten dieser Schurken feige sind - gerade weil eine saftige Belohnung auf ihren Kopf aufgesetzt ist. Und wenn du dich dann noch als ein waschechter Erkunder präsentierst und die ganze Sache als ein eingespieltes Team angehst, dann kann eigentlich gar nichts schiefgehen.“
    „Stimmt, da hast du wohl recht“, meinte Xell, nun durch die Worte Bidizas mit wesentlich bestärkter Stimme. „Die werden sicherlich schon klein bei geben, wenn wir überhaupt erwähnen, dass wir zu der berühmten Knuddeluff-Gilde angehören. Wir packen das, nicht wahr Raven? Öh, Raven?“ Xell suchte den Blick seines Freundes. Niemand schien bemerkt zu haben, dass Raven irgendwann mitten in den Ausführungen von Plaudagei im Stehen eingeschlafen sein musste. Xell, von dem Verhalten seines Freundes beschämt, schürzte peinlich berührt seine Lippen. Bidiza dagegen nahm es eher gelassen. Er grinste.


    Nachdem es ihnen endlich gelungen war, Raven nach verbissenem Kampf aus seinem Tiefschlaf zu reißen, ging es für das Trio Richtung Schatzstadt. Abermals wurde Xell die Aufgabe zuteil, seinem schläfrigen Partner ihren heutig zugeteilten Auftrag näher zu bringen. Wesentlich gelassener und zuversichtlicher als es sein Freund am Anfang war, nahm Raven diese Art von Mission an. Obgleich er nach wie vor keinerlei Erinnerung an seine frühere Existenz besaß, konnte er durch die Begeisterung, einen ruchlosen Verbrecher zu stellen, die schon bei dem gedanke sein Herz zum Rasen brachte, erahnen, dass er in seiner früheren Existenz Anstand und Moral sehr hoch geschätzt haben musste. Er konnte es gar nicht erst abwarten, endlich loslegen zu dürfen. Während sich Raven bereits ausmalte, was sie auf ihrem bevorstehenden Abenteuer erwarten würde, lieferten sich Xell und Bidiza auf ihren Weg gen Stadt eine emsige Diskussion darum, wie eine ordentliche Mahlzeit auszusehen hat.
    „Wie oft soll ich es dir eigentlich noch sagen? Es gibt nicht köstlicheres auf der Welt als Pirsifbeeren!“, sagte Xell hitzig.
    „Dann hast du wohl noch nie zuvor einen perfekten Apfel gekostet“, entgegnete Bidiza.
    Xell runzelte die Stirn.
    „Perfekte Äpfel? Noch nie davon gehört, geschweige denn, welche gegessen ...“
    „Ein Gedicht! Die sind unglaublich saftig und lecker. So etwas köstliches hast du wahrscheinlich noch nie gegessen“, schwärmte Bidiza. „Leider sind sie sehr äußerst gefragt und noch dazu äußerst selten. In der Gilde besitzt einzig und allein Knuddeluff das Privileg, unsere Vorratskammer um Perfekte Äpfel zu erleichtern. Ganz aus Versehen hatte ich mal den letzten verputzt. Mannomann! Das gab vielleicht Ärger. Zwei Wochen Wachdienst mit Krakeelo schieben - die reinste Folter ...“


    Ravens Magen hatte von dem ganzen Obstsalat-Gerede langsam zu rebellieren begonnen und so war er sichtlich erleichert, als sie endlich die Schwelle von Schatzstadt überquerten und somit auch das Thema wechselten.
    „So, da wären wir - Schatzstadt. Ist das euer erster Besuch hier?“, wollte Bidiza wissen.
    „Meiner schon“, antwortete Raven sichtlich von dem Ausmaß der ersten Pokémon-Siedlung, die seine Augen jemals erspäht hatten, beeindruckt. Sein Blick schweifte über die dutzende Hütten und Zelte in allen Größenordnungen, verschiedene Läden, Ständchen und Geschäfte, um die sich bereits zahlreiche Kunden, und natürlich Pokémon so weit das Auge reichte. Er ahnte bereits, dass es selbst für die erfahrendsten Erkunder der Region sicherlich tagtäglich hier noch Unbekanntes zu entdecken gab.
    „Sorry, Bidiza, aber ich lebe hier schon seit einiger Zeit. Eine Führung ist für mich daher recht überflüssig“, sagte Xell.
    Bidiza wirkte durch diese Aussage herbe enttäuscht.
    „Donnerwetter, dann braucht ihr mich ja eigentlich gar nicht ...“, seufzte Bidiza niedergeschlagen.
    „Sorry ...“, wiederholte Xell.
    „Ich würde mich über eine Führung freuen“, sagte Raven wahrheitsgemäß.
    Schlagartig hatte sich Bidizas Laune wieder gebessert; fast so, als würde man ein trauriges Kind mit Süßigkeiten aufheitern. Hibbelig und scheinbar völlig aus dem Häuschen begann er, Raven und Xell durch die geschäftigen Straßen zu führen, was ihm trotz seinem normalerweise vorhanden sein sollen Ortskenntnissen und seines bescheidenen Orientierungssinns jedoch nicht allzu gut gelang. Raven, der sich sicher war, dass Xell ihn wesentlich besser mit den Sehenswürdigkeiten Schatzstadts hätte vertraut machen können, nahm es jedoch so hin. Auch Bidiza schien seiner Auffassung nacht nicht unbedingt vor Selbstvertrauen zu sprühen.


    Schatzstadt stellte sich für Raven als ein hübscher Ort zum Leben mit vielen Annehmlichkeiten heraus. Es schien so, als hätten sich die Gesellschaft völlig auf die Bedienung von Erkundungsteams eingestellt. Die verschiedenen Läden boten allem Anschein nach alles, was das Erkunderherz schneller schlagen ließ. Von einfachen Lebensmittel („Amrenabeeren im Sonderangebot! Kaufe fünf, bezahle vier!“), über praktische Reiseutensilien (Ich garantiere euch: mit dieser Karte findet sogar der kurzsichtigste Grottenolm den Weg zum Ziel.“) bis hin zu den kostbarsten und wertvollsten Ausrüstungsgegenständen (Dieser Schal ist aus garantiert hochwertigem Material gefertigt. Schützt nicht nur vor schlechter Witterung sondern hemmt gleichzeitig jegliche Art von Vergiftung. Absolut neuwertig und zum Spottpreis von nur 2500 Poké. Zögern Sie nicht, meine Damen und Herren, sondern schlagen Sie sofort zu, bevor es jemand anderes tut!“): hier blieb kein Wunsch unerfüllt, kein Verlangen, das nicht gestillt werden konnte, und kein Konto lange gedeckt. Diese Erfahrung musste auch Raven bereits nach kurzer Dauer auf dem überfüllten Marktplatz machen, wo er Xell im letzten Moment noch davon abhalten konnte, ihre wenige Barschaft komplett in Pirsifbeeren zu investieren.
    „Aber die sind doch heute im Angebot ...“, maulte Xell während Raven ihn mit aller Gewalt vom Stand wegzerren musste. Schlussendlich gab Raven allerdings doch klein bei und ließ Xell zumindest zwei Pirsifbeeren, einen Apfel und eine Sinelbeere kaufen.


    „Fressack!“, schnaubte Raven mürrisch, als Xell mit strahlendem Gesicht seine Einkäufe im Schatzbeutel verstaute.
    „Eines Tages wirst du mir noch dankbar sein“, entgegnete Xell vergnügt.
    Mit sichtlich abgenommenen Portmonee setzte das Dreiergespann ihren Streifzug fort. Nach den recht beträchlichen Ausgaben Xells reichten ihre verbliebenen Finanzen kaum noch für ein Apfel und ein Ei; nichtsdesotrotz ließen sie sich durch diesen Umstand ihre gute Laune verderben. Gut gelaunt schlenderten sie über den Marktplatz und klapperten eine Bude nach der anderen ab und schwärmten von den für ihre Verhältnisse viel zu kostspieligen Waren. Bidiza bestätigte schließlich Ravens Gedanken, was die wirtschaftliche Rolle von Schatzstadt anging.
    „Die meisten Pokémon, die ihr hier seht, sind auch Erkunder, wie wir. Allerdings gehören sie nicht unserer Gilde an. Es gibt noch jede Menge anderer Gilden und natürlich noch viel mehr freie Erkundungsteams. Gelegentlich werdet ihr solche unabhängigen Gruppen aber auch bei uns in der Gilde antreffen, um sich mit Infos und Aufträgen einzudecken. Wir genießen einen guten Ruf auf der Welt und das lockt natürlich Erkundungsteams aus der ganzen Welt an. Ich bin richtig stolz, ein Teil dieser Gilde sein zu dürfen“, erklärte Bidiza mit stolzgeschwellter Brust.


    Nachdem der letzter und wirklich allerletzte Stand besichtigt wurde, ließ das Trio den lärmenden Marktplatz hinter sich. Mit der frühen Morgensonne im Rücken ging es immer weiter nach Westen, wo sie Bidiza mit den ihm noch verbliebenen bekannten Sehenswertigkeiten der beschaulichen Stadt bekannt machte.
    „Hier geht es zur Pandir-Saftbar“, sagte Bidiza und machte eine demonstrative Geste Richtung Süden, wo sich ein Weg von der Hauptverkehrsstraße abzweigte. „Solltet ihr mal Abends nicht immer gleich vor Erschöpfung ins Bett fallen, könnt ihr hier einige Drinks geniesen und mit anderen Erkundern plauschen. Ich selbst war ehrlich gesagt noch nicht dort, aber es soll ganz nett sein - meinte zumindest Krakeelo, der hier desöfteren einen hebt.“
    Nicht dass er keine Interesse hatte, sich mal das ein oder andere Glas zu genehmigen, jedoch war sich Raven insgeheim recht sicher, dass er um diesen Ort in Zukunft eher einen großen Bogen machen würde, wenn Krakeelo tatsächlich dort Stammgast sein sollte. Die Anwesenheit seines Kameradens am frühen Morgen und während des gemeinsamen Abendessens war für ihn mehr als genug des Guten.
    „Zu guter Letzt hätten wir noch im Nordwesten der Stadt das Kangama-Lager und die Zwirrlicht-Bank. Ihr werdet auf euren zukünftigen Erkundungen sicherlich noch einige Funde machen, die ihr dann im Kangama-Lager deponieren könnt.“
    „Da schlummert meine Eiserne Reserve an Pirsifbeeren“, flüsterte Xell Raven grinsend zu.
    „Die Zwirrlicht-Bank ist, wie der Name schon sagt, ein Depot für eure Barschaft - Öffnungszeiten rund um die Uhr. An Service nicht zu überbieten.“ Etwas wehmütig folgte Bidizas Blick der Straße, die in einem weiten Bogen nördlich um den Marktplatz und somit zurück zur Knuddeluff-Gilde führte. „Und hier geht es dann wieder zurück zum trauten Heim. Das wäre somit also das Ende unserer Führung. Ich hoffe, ich konnte mich als nützlich erweisen?“
    „Ja, super. Danke dir.“, sagten Xell und Raven wie aus einem Mund.
    Bidiza strahle vor Freude, als er abwechselnd in die Gesichter seiner beiden neuen Freunde schaute.
    „In Ordnung, ich lasse euch jetzt mal alleine. Wir sehen uns spätestens beim Abendessen. Viel Glück auf eurer Mission“, verabschiedete sich Bidiza und trottete mit einem munteren Lied auf den Lefzen davon.


    „Wollen wir dann zurück zur Gilde?“, fragte Raven während er Bidiza nachsah. „Vielleicht sind die Infobretter inzwischen auf dem neusten Stand.“
    Xell begann etwas zu grübeln, willigte dann aber schließlich ein. Sie entschieden sich jedoch dazu, den langen Weg über den Marktplatz zu nehmen. Schließlich könnte die Arbeit auch noch fünf Minuten warten, so Xell. Bald erreichten sie wieder den inzwischen noch belebteren und lärmenderen Marktplatz, wo er und Raven sich durch die Massen an Kunden zwängten. Als sie beinahe schon die Peripherie des Handelsgebiets erreicht hatten, wurden Xells Schritte plötzlich immer langsamer. Sein Kopf schwenkte interessiert zu einem kleinen, abgelegenen Ständchen abseits jeglichen Trubels.
    „Hey, warte mal! Bei dem Laden waren wir noch nicht. Lass uns mal einen kurzen Blick auf ihr Angebot werfen. So viel Zeit muss sein“, rief Xell und war binnen einer Sekunde auch schon auf und davon.
    „Wir haben nach deiner Einkaufswut von vorhin eh kein Geld mehr ...“, murrte Raven, während er verärgert hinter seinem Freund hertrottete. Allerdings waren er und sein kauffreudiger Kumpane nicht die ersten beim Laden und mussten sich artig hinter zwei anderen Kunden einreihen.



    „Zwei Äpfel, bitte“, sagte der Größere von beiden.
    „Aber gerne doch“, antwortete der Verkäufer freundlich und reichte ihren Kunden die Äpfel. „Wie geht es eigentlich eurer Mutter, Marill?. Ich hörte, sie sei noch immer krank.“
    Das Pokémon namens Marill wirkte auf diese Frage hin recht betroffen und ließ traurig seine untertassengroßen Ohren hängen.
    „Ja, das stimmt leider. Deswegen kümmere ich mich derweil um den Haushalt und auch noch auf mein kleines Brüderchen Azurill auf.“
    Azurill lugte vorsichtig hinter Marills Rücken hervor.
    „Du übernimmst schon soviel Verantwortung. Das ist beachtlich. Ich hoffe eurer Mutter wird es bald wieder besser gehen“, lobte ihn der Ladeninhaber.
    „Das hoffen wir auch“, sagte Marill. „Ich glaube, es wird auch langsam Zeit, dass wir heimgehen.“ Er verabschiedete sich und überließ Xell die Ladentheke.
    „Ob es hier noch bessere Pirsifbeeren gibt, als bei dem anderen Stand?“, fragte sich Xell während er sorgfältig die Waren begutachtete.
    Von Xells Kaufeskapaden mehr als genug, schaute sich Raven derweil sichtlich desinteressiert in der Gegend um. Er schaute dem Geschwisterpaar nach, die gerade vor ihnen eingekauft hatten. Es blieb ihm dabei nicht verborgen, dass Azurill ofenbar rege Schwierigkeiten hatte, den Einkauf zu tragen. Er schwankte bedrohlich, verlor sein Gleichgewicht und war bereits kurz davor, auf dem Boden aufzuschlagen, als Raven nach einem olympiareifen Spurt Azurill noch im letzten Moment vor dem Sturz bewahren konnte.


    Just in den Moment, als Raven sein gesamtes Gewicht nach vorne legte und sich gegen den wie in Zeitlupe fallenden Körper Azurills stemmte, um dessen Sturz zu bremsen, geschah es. Kaum hatte sein Körper den von Azurill berührt, umkam Raven urplötzlich und ohne Vorwarnung ein heftiges Schwindligkeitsgefühl, das Stimmengewirr um ihm herum erstarb und alles um ihn herum versank binnen Sekunden in aboluter Dunkelheit. Es war ihm so, als hätte er den Boden unter den Pfoten verloren und er würde plötzlich mit hoher Geschwindigkeit und ungebremst in ein tiefes Loch fallen. Doch kein Wind peitschte ihm ins Gesicht und weder war es warm noch kalt. Doch war er nicht mehr auf dem Marktplatz von Schatzstadt - soviel war sicher. Während er tiefer und tiefer in die bodenlose Leere stürzte, vernahm sein Hörsinn Irgendwo in der Ferne auf einmal einen schwachen aber deutlichen Hilfeschrei. Sein Herz hämmerte beim Vernehmen des Hilferufs wie verrückt. Er kannte diese Stimme, da war er sich sicher; aber woher? Doch so schnell diese Erscheinung eintrat war sie auch bereits wieder abgeklungen. Raven fand wieder sichereren Boden unter den Pfoten, Sonnenstrahlen kitzelten ihn sanft im Gesicht und die Luft war wieder von den fernen Klängen der Kaufleute erfüllt. Er war wieder zurück - zurück in der realen Welt. Noch stark benommen, geblendet von dem grellen Licht der Morgensonne und mit leichter Übelkeit in der Magengegend, die ihm unaufhaltsam den Hals hochkroch, stand er wieder Azurill gegenüber. Der kleine Bruder Marills wirkte auf Ravens scheinbar gelungenen Rettungsversuch hin recht verlegen.
    „D-Danke“, stammelte Azurill, sammelte den Apfel, den er vor Schreck verloren hatte wieder ein, und eilte seinem bereits wartenden Bruder hinterher.


    Beinahe apathisch starrte Raven Azurill hinterher. Hatte er sich das etwa nur eingebildet? Offenbar schien niemand etwas merkwürdiges bemerkt zu haben. Xell verbrachte seine Zeit beim Mustern der Waren an dem kleinen Stand, und keiner auf der Straße schien ihm und der Tatsache, dass ein Pokémon mitten auf der Straße für einige Skunden in einer Welt des absoluten Nichts verschwunden war, großartige Beachtung zu schenken. Raven ließ sein vernommener Schrei nicht los. Verzweifelt versuchte er sich zu erinnern, wo er die Stimme schon einmal gehört hatte, doch vergebens. Tief in Gedanken versunken schlurfte er zu seinem Freund zurück.
    „Hey, Xell. Hast du nicht auch eben jemanden um Hilfe rufen gehört?“, fragte Raven.


    Xell warf einen fragenden Blick über die Schulter.
    „Ein Hilferuf? Nö, du etwa?“
    Es wunderte Raven nicht, dass weder Xell noch irgendjemand anderes von den Geschehnissen, die ihm gerade wiederfahren waren, Kenntniss genommen hatte. Doch sollte er sich diese Ereignisse etwa eingebildet haben?
    „Ja, gerade eben. Ich hörte es ganz deutlich. Aber ...“
    „Musst du dir wohl eingebildet haben“, meinte Xell. „Wenn mitten in der Stadt jemand um Hilfe schreit, wäre die ganze Gegend in Aufruhr. Und wie du siehst ...“ Xell warf einen kurzen Blick zu den anderen Verkaufsständchen herüber. „Ich würde sagen, wir gehen mal langsam zur Gilde zurück, sonst sind auf einmal alle leichten Aufträge bereits vergeben und wir dürfen uns mit irgendwelchen harten Brocken rumärgern“, schauderte Xell.


    Auch während ihres Nachhausewegs grübelte Raven ununterbrochen, wo er die Stimme schon einmal gehört hatte. Sein Zustand hielt so lange an, wie ihn plötzlich ein lauter Jubelschrei auf der Straße ihn sprungartig wieder zurück in die Realität brachte. Der Ursprung dieses Freudenrufs war schnell gefunden - es war Azurill. Er, sein Bruder Marill und ein anderes Pokémon, welches er nicht kannte, standen nicht unweit von ihnen und führten eine emsige Diskussion miteinander. Etwas an Azurills Stimme kam Raven schlagartig merkwürdig vertraut vor und es dauerte auch nicht sonderlich lange bis es ihm wie Schuppen von den Augen fiel. Es war Azurills Stimme, die er in während seines unfreiwilligen Erlebnisses vor wenigen Minuten vernommen hatte. Aber wie war das möglich? Das alles ergab keinen Sinn. Er musste sich vergewissern.


    „Hey, Azurill. Alles in Ordnung?“, fragte er. Azurill wandte sich beim Vernehmen seiner Stimme in Ravens Richtung und auch sein Bruder und das Raven unbekannte Pokémon blickten ihn interessiert an.
    „Oh, du bist es. Danke noch einmal wegen vorhin. Ja, alles in bester Ordnung“, lachte Azurill sichtlich gut gelaunt.


    „Und dank Traumato hier, wird bald alles noch besser werden“, sagte Azurills Bruder Marill fröhlich. „Traumato meinte, er habe unser verlorenes Gut gesehen, welches uns vor einiger Zeit bei einem Ausflug abhanden kam.“
    „Ja, das ist wahr“, sagte ein Pokémon, bei dem es sich offensichtlich um Traumato handeln musste. Traumato verkörperte ein etwas korpulenteres Pokémon, dessen Unterkörper bis zur Hüfte in einem zartbitterbraun und der restliche Teil seiner Figur in einem goldgelben Ton gefärbt war. Besonders auffällig war seine kurze rüsselähnliche Nase, die ihm schlaff vor dem Gesicht hing und es unmöglich machte, seinen Gesichtsausdruck frontal zu erhaschen. „Wir werden auch gleich losziehen und das Item gemeinsam suchen. Sollte ein Klacks sein.“
    Irgendwie kam Raven die Sache merkwürdig vor. Er konnte es sich nicht erklären, doch irgendwie konnte und wollte er sich nicht mit diesem seiner Meinung nach viel zu gutmütigen Pokémon anfreunden. Er hatte ein unerklärliches unangenehmes Gefühl in Bezug auf Traumatos Hingabe.
    „Bist du ein Erkunder?“, wollte Raven wissen.
    „Nein“, antwortete Traumato. „Aber seht euch die beiden doch mal an. Kann man ihnen denn überhaupt irgendeinen Wunsch abschlagen?“
    „Hmm, da hast du Recht“, antwortete Raven mit argwöhnischen Unterton. „Viel Glück bei eurer Suche, tschüss.“
    „Ciao“, riefen Marill und Azurill und begannen wieder, mit Traumato fieberhaft zu reden.
    Etwas in seinem Inneren sagte Raven, dass mit Traumato irgendetwas nicht stimmte. Doch konnte er sich genauso wenig dabei zusammenreimen, wie bei dem Hilfeschrei, den niemand außer ihm gehört hatte.
    Völlig in Gedanken versunken, achtete er dabei nicht, wo er hinlief und wie es der Zufall wollte stieß er ausgerechnet mit Traumato zusammen.
    „Upps, entschuldige bitte“, sagte Raven erschrocken.
    Erneut geschah es - ein Schwindelgefühl - der unerbittliche Sog in das Unbekannte. Doch dieses Mal war etwas anders. Zwar nicht so deutlich wie in seinem Normalzustand, vermochte Raven jedoch bei diesem Tagtraum zu erkennen, wo er sich befand. Fast so, als herrschte hier späte Abenddämmerung, konnte er deutlich einen mit schroffen Felsen bedeckten Berg erkennen, über den er, oder viel eher sein Geist, - wie als ob ihm unsichtbare Flügel gewachsen waren - schwebte.
    „Du bringst dich in Schwierigkeiten, wenn du nicht tust, was ich sage!“
    Ravens Blick schwenkte schlagartig von dr Spitze des kahlen Berges in die Tiefe. Unter normalen Umständen hätte er wohl panisch darauf reagiert, dass er gut und gern zwanzig Meter schwerelos in der Luft hing, doch viel zu sehr war er über das, was er plötzlich unter sich sah, fassungslos.


    Es war Traumato. Langsam und mit einem gierigen Verlangen in seinem Blick, welches Raven selbst aus dieser Entfernung mehr als deutlich erkennen konnte, schritt er auf ein kleines, offenbar sehr verängstigtes Pokémon zu, welches Raven nach genauerem Hinsehen als Azurill identifizieren konnte. Azurill, ängstlich auf dem Boden kauernd, stieß einen panischen Hilfeschrei aus.
    Zum nunmehr zweiten Mal wurde Raven aus seinem Traum hinausgeschleudert. Abermals fand er sich auf den Straßen Schatzstadts mit Xell an seiner Seite wieder und abermals schien niemand etwas von Ravens unfreiwilligen Ausflug gemerkt zu haben. Marill, Azurill und Traumato waren inzwischen wieder in ihr tiefes Gespräch vertieft.
    „Augen nach vorne!“, sagte Xell vergnügt und lächelte ihn an. Sein Lächeln erstarb jedoch rasch, als ihm plötzlich der besorgte Gesichtsausdruck seines Freundes auffiel.
    „Was ist denn los? Du wirkst so besorgt. Stimmt etwas nicht?“
    „Das kann man wohl sagen ...“ Raven warf einen raschen Blick über die Schulter in Traumatos Richtung. „Aber nicht hier. Komm mit!“, flüsterte er.


    „Was soll die Geheimniskrämerei?“, fragte Xell schließlich, als sie eine abgeschiedene Ecke erreicht hatten.
    Endlich offenbarte Raven seinem Begleiter die beiden Träume, alles was er gesehen und gehört hatte und natürlich noch sein ungutes Gefühl im Bezug auf Traumato. Zu seiner Verwunderung blieb Xell völlig gelassen.
    „Waren sicherlich nur Träume“, meinte er schulterzuckend. „Ich schätze du bist total übermüdet. Heute morgen bist du ja sogar im Stehen eingeschlafen. Du brauchst einfach noch ne Mütze voll Schlaf - das ist alles ...“
    „Ich glaube nicht, dass das nur Träume waren!“, sagte Raven mit absoluter Entschlossenheit in seiner Stimme. „Und frag mich nicht warum, aber ich gehe jede Wette mit dir ein, dass mit Traumato etwas nicht stimmt!“
    „Und was hast du jetzt vor?“, fragte Xell stirnrunzelnd. „Willst du hier jetzt etwa Traumato in aller Öffentlichkeit für etwas anprangern, was du dir in einem Traum eingebildet hast?“
    „Das war keine Einbildung!“, entgegnete Raven aufgebracht. Warum wollte er ihm nicht glauben?
    „Aber was war es dann?“
    Raven musste sich leider eingestehen, dass, so sehr er sich auch bemühte, auf diese Frage einfach keine Antwort wusste.
    „Also, ich würde sagen, wir machen uns jetzt erst mal an die Arbeit und fragen heute Abend einfach mal in der Gilde herum, was die anderen dazu meinen. Es hilft nichts, uns hier verrückt zu machen ...“
    Missmutig aber halbwegs einsichtig stimmte Raven dem Vorschlag seines Freundes zu; insgeheim hoffte er allerding darauf, während dem Rückweg in einen weiteren Traum zu fallen, um Xell doch vom Gegenteil seiner Behauptung zu überzeugen. Doch war ihr Nachhauseweg frei von jeglichen übersinnlichen Phänomenen und so erreichte er völlig traumfrei wieder die Gilde.


    Mittlerweile stand die Sonne hoch am Himmel. Bereits früher Nachmittag war eingekehrt, als die beiden in die Gilde zurückkehrten und das Ganoven-Infobrett wieder aufsuchten.
    „Also, welches niedrige Subjekt wollen wir uns vornehmen?“, murmelte Xell und konsultierte einen Steckbrief nach dem anderen.
    „Oh, der hier klingt vielversprechend. Ganove der Klasse E und noch eine saftige Belohnung. Wollen wir dann?“
    Raven schwieg.
    „Was ist denn los? Ist wieder etwas passiert?“ Er suchte den Blick seines Begleiters.
    Raven war wie zur Salzsäule erstarrt. Mit weit geöffneten Augen starrte er auf einen Steckbrief am oberen linken Rand des Infobretts. Auch Xell wollte seinen Augen nicht glauben, als er die Ursache des merkwürdigen Verhaltens seines Freundes erkannte. Niemand anderes als Traumato, dem Pokémon, welchem sie erst an diesem Morgen in Schatzstadt begegnet waren, grinste die beiden Neulinge im Erkundergewerbe hämisch von einem gewaltigen Steckbrief aus an.



    Nach rund einer geschlagenen Minuten konnte sich Raven endlich wieder fassen. Ein kurzer Augenkontakt zwischen ihm und seinem Freund genügte völlig, um dem Anderen klar zu machen, was zu tun war. Mit einem Affenzahn rannten das Duo Richtung Ausgang und stießdabei haarscharf mit Plaudagei zusammen.
    „Könnt ihr nicht aufpassen?!“, konnten sie ihn hinter sich fuchsteufelswild fluchen hören, was ihnen jedoch reichlich egal war. In Rekordzeit hatten sie ihr Ziel erreicht und fanden sich mit erhöhter Herzfrequenz vor den Toren Schatzstadts wieder. Von Traumato, Azurill und Marill fehlte jedoch bereits auf dem ersten Blick jegliche Spur. Gleichauf gestaltete die Tatsache, dass der Marktplatz noch voller als vor einer halben Stunde war, die Suche nicht unbedingt einfacher.
    „Wir trennen uns“, schlug Raven vor.
    Fieberhaft durchkämmten die beiden jeden Winkel von Schatzstadt, befragten jeden Passanten, der ein offenes Ohr hatte, doch vergebens. Kein Marill, kein Azurill und auch kein Traumato. Nach wie vor fehlte von den vermissten jede Spur, als seien sie vom Erdboden verschluckt.
    „Was gefunden?“, fragte Raven atemlos, als sich seine und die Wege seines Freundes nach einer fast einer halben Stunde am östlichen Stadttor kreuzten, er sich jedoch die Frage aufgrund dem resignierenden Gesichtsausdrucks seines Freundes auch ebensogut hätte sparen können. Xell schüttelte wie zu erwarten war den Kopf.


    Sie wollten sich bereits wieder trennen und auf die Suche machen, als - wie es der Zufall wollte - eine recht vertraute Stimme urplötzlich sie in letzter Sekunde von ihrem verzweifelten Unterfangen hinderte. Beide, Raven und Xell, wirbelten erschrocken herum. Es war Marill, Azurills Bruder. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn und er hielt sich schwer atmend die Brust.
    „Ihr - ihr müsst mir helfen ... Traumato - Azurill -verschwunden ...“ Er brach vor Erschöpfung zusammen.
    Bereits nach wenigen Sekunden hatte sich eine Traube aus lauter Schaulustigen gebildet, die aufgeregt tuschelten. Raven gelang es Marill bereits nach kurzer Dauer wieder aufzuwecken. Kraft- und saftlos öffnete er einen Spalt weit seine schwarzen Knopfaugen.
    „Marill? Kannst du mich hören?“, rief Raven.
    Marill nickte schwach
    „Weißt du, wo Traumato und Azurill hingegangen sind?“
    Marill nickte erneut.
    „Sta-Stachelberg ...“, sagte Marill und verlor ein weiteres Mal das Bewusstsein.
    „Wir müssen sofort zum Stachelberg!“, sagte Raven entschlossen.
    Xell nickte, nicht weniger entschlossen. Ravens Blick schweifte derweil eilendst durch die Menge. Schnell hatte er auch gefunden, was er suchte. In den Massen von Schaulustigen, deren Anzahl von Sekunde zu Sekunde wuchs, erkannte er schlagartig die Gestalt Sonnfloras, seiner Gildenkameradin.
    „Sonflora, Du kommst wie gerufen! Kannst du dich bitte um Marill kümmern? Wir erklären dir alles später“, sagte Xell.
    Sonnflora schaute recht verdutzt über den Wunsch ihres neusten Gildenkameradens drein, erkannte jedoch offenbar sofort den Ernst der Lage und willigte ohne weiteres Zögern ein.
    Binnen weniger Sekunden hatten sie den Schauplatz verlassen und Schatzstadt hinter sich gelassen. Xell kramte indessen fieberhaft nach ihrer Wunderkarte.
    „Wo hab ich sie denn ... wo hab ich sie denn? Ach, da!“ Sein Finger streifte über die Karte. „Stachelberg - Stachelberg - Ah, da! Gar nicht so weit. Traumato kann keinen allzu großen Vorsprung haben. Wir müssen nach Westen.“
    „Dann lass und keine weitere Zeit verlieren“ sagte Raven.


    Keine halbe Stunde später kamen bereits die gewaltigen Umrisse des Stachelbergs näher und näher. Je mehr sich Raven dem steinernen Gebilde - errichtet vor Urgedenken und wie ein Beschützer über die Gefilden in seinem Schatten wachend - näherte, wurde seine geheime Vermutung mehr und mehr bestärkt. Er hatte dieses schroffklippigen Zeitgenossen bereits einmal gesehen. Es war tatsächlich der Stachelberg gewesen, den er mit seinen eigenen Augen erblickt hatte.
    „Ich glaube Azurill steckt in ernsten Schwierigkeiten.“
    „Wieso glaubst du das?“, fragte Xell.
    „Erklär ich dir später. Wir müssen zum Gipfel“, antwortete Raven und rannte voraus.
    Xell konnte seinem Freund nicht das Wasser reichen und büßte immer mehr Reichweite zu ihm und seinem Freund an. Währenddessen hatte Raven bereits einen Spalt entdeckt, der ins Innere und wohlmöglich auch auf den Gipfel des Stachelberges führte.
    „Du - bist schnell ...“, schnaufte Xell völlig atemlos, als auch er endlich am Fuße des Berges angekommen war und hielt sich die Hand an seine Brust. „Kaum zu glauben, dass du dich vor zwei Tagen kaum auf den Beinen halten konntest.
    „Können wir weiter?“
    Xell verzog vor lauter Seitenstechen krampfhaft das Gesicht, nickte nach tiefem Luftholen allerdings.


    Raven hatte keine Augen für die Wunderwerke von in allen Größenordnungen vorhandenen Steinformationen, meterlangen Stalagmiten, die pfeilspitz von der Decke hingen und selbst nicht einmal für die von Menschen vor langer Zeit aufgegebene und offenbar erschöpfte Kalksteinmine, die er und Xell als einige von vielen Sehenswürdigkeiten hinter sich ließen. Ravens Fell sträubte sich vehement bei den Gedanken an die schrecklichen Dinge, die passieren könnten, sollte er und Xell nicht rechtzeitig die Spitze erreichen. Traumato wirkte in der erfahrenen Vision keinesfalls zu Scherzen auferlegt und auch im Klang seiner Stimme lag keinerlei Spur von guten Absichten. Seine Schritte beschleunigten sich instinktiv, als der bitterliche Klagelaut Azurills in seinen Gedanken hämmerte. Lästige Höhlenbewohner, bedroht sich gegen die beiden Eindringlinge der Außenwelt wehrend, gaben sich vor Ravens ungestümen Vordringen schnell geschlagen, traten Hals über Kopf die Flucht an, oder wurden von ihm gnadenlos niedergestreckt. Längst ähnelte der Klang seiner Pfoten wie ein wahres Trommelfeuer; zum Leidwesens Xells, der mittlerweile gar nicht mehr mit seinem Freund Schritt halten konnte, geschweige denn zum Kämpfen kam. Vielmehr musste er sich damit begnügen, über die bewusstlosen Feinde die Raven in seinem unermüdlichen Vordringen zurückgelassen hatte, hinüberzusteigen, oder den panisch reißaus nehmenden Bewohnern des Stachelberges auszuweichen, und dabei seinen Freund bloß nicht aus den Augen zu verlieren.


    „Mach - doch - mal - lang - sam ...“
    Wie zu erwarten war, hatte Raven als erstes das ferne Licht, das den Ausgang ankündigte, als erstes erreicht. Erstmalig warf er einen Blick über die Schulter. Sein Freund, auf allen Vieren kriechend, schleppte sich mühselig den äußerst steil ansteigenden Pfad, den Raven nahezu problemlos erklommen hatte, hinauf. Unlängst hatte er erkannt, - was ihn jedoch nicht mehr sonderlich wunderte, dass er sich tatsächlich an dem Ort seiner Vision befand. Die flache, kahle Hochebene mit seinen schroffen, spitzen Felsen. Kein Zweifel. Nur Augenblicke später wurde seine ganze Aufmerksamkeit jedoch von einem fremden Geräusch aus der Ferne wieder völlig in Beschlag genommen. Er spitzte sogleich seine Ohren. Es waren Stimmen. Aber wo kamen sie her?
    „Siehst du das Loch hinter dir? Meinen Quellen zufolge, soll sich hinter diesem Spalt unermessliche Reichtümer befinden. Aber wie du siehst, bin ich zu groß und passe da unmöglich durch. Und da kommst du in's Spiel.“
    „W-Was wollen sie damit sagen?“
    „Liegt das nicht auf der Hand? Du sollst in das Loch kriechen und die Schätze für mich bergen. Los mach schon!“
    „A-Aber...“
    „Nichts aber! Du bringst dich in Schwierigkeiten, wenn du nicht tust, was ich sage!“
    „H-Hilfe!“
    Nach mehr verlangte es Raven nicht. Sogar der kleinste und hartnäckigste Zweifel war nun gebrochen. Es war haargenau so, wie er es aus seinem Traum her kannte. Dicht von Xell gefolgt, eilte er dem Klang des Hilfeschreis nach.


    Raven wunderte rein gar nichts mehr. Kaum den Ort des Geschehens erreicht, konnte er nichts anderes als die Rückseite Traumatos erkennen, der sich langsam einem kleinen, blauen und offenbar sehr ängstlichen Etwas näherte.
    „Stopp, oder du kannst was erleben!“
    Von dem Klang der Stimme Ravens überrascht, drehte er sich um. Traumatos Gesichtsausdruck war unergründlich, doch ahnte Raven, dass er wohl sehr überrascht sein müsste, hier noch jemand anderes vorzutreffen und dann ausgerechnet ein Erkundungsteam.
    „Oh, die zwei von heute morgen. Was wollt ihr? Der Spielplatz liegt aber in einer anderen Richtung“, sagte er genüsslich und lachte hohl.
    Xell schaltete sich mit ein.
    „Von wegen Spielplatz! Team Kugelblitz zur Stelle. Wir sind ein Erkundungsteam und dir als gesuchter Krimineller auf den Fersen. Entweder du kommst freiwillig mit uns oder wir zwingen dich einfach dazu.“
    Traumatos Gelächter erstarb.
    „So, so - ein Erkundungsteam.“ Traumato wandte sich nun völlig von seiner Geisel ab und machte einige wenige Schritte in die Richtung seiner beiden Verfolger. „Ihr wollt mich also zwingen, mit euch zu kommen? Soll ich nun etwa Angst haben? Damit ihr es wisst: Schon viele Kopfgeldjäger haben sich bei mir die Zähne ausgebissen. Was macht also ausgerechnet euch so siegessicher?“
    Raven gefiel Traumatos Siegessicherheit ganz und gar nicht. Einschüchtern ließ er sich jedoch nicht; ganz im Gegensatz zu Xell, der an seiner Seite heftig zu zitterten begann. Mehr und mehr rückte er in den Schatten seines Freundes.
    „Oh, sehe ich da etwa Angstschweiß auf deiner Stirn? Und zittern tust du wie Espenlaub. Na, das wird ja dann ein Spaß“, höhnte Traumato und knackste mit seinen Fingern, während er sich mit siegessicherer Miene mehr und mehr seinen Gegnern näherte.
    „Wir werden dir schon zeigen, wie der Hase läuft. Verlass dich drauf“, sagte Raven von dem Auftreten seines Gegners völlig unbeeindruckt. „Bist du bereit, Xell?“
    „J-Ja, legen wir los!“, antwortete Xell, stolperte unsicher aus dem Windschatten seines Freundes hervor und ging in Angriffsposition über.


    Von dem steilen Aufstieg keinesfalls erschöpft und stattdessen das Blut noch voll in Wallung, drehte Raven gleich voll auf. Mit wahnwitziger Geschwindigkeit rannte er auf Traumato los und stieß seinen eigenen Körper pfeilähnlich mit voller Wucht in die ungedeckte Magengegend seines Widersachers. Traumato taumelte angeschlagen einige Schritte zurück, konnte sich aber noch auf den Beinen halten. Die Hand gegen seinen von Raven getroffenen Leib gepresst, warf er selbigem einen vernichtenden Blick à La „Das wirst du bereuten, du kleiner, mieser Bastard!" zu. Im selben Moment fegten eine Salve glühend heißer Geschosse so knapp über Ravens Kopf hinweg, dass es ihm fast sein Pony versengte. Xell hatte endlich seine Furcht überwunden und war auch zum Angriff über gegangen. Seine Attacke schien jedoch zu offensichtlich, denn kurz bevor seine abgefeuerten Geschosse ihr Ziel erreichten setzte Traumato eine merkwürdige Aura um seinen Körper frei, die die Angriffswelle seines Kontrahenten in der Luft verpuffen lies. Xell war vor Schreck wie gelähmt, was Traumato schamlos ausnutzte. Hilflos musste Raven mitansehen, wie der gesamte Körper seines Freundes plötzlich wie aus Stein gemeiselt war. Xells weit geöffnete Augen, seine Arme und seine Beine, einfach alles wurde durch den bloßen Augenkontakt mit Traumato stocksteif. Schlussendlich gaben seine Beine nach, woraufhin er mit einem hässlichen Geräusch rücklings auf den Boden klatschte.
    „Nein, Xell!“, rief Raven schockiert.
    „Na, wie gefällt dir mein Aussetzer?“, höhnte Traumato grinsend. „So, und jetzt zu dir!“ Er suchte Raven, der jedoch längst aus Traumatos Blickfeld verschwunden war..
    „Wo steckst du? Komm raus und kämpfe!“, rief Traumato aufgebracht.
    Raven hatte sich hinter einem der vielen Felsen verkrochen und plante fieberhaft seinen nächsten Schritt. Ein weiterer direkter Angriff wäre töricht, das war ihm klar. Ihn würde höchst wahrscheinlich das selbe Schicksal ereilen, wie es seinem Freund wiederfahren war. Er glaubte, sein immer lauter werdendes Herz müsste ihn jeden Moment verraten. Ganz deutlich konnte er die Schritte seines Feindes wahrnehmen, der fieberhaft die Umgebung nach Raven absuchte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ihn Traumato finden würde.
    „Wo hast du dich verkrochen, du Feigling?! Liegt dir etwa nichts an dem Schicksal deines Freundes? Soll ich ihn vielleicht fertig machen und deine Feigheit der Welt verkünden? Wie würde dir das gefallen, hm?“
    Ravens Muskeln spannten sich an und seine Krallen schlugen Furchen in den Boden. Traumato provozierte ihn und stieß mit seinen Worten bei Raven auch auf Öl. Doch er musste sich zurückhalten. Er durfte sich unter keinen Umständen von ihm und seinen Worten ködern lassen. Das wäre ihr beider Ende, soviel war klar.
    „Na, wie sieht es aus, Hasenfuß? Oder soll stattdessen Azurill den Preis deiner Feigheit bezahlen?“
    Raven schwieg; innerlich wollte es ihn aber zerreisen. Wie lange konnte er sich noch beherrschen, bevor er Traumato ins Netz ginge? Doch etwas war anders. Die höhnische Stimme hatte sich von ihm entfernt. Vorsichtig lugte Raven hinter seinem Versteck hervor. Traumato hatte auf der Suche nach dem Versteck seines Gegners selbigem seinen entblößten Rücken zugekehrt. Ravens Herz hämmerte wie verrückt. Eine solche Gelegenheit würde sich ihm vielleicht kein zweites Mal bieten. Alles auf eine Karte gesetzt, pirschte er sich leise an seinen ahnungslosen Gegner heran. Sein ganzer Körper knisterte vor der Energie, die seine unbändige Wut zu einem knisternden Funkenstrom materialisiert hatte, der sich in den Spitzen seines Fells sammelte und seinen Körper wie das Blut durch seine Venen durchströmte.
    „Dann koste mal das hier!“, schrie er und entfesselte seinen blanken Zorn auf Traumato. Das Fell stand ihm zu steil zu Berge und er konnte die unbändige Gewalt deutlich spüren, die sich aus seinem Körper löste und in Form eines gleißenden Lichtblitzes zielsicher und pfeilschnell durch die Luft in Traumatos Richtung bewegte. Traumato konnte nicht mehr reagieren. Sein gesamter Körper wurde von der grellblendenen elektrischen Aura erfasst. Er schrie und zappelte vor Schmerzen, während Raven seinen Hass noch weiter intensivierte und mehr und mehr Hochspannung durch den Körper seines Widersachers strömen ließ, bis es ihm selbst vor Erschöpfung schwarz vor Augen wurde und die Verbindung zwischen ihm und Traumato kappte. Keine Sekunde später klappte Traumato zusammen und blieb - abgesehen von einem anhaltenen heftigen Zittern - regungslos am Boden haften. Raven schnaufte und ging in die Knie. Die Anstrengung hatte ihn viel seiner Kraft beraubt. Für eine weitere Heldentat hätte es wohl nicht mehr gereicht, was jedoch auch nicht mehr nötig war. Mit dem Sieg über Traumato kehrte das Leben wieder in Xells Körper. Von den Spuren seiner Paralyse noch etwas mitgenommen, rappelte er sich auf. Sein Blick fiel zuerst auf die bewusstlose Gestalt Traumatos und schweifte dann zu seinem schwer atmenden Freund.
    „Du - du hast es geschafft?“, sagte Xell und starrte Raven ungläubig und mit großen Augen an.
    Wir haben es geschafft“, korrigierte er seinen Gefährten. Ein leichtes Grinsen bildete sich auf seinem von Erschöpfung gezeichneten Gesicht.


    „I-Ist es vorbei?“ Azurill kam schlotternd hinter einem kleinen Felsen hervorgekrochen.
    „Ja, es ist vorbei. Bist du in Ordnung?“, fragte Xell.
    „M-Mir geht’s gut. Danke euch beiden“, antwortete Azurill.


    „Was machen wir jetzt mit dem?“ Raven machte eine Geste auf die besinnungslose Gestalt seines Gegners.
    „Abführen, würde ich sagen“, antwortete Xell und ging auf Traumato zu.
    „Hey, Kannst du mich hören?!“
    Traumato regte sich schwach.
    „Mach keine Mätzchen, sonst kannst du was erleben!
    Traumato schwieg. Er machte keine Anstalten sich zu wehren. Mit ihrem besiegten Schurken im Schlepptau und Azurill an sicherer Seite, erreichten sie nach mühseligem Abstieg den Fuß des Berges, wo sie bereits erwartet wurden. Drei fliegende Pokémon, nahmen die Helden in Empfang. Der größte unter ihnen, offenbar eine Art von Anführer, stellte sich vor.
    „Ich bin Magnezone, der Oberwachtmeister der Gegend!“


    „Wir haben von den Geschehnissen in Schatzstadt gehört. Eure Gildenkollegin hatte uns mitgeteilt, dass ihr zum Stachelberg aufgebrochen wart. Eigentlich wollte wir euch helfen, den Schurken zu stellen, aber scheinbar seid ihr auch ganz gut ohne uns zurecht gekommen.“ Sein Blick fiel auf Traumato der scheinbar immer noch total unter Strom stand und gelegentlich zuckte.
    „Nicht der Rede wert“, sagten Xell und Raven im Chor.
    „Ihr habt formidable Arbeit geleistet. Traumato ist einer der meistgesuchten Verbrecher im Land und wurde erst kürzlich der Kategorie A zugeteilt“, sagte einer von Magnezones Helfern.
    „Was? Stufe A?” Xell wirkte entsetzt.
    „Ja, übrigens: Eure Belohnung lassen wir eurer Gilde zukommen. Wir danken euch noch einmal recht herzlich für eure Mitarbeit. So, Jungs: führt ihn ab!“
    Magnezones Helfer nahmen den griesgrämig dreinblickenden Traumato in die Mangel und flogen mit ihm davon.


    Nach einem kurzem, unbeschwerten Marsch erreichten sie wieder Schatzstadt, wo sie freudig von Azurills großem Bruder in Empfang genommen wurden.
    „Vielen Dank! Oh, vielen Dank! Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll ...“, schluchzte Marill und schloss seinen Bruder verloren geglaubten Bruder fest in seine Arme.
    „Nicht der Rede wert“, antworteten Raven und Xell fröhlich.
    Nach einer kurzen Erklärung, über die Vorfälle der vergangenen Stunden, verabschiedeten sich die Geschwister noch einmal recht herzlichst von Raven und Xell und eilten nach Hause.


    Kaum hatten Raven und Xell dir Gilde betreten, wurden sie auch schon von einem äußerst mürrischen Plaudagei in Beschlag genommen.
    Als ob sie kein Wässerchen trüben könnten, sahen sie ihren Vorgesetzten mit unschuldbewusster Miene an.
    „Eigentlich müsste ich euch ja schelten, nachdem ihr mich heute morgen beinahe überrannt habt, aber uns wurde mitgeteilt, dass ihr einen harten Brocken gefangen habt. Ich würde sagen, damit dürfte wieder alles Paletti sein“, sagte Plaudagei höchst zufrieden.
    „Ist das etwa alles?“, brummte Xell.
    „Was? Oh, nein - stimmt, eure Belohnung, ja, ja, die sollt ihr auch erhalten. Das Kopfgeld für diesen Ganoven beträgt 3000 Poké. Hier ist euer Anteil.“
    Plaudagei überreichte Xell eine Hand voll Münzen.
    „Äh?!? Wie kriegen so wenig?!? Soll das etwa ein Witz sein?!?“
    Auch Raven kochte innerlich auch vor Wut, stieß jedoch Xell in die Rippen.
    „Lass es einfach. Hat ja doch keinen Zweck ...“, flüsterte er ihm zu.
    „Ihr geniest ein formidables Training bei uns, oder wollt ihr das etwa leugnen?“, sagte Plaudagei verärgert.
    Raven und Xell schwiegen.
    „Dann ist ja alles klar. Wir erwarten weitere Glanzleistungen von euch. Weiter so!“


    Nach dem gemeinsamen Abendessen verbrachten Raven und Xell den restlichen Tag in ihrem Gildenquartier. Während draußen ein Unwetter tobte, ließen sie den Tag noch einmal Revue passieren. Über ihren Besuch in Schatzstadt, die blitzschnelle Bezwingung des Stachelberges den Kampf mit Traumato und natürlich über die Ungerechtigkeit bei der Verteilung der Belohnung. Doch bei einem Thema fielen sie beide plötzlich in tiefe Nachdenklichkeit: Ravens Traum.
    „Ich kann mir immer noch nicht erklären, was das war ...“, sagte Raven nachdenklich.
    „Was auch immer das war: dein Traum hat Azurill vielleicht das Leben gerettet. Wir können dafür dankbar sein“, sagte Xell und starrte dabei aus dem Fenster.
    „Es war wie ein Blick in die Zukunft“, sagte Raven schließlich. „Ich wusste ganz genau, was da oben geschehen wird.“
    Xell begann plötzlich zu kichern.
    „Was ist daran so witzig?“
    „Nun, ja: Kannst du nicht vielleicht vorhersagen, wie morgen das Wetter wird oder warte noch besser, was es morgen zum Essen gibt? Noch besser: Du könntest in Schatzstadt deinen eigenen Laden aufmachen und Vorhersagungen machen. Damit könnten wir unser lausiges Taschengeld aus der Gilde aufstocken. Xell hielt sich den Bauch vor lachen.
    „Ha, ha!“, sagte Raven tonlos.


    „Alles in allem bist du echt erstaunlich: Ein Mensch, der zum Pokémon wurde, ein Freund, ein starker Kämpfer, ein Lebensretter und ein Hellseher. So jemanden wie dich findet man wirklich nicht alle Tage“, sagte Xell. „Kannst du dich inzwischen eigentlich an irgendetwas aus deiner Vergangenheit erinnern?“
    „Nein, immer noch nichts ... Mir will und will nichts einfallen.“
    „Das wird schon wieder, da bin ich mir sicher“, tröstete ihn Xell.
    Raven schwieg.
    „Ich werd mich dann mal hinhauen - bin total kaputt. Nacht“, sagte Xell und warf sich kopfüber in sein Bett. Raven beobachtete noch eine Zeit lang wie die schweren Regentropfen, an ihrer Fensterscheibe langsam herunterliefen, bis auch er schließlich einschlief.



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  • Kapitel IV.: Die Torwächter:




    Mittlerweile waren zwei Wochen ins Land gezogen, seitdem Xell seinen neuen Freund Raven bewusstlos am Strand gefunden hatte. Inzwischen hatten sich sowohl Raven als auch Xell unter dem Namen Team Kugelblitz Rang und Namen in der Gilde erarbeitet. Die Kunde über den Fang des A-Klassen-Verbrechers Traumato, hatte sich im Nu in ganz Schatzstadt verbreitet und machte Team Kugelblitz zum Stadtgespräch der Woche. Indessen hatte sich Raven immer mehr mit dem Gedanken angefreundet, seine Zukunft als Pokémon zu verbringen. Zwar wurde er Nachts immer noch von merkwürdigen Träumen verfolgt, doch dachte er tagsüber immer seltener über seine mögliche Vergangenheit nach. Er hatte sich in diese neue Welt recht gut eingelebt und leistete tagtäglich mit seinem Freund Xell vorbildliche Arbeit in der Gilde. Auch seine neuen Kräfte gelang es ihm mittlerweile mehr und mehr zu beherrschen, ganz zu schweigen von dem neuen Körperteil in Form seines grazilen Schweifes, den er nun absolut unter Kontrolle hatte und sich ein Leben ohne dieses praktische Allzweckwerkzeug gar nicht mehr vorstellen konnte. Mit einer Sache jedoch konnte er sich nachwievor nicht so richtig mit abfinden: Der allmorgendliche Weckruf Krakeelos ging im Tag für Tag immer mehr auf den Zeiger.


    “AUFGESTANDEN UND AB DAFÜR! ES IST MORGEN!!!“
    Auch an jenem Morgen war es nur ein weiterer Tag, an dem Raven unbarhmherzig aus seinem wohlverdienten und viel zu kurzem Tiefschlaf gerissen wurde.


    Die frühe Morgensonne kitzelte ihn leicht und einladend durch sein Gildenfenster, doch Raven wollte von all dem nichts wissen. Gerade hatte er sich wieder auf die andere Seite seines Bettes gerollt, als Xells verschlafene Stimme - ihm ungefähr doppelt so laut als üblich vorkommend - in den Ohren hämmerte.
    “Morgen, Raven ...“
    Es war das erste Mal, dass Raven am liebsten alleine gewesen wäre. Würde Xell ihn jetzt nicht gleich zum Aufstehen bewegen, könnte er einfach seelenruhig weiterschlafen. Doch es half ihm ja nichts. Mürrisch rappelte er sich auf und brummte seinem Freund ein schwaches “Morgen ...“ entgegen. Xell schien von seiner schlechten Laune nichts bemerkt zu haben und war kurze Zeit später auch schon zur allmorgendlichen Gildeneinweisung unterwegs. Raven hingegen musste diesen Morgen all seine Kräfte mobilisieren, um nicht der Verlockung seines einladenden Bettes zu verfallen. Griesgrämig und innerlich fluchend, machte auch er sich kurze Zeit später zur Einweisung auf und erreichte als letzter Rekrut den Versammlungsort.
    “DU KOMMST SPÄT!“, brüllte ihm Krakeelo grinsend entgegen.
    Ravens Herz kam vor Zorn in Wallung und pumpte ihm eine Überdosis Blut in seinen Kopf. Er kostete ihn seine ganze Beherrschung, um Krakeelo nicht gleich eine zu scheuern.
    “Du mich auch ...“, flüsterte er so leise, dass ihn keiner hören konnte und reihte sich neben seinem Freund Xell ein.


    Auch an diesem Morgen spornte Knuddeluff seine Gildenkameraden zu neuen Höchstleistungen an. Natürlich durfte da auch der morgendliche Jubelruf nicht fehlen. Einem jedoch war an jenem Morgen überhaupt nicht zum Jubeln zumute.
    „Erstens! Nicht dem Plagen entsagen!“
    Ravens Augen wurden schwer.
    “ ... entsagen“
    “Zweitens! Willst du kneifen, müssen wir dich schleifen!“
    „ ... leifen“
    “Drittens! Mit einem Lachen werden wir es machen!“
    „ ...“
    Raven war kurz davor, im Stehen einzuschlafen, als Xell ihn leicht auf die Schulter klopfte.
    „Wollen wir dann?“, fragte Xell fröhlich.
    Raven wollte am liebsten etwas wie „muss das sein?“ antworten, doch zwang er sich zu einer halbwegs anständigen Antwort.
    „Na gut ... Was steht heute morgen an?“, fragte er, konnte dabei ein Gähnen allerdings nicht verkneifen.
    „Einen Auftrag des Job-Infobretts übernehmen“, antwortete Xell. „Wir müssen aber vorher noch unbedingt einen kleinen Abstecher nach Schatzstadt machen. Mir sind leider die Pirsifbeeren wieder ausgegangen ...“
    Wehmütig blickte Raven in Richtung seines Quartiers, wo sein weiches Bett auf ihn wartete - so warm und einladend. Er mobilisierte alle Kräfte, die er heute finden konnte, und schaffte es nach einem kurzen Kampf mit sich selbst dann doch, Xell nach Schatzstadt zu begleiten.


    Auf dem Wg nach Schatzstadt weckten die wärmenden Strahlen der Morgensonne allmählich seine Lebensgeister. Xell pfiff vergnügt ein munteres Lied, während er sich mit weiten Sprüngen Schatzstadt näherte. Raven trottete gedankenversunken hinter ihm her. Noch immer trönte ihm Krakeelos Stimme im Kopf.
    “DU KOMMST SPÄT!“
    „Irgendwann zahl ich es dir heim, Krakeelo. Das schwöre ich dir.“ Sein blödes Grinsen wollte Raven einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen. Hätte er nur die Kraft besessen, ihm endlich mal die Meinung zu geigen ...


    Inzwischen hatten sie das Stadttor von Schatzstadt passiert. Xell hatte sich sprungartig von Raven entfernt und war zu dem Beerenhändler seines Vertrauens geeilt. Raven bummelte noch immer tief in Gedanken versunken die Stände um ihn herum ab. Doch insgeheim hatte er keine Augen für die verlockenden und selbst die preisgünstigsten Angebote der Händler. Seine ganzen Gedanken kreisten nur um eines.
    “Wenn es doch nur einen Weg gäbe, es Krakeelo heimzuzahlen ...“
    Seine Aufmerksamkeit wurde plötzlich von einem großen Schild in Beschlag genommen. Erst wollte er es schnell wieder aus seinen Gedanken verscheuchen und an seinem persönlichen Rachefeldzug gegen Krakeelo grübeln, doch bei näherem Betrachten des Werbeplakats kräuselten sich Ravens Lefzen zu einem hämischen Grinsen, das umso breiter wurde, je mehr er las.


    Jetzt neu und nur für kurze Zeit: Die Haftbeere

    Der ultimative Kleister zum selber Mixen für Daheim.

    Klebt absolut alles dauerhaft und bombenfest.

    Für weitere Informationen steht ihnen unser Verkaufspersonal gerne zur Verfügung.



    (Überarbeitet bis zu diesem Punkt)


    Er malte sich bildlich aus, was passieren würde, wenn eine dieser Beeren rein zufällig heute Abend auf Krakeelos Teller landen würde. Ravens Grimasse wurde immer heimtückischer.
    Das ist die ideale Chance, sich an Krakeelo zu rächen. Doch er müsste sich beeilen, denn Xell würde seinen Plan sicherlich nicht gutheißen.
    Raven überlegte nicht lange, sondern spurtete flink zur Zwirrlicht-Bank und hob sich einige Münzen von ihrem gemeinsamen Konto ab und kaufte sich anschließend eine kleine Beere, die er in seinem dichten Fell versteckte. Vergnügt machte er sich anschließend auf die Suche nach Xell. Es dauerte nicht lange, bis er ihn schließlich bei seinem Lieblingshändler erspähte. Schon von weitem konnte Raven erkennen, dass ihr Schatzbeutel mal wieder prall gefüllt mit Pirsifbeeren war, doch dieses mal war es ihm egal. Der Gedanke, wie er es heute Abend Krakeelo heimzahlen würde, ließ ihn alles andere vergessen.


    Xell wollte sich gerade auf die Suche nach Raven machen, als dieser vor ihm erschien.
    „Oh! Da bist du ja.“, sagte er erschrocken und versuchte verzweifelt den bis zum Anschlag gefüllten Schatzbeutel hinter sich zu verstecken. Doch Raven grinste nur.
    „Was gibt es da so komisch zu grinsen? Ist irgendwas passiert?“, fragte Xell.
    „Warum ich grinse? Warum auch nicht? Ist doch ein toller Tag oder nicht?“, antwortete Raven vergnügt.
    „Komischer Sinneswandel...“, sagte Xell misstrauisch. „Naja egal. Hast du alles? Können wir dann zurück zur Gilde und unserem Job für heute erledigen?“
    Raven nickte und versuchte krampfhaft wieder ein normales Gesicht zu machen. Er durfte keine zu große Aufmerksamkeit wecken, sonst könnte sein Plan schief gehen.


    Nach wenigen Minuten erreichten sie die Gilde und machten sich auch gleich zum Job-Infobrett auf. Für heute stand eine kleine Rettungsmission in der Strandhöhle, in der Nähe von Schatzstadt an.
    Gerade als sich Raven und Xell die Leiter nach draußen besteigen wollten, kam ihnen Sonnflora und ein weiteres Pokémon, von dem sie wussten, dass es sich um ihre Freundin und Gildenkameradin Palimpalim handeln musste, entgegen. Sie waren offenbar tief in ein Gespräch vertieft.
    „...Wenn ich es dir doch sage: Bidiza wird mir auf unserer gemeinsamen Erkundung morgen sicherlich alle Blätter vom Kopf fressen. Hat man so was verfressenes wie den überhaupt schon mal gesehen?“, sagte Sonnflora. Sie war offensichtlich sehr aufgebracht. „Wie kann mich Plaudagei nur mit ihm in eine Gruppe stecken...?“
    „Ich finde du übertreibst“, entgegnete Palimpalim. „Bidiza wird dir bestimmt nicht zur Last fallen. Erinnerst du dich, als er ganz alleine die Sternenhöhle erkundet hat? Er wird dir sicherlich eine große Hilfe sein, glaub mir.“
    „Irgendwie glaub ich ja nicht wirklich daran...“, antwortete Sonnflora besorgt. „Ich muss mir unbedingt den Frust in meinem Tagebuch von der Seele schreiben...“
    Plötzlich bemerkte Sonnflora, dass sie nicht allein waren.
    „Oh hallo ihr zwei! Schon bei der Arbeit? Dann mal viel Glück bei eurer heutigen Mission“, rief sie Raven und Xell zu und verschwand mit Palimpalim eine Etage tiefer.


    Xell schmunzelte.
    „Ein Tagebuch? Ich frage mich, was da drin steht. Ob sie etwas über uns geschrieben hat?“
    „Ähm, warum interessiert dich das? Ist doch eigentlich egal was Sonnflora in ihrem Tagebuch schreibt, oder nicht?“, antwortete Raven.
    „Das ist das Erkunderblut in mir. Für mich ist Sonnflora’s Quartier nur ein weiterer Dungeon der erforscht werden will und ihr Tagebuch ist der Schatz, den es zu bergen gilt.“ Xell’s Augen strahlten.
    „Es geht dich doch nichts an!“, zischte Raven. „Schlag dir dieses Tagebuch jetzt aus dem Kopf. Wir haben einen Auftrag zu erledigen. Erinnerst du dich?“ Er wedelte mit dem Job-Infobrief vor den Augen Xell’s.
    „Vielleicht hast du recht...“, räumte Xell enttäuscht ein. „Na dann wollen wir uns mal auf die Rettungsmission machen.“


    Am späten Nachmittag kehrten Raven und Xell in die Gilde zurück. Sie hatten ihren Auftrag erfolgreich ausgeführt.
    „Puh! Ich bin fix und alle. Kann das Abendessen gar nicht abwarten“, sagte Xell und streckte sich ausgiebig.
    Raven schrak auf. Das hatte er im Laufe des Tages ganz vergessen. Sein Rachefeldzug gegen Krakeelo stand noch aus. Seine Haftbeere befand sich noch immer am Ort und Stelle und wartete bereits sehnsüchtig auf ihren Einsatz.
    „Oh ja, ich mich auch“, sagte Raven und begann wieder hämisch zu grinsen.
    Plaudagei kreuzte ihnen den Weg.
    „Hallo ihr beiden. Mir ist gerade euer Klient über den Weg gelaufen. Ihr habt mal wieder hervorragende Arbeit geleistet. Glückwunsch. Hier ist euer Anteil“
    Er reichte Xell eine Hand voll Münzen.
    „Macht weiter so. Noch einen schönen Feierabend“, rief Plaudagei und flatterte davon.
    Xell betrachtete bekümmert die klägliche Ausbeute für ihre Arbeit.
    „Ich kann mich mit diesem Taschengeld einfach nicht abfinden...“ Er verstaute das Geld in dem Schatzbeutel. „Was gibt es eigentlich schon wieder so komisch zu grinsen? Ist das etwa witzig?“
    Raven erschrak. Schleunigst legte er ein miesepetriges Gesicht auf und stimmte seinem Freund zu.
    „Naja wir können ja doch nichts daran ändern...“, sagte Xell niedergeschlagen.
    „Wohl war...“, gestand Raven.
    „Ähm, Raven? Ich hab heute noch eine Kleinigkeit vor. Würde es dir was ausmachen, wenn ich dich etwas alleine lassen würde? Wird nicht lange dauern, versprochen.“
    „Ja kein Problem. Aber beeil dich. Du willst ja wohl um Nichts in der Welt das Abendessen verpassen, nehme ich an.“
    „Nein, natürlich nicht. Also dann: Bis später“, rief Xell und kletterte die Leiter hinab.
    Raven machte sich in Richtung Speiseraum auf. Nur Bidiza war bereits anwesend und schien sehnsüchtig darauf zu warten, dass es endlich los ginge.
    Raven nahm seinen gewohnten Platz ein und tat es ihm gleich.


    Bald füllte sich der Raum. Inzwischen standen auch die Tabletts mit den süßesten Früchten, reifsten Beeren und schmackhaftesten Gummis bereit.
    Zu aller Verwunderung, war Xell der einzige, der noch fehlte.
    Bidiza sah aus, als wollte er gerade ein Stück von seinem Teller abbeisen, als Knuddeluff's Stimme ertönte.


    „Ich bin fest davon überzeugt, dass Xell jeden Moment kommen wird, aber wir können ja inzwischen schon mal anfangen. Haut rein!“
    Darauf hatten alle gewartet: Das Gelage konnte beginnen.
    Raven musste den richtigen Moment abwarten, um seinen Plan durchzuführen. Seine Augen huschten immer wieder auf Krakeelo, der neben ihm saß.
    Es schien schwerer zu sein, als er vermutet hatte: Krakeelo hatte seinen Teller schärfer im Auge, als ein Kramurx seine Sammlung glitzernder Goldmünzen. Er brauchte ein Ablenkungsmanöver...
    Sonnflora erhob sich plötzlich. Sie war auf einmal ganz bleich im Gesicht.
    „Auweia“, sagte sie mit zittriger Stimme. „Bitte entschuldigt mich. Ich muss mal ganz schnell weg.“
    Alle Augen folgten ihr, während sie mit großen Schritten den Saal verlies. Das war seine Chance. Jetzt oder nie! Blitzschnell legte er seine Haftbeere auf Krakeelo’s beladenen Teller. Er hatte es geschafft. Jetzt musste er nur noch abwarten.
    >„Bloß keine Aufmerksamkeit erregen. Verhalt dich so natürlich wie möglich“<, dachte er und versuchte eine Unschuldsmiene aufzulegen und sich wieder seinem Teller zuzuwenden.


    Er bekam einen gewaltigen Schrecken, als ihn unverhofft Krakeelo ansprach. Hatte er vielleicht etwas bemerkt? Doch seine Stimme war das erste mal relativ leise. Ja sogar fast normal.
    „Raven. Ich möchte mich entschuldigen. Mir ist nicht entgangen, dass du heute morgen noch todmüde warst. Aber weißt du: Es gehört nun mal zu meinen Pflichten, alle Gildenmitglieder morgens zu wecken. Ich würde dir empfehlen, Abends einfach etwas früher ins Bett zu gehen.“
    Täuschten ihn etwa seine Ohren? Hatte sich Krakeelo wirklich gerade bei ihm entschuldigt? Damit hatte er nicht gerechnet. Er wusste im ersten Moment gar nicht, was er sagen sollte...
    „J-Ja du hast wahrscheinlich recht. Danke Krakeelo“, nuschelte Raven verlegen.
    Ihm war völlig Elend zumute. Krakeelo hatte sich tatsächlich bei ihm entschuldigt und gleich würde er den wohl größten Schreck seines Lebens erleben.
    „Stopp!“, schrie Raven völlig aufgelöst, als Krakeelo kurz davor war, seine “kleine Überraschung“ in seinen gewaltigen Mund zu werfen.
    Alle Gildenmitglieder schauten ihn schlagartig an.
    „Was ist los?“, fragte Krakeelo.
    „Ähm, wie soll ich sagen... Weißt du, ich war heute morgen stocksauer auf dich und...“
    „Und?“, hakte Krakeelo nach. Seine Augen verengten sich
    „...und da dachte ich, ich könnte es dir heimzahlen, indem ich dir eine Haftbeere in dein Essen unterjuble. So jetzt ist es raus!“
    Krakeelos Stimme war, wie zu erwarten war, wieder auf seinem gewohnten Niveau. Vielleicht sogar noch einen Tick lauter, als normal.
    „DU HAST WAS???“, schrie er und funkelte ihn böse an.


    Ein lautes Scheppern lenkte die gesamte Aufmerksamkeit schlagartig um. Aus der Richtung der Gildenquartiere kam plötzlich ein Höllenlärm. Jemand fluchte laut, während eine andere Stimme panisch um Hilfe schrie. Knuddeluff schien der erste zu sein, der wieder bei klarem Verstand war. Er öffnete die große Tür, die aus dem Speisezimmer führte. Blitzartig duckte er sich und konnte gerade noch einem daherfliegenden Stein ausweichen, welcher krachend in die nächst beste Fensterscheibe flog.
    Unter anderen Umständen wäre es urkomisch gewesen, was sich vor ihnen abspielte: Xell rannte panisch mit eingezogenen Kopf kreuz und quer, während ihn Sonnflora, offenbar außer sich vor Wut, mit Steinbrocken bombardierte.
    „Jetzt hört auf hier seelenruhig zuzugucken! Helft mir doch!“, schrie Xell
    „Mein Tagebuch lesen! Na warte! Ich krieg dich!“ brüllte Sonnflora und warf einen extra großen Stein nach ihm.
    Die halbe Gilde war notwendig, um Sonnflora von Xell zu trennen. Sonnflora wehrte sich verbissen, doch musste sie sich schlussendlich geschlagen geben.


    Knuddeluff hatte die Lage bald wieder voll unter Kontrolle.
    „Raven, Krakeelo, Sonnflora und Xell. Sofort in mein Quartier. Ihr anderen geht bitte zurück und beendet euer Abendessen“, sagte er streng.
    Niemand wiedersprach und so machten sich Knuddeluff in Begleitung von Raven, Xell, Krakeelo und Sonnflora zu seinem Gildenquartier auf.
    In Raven und Xell tobte ein innerer Konflikt. Waren ihre Vergehen Grund genug, um aus der Gilde herauszufliegen? Sie hatten sich doch so gut in die Gemeinschaft eingelebt. Sollte dies nun alles vorbei sein?
    Knuddeluff nahm in seinem Sessel platz und ließ seinen Blick über die Anwesenden Gildenmitglieder streifen.
    Man hätte die Luft schneiden können, so dick war sie in dem Moment, als Knuddeluff das Wort ergriff.
    „Ich möchte zuerst wissen, was bei euch vorgefallen ist Sonnflora und Xell“, sagte Knuddeluff und musterte die beiden scharf.
    Xell zitterte am ganzen Leib. So sehr er sich auch bemühte: Er brachte kein Wort heraus.
    Sonnflora ergriff die Initiative.
    „Also das war so: Als wir beim Essen waren, ist mir plötzlich eingefallen, dass ich mein Tagebuch unverschlossen auf dem Tisch in meinem Quartier liegen gelassen hatte. Ich bin also in mein Zimmer geeilt, um es schleunigst vor neugierigen Blicken zu verstecken. Aber es war bereits zu spät. Xell hatte es bereits in den Händen. Nun da bin ich leider etwas ausgerastet. Naja. Den Rest könnt ihr euch ja wohl denken...“
    „War es so, wie Sonnflora es uns gerade beschrieben hat, Xell?“, fragte Knuddeluff.
    Xell nickte.
    „Nun gut. Ich kann dein Verhalten zwar nicht gutheißen Sonnflora, aber ich denke, dass ich nicht viel anders reagiert hätte“, erklärte Knuddeluff. Er drehte sich um und hatte nun Raven scharf im Visier.
    „Jetzt zu dir Raven. Ich bin über den Vorfall dank deines Geständnisses relativ gut im Bild. Um ehrlich gesagt bin ich froh, dass du deine Meinung geändert hast und Krakeelo in letzter Sekunde noch vor dieser Schmach gerettet hast. Ansonsten hätte ich dich wohl aus der Gilde rauswerfen müssen...“
    Raven’s Herz hämmerte unbarmherzig gegen seine Brust, während Knuddeluff sprach. Er hatte wohl noch einmal Glück gehabt.
    „Ihr entgeht zwar beide dem Rauswurf aus der Gilde, aber Strafe muss dennoch sein: Ihr werdet beide Krakeelo für die nächsten 5 Tage beim Wachdienst behilflich sein und ich möchte eine sofortige Entschuldigung hören!“
    Raven’s Herz machte einen Hüpfer. Damit konnte er leben. Es wäre eine Katastrophe für ihn und Xell gewesen, aus der Gilde zu fliegen.
    Sonnflora nahm die Entschuldigung Xell’s herzlichst an und reichte ihm zur Versöhnung ihre Hand. Krakeelo sträubte sich etwas konnte sich aber letztendlich auch mit der Entschuldigung abfinden.
    „Gut, das wäre dann alles. Ihr dürft gehen“, sagte Knuddeluff fröhlich.


    Raven und Xell gingen gemeinsam in ihr Gildenquartier und begannen erst miteinander zu reden, als die Tür hinter ihnen sicher verschlossen war.
    „Nochmal Schwein gehabt...“, seufzte Xell. „Ich dachte schon, wir müssten unsere Koffer packen...“
    „Da hast du recht. Ging mir auch nicht anders...“, sagte Raven niedergeschlagen.
    „Was ist denn eigentlich zwischen dir und Krakeelo passiert? Klär mich mal bitte auf.“
    Raven wollte sich zwar lieber gleich ins Bett legen, doch erzählte er seinem Freund in allen Einzelheiten, was vorgefallen war.
    „Echt? Das hättest du beinahe getan? Du hättest dir doch denken können, dass das nicht gut ausgehen würde.“
    Raven musste eingestehen, dass Xell recht hatte.
    „Jetzt wo du es sagst...“
    Xell ließ sich in sein Bett fallen.
    „Jetzt heißt es für uns, die nächsten Tage zum Wachdienst anzutreten...“
    Das hatte Raven ganz vergessen: Er hatte ja mit Xell eine Strafe abzusitzen.
    „Bidiza meinte vor einiger Zeit mal, dass der Wachdienst mit Krakeelo die reinste Folter ist.
    Raven erschauderte.
    „Hilft ja nichts. Lass uns einfach eine Runde schlafen. Morgen sehen wir weiter“, meinte Xell und wünschte ihm eine gute Nacht.
    Raven wollte morgen so fit wie möglich sein, deshalb beschloss er heute zeitig zu Bett zugehen und tat es seinem Freund gleich. Zwar quälten ihn sein Gewissen noch einige Minuten, doch fand er recht schnell Ruhe.


    Der nächste Tag brach genauso an, wie Raven es vermutet hatte: Krakeelos allmorgendlicher Weckruf hatte seine Kraft nicht verloren.
    „RAUS AUS DEM BETT! ES IST MORGEN!“
    Raven und Xell waren sich einig: Sie wollten es mit Krakeelo für die nächsten Tage nicht verscherzen, sonst würde er ihnen garantiert ihr Leben unnötig schwer machen. Sie machten sich sogleich zur morgendlichen Einweisung auf.
    Alle ihre Gildenkameraden grüßten sie, wenn auch nicht ganz so herzlich, wie sie es eigentlich gewohnt waren. Doch sie waren froh, dass ihnen offenbar niemand ihre Ausrutscher krumm nahm. Auch Knuddeluff schien sich nicht mehr für die gestrige Affäre zu interessieren und spornte freudig alle Mitglieder zu neuen Höchstleistungen an.
    Alle Gildenmitglieder bis auf Raven, Xell und Krakeelo hatten sich mittlerweile in alle Himmelsrichtungen zerstreut.


    Krakeelo führte Raven und Xell in einen entlegenen Fleck der Gilde, der sich aber nicht unweit von dem Speiseraum befand. Ein weiteres Pokémon, welches sie bisher nur vom Sehen her kannten, wartete bereits auf sie.

    „Hallo ihr beiden. Ich bin Digdris Sohn Digda“, erklärte er. „Ihr sollt mich für die nächsten 5 Tage vertreten, richtig?“
    Raven und Xell nickten stumm.
    „Fein. Dann kann ich inzwischen meinem Vater bei der Aktualisierung der Infobretter helfen. Krakeelo erklärt euch den Rest. Tschüssi.“ Er verschwand im Erdreich.
    Unsicher blickte Xell zu Krakeelo.
    „Ähm, was müssen wir tun?“, fragte er.
    Raven wollte sich schon die Ohren zuhalten, da er dachte, Krakeelo würde gleich wieder in die Vollen gehen, doch zu seiner Verwunderung, redete er in Zimmerlautstärke.
    „Wie ihr sicher wisst, haben wir in der Gilde einen Wachposten, um unerwünschte Subjekte wie Ganoven oder Hausierer von der Gilde fernzuhalten. Wir identifizieren alle Besucher durch ihren Fußabdruck.“
    Raven und Xell nickten.
    „Normalerweise übernimmt Digda den Dienst unter der Erde und identifiziert alle Besucher. Doch für die nächsten 5 Tage, werdet ihr diesen Part übernehmen. Sobald ihr am Wachposten, müsst ihr nur noch auf die kommenden Besucher warten und mir dann mitteilen, wer sie sind. Ich entscheide dann, ob wir sie reinlassen oder nicht.“
    So etwas in der Art hatte sich Raven bereits gedacht. Auch wenn er sich innerlich gewaltig dagegen sträubte, so wollte er dennoch Krakeelo’s Gutmütigkeit nicht auf die Probe stellen. Xell war offensichtlich der selben Auffassung.
    „Habt ihr alles verstanden? Dann könnt ihr auch gleich loslegen.“ Krakeelo gab einen Tunnel hinter sich preis.
    „Dieser Gang führt euch zu unter Tage zu unserem Wachposten. Ihr werdet ihn schnell erkennen. Dann legt mal los“


    Behutsam mühten sich Raven und Xell durch den engen Tunnel. Es war stockfinster. Langsam tasteten sie sich voran.
    „Wer immer auch diesen Tunnel gegraben hat, muss wohl sehr klein sein und besonders gute Augen haben“, maulte Xell, der gerade gegen eine Wand geprallt war.
    Der Tunnel begann sich langsam aber sicher zu weiten. Ein schwaches Licht, kündigte ihre Ankunft am Wachposten an.
    „Endstation. Das ist also unser Arbeitsplatz für die nächsten 5 Tage...“ Er starrte nach oben. Etwa 5 Meter über ihnen konnten sie die Balkenkonstruktion ausmachen, über die ein jeder Besucher steigen musste, wenn er die Gilde betreten wollte.


    Raven’s lückenhaftes Gedächtnis war bei dieser Aufgabe keine große Hilfe, doch Xell schien ein wahrer Meister im Erkennen der Besucher zu sein. Daher einigten sie sich darauf, dass Xell den Wachposten im Auge behalten, und Raven die Infos an Krakeelo weitergeben sollte.
    Die Arbeit war für die beiden sehr eintönig, aber sie hatten von ihrem Strafdienst auch nichts anderes erwartet.
    Die Stunden vergingen. Raven und Xell verloren inzwischen jegliches Zeitgefühl. Noch nie waren sie so froh, Krakeelos Stimme zu hören.
    „FEIERABEND IHR ZWEI! IHR KÖNNT RAUSKOMMEN!“
    Keuchend und von oben bis unten verdreckt krochen Raven und Xell aus dem engen Loch heraus. Es brauchte einige Sekunden, bis sich ihre Augen wieder an das grelle Licht der Oberwelt gewöhnten.
    Raven und Xell prusteten vor Lachen, als sie sich gegeneinander betrachteten.
    „Wie siehst du denn aus?“
    „Ich? Schau dich doch mal an!“
    „Für heute ist Feierabend. Morgen wieder um die selbe Zeit. Ihr beide solltet euch aber erst mal waschen. So könnt ihr unmöglich zum Abendessen gehen“, sagte Krakeelo und konnte ebenfalls ein Grinsen nicht vermeiden.


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  • Kapitel V.: Die erste offizielle Erkundung



    Es war der Abend des letzten Tages, an dem Raven und Xell ihre Strafe in Form des Wachdienstes abgesessen hatten. Raven beobachtete gedankenversunken den Sonnenuntergang, als ein keuchen Xell’s Anwesenheit ankündigte.
    „Uff, da steckst du also. Ich habe dich überall gesucht...“
    Raven schwieg.
    „Was machst du hier eigentlich?“, wollte Xell wissen.
    „Er ist wunderschön. Meinst du nicht?“, antwortete Raven verträumt.
    Xell schaute sich verwirrt um.
    „Häh? Wovon redest du?“
    Raven seufzte tief.
    „Der Sonnenuntergang. Während des Wachdienstes der letzten Tage, habe ich die Sonne kaum zu Gesicht bekommen. Man lernt solche Dinge erst dann richtig zu schätzen, wenn sie nicht mehr da sind...“
    „Hör mal“, sagte Xell. „Plaudagei trommelt gerade die gesamte Gilde vor Knuddeluff’s Quartier zusammen. Es scheint wichtig zu sein. Beeil dich besser.“
    Nur mühselig konnte sich Raven von dem strahlenden Antlitz der Abendsonne lösen. Er folgte Xell zurück in die Gilde, warf aber im letzten Moment noch einen Blick auf die Sonne, bevor diese hinter dem nächsten Hügel verschwand.


    Es herrschte reger Trubel in der Gilde. Alle Gildenmitglieder hatten sich bereits vor Knuddeluff’s Quartier versammelt und redeten wild aufeinander ein.
    „Jetzt sag uns schon was los ist Plaudagai!“, rief Krakeelo aufgebracht.
    „Auweia. Ist irgendwas passiert?“ fragte Sonnflora beunruhigt.
    „Wann gibt es endlich Abendessen?“, quiekte Bidiza.
    „Das Abendessen ist soweit fertig“ antwortete Palimpalim. „Es fehlt nur noch...“
    „RUHE!“
    Plaudagei hatte das Wort ergriffen. Es herrschte augenblicklich absolute Stille.
    „Ah, Team Kugelblitz ist auch eingetroffen. Dann kann es ja losgehen.“
    Plaudagai räusperte sich.
    „Wir bekamen vor wenigen Stunden eine beunruhigende Nachricht von Oberwachtmeister Magnezone erhalten. Offenbar ist im Schemengehölz, nordöstlich von hier, die Zeit zum Stillstand gekommen.“
    Wie zu erwarten war, löste Plaudagei’s Hiobsbotschaft erneute Unruhen unter den Gildenmitgliedern aus.
    Plaudagei versuchte mit aller Kraft, die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken und schrie sich mittlerweile heiser.
    „RUHE BITTE!“, krächzte er zum fünften Mal, bis sich endlich wieder Ruhe einkehrte.
    „Also wo war ich...? Achja: Also wie ich bereits gesagt habe, ist im Schemengehölz die Zeit stehen geblieben. Kein Leben rührt sich mehr. Der Tau liegt wie versteinert auf den Pflanzen. Ja sogar die Kraft des Windes ist gebrochen. Es ist wirklich beängstigend...“


    Es herrschte eine beklemmende Stille, während Plaudagei sprach.
    „Die Ermittlungen laufen bereits auf Hochtouren. Wir können bislang nur mutmaßen, was sich im Schemengehölz zugetragen hat, aber wir befürchten das Schlimmste...“
    „Das Schlimmste? Was soll das sein?“, fragte Digdri.
    Plaudagei’s Miene verfinsterte sich.
    „Wir vermuten, dass im Schemengehölz ein Zahnrad der Zeit geruht haben muss und das irgendjemand es gestohlen hat.“
    Man hätte glauben können, es sei eine Bombe eingeschlagen: Die angespannte Stille unter den Gildenmitgliedern hatte sich schlagartig in ein heilloses Durcheinander von verwandelt.
    „UNMÖGLICH!“, brüllte Krakeelo aufgebracht.
    „Das kann nicht dein ernst sein...“, rief Digda.
    „Wer um alles in der Welt sollte ein Zahnrad der Zeit stehlen?“, quiekte Bidiza.
    „JETZT SEID DOCH MAL STILL!!!“
    Plaudagei’s Gesicht hatte sich vor lauter Anstrengung mittlerweile rot verfärbt. Flehend sah er zum Gildenmeister. Knuddeluff nickte und trat vor.
    „Freunde. Bitte hört mir zu. Es ist sehr wichtig“
    Alle Blicke waren auf Knuddeluff gerichtet. Die Luft knisterte vor Spannung.
    „Wir können nur mutmaßen, was sich im Schemengehölz zugetragen hat, aber die Theorie um das Zahnrad der Zeit liegt am nächsten, das ist wahr...“
    Alle Gildenmitglieder schwiegen und waren wie im Bann an Knuddeluff’s Worte gefesselt.
    „Oberwachtmeister Magnezone hat uns als Gilde darum gebeten, alle unerklärliche Vorfälle während unserer Arbeit zu melden und gleichzeitig die Augen nach dem Schurken dieser Schandtat offen zu halten. Es ist von äußerster Wichtigkeit, dass ihr jetzt nicht in Panik verfällt, sondern eurer Arbeit gewissenhaft nachkommt. Dann werden wir diese Krise gemeinsam meistern. Einverstanden?“
    Etwas zögernd, aber kräftiger denn je, jubelten alle Gildenmitglieder zu Knuddeluff’s aufbauender Rede.


    Beim gemeinsamen Abendessen, war wie zu erwarten, der Diebstahl des Zahnrads der Zeit das Tischgespräch des Tages. Jeder wollte zu dem Thema seine eigene Theorie beitragen, nur Raven hielt sich im Hintergrund. Als gerade Sonflora das Wort ergriff, stieß er mit dem Fuß Xell sanft gegen das Bein.
    „Hör mal Xell. Kannst du mich bitte mal bezüglich dieser Zahnrad-Geschichte aufklären?“, flüsterte er leise.
    „Matürnich. Wasch wilscht du wischen?“
    „Schluck am besten erst mal runter...“
    „Ah ja. Jetzt geht’s besser. Also was willst du wissen?“, fragte Xell.
    „Einfach alles. Ich hab von einem Zahnrad der Zeit noch nie etwas gehört...“
    Xell holte tief Luft.
    „Zahnräder der Zeit... sind mystische Gegenstände. Man erzählt sich, dass die Zahnräder die Zeit der Welt im Gleichgewicht halten.“
    „Zahnräder? Es gibt also mehrere?“, wollte Raven wissen.
    „So erzählt es zumindest die Legende. Die Zahnräder der Zeit sollen so gut in unserer Welt versteckt worden sein, dass noch nie jemand eines zu Gesicht bekommen haben soll. Bislang war es eher nur ein Mythos, eine Geschichte die man sich weitererzählt. Aber wenn man den Vorfall im Schemengehölz genauer betrachtet, wird die Geschichte wohl war sein...“


    „Aber warum sollte irgendjemand ein Zahnrad der Zeit stehlen wollen? Wusste er nicht was passieren würde, wenn er es entwendet?“, fragte Raven energisch.
    Xell ruhte einige Sekunden, bevor er antwortete.
    „Das weiß ich wirklich nicht...“
    „Meinst du, dass die anderen Zahnräder in Gefahr sind? Was glaubst du würde passieren, wenn alle Zahnräder geraubt würden?“, bohrte Raven nach.
    „Darüber möchte ich ehrlich gesagt gar nicht nachdenken... Aber mach dir keinen Kopf darüber. Ich wette, das Oberwachtmeister Magnezone den Schuldigen sehr schnell finden wird“, sagte Xell und wandte sich wieder seinem Teller zu.


    Raven war während des ganzen Abends sehr unbehaglich zumute sein. Sicher, Xell sagte ihm, er solle sich keine weiteren Gedanken darum machen, aber irgendwie ging ihm die Geschichte um die Zahnräder der Zeit nicht aus dem Kopf. Obwohl er von ihnen heute das erste Mal gehört hatte, kam ihm das alles merkwürdig vertraut vor.
    Es fiel ihm schwer, an diesem Abend ruhe zu finden. In seinen Träumen befand er sich erneut an einem Strand und wieder jagte er verzweifelt der Sonne nach. Ihm kam es vor, als würde er bereits seit Stunden rennen, als die Sonne wieder einmal krachend zu Boden fiel. Nichts um ihn herum rührte sich mehr. Die Wolken waren wie am Himmel festgenagelt und das Meer wie eingefroren. Er wollte fliehen, doch sein ganzer Körper wurde plötzlich ganz steif und begann sich langsam in Stein zu verwandeln. Verzweifelt und mit aller Kraft versuchte er sich zu wehren, doch war er binnen weniger Sekunden zu einer lebendigen Statue erstarrt.
    Schweißgebadet schreckte Raven aus seinem Schlaf. Sein Herz hämmerte wie verrückt.
    “Beruhig dich. Es war nur ein Traum. Nichts davon ist passiert. Nichts...“
    Sehnsüchtig warteten die Gildenmitglieder am nächsten Morgen auf neue Informationen zu den Vorfällen im Schemengehölz. Leider brachte Plaudagei nicht die erwünschte frohe Botschaft, die sie sich erhofft hatten.
    „Es gibt noch nichts Neues bezüglich der Geschehnissen im Schemengehölz. Tut mir Leid. Wenn es neue Infos gibt, werde ich sie euch sofort benachrichtigen. Bis dahin gehen wir unserer gewohnten Arbeit nach.“
    Der Jubelruf war an diesem Morgen deutlich schwächer als sonst. Missgelaunt strömten die Gildenmitglieder in alle Himmelsrichtungen davon.


    Raven und Xell wollten gerade die Leiter zum ersten Untergeschoss hochsteigen, als Plaudagei’s Stimme ertönte.
    „Team Kugelblitz zu mir bitte!“
    Verwirrt sahen sich Raven und Xell an. Sie hatten doch ihren Strafdienst mit gutem Gewissen abgesessen. Was konnte Plaudagei von ihnen wollen? Etwas verunsichert gingen sie zu Plaudagei zurück.
    „Gildenmeister Knuddeluff ist der Meinung, dass ihr soweit seid, eure erste offizielle Mission in der Gilde zu erfüllen.“
    Xell’s Augen strahlten vor Freude.
    „Wirklich? Wahnsinn!“
    „Ja wirklich. Eigentlich solltet ihr bereits früher auf diese Mission geschickt werden, aber wegen diesen Zwischenfällen...“ Plaudagei hüstelte gekünstelt. „Naja ihr wisst schon...“
    Raven wusste worauf Plaudagei anspielte: Der Vorfall mit Sonnflora’s Tagebuch und der Racheaktion an Krakeelo.
    „Auf jeden Fall...“ fuhr Plaudagei fort, „...sollt ihr auf eure erste Erkundungsmission geschickt werden. Zeigt mir doch mal bitte eure Wunderkarte.“
    Xell war vor Freude völlig aus dem Häuschen. Es fiel ihm in diesem Moment des Glücksgefühl sehr schwer, die Karte aus dem Schatzbeutel zu bergen. Nach langem Kampf hatte er sie endlich auf dem Boden ausgebreitet.
    „Dann lasst mich mal sehen... Eure Erkundung führt euch an diesen Ort“, sagte Plaudagei und deutete auf einen Punkt nordöstlich von Schatzstadt.
    „Was werden wir dort vorfinden?“, fragte Raven.
    „Tja, das sollt ihr ja herausfinden“, kicherte Plaudagei. „Wir möchten das ihr beide die Umgebung um den Wasserfall erkundet. Fühlt ihr euch dieser Aufgabe gewachsen?“
    „Na und ob!“, antworteten Raven und Xell im Chor.
    „Wunderbar. Dann legt am besten gleich los. Viel Glück. Bis heut Abend“, sagte Plaudagei und flatterte davon.


    „Wahnsinn Raven. Das ist unsere große Chance! Ich kann es immer noch nicht richtig fassen. Unsere erste offizielle Erkundung. Wahnsinn...Echt...“
    Angesicht der gestrigen Vorfälle im Schemengehölz, fiel es Raven etwas schwer, Xell’s Euphorie zu teilen, doch die vorausstehende Erkundung lenkte ihn zumindest etwas von der Zahnrad-Geschichte ab und dafür war er sehr dankbar.
    Es war eine ereignislose Reise. Sie folgten mit leichtem Rückenwind dem Verlauf eines Flusses und rätselten begeistert, was sie wohl erwarten würde.
    Das ferne Plätschern, kündigte ihre baldige Ankunft an ihrem Zielort an. Eindrucksvoll erhob sich der Wasserfall, den sie auf ihrer Karte gesehen hatten.
    Das hinabfallende Wasser schmetterte mit unglaublicher Wucht auf den Fluss, dem sie die ganze Zeit über gefolgt waren.


    „Ich würde vorschlagen, dass wir uns trennen. Jeder nimmt sich eine Seite des Flusses vor. Einverstanden?“, schlug Raven vor.
    „Gute Idee. Meld dich, sobald du etwas entdeckst“, antwortete Xell und machte sich auf, die linke Seite zu erkunden.
    Raven war gezwungen, eine geeigneten Übergang über den Fluss zu suchen. Die Strömung war viel zu stark, als das er einfach rüberschwimmen konnte.
    Nach kurzer Suche, fand er eine geeignete Überführung. Leichtfüßig sprang er über einige im Fluss liegende Felsen, und erreichte so endlich das andere Ufer.
    Sein Blick schweifte über die Landschaft. Wo sollte er anfangen zu suchen und nach was suchte er eigentlich? Eher ziellos wanderte Raven durch das flache Gras und drehte jeden Stein auf den Kopf. Nach etwa einer Stunde musste es sich eingestehen, dass es hier wohl nichts zu entdecken gab. Ein vorbeifliegender Smettbo-Schwarm was das Aufregendste, was er entdeckt hatte und das würde auf die Gilde sicherlich keinen Eindruck schinden, da war er sich sicher.


    Betrübt überquerte Raven erneut den Fluss und hoffte, dass zumindest Xell etwas interessantes zu berichten hatte. Xell’s enttäuschter Gesichtsausdruck bei ihrem Treffen, sagten ihm aber schon mehr als 1000 Worte.
    „Hast du etwa auch nichts erwähnenswertes gefunden?“, fragte Raven bestürzt.
    Xell schüttelte den Kopf.
    „Nein nichts. Außer du nennst das hier erwähnenswert...“
    Er hielt Raven eine magere Pirsifbeere vor die Augen, die er bei seiner Erkundung wohl gefunden hatte.
    „Ein sehr mageres Ergebnis unserer ersten Erkundung“, nuschelte Xell und stopfte sich die Pirsifbeere in den Mund.
    Er fluchte laut.
    „Hier muss es doch etwas geben. Das kann doch gar nicht sein!“
    „Wir haben alles abgesucht...“, meinte Raven trocken.
    Xell schaute sich fieberhaft um. Sie durften jetzt nicht einfach aufgeben. Mit dieser Schmach konnten sie nicht in die Gilde zurückkehren.
    „Vielleicht sollten wir den Fluss etwas unter die Lupe nehmen? Was meinst du?“, fragte Xell am Rande der Verzweiflung.
    „Versuch macht klug...“, seufzte Raven deprimiert.


    Gemeinsam suchten sie das Flussbett vom Ufer aus nach möglichen Eigentümlichkeiten ab. Schlussendlich mussten sie sich jedoch eingestehen, dass es an diesem Ort wohl einfach nichts gab.
    Gerade als sich Raven auf den Nachhauseweg machen wollte, rief Xell seinen Freund noch einmal zu sich zurück.
    „Schau mal“, sagte er und deutete auf einen Felsvorsprung der sich nur unweit vor dem Wasserfall erhob.
    „Ich glaub kaum, dass wir da oben noch was finden werden Xell...“, sagte Raven nüchtern.
    „Die Hoffnung stirbt immer zuletzt. Komm schon“, entgegnete Xell motiviert und kletterte den Vorsprung hinauf.
    Etwas wiederwillig tat es Raven seinem Freund gleich und erreichte kurze Zeit später die Klippe. Der Wasserfall war nun in greifbarer Nähe geraten. Bedrohlich schoss das Wasser hinab. Raven schüttelte den Kopf, doch Xell war immer noch nicht bereit, aufzugeben.
    „Vielleicht liegt ja du unten etwas im Wasser...?“, mutmaßte Xell und näherte sich immer weiter dem reißenden Wasserfall.
    WAMM!
    Xell haute es glatt von den Füßen. Das niederschmetternde Wasser ließ ihn einige Meter zurückpurzeln.
    „Bist du in Ordnung?“, fragte Raven erschrocken.
    „Boah! Wahnsinn!“, keuchte er und rappelte sich wieder auf. „Ich bin OK... Raven versuch du doch mal bitte, da vorne ins Wasser zu schauen. Vielleicht hast du ja mehr Glück als ich.“
    Raven hatte zwar keine Lust, einen solch spektakulären Sturz wie sein Freund hinzulegen, doch war es wohl die einzige Methode, seinen Freund davon zu überzeugen, dass es an diesem Ort einfach nichts gab. Behutsam näherte es sich dem Wasserfall.
    WAMM!
    Auch Raven wurde von den Wassermassen meterweit zurückgeworfen. Gerade als er versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, überkam ihn ein vertrautes, unbehagliches Gefühl. Ein plötzlicher Schwindelanfall, schnell aufkommende Finsternis und das unangenehme Gefühl in ein endloses Loch zu stürzen. Völlig schwerelos schwebte Raven über dem Felsvorsprung vor dem Wasserfall, der Verwunderlicherweise, völlig stumm floss. Doch Xell war nicht da. Stattdessen konnte er den schattierten Umriss einer Gestalt unter sich erkennen. Raven konnte nicht erkennen wer es war, doch kam ihm die Gestalt merkwürdig bekannt vor. Sie starrte einige Sekunden lang auf das Wasser, als sie offenbar völlig entschlossen in den Wasserfall hineinsprang. Doch sie wurde weder Strömung erfasst noch zurückgeschleudert, sondern verschwand einfach hinter der Wasserbarriere.


    Wieder machte sich die Finsternis um ihn breit. Raven schreckte auf. Das laute Tosen des Wasserfalls verriet ihm, dass er sich wieder auf seiner Erkundung mit Xell befand.
    Xell beugte sich über ihn.
    „Bist du in Ordnung?“


    Raven brauchte kurze Zeit, um überhaupt zu realisieren, was um ihn herum gerade geschehen war. Er hatte erneut einen Traum erlebt, in dem ein Wesen, offenbar ein Pokémon in den Wasserfall hineingesprungen ist. Aber wer war es und warum sollte man freiwillig in die Wassermassen hineinspringen? Außer...?“
    „Alles OK bei dir?“, fragte Xell erneut.
    „Der Wasserfall.“
    Xell runzelte die Stirn.
    „Häh? Was ist mit dem Wasserfall? Hat dir einen ganz schönen Schlag versetzt oder?“
    „Nein, darum geht es nicht“, antwortete Raven energisch. „Hinter dem Wasserfall... ist etwas versteckt.“
    „Wie kommst du denn plötzlich darauf? Woher willst du das wissen?“
    „Ich hatte... eine Vision“, sagte Raven und starrte auf den Wasserfall.
    „Eine Vision? Was hast du dieses mal gesehen?“, fragte Xell aufgeregt.
    Raven erzählte Xell von seinem eben erlebten Traum und von dem Pokémon, dass hinter dem Wasserfall verschwand.
    Xell schluckte und sah besorgt auf die Wassermassen, die von oben herabschossen.
    „Meinst du das ernst? Das sieht sehr gefährlich aus... Was passiert, wenn hinter dem Wasserfall nichts ist? Wir werden mit voller Wucht gegen die Felswand prallen...“
    „Erinnerst du dich? Ich hatte mit den anderen Visionen auch recht. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass der Wasserfall ein Geheimnis birgt“, antwortete Raven entschlossen.
    Xell starrte noch immer besorgt auf die Brandung vor ihm.
    „Gut. Ich vertraue dir Raven. Ich glaube an dich“, sagte er entschieden.
    „Lass uns gleichzeitig durch den Wasserfall springen. Und bloß nicht die Nerven verlieren, OK?“, sagte Raven und ging in Position.
    Xell stellte sich neben ihn und machte sich zum Spurt bereit.
    „Fertig?“
    Xell nickte stumm.
    „3...“
    „2...“
    „1...“
    „LOS!“
    Zeitgleich rannten Raven und Xell los. Nur noch wenige Schritte trennten sie vor den niederschmetternden Wassermassen. Jetzt oder nie: Sie sprangen gegen die Strömung.
    PLATSCH!
    Ein Schwall von kaltem Wasser ergoss sich über ihnen. Für einen kurzen Moment glaubte Raven, dass Xell mit seiner Vermutung tatsächlich recht hatte und sie jeden Moment gegen eine Felswand schlagen mussten, doch nur wenige Augenblicke später purzelten sie in eine versteckte Grotte. Xell war blitzschnell wieder auf den Beinen.



    Völlig baff schweifte sein Blick über die Höhle. Sie befanden sich in einer weiten Felsgrotte. Hinter ihnen brauste das Wasser weiterhin pausenlos hinab, während dutzende Stalagmiten kühles Wasser auf den Boden tropfen ließen.
    „Du hattest wirklich recht! Es ist eine versteckte Höhle! Wahnsinn!“
    „Um ehrlich zu sein: Mit diesem Ergebnis hatte ich selbst nicht gerechnet...“ musste Raven eingestehen, als er sich beeindruckt umschaute.
    „In Ordnung. Dann lass uns mal die Höhle erkunden“, sagte Xell außer sich vor Freude.


    Ihre Schritte halten laut in den weiten Gängen der Höhle. Völlig sprachlos wanderten sie an kunstvollen Steinformationen vorbei, die wohl vor Äonen von Jahren von der Höhle selbst geschaffen worden mussten.
    „Die hier sieht wie Plaudagei aus, findest du nicht?“, lachte Xell und deutete auf Gebilde, dass Plaudagei tatsächlich sehr ähnlich sah.
    Raven drehte den Kopf einige male und betrachtete die Skulptur von allen Seiten.
    Er grinste.
    „Jetzt wo du es sagst...“
    Ein schriller Schrei ließ Raven plötzlich aufschrecken. Xell sprang auf der Stelle auf und ab und fasste sich an sein Genick.
    „Was ist denn los? Ist etwas passiert?“, fragte Raven besorgt.
    „N-Nein alles in Ordnung“, keuchte Xell. „Mir ist eben nur etwas eiskaltes Wasser in den Nacken getropft. Da hab ich mich wohl etwas erschrocken...“
    Sein Blick wanderte an die Decke, an der zahlreiche Stalagmiten hinabhingen.
    „Lass uns weiter gehen“, schlug Raven vor.


    Etwa eine Stunde lang, folgten sie die verschlungenen Pfade der Höhle, als sich der Weg immer weiter ausdehnte.
    „Da vorne. Siehst du das? Da ist ein Licht!“, rief Xell und deutete auf eine große Öffnung vor ihnen.
    Hals über Kopf rannten sie der Lichtquelle entgegen. Völlig fassungslos blieben sie plötzlich stehen. Mit einem solchen Fund hatten sie nicht einmal im Traum gerechnet: Vor ihnen lag ein weiter Raum, in dem von allen Seiten die kostbarsten Juwelen fröhlich in allen Regenbogenfarben funkelten.
    Minutenlang brachten Raven und Xell kein Wort hinaus so perplex waren sie über ihre Entdeckung.
    „Wahnsinn Raven! Wahnsinn! Hast du so etwas schon mal gesehen?!“, stotterte Xell endlich nach 5 Minuten des Schweigens.
    Raven schüttelte stumm den Kopf, während er einen besonders prächtigen Topas bewunderte.
    „Unsere Freunde werden Bauklötze staunen, wenn wir ihnen davon berichten. Wir sollten aber schon mal einige Edelsteine mitnehmen. Sonst glauben die uns das nie“, sagte Xell.
    „Ich kann es ja selbst nicht glauben...“, lachte Raven.
    „Schau dir diesen Stein mal an, Raven. Das wäre doch das perfekte Souvenir. Meinst du nicht?“ Xell deutete auf ein besonders großes rosafarbiges Juwel.
    Mit aller Kraft versuchte er das Juwel aus dem Boden zu ziehen. Nach langem Kampf, musste er sich aber geschlagen geben.
    „Uff! Steckt zu fest im Boden...“, keuchte er. „Versuch du mal dein Glück Raven.“
    Raven schob, rüttelte und zerrte mit all seiner Kraft an dem Edelstein, doch auch er musste schließlich kapitulieren.
    „So einfach gebe ich mich nicht geschlagen. Lass mich noch einmal versuchen Raven“, sagte Xell entschlossen und schob Raven sanft zur Seite.
    Und wieder geschah es. Raven verlor den Boden unter den Füßen und wurde in eine neue Vision hineingezogen. Erneut sah er den merkwürdig vertauten Schatten eines Pokémons. Auch es kämpfte verbissen mit dem Edelstein, als plötzlich ein gewaltiger Wasserschwall die Höhle überflutete und das Pokémon mit sich riss.


    So schnell wie die Vision kam, war sie auch wieder vorbei und Raven befand sich wieder mit Xell in dem juwelenbesetzten Raum. Sein Freund mühte sich noch immer, das Juwel aus dem Boden zu bergen.
    Raven ließ sich seine Vision noch einmal vor Auge führen.
    >“Was ist da eben passiert?“ Warum wurde in meiner Vision die Höhle auf einmal überflutet. Was sollte das?“<
    „Rückt und rührt sich nicht. Na warte! Ich krieg dich!“, rief Xell und packte noch einmal besonders fest zu.
    Plötzlich fiel es Raven wie Schuppen von den Augen.
    „XELL!!! STOPP!!!“
    Doch es war bereits zu spät. Ein lautes Rauschen kündigte die nahende Katastrophe bereits an. Eine gigantische Flutwelle schoss blitzschnell auf die beiden zu, erfasste sie und riss sie mit sich mit.


    Raven kämpfte minutenlang verbissen gegen die Wassermassen, um den Kopf über Wasser zu halten. Mit unglaublicher Gewalt schlugen sie gegen eine Wand. Offenbar hatte die Höhle ihr Ende gefunden. Raven wurde es schnell klar: Sie würden ertrinken. Doch die Wassermassen bahnten sich ihren Weg nach oben. Es stieg immer höher, immer höher, bis...
    Tageslicht!
    Über eine enge Öffnung wurden Raven und Xell aus der Höhle hinausgeschleudert.



    Klatschend fielen sie in einen großen Teich. Raven spotzte erschöpft angenehm warmes Wasser.
    Keuchend sah er sich um. Xell hatte es offenbar gut überstanden und schaute zu ihm hinüber. Um sie herum tummelten sich einige Pokémon, die sie bereits von so manchem Bummel in Schatzstadt kannten.
    „Seid ihr beide in Ordnung?“, fragte ein Schildkrötenähnliches Pokémon, welches sich auf einem Felsvorsprung sonnte.
    „J-Ja. Ich glaube schon...“, keuchte Raven. „Wo sind wir?“
    „Das sind die heißen Quellen von Schatzstadt“, antwortete er. „Ein Ort zum entspannen und um wieder frische Energie zu tanken. Ihr habt uns ganz schön erschreckt, als ihr aus heiterem Himmel einfach so ins Wasser geplumpst seid.“
    „Entschuldigung. War keine Absicht...“ japste Xell. „Wir waren gerade auf einer Erkundung, als uns eine Flutwelle überraschte und uns hierher getragen hat.“
    „Puh! Ihr solltet euch vielleicht hier noch eine Weile ausruhen, bevor ihr euch auf den Rückweg macht. Das warme Wasser der Quelle wird euch sicher gut tun“, meinte das Pokémon auf dem Felsen.


    Nach kurzer Rast machten sich Raven und Xell auf den Nachhauseweg.
    „Ich möchte in den nächsten Tagen keinen Tropfen Wasser mehr sehen...“, murmelte Xell.
    „Ich ehrlich gesagt auch nicht. Es ist eine Schande, dass wir überhaupt keinen Edelstein mitnehmen konnten. Glaubst du, die anderen werden uns diese Geschichte glauben?“, fragte Raven.
    „Sie müssen einfach“, sagte Xell entschlossen.


    Am späten Nachmittag erreichten Raven und Xell endlich die Gilde. Sogleich machten sie sich auf die Suche nach Plaudagei, um ihm ihre Erlebnisse zu schildern.
    Wie sich herausstellte, machte sich Raven unnötig Gedanken, denn Plaudagei war von ihrer Entdeckung sichtlich beeindruckt.
    „Eine Höhle hinter dem Wasserfall? Rand gefüllt mit Juwelen? Wirklich? Das ist ja fantastisch! Unglaublich! Wie um alles in der Welt seid ihr nur auf die Idee gekommen, hinter dem Wasserfall zu suchen? Das ist eine wirklich bahnbrechende Entdeckung! Niemand hatte davon nur die geringste Ahnung!“
    Raven verfiel in Gedanken.
    >“Niemand? Nein! Jemand wusste davon. Ich hatte es in meiner Vision gesehen. Aber wer war das? Ich kenne ihn. Da bin ich mir absolut sicher!“
    Gedanklich führte er sich das Pokémon noch einmal vor Augen. Woher kannte er es? So viele Bekannte hatte er ja nicht. Außer Xell, einigen Stadtbewohnern und den Gildenmitgliedern natürlich...
    Plötzlich begriff er. Warum hatte er es nicht bereits früher erkannt. Es konnte niemand anderes sein als Gildenmeister Knuddeluff. Die Form war einfach unverwechselbar.
    „...wartet nur bis der Gildenmeister davon erfährt. Er wird sicherlich außer sich vor Freude über eure Entdeckung sein.“
    „Ähm Plaudagei. Eine Frage: Kann es sein, dass Knuddeluff selbst schon einmal den Wasserfall erkundet hat?“, fragte Raven schüchtern.
    „Wie kommst du darauf? Er hätte euch dann ja wohl nicht auf diese Erkundung geschickt oder?“, antwortete Plaudagei verwundert.
    „Bitte tu mir den Gefallen und frag ihn einmal. Stell mir keine Fragen warum. Ich bitte dich lediglich um diesen einen Gefallen“, bettelte Raven.
    Plaudagei schüttelte verwundert den Kopf, aber kam Raven’s Bitte nach. Für kurze Zeit verschwand er in Knuddeluff’ Quartier.


    „Was soll das?“, fragte Xell, als Plaudagei die Tür hinter sich zuschlug.
    „Erklär ich dir später. Jetzt will ich es erst selbst wissen“, antwortete Raven.
    Die Minuten verronnen. Endlich öffnete sich die Tür und Plaudagei trat hervor.
    Er hatte einen merkwürdig verdutzten Gesichtsausdruck.
    „Und?“, löcherte Raven.
    „Öhm, also...“
    „Ja???“, bohrte Raven nach.
    „Als ich Knuddeluff von eurer Entdeckung berichtete, wurde er plötzlich sehr nachdenklich. Auf einmal fiel ihm ein, dass er tatsächlich vor langer Zeit den Wasserfall erkundet hatte.“
    Xell klappte der Kiefer nach unten.
    „Was? Dann haben wir ja gar keine neue Entdeckung gemacht, oder?“, sagte er betrübt.
    „Wenn man es so sieht, dann hast du wohl recht“, antwortete Plaudagei trocken.
    Xell ließ enttäuscht den Kopf hängen.


    Nach dem Abendessen saßen Raven und Xell noch lange Zeit in ihrem Gildenquartier.
    Raven erklärte Xell endlich, dass er die Gestalt aus seinen Visionen als ihren Gildenmeister identifizieren konnte. Anschließend ließen sie den vergangenen Tag noch einmal Revue passieren. Xell seufzte einige male tief, als sie über ihren Ausflug in die Wasserfallhöhle redeten.
    „Keinen Schatz und keine wirklich neue Entdeckung...“


    Raven schwieg.
    „Aber weißt du was? Es war echt aufregend. Auch wenn wir für die Gilde keinen bahnbrechenden Fund getan haben, so haben wir zumindest für uns eine gewaltige Entdeckung gemacht. Findest du nicht?“
    Raven war froh, dass Xell endlich wieder guter Dinge war.
    „Ja, da hast du auf jeden Fall Recht.“
    „Ich weiß nicht, ob ich es dir schon einmal gesagt habe, aber danke! Wirklich“, nuschelte Xell verlegen.
    „Wofür denn?“, fragte Raven verdutzt.
    „Nur durch dich, bin ich zu einem Erkunder geworden. Wärst du nicht bei mir gewesen, würde ich vielleicht immer noch vor der Gilde stehen und darauf hoffen, dass sie mich zu ihnen einladen und ich hätte all diese Abenteuer nicht erlebt. Alles nur dank dir, Raven.“
    Raven errötete. Er wusste gar nicht was er sagen sollte.
    „Ich bin mir absolut sicher, dass wir gemeinsam eines Tages das Rätsel um mein Reliktfragment lüften werden. Auf diesen Tag freue ich mich jetzt schon.“ Er umklammerte das Reliktfragment und betrachtete, wie der Mond an ihnen vorbeizog.
    „Ja, eines Tages... Achja! Mir ist noch etwas wichtiges eingefallen: Deine Schwindelanfälle!“
    „Was ist damit?“, fragte Raven neugierig.
    „Ist dir schon einmal aufgefallen, dass du immer wieder Visionen bekommst, wenn du etwas berührst? Damals die Sache mit Traumato. Da hast du...“
    „...erst Azurill berührt und dann Traumato angerempelt und hatte jedes mal eine Vision“ beendete Raven den Satz. „Stimmt du hast recht!“
    „Und heute ebenso. Als du den Wasserfall berührt hattest, bekamst du deine erste Vision und die zweite, als du den Edelstein im Inneren der Höhle berührt hattest. Erinnerst du dich?“
    „Ja du hast recht!“, rief Raven.
    „Da ist noch etwas: Jedes mal, wenn du etwas berührst und eine Vision bekommst, siehst du etwas, dass mit dieser Person oder Gegenstand in Verbindung steht. Aber komischerweise siehst du manchmal in die Vergangenheit und manchmal in die Zukunft. Die Visionen von Traumato waren Ereignisse, die noch geschehen werden und die Visionen von heute, waren bereits passiert. Ganz ehrlich: Ich finde deine Gabe beeindruckend. Sie wird uns sicherlich noch bei vielen Gelegenheiten von großen Nutzen sein.“
    „Ich fühle mich dennoch etwas unwohl dabei...“, antwortete Raven.
    „Ich glaube mir wäre auch nicht ganz Wohl bei dem Gedanken, in eine andere Welt gerissen zu werden. Vielleicht finden wir ja im Laufe der Zeit noch mehr darüber raus“, sagte Xell gähnend.
    „Ja, vielleicht...“, sagte Raven und legte sich in sein Bett.
    „Morgen wird sicherlich wieder ein aufregender Tag. Ich hoffe man schickt uns wieder auf eine Erkundung. Für heute habe ich aber wirklich genug. Ich bin hundemüde. Ich werde mich mal aufs Ohr hauen. Schlaf gut Raven.“
    „Du auch.“


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  • Kapitel VI.: Team Totenkopf



    Hinter Raven lag eine wahrhaft erholsame Nacht. Es war seit langer Zeit die erste Nacht, in der er nicht von Alpträumen verfolgt wurde. Frisch ausgeruht war er sogar einige Minuten früher wach als sein Zimmergenosse und das sollte wirklich etwas heißen.
    „Was ist bloß los mit dir? So energiegeladen habe ich dich morgens ja noch nie erlebt“, sagte Xell ganz erstaunt, als sie sich gemeinsam zur morgendlichen Gildeneinweisung aufmachten.
    „Ähm... Ich bin eben sehr aufgeregt, was für heute ansteht“, antwortete Raven.
    Raven hatte Xell bislang noch nichts von seinen Alpträumen erzählt. Warum auch? Jeder hat doch hin und wieder mal ein paar schlechte Träume. Ist doch nichts besonderes? Xell würde sich nur unnötig Sorgen um ihn machen und das wollte Raven nicht.


    Keiner der Gildenmitglieder hatte sich Hoffnungen gemacht, das Plaudagei an diesem Morgen irgendwelche neuen Infos zu dem Vorfall im Schemengehölz hatte. Seine Worte vom Vortag waren noch in ihrem Gedächtnis verankert. Doch hatte Plaudagei dafür eine andere, frohe Botschaft parat.
    „Dürfte ich bitte um eure Aufmerksamkeit bitten? Ich habe eine wichtige Nachricht vom Gildenmeister: Gildenmeister Knuddeluff ist der Meinung, dass es mal wieder an der Zeit wäre, mit der Gilde eine Expedition durchzuführen.“
    Eine Welle von tosenden Jubelrufen der Gildenmitgliedern war die Antwort. Auch Raven und Xell ließen sich von der Euphorie ihrer Kameraden mitreißen, auch wenn sie noch nicht so richtig wussten, um was es bei einer Expedition handelt. Sie brauchten gar nicht zu nach zu fragen, denn die Antwort kam ganz von selbst.
    „Wie schon bei den vergangenen Expeditionen wählt der Gildenmeister eine Hand voll auserwählte Gildenmitglieder aus, die ihn bei dieser Erkundung begleiten. Angesichts eurer Leistung der vergangenen und der kommenden Tage, steigt eure Chance bei dieser Entdeckungsreise dabei zu sein. Legt euch also wie immer ins Zeug und gebt euer bestes.“
    „Wo soll es denn dieses mal hingehen, Plaudagei?“, fragte Krakeelo.
    „Der Gildenmeister würde gerne den Nebelsee im Osten erkunden. Schon zahlreiche Erkunder haben versucht, die Geheimnisse dieses mysteriösen Ortes zu lüften, doch bisher ohne Erfolg. Jetzt wollen wir unser Glück versuchen“, antwortete Plaudagei. „Noch Fragen?“
    „Ja: Wann soll die Expedition stattfinden? Steht schon ein fester Termin an?“, wollte Xell wissen.
    „In den kommenden Tagen. Der Gildenmeister möchte euch noch etwas Zeit geben, eure Leistungen zu verbessern und euch auf diese Unternehmung vorzubereiten. Wäre das alles?“
    Plaudagei’s Blick schweifte über die Gildenmitglieder. „Gut, dann legt euch mal ordentlich ins Zeug!“
    „HURRA!“


    Der Eifer und Enthusiasmus unter den Gildenmitglieder war deutlich zu spüren. Verständlicherweise wollte niemand sich diese Chance entgehen lassen. Im Nu waren an diesem Morgen die Steckzettel des Job- und Ganoveninfobretts ratzekahl leergefegt. Doch auch Digdri war nicht zu bremsen: Unermüdlich sorgte er für regelmäßigen Nachschub an Aufträgen. Auch Krakeelo und Digda saßen während ihres Wachdienstes nicht auf der faulen Haut: Noch nie hatte Raven Krakeelo so in der Gilde rumspurten gesehen. Strebsam eilte Krakeelo gerade an Raven und Xell vorbei um einigen Besuchern das Tor zur Gilde zu öffnen und hinterließ beim rennen sogar einige kleine Staubwölkchen.
    „Puh! Das wird nicht einfach, wenn wir da mithalten wollen“, sagte Xell teils beeindruckt teils entmutigt. „Glaubst du wir haben eine Chance?“
    „Wenn wir weiterhin hier rumstehen, wahrscheinlich nicht“, scherzte Raven. „Lass uns mal lieber die Infobretter abgrasen, bevor keine Aufträge mehr da sind. Geben wir einfach unser bestes wie immer, dann wird’s schon werden.“
    Xell strahlte vor Freude.
    „Ja du hast Recht. Na dann mal ran an den Speck!“


    Schnurstracks ging es die Leiter zur ersten Gildenebene hinauf. Gerade als sich den Weg zum Job-Infobrett einschlagen wollten, blieben sie beide ruckartig stehen.
    Zwei Gestalten waren vor ihnen aufgetaucht. Fies grinsend schwebten sie vor ihnen in der Luft. Raven kannte die beiden, doch fiel es ihm im ersten Augenblick nicht ein, wo er diese beiden Pokémon schon einmal gesehen hatte.
    „Wer hätte gedacht, dass wir zwei Memmen euch ausgerechnet hier treffen würde“, sagte einer von beiden. Ihr grinsen wurde immer breiter.
    Jetzt fiel Raven ein, woher er die beiden kannte: Es waren Zubat und Smogon. Die beiden Pokémon, die Xell’s Reliktfragment an dem Tag seines Erwachens als Pokémon gestohlen hatten.
    Xell verbarg sich etwas im Schatten seines Freundes.
    „Was wollt ihr beide hier?“, fragte Raven kühl. „Seid ihr etwa wieder scharf auf eine Abreibung?“
    Smogon’s grinsen erstarb.
    „Hast du das gehört Zubat? Ganz schön Vorlaut der Kleine.“
    „Ja, da hast du recht“, antwortete Zubat. Auch er grinste nicht mehr.
    Smogon sah sich verstohlen um, ob sie ungestört waren.
    „Dein Vorlautes Mundwerk wird dir schon noch vergehen Freundchen. Das letzte Mal hattet ihr nämlich nur Glück, merk dir das gefälligst!“
    „So? Dann lasst uns das doch ein für alle mal aus der Welt schaffen! Warum nicht hier und gleich?“, entgegnete Raven wutentbrannt und ging in Angriffsstellung über.
    Smogon lächelte matt.
    „Ihr seid doch Mitglieder der Gilde oder? Wollt ihr wirklich uns “arme“ Besucher einfach angreifen? Was werden die anderen wohl sagen. Ich glaube nicht, dass sie begeistert sein werden oder was meinst du Zubat?“
    Zubat lachte hämisch.
    „Oh ja. Da wird es nur Ärger für euch beide geben. Wir kriegen hingegen eine schöne Entschuldigungsprämie von eurem Chef und sind fein raus. Was ihr auch macht: Ihr seid die Verlierer.“


    In Raven ging ein unerbittlicher Konflikt vor: Auf der einen Seite würde er alles dafür geben, die dämlichen Grimassen in Smogon’s und Zubat’s Gesicht unter ein paar blauen Flecken zu begraben, doch auf der anderen Seite würde es sicher Strafdienst hageln und die Expedition könnten sie auch mit Sicherheit vergessen. Zähneknirschend gab er seine Angriffsstellung auf.
    „So ist’s brav“, sagte Smogon triumphierend.
    In Raven brodelte es immer noch.
    >“Denk an die Expedition! Denk an die Expedition! Die Beiden sind es nicht wert...“<, musste er sich selbst ununterbrochen in Gedanken zureden.
    Xell meldete sich zum ersten Mal zu Wort, hielt sich aber weiterhin im Verborgenen hinter Raven auf.
    „W-Was wollt ihr eigentlich hier?“
    „Oh er kann sogar reden. Hätte ich wirklich nicht gedacht. Nun dann will ich mal nicht so sein. Aber normalerweise solltet ihr von selbst draufkommen. Wir sind nämlich wie viele anderen Besucher hier auch ein Erkundungsteam und suchen etwas Arbeit.“, erklärte Smogon.
    „Ihr wollt Erkunder sein? Das soll doch wohl ein Witz sein?“, spottete Raven.
    „Bessere Erkunder als ihr jemals sein werdet“; entgegnete Zubat. „Auch wenn unsere Methoden sich wahrscheinlich stark von euren unterscheiden.“
    „Das halte ich ja für ein Gerücht. Aber sei es wie es sei: Ihr könnt euch die Mühe sparen, hier nach Aufträgen zu suchen. Alle Gildenmitglieder werden verbissen um jeden einzelnen Auftrag kämpfen, um sich für die kommende Expedition zu qualifizieren“, antwortete Raven.
    Smogon schaute plötzlich sehr nachdenklich drein.
    „Expedition sagst du? Interessant. Das wird unseren Boss sicher interessieren.“
    „Euren Boss?“, wiederholte Raven.
    „Ja, der Anführer von Team Totenkopf. Der allseits gefürchtete Skunktank. Er ist übrigens um einiges stärker als wir und würde mit euch beiden kurzerhand den Boden aufwischen.“
    Xell schluckte.
    „Oh wenn man vom Teufel spricht, dann kommt er schon. Macht Platz für unseren Boss!“


    Ein bestialischer Gestank stieg in Raven’s Nase. Ein Blick über seine Schulter verriet ihm sofort den Ursprung der Verpestung: Ein Koloss von einem Pokémon kam auf sie zugestapft. Es hatte ein lila farbiges struppiges Fell, eine buschige Rute, ein sehr eingedelltes Gesicht und ein ebenso unsympathischen Grinsen wie seine beiden Spiesgesellen.
    Xell hatte inzwischen etwas Abstand zu seinem Freund genommen , doch Raven hielt unbeeindruckt die Stellung.
    „Hast du nicht gehört? Du sollst das Feld räumen“, rief Zubat Raven entgegen.
    Raven rührte sich keinen Meter.
    Zubat sah aus, als wollte er sich gleich auf Raven stürzen, als sich Skunktank zu Wort meldete.
    „Gib dir keine Mühe Zubat“ grunzte er.
    Raven wusste gar nicht, wie um ihn geschieht, als Skunktank eine kurze Bewegung mit seine Rute vollzog. Ein Schwall der Übelriechesten Dämpfe, die er jemals gerochen hatte schleuderten Raven meterweit rücklings. Er wurde bewusstlos.
    „Oh, Raven!“


    Xell wollte gerade seinem Freund zu Hilfe eilen, als sich Skunktank in eine Richtung drehte.
    „Oh du etwa auch?“
    Xell schluckte heftig. Er wich einige Schritte zurück.
    „Welch ein artiges Pokémon“, spottete Skunktank. „Nun wie sieht’s aus ihr beiden? Gibt’s hier einige Jobs die ordentlich Kohle einbringen?“
    „Nö. Die besten Jobs sind wahrscheinlich schon vergeben. Nur Kleinkram ist hier übrig. Dafür gibt es aber brandheiße Infos Boss“, antwortete Smogon.
    „So? Dann lass mal hören.“
    Skunktank, Smogon und Zubat schlossen sich zu einer Traube zusammen und begannen zu tuscheln. Xell stand immer noch abseits und blickte besorgt auf die bewusstlose Gestalt seines Freundes.
    „Das ist wie für uns geschaffen. Gute Arbeit ihr zwei“, sagte Skunktank. „Nun wir verabschieden uns für heute. Man sieht sich.“
    Skunktank kletterte die Leiter hinauf.
    „Bis bald ihr Waschlappen“, spottete Zubat und folgte seinem Anführer.
    „Ja man riecht sich später“, lachte Smogon und tat es seinen beiden Freunden gleich.


    Pünktlich zu der Verabschiedung von Team Totenkopf hörten auch Xell’s Knie auf zu zittern. Rasch rannte er zu seinem Freund.
    „Raven?! Raven?! Bist du in Ordnung? Komm schon wach auf!“
    Er rüttelte verzweifelt an dem regungslosen Körper Raven’s.
    Raven begann kräftig zu röcheln. Nach einem einminütigen Hustenanfall, war er wieder auf den Beinen. Er war kreidebleich.
    „Dem Himmel sei Dank“, sagte Xell erleichtert. „Geht es dir gut?“
    „Geht schon wieder“, hustete Raven. Sein Blick schweifte durch den Raum. „Wo sie die Typen von eben hin?“
    „Die hatten es plötzlich ganz eilig. Keine Ahnung wo die hingegangen sind. Aber wo sie auch hin sind: Hoffentlich weit weg...“
    Xell’s Gesichtsausdruck wandelte sich sekundenschnell von erleichtert zu schuldbewusst.
    „Du, hör mal, wegen vorhin...Ich...“
    Raven wusste sofort, auf was sein Freund hinaus wollte.
    „Mach dir keinen Kopf. Vielleicht war es auch besser so. Du hast ja gesehen, was die mit mir angestellt haben“, antwortete Raven einsichtig, doch auch etwas widerwillig.
    „Schon...Aber...“
    „Es ist in Ordnung Xell“, sagte Raven entschieden. „Verschwenden wir unsere Zeit nicht mehr mit diesem Pöbel, sondern stecken unsere Energie in die Vorbereitungen für die bevorstehende Expedition. Meinst du nicht?“
    Xell nickte, schaute aber weiterhin recht betrückt drein.


    Der übrige Tag verflog wie im Nu. Raven und Xell waren auf dem Nachhauseweg von einem langen und harten Arbeitstag.
    „Nun lach doch mal wieder“, sagte Raven. „Man könnte meinen, dass du vorhin die Abreibung von Skunktank kassiert hast. Im Grunde genommen müsste ich sauer sein und nicht du.“
    Xell starrte betrübt auf den Boden, während er lief.
    „Ich war dir gegenüber ein echt mieser Freund. In der bittersten Stunde hab ich dich einfach im Stich gelassen. Ich verdiene deine Freundschaft gar nicht...“
    Raven hielt abrupt an.
    „Jetzt reicht es aber Xell. So etwas will ich nie wieder von dir hören! Du warst mir oft genug ein wahrer Freund. Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, wie ich das alles jemals bei dir gut machen kann.“
    „Das sagst du doch einfach nur so...“, schluchzte Xell, der inzwischen auch angehalten hatte.
    „Denk doch einmal an unser erstes Treffen Xell. Ich möchte ehrlich gar nicht darüber nachdenken was passiert wäre, wenn ich dich nicht damals am Strand nicht getroffen hätte. Oder als du mich auf unserer gemeinsamen Suche nach Spoink’s Perle gerettet hast: Du warst bisher immer für mich da und auch wenn du heute etwas gezögert hattest, warst du trotzdem rechtzeitig zur Stelle.“
    Raven setzte sich wieder in Bewegung. Xell trottete langsam hinterher.
    „Das ist es ja gerade! Wenn ich vorhin nicht solche Angst gehabt hätte dann...“
    Raven drehte sich um uns suchte den Blick seines Freundes, doch der ließ immer noch den Kopf hängen.
    „Was dann? Glaubst du etwas die hätten gezögert mit dir das Selbe anzustellen wie mit mir? Stell dir mal vor was passiert wäre, wenn wir beide ohnmächtig in der Gilde rumgelegen hätten. Es hätte eine Menge peinlicher Fragen gegeben, wir hätten vielleicht heute überhaupt keinen Auftrag mehr erledigen können und unsere Chancen mit auf die Expedition zu gehen wären auch zunichte gemacht worden.. Im Grunde genommen hast du genau das Richtige getan, auch wenn es in deinen Augen vielleicht feige war.“
    Endlich gab es Xell auf, auf den Boden vor ihn zu starren. Seine Augen waren verquollen und einige Tränen spiegelten sich, doch er lächelte sanft.
    „Raven...Danke...“
    „Du brauchst mir nicht zu danken. Im Gegenteil: Ich danke dir. Dafür, dass du mir immer ein guter Freund warst.“


    „Pokémon entdeckt! Pokémon entdeckt!“
    „Wessen Fußabdruck? Wessen Fußabdruck?“
    Ohne es wirklich realisiert zu haben, hatten Raven und Xell mittlerweile den Wachposten der Gilde erreicht.
    „Es sind Raven und Xell! Es sind Raven und Xell!“
    In nur wenigen Sekunden hatte sich auch schon der Eingang zur Gilde geöffnet. Nur unschwer konnten Raven und Xell erkennen, dass Krakeelo noch immer so unermüdlich wie am Morgen arbeitete.
    „Hallo Krakeelo. Wie geht´s? Du siehst ganz schön mitgenommen aus, weißt du das?“, sagte Raven.
    Krakeelo benötigte erst einige Sekunden des Verschnaufens bevor er antworten konnte.
    „Hallo ihr zwei...Ja Digda und ich geben natürlich unser bestes. Wir wollen schließlich beide auf die Expedition. Ihr seht aber auch nicht gerade taufrisch aus...“
    Sein Blick fiel auf Xell, dessen Augen immer noch deutlich geschwollen und rot unterlaufen waren.
    „Oh das? Ja waren heute auch fleißig...“, reimte Raven auf die Schnelle zusammen. „Komm Xell.“
    „Oh bevor ich es vergesse: Plaudagei hat eine Versammlung aller Gildenmitglieder vor dem Abendessen einberufen. Treffpunkt wie immer vor Knuddeluff’s Quartier“, rief ihnen Krakeelo nach.
    Er zuckte mit den Schultern.
    „Ihr braucht mich gar nicht so fragend anzusehen. Ich weiß selbst von nichts...“


    Raven schlug Xell vor, sich erst einmal zu waschen. Er wäre mit seinen angeschwollenen Augen in der Gilde aufgefallen wie ein buntes Hunduster.
    „Jetzt sieht doch die Welt gleich ganz anders aus oder nicht?“, sagte Raven und musterte seinen Freund.
    Xell lächelte.
    „Wird langsam Zeit. Wir sollten noch fix unsere Belohnung für unsere Aufträge abholen und dann vor Knuddeluff’s Quartier Stellung nehmen“, schlug Raven vor.
    Kurze Zeit später hatten sie sich auch schon vor Knuddeluff’s Quartier eingefunden. Neben Bidiza und ihnen war nur ein anderes Pokémon bereits anwesend, von dem sie wussten, dass es sich um ein weiteres Gildenmitglied namens Krebscorps handelte.
    Krebscorps und Bidiza schienen in einer eifrigen Diskussion miteinander zu sein.
    „Oh hallo ihr zwei“, grüßte Bidiza. „Krebscorps und ich rätseln gerade darüber, warum wir uns hier versammeln sollen. Habt ihr vielleicht eine Idee?“
    Xell’s Beklommenheit hatte sich nun endlich entgültig verabschiedet. Begeistert schloss er sich ihrer Diskussion an.
    „Ich bin ja immer noch der Meinung, dass Plaudagei endlich Neuigkeiten über den Zwischenfall im Schemengehölz hat“, wiederholte Krebscorps jetzt mindestens zum dritten mal.
    „Mir wäre es lieber, wenn der Gildenmeister bereits seine Entscheidung gefällt hätte und uns gleich mitteilt, wer ihn bei der Expedition begleiten darf“, schlug Xell vor.
    Immer mehr Gildenmitglieder trafen mittlerweile am Treffpunkt ein. Auch sie konnten es sich nicht nehmen lassen, ihre Meinung zu dem Thema mit den anderen zu teilen. Schon bald hatten sie die irrwitzigsten Verschwörungstheorien ausgegraben. Eine unglaubwürdiger als die andere.
    Auch Knuddeluff hatte seine Position vor seinem Gildenquartier eingenommen. Vergnügt lauschte er dem Einfallsreichtum seiner Gildenkameraden.


    Mit der Ankunft von Krakeelo und Didga war die Gilde nun endlich komplett. Sekundenschnell erstarb jegliche Diskussion im Raum und alle Augen waren auf Plaudagei gerichtet.


    Plaudagei räusperte sich.
    „Wie ihr hoffentlich noch nicht vergessen habt, findet in naher Zukunft eine Gildenexpedition statt.“
    „Ich wusste es!“, rief Xell triumphierend. „Ihr habt bereits die Auswahl getroffen! Also wer darf mit?“
    Allgemeines Murmeln machte sich unter den Gildenmitgliedern breit.
    „Ruhe! Wenn du mich weiterhin unterbrichst, wirst du garantiert nicht mitkommen!“, entgegnete Plaudagei aufgebracht.
    Xell schluckte und schrumpfte einige Zentimeter zusammen.
    „Also wo war ich stehen geblieben...? Achja: Wir haben von einem sehr erfahrenen Erkunderteam ihre Hilfe angeboten bekommen. Da wir natürlich möchten, dass unsere Expedition ein voller Erfolg wird, haben wir ihre Hilfe dankend angenommen.“
    Raven schwante bereits was auf sie zukommen würde. Zum ersten Mal in seinem Leben hoffte er, dass seine Intuition ihn dieses mal im Stich lassen würde. Doch das Kribbeln in seiner Nase bestätigte bereits seine Vorahnung. Niemand schien seine Unmut zu teilen. Von allen Seiten konnte er die Ekstase seiner Kameraden spüren.
    „Darf ich euch nun unsere neuen Verbündeten vorstellen: Team Totenkopf.“
    Raven verkrampfte das Gesicht. Seine schlimmste Vermutung hatte sich bewahrheitet. Auch Xell war sichtlich schockiert. Er sah aus, als hätte er gerade in eine saure Zitrone gebissen und schien der Ohnmacht nahe, als die drei Gestalten die Leiter hinunterstiegen und sich neben Plaudagei gesellten. Es waren Smogon, Zubat und Skunktank.
    „Ich bin entzückt euch hier Skunktank, Smogon und Zubat vom Team Totenkopf vorzustellen. Sie sind alle drei erfahrene Erkunder und werden uns bei unserer bevorstehenden Expedition eine große Hilfe sein“, sagte Plaudagei und schlug feierlich seine Flügel zusammen.



    Zu Raven’s und Xell’s stiller Freude, hielt sich die Begeisterung der anderen Gildenmitglieder in Grenzen. Niemand von ihnen wollte sich so richtig über ihre neuen Verbündeten freuen. Vielleicht lag es an dem hässlichen Grinsen, dem unsympathisch klingenden Teamnamen, der unangenehmen Aura die sie ausstrahlten oder möglicherweise auch nur an dem beisenden Gestank, der ununterbrochen von Skunktank ausging.
    „Auf gute Zusammenarbeit“ sagte Skunktank unbeirrt und konnte eine hämische Grimasse in Richtung Raven und Xell nicht unterdrücken.
    Unheilvolles Geflüster machte sich unter den Gildenmitglieder breit.
    „Die Sache stinkt doch zum Himmel...“, meinte Krakeelo.
    „Wenn die mitkommen, möchte ich ehrlich gesagt gar nicht mehr auf die Expedition mit...“, murmelte Sonflora.
    „Mir wären Neuigkeiten zum Schemengehölz lieber gewesen...“, tuschelte Krebscorps in Bidiza’s Ohr.
    „Seid ihr etwa nicht über die Entscheidung des Gildenmeisters erfreut?“, fragte Plaudagei erschrocken.
    Allgemeines Stillschweigen. Offenbar wollte ihm niemand auf diese Frage eine ehrliche Antwort geben, bis Sonnflora sich etwas unsicher zu Wort meldete.
    „Also weißt du... Um ehrlich zu sein...Ieek! Was ist denn nun los???“
    Wie aus heiterem Himmel fing die Erde zu Beben an. Von der Decke rieselte es feinsten Staub und die Fenster klirrten bedrohlich. Alle Gildenmitglieder einschließlich Team Totenkopf warfen sich auf den Boden in der Hoffnung, das Beben dort sicher zu überstehen. Nur Plaudagei und Knuddeluff waren noch auf den Beinen. Plaudagei schien den Ursprung der herannahenden Katastrophe bereits zu erahnen. Blick fiel auf Knuddeluff, der eine merkwürdig verkrampfte Pose eingenommen hatte und wie Espenlaub zitterte. Er schien kurz vor einem Wutausbruch zu sein.
    Plaudagei reagierte sofort.
    „Oh nein Gildenmeister!“, stotterte er ängstlich. „Wir sind alle über deine Entscheidung sehr froh. Ihr stimmt mir doch alle zu oder Gildenmitglieder?“ Er warf einen flehenden Blick auf seine Kameraden die sich am Boden zusammengekauert hatten.
    Das Beben in der Gilde wurde immer stärker. Es glich einem drohenden Vulkanausbruch.
    „IHR SEID DOCH ALLE ÜBER DIE ENTSCHEIDUNG DES GILDENMEISTERS GLÜCKLICH ODER?“, schrie er erneut panisch aus vollem Hals, um die Lautstärke des Erdbebens zu übertönen.
    Endlich begriffen einige von Plaudagei’s Kameraden, was hier vor sich ging. Es war Knuddeluff’s Zorn, der das Erdbeben heraufbeschwor.
    „J-JA!“, schrieen sie so laut sie konnten.
    Das Beben hörte genau so schnell auf, wie es gekommen war. Raven öffnete vorsichtig ein Auge. Knuddeluff war wieder völlig entspannt und schien überglücklich zu sein.
    „Team Totenkopf wird eine Zeit lange bei uns wohnen. Also bitte seid nett zu unseren neuen Verbündeten. Ich bin mir sicher, dass ihr alle gut miteinander auskommen werdet.“
    Plaudagei setzte einfach an dem Punkt an, wo er aufgehört hatte zu erzählen. Würde seine Stimme nicht so zittern, könnte man meinen, es sei ihnen nicht fast die Decke auf den Kopf gekracht.
    „So ich glaube es wird langsam Zeit für das Abendessen. Äh... Ihr solltet euch vorher aber noch etwas abstauben...“
    Raven schaute sich um. Alle Anwesenden waren von einer feinen Staubschicht bedeckt.


    Wenige Minuten später saßen alle Gildenmitglieder (mittlerweile staubfrei) beim Abendessen. Zu Raven’s und Xell’s Ärgernis, waren Team Totenkopf ihre Banknachbarn. Raven versuchte einfach den übelriechenden Geruch der von Skunktank ausging zu ignorieren und tat einfach so, als wären sie nicht da.
    „Was soll das sein?“, fragte Skunktank und sah angewidert auf die Schüssel vor ihm.
    „Abendessen“, antwortete Raven kurz angebunden und ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen.
    „Solchen Fraß zu essen ist unter unserer Würde. Stimmt doch oder Jungs?“
    „Du hast völlig Recht Boss“, antworteten Smogon und Zubat prompt.
    „Werdet ihr wohl, wenn ihr nicht hungrig ins Bett gehen wollt“ erwiderte Raven, der mittlerweile vor Zorn rauchte.
    „Ist das so?“, höhnte Skunktank. „Na das werden wir mal sehen.“
    Noch nie hatte Xell sein Abendessen so schnell beendet, wie an diesem Abend. Raven konnte ihm nur gut nachempfinden. Auch er entschloss sich, auf einen Nachschlag zu verzichten und folgte ihm in ihr Quartier. Endlich konnten sie wieder frei atmen. Xell lag bereits in seinem Bett und starrte auf die Decke.
    „Was hat sich nur Knuddeluff dabei gedacht die Kanaillen in die Gilde rein zu lassen?“, fragte Raven schäumend vor Wut. Er warf sich auf sein Bett.
    Xell seufzte tief.
    „Frage ich mich auch...“
    Einige Minuten des Stillschweigens vergingen.
    „Raven, tut mir Leid, aber ich möchte heute früh schlafen gehen. Ich hoffe immer noch, dass das alles nur ein Alptraum ist.“
    „Kann ich verstehen... Schlaf gut.“
    „Ja du auch.“


    Raven’s Vermutung, dass ihn in dieser Nacht wieder von schlechten Träumen bewahrheitete sich. Erneut fand er sich an dem Strand seiner bisherigen Träume wieder und erneut verwandelte sich sein Körper nach einer erbitterten Jagd nach der Sonne zu Stein. Zu allem Überfluss hatten sich Skunktank, Smogon und Zubat auch in seinen Traum verirrt und lachten ihn gehässig aus, wie er so regungslos vor ihnen stand.


    Mit der Gewissheit, von einem Alptraum in den nächsten zu stürzen, wachte er und Xell an diesem Morgen auf. Zum ersten Mal seit er Xell kannte, weigerte sich dieser, sein Zimmer zu verlassen. Erst nach viel gutem Zureden seines Freundes und die Erinnerung an die bevorstehende Expedition, ließen Xell einen Moment lang seinen Frust vergessen. Sichtlich von der Tatsache angewidert, dass sie in wenigen Minuten wieder dem beißenden Gestank Skunktank’s und seinen Sticheleien ausgesetzt sein würden, machten sie sich auf den Weg zur morgendlichen Einweisung.
    Zwar war der morgendliche Jubelruf dank der Anwesenheit von Team Totenkopf etwas schwächlich, doch schien Knuddeluff zufrieden. Er zog sich wie jeden Morgen nach der Einweisung in sein Quartier zurück, während Plaudagei einige anstehende Aufgaben verteilte.
    „Team Kugelblitz! An euch habe ich ein sehr dringliches Anliegen. Es ist von großer Bedeutung, dass ihr diese Aufgabe mit eurem größten Eifer angeht.“
    Plaudagei’s besorgter Stimmlage zu urteilen musste es sich dabei wirklich um eine äußerst wichtige Aufgabe handeln.
    „Um was geht es?“, sagten Raven und Xell wie aus der Pistole geschossen.
    „Aus unerklärlichen Gründen hat unser Vorrat an Lebensmittel plötzlich alarmierende Bestände angenommen. Unsere eiserne Reserve an Perfekten Äpfeln ist komplett aufgebracht und diese sind dummerweise die heiß begehrte Mahlzeit des Gildenmeisters.
    Eure Aufgabe für heute soll es sein, in den Apfelwald zu gehen und einige Perfekte Äpfel mitzubringen. Ich muss euch dabei aber noch mal an die Bedeutsamkeit dieser Mission erinnern. Ein Scheitern würde...“
    Plaudagei stoppte abrupt. Er begann heftigst du zittern.
    „Würde was?“, hakte Raven nach.
    „Würde...“ Er schluckte. Sein Blick fiel auf die verschlossene Tür des Gildenmeisters.


    „Sagen wir es einfach so: Ein Scheitern ist absolut Inakzeptabel! Mehr braucht ihr nicht zu wissen! Der Apfelwald ist auf eurer Wunderkarte markiert. Er liegt westlich von hier. Die perfekten Äpfel findet ihr im Herzen des Waldes. Ich erwarte sehnlichst eure erfolgreiche Heimkehr. Bis heute Abend.“
    „In Ordnung. Packen wir es an!“ rief Xell und rieb sich die Hände. „So wie sich Plaudagei angehört hatte, könnte dieser Auftrag unser Ticket für der Expedition sein.“
    „Ja, da könntest du tatsächlich recht haben. Legen wir am besten gleich los“, schlug Raven vor.


    Raven und Xell wanderten Richtung Apfelwald und freuten sich darüber, endlich wieder an der frischen Luft zu sein. Xell hatte vorsorglich eine Menge Platz in ihrem Schatzbeutel für die Perfekten Äpfel gemacht und fast seinen kompletten Vorrat an Pirsifbeeren in ihrem Lager zurückgelassen. Nach einer kurzen unbeschwerten Reise erreichten sie schließlich den Apfelwald. Schon von weitem konnten sie die rotbäckigen Köstlichkeiten des Waldes erspähen. Wo sie auch hinsahen: Jeder Baum war rappelvoll mit den schönsten Äpfeln beladen, die sie je gesehen hatten.
    „Wahnsinn! Wer hier verhungert ist selber Schuld“, sagte Xell beeindruckt und stierte mit offenen Mund auf die süßen Früchte über ihnen.
    „Das sind aber keine Perfekten Äpfel oder? Die Äpfel die Knuddeluff Abends immer isst, sehen etwas anders aus“, sagte Raven.
    „Stimmt. Plaudagei hatte ja auch gesagt, dass es die Perfekten Äpfel nur im Herzen des Waldes gibt. Machen wir uns auf den Weg“, antwortete Xell.


    Der Apfelwald war zu dieser Jahreszeit besonders dicht. Nur wenige Sonnenstrahlen erreichten den Boden, auf dem Raven und Xell immer weiter in den Wald eindrangen. Schon bald mussten sie feststellen, dass sie nicht allein waren: Der Apfelwald schien die Heimat von unzähligen Käfer- und Pflanzenpokémon zu sein. Glücklicherweise schienen diese eher friedliebend zu sein und kümmerten sich nicht weiter um die beiden Fremden. Raven und Xell kamen schnell voran. Immer weniger Licht konnte sich inzwischen durch das dichte Geäst bahnen. Ein leises Flügelschlagen weckte ihr reges Interesse.
    Anmutig flogen einige Smettbo auf der Suche nach Blüten über ihre Köpfe hinweg.
    Xell schaute ihnen bezaubert nach und achtete dabei nicht auf den Weg vor ihm.
    „Autsch...“
    Raven drehte sich erschrocken um. Xell rieb sich seinen Kopf.
    „Alles in Ordnung? Was ist passiert?“, fragte Raven.
    „Bin versehentlich mit dem Baum hier kollidiert und da ist mir irgendetwas auf den Kopf gefallen...“ Sein Blick wanderte auf den Boden, wo ein merkwürdiges Bündel lag. Es hatte eine kupferähnliche Farbe und zu ihrer Verwunderung zwei große schwarz-glänzende Aushöhlungen, die wie Augen aussahen.
    „Oh verdammt! Lass uns besser abhauen Raven bevor...“
    Weiter kam Xell nicht. Das Bündel vor ihnen fing plötzlich zu knacken und einheilvoll zu zittern an. Ein Riss bildete sich an der Oberfläche der sich binnen weniger Sekunden immer weiter ausbreitete.
    Auch Raven begriff endlich, was hier vor sich ging: Es war ein Pokémon-Kokon aus dem jeden Moment etwas schlüpfen musste. Aber was konnte es sein?
    Ein grelles Licht flutete plötzlich aus dem Riss des Kokons. Kurze Zeit herrschte absolute Stille. Mit weit geöffneten Augen starrten Raven und Xell auf die leblose Hülle.
    Krack! Eine gigantische Biene sprengte ihr Gefängnis und ließ ihr lautes unheilbringendes Brummen ertönen.
    „Verflucht! Lauf weg Raven!“, schrie Xell und rannte panisch tiefer in den Wald hinein.
    Das ließ sich Raven nicht zweimal sagen. So schnell er konnte rannte er seinem Freund hinterher. Das laute Summen verriet ihm, dass das Pokémon ihm dicht auf den Fersen war. Raven hatte Xell’s Vorsprung bereits eingeholt und überholte langsam aber sicher seinen Freund. Er warf einen raschen Blick zurück. Xell schien immer langsamer zu werden und zu allem Übel holte das Pokémon immer weiter auf.
    „Beeil dich Xell!“, schrie Raven.
    „Ich kann nicht mehr lange...“, keuchte Xell.
    „Dann eben so!“, schrie Raven. Er bremste schlagartig ab und schoss einige Funken ihrem Verfolger entgegen. Der Funkenstrom traf knisternd ihr Ziel und ließ das Pokémon hell aufleuchten. Der Angreifer war sichtlich angeschlagen und verlor deutlich an Tempo, doch wollte dieser sich offenbar nicht so einfach geschlagen geben. Fuchsteufelswild flog er auf Raven zu. Gerade als Raven sich auf den Angriff des Gegners vorbereiten wollte, flogen einige glühend heiße Feuerbälle dicht an Raven vorbei und trafen knallend ihren Feind.
    Von der Wucht des Aufpralls wurde das Pokémon krachend gegen einen entfernten Baum geschleudert, wo es krachend zu Boden fiel.
    Xell hatte ganze Arbeit geleistet. Sein Angriff den Angreifer vollständig ausgenockt. Xell atmete auf.
    „Uff... Das war aber haarscharf“, japste er, während er sich mit einer Hand an einen großen Baum abstützte.


    „Bäh! Das hätte ich euch gar nicht zugetraut.“
    Xell erschrak heftig. Eine ihnen bekannte Stimme kam genau aus seiner Richtung. Doch war er auch hinsah, er konnte den genauen Ursprung der Stimme nicht entdecken. Ängstlich ging er einige Schritte zurück.
    „W-Wer ist da und wo bist du?“
    Zu der ersten Stimme gesellten sich noch zwei weitere. Sie schlossen sich zu einem höhnischen Gelächter zusammen.
    „Na hier! Werft doch mal einen Blick nach oben!“
    Raven’s und Xell’s Blick fiel auf den gigantischen Baum. Auf der Baumkrone saßen niemand anderes als Skunktank, Smogon und Zubat und amüsierten sich königlich.
    „Ich glaub es ja nicht... Was wollt ihr denn hier?“, fragte Raven angriffslustig.
    „Nana! Seid ihr denn nicht erfreut uns zu sehen? Wir sind doch schon so was wie alte Kumpels“, antwortete Smogon und grinste frech von oben auf sie herab.
    „Überhaupt nicht. Geht doch dorthin wo der Pfeffer wächst“, rief ihnen Raven entgegen.
    „Na schön. Dann teilen wir aber auch nicht diese Köstlichkeiten mit euch. Haut rein Jungs!“
    Xell erschauderte.
    „Sind das etwas Perfekte Äpfel?“
    Zubat biss herzhaft in einen der Äpfel hinein.
    „Genau. Aber ihr wart gemein zu uns, deshalb kriegt ihr keinen. Hättet ihr euch besser vorher überlegen sollen. Ätschibätsch!“
    Raven und Xell mussten machtlos zusehen, wie Skunktank und seine Spießgesellen einen Perfekten Apfel nach dem anderen vertilgten.
    „Ich glaube wir sollten ihnen doch etwas für ihre Mühe geben. Meinst du nicht auch Smogon?“, sagte Skunktank und zwinkerte seinem Kollegen zu.
    Skunktank, Smogon und ZUbat sprangen vom Baum hinab, nur wenige Schritte von Raven und Xell entfernt. Ihr Grinsen wurde immer breiter. Raven machte sich auf der Schlimmste gefasst.



    „Mit den besten Wünschen von Team Totenkopf! Bitte sehr!“
    Gelähmt vor Schreck wurde Raven von der übelriechenden Wolke gefangen genommen, die von Skunktank und Smogon gleichzeitig auf ihn und Xell abgefeuert wurde. Seine Augen brannten wie Höllenfeuer. Das Atmen fiel ihm von Sekunde zu Sekunde schwerer. Alles um ihn herum begann sich wild um ihr zu drehen, bis er schließlich das Bewusstsein verlor.


    Er wusste nicht, wie lange er ohnmächtig gewesen war, als er endlich wieder erwachte. Sein erster Aufstehversuch war zum Scheitern verurteilt. Keuchend sah er sich um. Es war keine Spur von Team Totenkopf zu sehen. Nur Xell lag immer noch bewusstlos auf der Lichtung. Raven robbte mit aller Kraft, die er finden konnte zu ihm.
    „Xell! Xell!“
    Von Xell kam ein leises röcheln.
    „Wurgs... Raven...“
    Raven wurde erneut schwarz vor Augen. Wieder verlor er das Bewusstsein. Nur wenige Sekunden später konnte er Xell’s verschwommene Stimme hören.
    „Iss das“, flüsterte er.
    Wie in Trance, schluckte Raven das Etwas, was er gerade in seinem Mund vorfand.
    Die Umgebung um ihn herum wurde schlagartig völlig klar und in seinen zermalmten Körper kehrte die Energie zurück. Endlich schaffte er es wieder aufzustehen.
    „Puh! Ein Glück, dass ich noch die beiden Pirsifbeeren dabei hatte“, keuchte Xell. „Sie sind ein wahres Wundermittel gegen jede Art von Vergiftung.“
    „Wo sind Skunktank und die anderen?“, fragte Raven und drehte sich in alle Richtungen.
    „Weg. Und mit ihnen die ganzen Perfekten Äpfel. Sie haben keinen einzigen übrig gelassen...“
    Erschrocken schaute Raven auf den Baum, auf dem vor kurzem noch Team Totenkopf saß. Alle Früchte waren verschwunden und auf dem Boden häuften sich die Überreste abgenagter Äpfel. So sehr sie auch suchten: Der Baum war ratzekahl leergefressen. Auch auf den Nachbarbäumen konnten sie keinen einzigen Perfekten Apfel ausmachen. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als sich mit leeren Händen auf den Heimweg zu machen.


    Zum ersten Mal, wollten sie am liebsten nicht in die Gilde zurückkehren. Die Vorstellung auf die herbe Enttäuschung in Plaudagei’s Gesicht und die wohl größte Standpauke ihres Lebens, ließen Raven während des Nachhausewegs nicht in Ruhe. Stillschweigend kamen sie so der Gilde immer näher. Sie schritten durch den Eingang zur Gilde. Am liebsten hätte Raven einfach kehrt gemacht und wäre so weit er nur konnte weggerannt. Doch wo sollte er hingehen? Die Gilde war seine einzige Zuflucht. Mehr noch: Sie war inzwischen seine Heimat.
    „Ah! Da seid ihr ja endlich. Reichlich spät, muss ich sagen, aber ihr seid wieder da. Der Gildenmeister wartet bereits sehnsüchtig.“
    Plaudagei ließ weder Raven noch Xell überhaupt zu Wort kommen. Vergnügt schubste er sie in Knuddeluff’s Quartier, wo dieser sie bereits mit strahlenden Augen ansah.
    „Oh Hallo! Ich hab gehört, ihr hättet mir einige Perfekte Äpfel mitgebracht. Das ist sehr lieb von euch. Danke!“
    Raven und Xell sahen sich verzweifelt an. Wie sollten sie ihm schonend klar machen, dass sie keinen einzigen Perfekten Apfel mitgebracht hatten?
    „Also um ehrlich zu sein...Wie soll ich sagen...“, nuschelte Xell.
    Das Lächeln in Knuddeluff’s Gesicht erstarb.
    „Ihr...Ihr habt keine Perfekten Äpfel mitgebracht?“
    Plaudagei erstarrte vor Schreck. Sein Blick fiel auf Knuddeluff. Die herbe Enttäuschung war ihm wie ins Gesicht geschrieben. Schon fing der Boden unter ihren Füßen erneut zu Beben an.
    „Oh nein! Das ist das Ende!“, schrie Plaudagei, während er panisch im Raum umherflatterte.
    Plötzlich flog die Tür zum Zimmer des Gildenmeisters auf. Niemand anderes als Skunktank, Smogon und Zubat betraten völlig gelassen den Raum.
    „Nana. Wer wird denn hier gleich die Fassung verlieren. Schaut mal, was wir euch mitgebracht haben.“
    Wir aus dem Nichts zauberten die drei einige Perfekte Äpfel hinter ihren Rücken hervor. Knuddeluff’s Blick fiel auf die pausbäckigen Leckereien. Schlagartig erstarb das Erdbeben.
    „Hurra! Sind die alle für mich? Das ist sehr nett von euch. Danke.“


    Voller Freude begann er eine zirkusreife Jongliernummer mit den Äpfeln.
    Plaudagei nutzte die Gunst der Stunde und zitierte die völlig sprachlosen Raven und Xell nach draußen.


    Raven konnte sich gut vorstellen, was ihnen nun blühte. Plaudagei’s Gesichtsausdruck gab ihm Recht.
    „Zuallererst: Ich bin wahnsinnig enttäuscht von euch. Habe ich euch nicht mehrmals deutlich zu verstehen gegeben, wie wichtig dieser Auftrag ist?“
    „Schon, aber...“
    Plaudagei ließ Raven nicht zu Wort kommen.
    „Und habe ich euch nicht auch gesagt, dass ein Scheitern unverzeihlich ist?“
    „Ja, aber...“
    „Und dennoch wagt ihr euch mit leeren Händen vor die Augen des Gildenmeisters zu treten?“
    „Team Totenkopf...“
    „Oh ja. Ihr könnt euch nachher noch einmal recht herzlich bei ihnen bedanken. Die drei haben wahrlich eure Haut gerettet. Wenn Team Totenkopf nicht eure Arbeit getan hätte, wären wir jetzt alle unter tonnenweise Schutt begraben!“
    „Das verstehst du falsch. Sie...“
    „Schweigt! Ich will eure Ausflüchte nicht hören! Euer Versagen kann durch keine Entschuldigung der Welt wieder gut gemacht werden. Ihr beide geht heute hungrig ins Bett. Ja ihr habt richtig gehört: Kein Abendessen für euch beide. Und damit ihr euch keine falschen Hoffnungen macht: Der Gildenmeister gibt sich im Moment zwar überglücklich, aber in seinem Inneren wird er wahrscheinlich noch vor Wut über euren Misserfolg kochen. Die Gildenexpedition könnt ihr beide euch also mit großer Wahrscheinlichkeit abschminken!“
    Er flatterte in das Quartier des Gildenmeisters zurück und schlug heftig die Tür hinter sich zu.


    Geschlagene fünf Minuten standen Raven und Xell noch an Ort und Stelle, bis sie endlich realisiert hatten, was geschehen war. Nicht einmal in seinen kühnsten Träumen, hätte Raven mit einer solchen Standpauke gerechnet.
    Xell sackte auf die Knie.
    „Kein Abendessen und keine Expedition? Ich glaube ich will nicht mehr weiterleben. Kann es eigentlich noch schlimmer kommen?“
    Doch es kam schlimmer. Plaudagei zwang Raven und Xell, die sich bereits in ihr Quartier zurückgezogen hatten, bei dem gemeinsamen Abendessen mit ihrer Anwesenheit zu glänzen.
    Mit wässrigen Mündern mussten sie zusehen, wie ihre Gildenkameraden das Essen in sich hineinstopften. Es verging keine Minute, in der nicht einer ihrer Freunde empathisch zu ihnen hinüber schielten. Nur die Mitglieder des Team Totenkopfs, die auch an diesem Abend mit ihren Gildenkollegen dinierten, waren über diesen Zustand sichtlich entzückt.
    Nach einer halben Stunde der Entbehrung erlaubte Plaudagei ihnen endlich wieder in ihr Quartier zurückzukehren. Ein Raunen ging durch den Raum, als sie das Esszimmer verließen.
    Raven warf sich kopfüber in sein Bett. Seine Nerven lagen an diesem Abend blank. Xell hatte sich binnen weniger Sekunden leise in den Schlaf geweint.
    >“Es ist einfach nur ungerecht!“<, dachte er, als er das Häufchen Elend, auf dem Bett neben ihm betrachtete. Sein Magen rumorte laut.


    Seit langer Zeit wurde er an diesem Morgen wieder von Krakeelo geweckt. Krakeelo musste sich an diesem Morgen mehr Mühe als sonst geben, um das laute Magenknurren von Raven zu übertönen.
    „Schon Zeit...?“, murrte Raven und tat ein Auge auf.
    Krakeelo starrte besorgt von oben auf ihn hinab.
    „Sag mal: Wo ist eigentlich Xell? War er heute Nacht nicht bei dir?“
    Auf einmal völlig putzmunter drehte Raven seinen Kopf in Richtung von Xell’s Bett. Es war leer.
    „Keine Ahnung? Ich hab ihn heute auch noch nicht gesehen und ich bin normalerweise immer der Erste, der auf den Beinen ist“, sagte Krakeelo.
    Nachdenklich gingen Raven und Krakeelo zur morgendlichen Gildeneinweisung in der Hoffnung, Xell dort zu finden, doch fanden sie nur die übrigen Gildenmitglieder vor.
    Plaudagei schien keinen Hel daraus zu machen, dass Xell an diesem Morgen fehlte. Er vollzog seine übliche Ansprache und verteilte einige ausstehende Aufgaben.
    Krakeelo tapste Raven leicht auf die Schulter.
    „Hör mal: Wenn du ihn gefunden hast, dann meld ihn bitte mit und meld dich bei mir. Es ist wichtig“, flüsterte er ihm zu.


    Sogleich machte sich Raven auf und stellte die Gilde auf den Kopf, doch keine Spur von seinem Freund. Fieberhaft befragte er alle Gildenmitglieder oder Besucher der Gilde, ob jemand Xell gesehen hatte, doch vergeblich. Xell war wie vom Erdboden verschluckt.
    Inzwischen völlig aufgelöst, erweiterte er seine Suche auf Schatzstadt.
    Er klapperte Xell’s sämtliche Lieblingsläden ab in der Hoffnung, ihn dort fröhlich und auf einer Pirsifbeere kauend vorzufinden, doch hatte er wieder keinen Erfolg.
    Es war zum verrückt werden. Selbst die Stadtbewohner und Ladeninhaber hatten seinen Freund an diesem Morgen nicht gesehen. Er hatte die Hoffnung bereits aufgegeben, als er beim letzten Laden Schatzstadt’s nachfragte. Es war das Kangama-Lager, an dem er und Xell einige ihrer Gegenstände lagerten.
    Die Lagerverwalterin wurde aus ihm unerklärlichen Gründen plötzlich wütend.
    „Xell? Du meinst deinen Freund? Ja den habe ich gesehen! Stell dir mal vor: Der hat mich doch mitten in der Nacht wegen ein paar Pirsifbeeren geweckt.“
    „Wirklich? Das ist ja Klasse!“, rief Raven der verdutzt guckenden Ladeninhaberin entgegen.
    „Weißt du zufällig, wo er hingegangen ist?“
    „Es zu dem Zeitpunkt stockdunkel, doch ist er in diese Richtung gegangen. Er murmelte was von wegen “Frust wegtrinken“. Keine Ahnung wenn du mich fragst...“
    „Vielen Dank!“, rief Raven und eilte in die ihm gewiesene Richtung.


    Nach wenigen Minuten flotten Fußmarsches, erreichte er einen unterirdischen Bau, von dem er wusste, dass es sich dabei um die Taverne von Schatzstadt handelte: Die Pandir Saftbar.
    Behutsam stieg er die Treppe hinab. Es war das erste Mal, dass er an diesem Ort war. Er befand sich in einem einzigen großen einladenden Raum. Viele Besucher standen fröhlich schwatzenden an einen der zahlreichen Tischen und hießen ihn herzlich willkommen.
    Raven’s Blick fiel auf die Theke, am Ende des Raums. Sein Herz machte einen Hüpfer. Mit dem Rücken zu ihm gedreht konnte er seinen Freund ausmachen.
    „Xell! Da bist du ja!“, rief Raven und rannte erleichtert in Richtung der Bar.
    Xell drehte sich um. Fassungslos blieb Raven augenblicklich stehen. Es war wahrlich kein schöner Anblick, der sich ihm bot: Xell starrte ihn mit seinen vom vielen Weinen verquollenen kleinen Augen an. Schwere dunkle Augenringe zierten sein Gesicht und seine Haare waren wild und ungebändigt.
    „-allo Raven...“, nuschelte er und nahm einen großen Schluck aus seinem Glas.
    „Oh Xell, was...?“
    Der Barkeeper wandte sich zu Raven.
    „Ist das ein Freund von dir? Gut das du hier bist. Der sitzt schon seit Stunden hier und trinkt einen Pirsifmatsch nach dem anderen. Ich habe ihm schon gesagt, dass soviel nicht gut für ihn ist, aber er will einfach nicht auf mich hören...“
    „Noch einen!“, rief Xell, knallte sein leeres Glas auf die Theke und warf dem Wirt eine Pirsifbeere entgegen.
    Kopfschütteln begann der Barkeeper einen neuen Drink anzurühren.
    „Xell, ich glaube du hast wirklich genug...“, sagte Raven mit besorgtem Blick auf seinen Freund.
    „Ich weiß wohl selbst am besten, wann ich genug habe!“, entgegnete Xell barsch, nahm das frisch gemixte Getränk vom Tisch und leerte das Glas in einem Zug.


    Xell’s Kopf knallte auf die Theke. Das Glas rutschte aus seiner Hand und zersplitterte am Boden. Leise begann er zu schnarchen.
    „Bedauerlich...“, sagte der Barkeeper und begann die Scherben auf dem Boden zusammen zu kehren.
    „Ich kümmere mich um ihn. Entschuldigung für die Umstände“, sagte Raven. Er lud seinen bewusstlosen Freund über seine Schulter und schleppte ihn zurück in die Gilde.
    Der Nachhauseweg war für ihn alles andere als angenehm. Nicht nur, dass ihm sämtliche Augen der Stadtbewohner folgten und ihm der Magen auf den Kniekehlen hing, auch stellte sich das Leiterklettern in der Gilde unter der Last Xell’s als extrem schwierig heraus.
    „Ich hab ihn gefunden...“, keuchte Raven, als er an Krakeelo vorbei lief.
    „Was ist denn mit ihm geschehen? Der sieht ja furchtbar aus... Naja kannst du mir auch später erzählen. Bring ihn am besten in euer Quartier. Ich trommel derweil die anderen zusammen.“
    Raven brannten zwar einige Fragen auf der Seele, doch wollte er keine weitere Aufmerksamkeit gewinnen und schleppte Xell in ihr Quartier.


    Xell schlummerte noch immer seelenruhig, als plötzlich Krakeelo, Bidiza, Palimpalim und Sonnflora in ihr Zimmer einmarschierten.
    „Was zum...?“
    „Weck erst mal deinen Freund auf. Dann erklären wir euch alles“, unterbrach Palimpalim den fragenden Raven.
    Es dauerte einige Zeit, bis sich Xell wieder einigermaßen im wachen Zustand befand. Überrascht stellte er fest, dass er sich in seinem Quartier befand und sich die halbe Gilde um ihn herum versammelt hatte.
    „Raven...Was...?“, nuschelte er.
    „So, jetzt wollen wir erst einmal von euch wissen, was gestern vorgefallen ist. Warum hatte man euch beim gestrigen Abendessen ausgeschlossen? In der Gilde kursieren die wildesten Gerüchte“, wollte Sonnflora wissen.
    Endlich konnte Raven die Geschichte um ihr Erlebnis im Apfelwald mit jemanden teilen. Es tat ihm gut, sich den Frust von der Seele zu reden. Gerade war er an der Stelle mit dem feigen Angriff von Team Totenkopf angekommen, als ihn der aufgebrachte Krakeelo unterbrach.
    „Ernsthaft?! Das haben die getan? Oh die können was erleben...“
    „Psst! Lass ihn weitererzählen!“, zischte Sonnflora.
    Raven setzte die Geschichte fort und erzählte von denn Vorfällen im Quartier des Gildenmeisters und der anschließenden Standpauke Plaudagei’s.
    „Und so was das...“, beendete Raven.
    „Das ist wirklich nicht fair. Ihr solltet wirklich zu Plaudagei gehen und ihm sagen, was wirklich vorgefallen ist.
    Raven lachte hohl.
    „Plaudagei glaubt und ja doch nicht. Außerdem ist er ganz verliebt in das ach so tolle Team Totenkopf und außerdem...“ Sein Magen brummte laut.
    „Oh! Das hatten wir wohl bei der ganzen Aufregung ganz vergessen“, sagte Krakeelo und kramte in seinem Schatzbeutel. Breit grinsend präsentierte er ihnen einige Äpfel.
    „Die haben wir für euch gestern beim Abendessen rausgeschmuggelt.“



    „Oh toll! Danke!“, rief Raven begeistert und langte ordentlich zu.
    Xell starrte einige Sekunden auf seinen Apfel.
    „Was ist denn los? Du bist doch sonst nicht so schüchtern, wenn es ums essen geht“, fragte Bidiza.
    „Ich wäre so gerne auf die Expedition gegangen. Aber Plaudagei meint, dass wir uns keine Hoffnung machen sollten...“, antwortete Xell. In seinen Augen spiegelten sich Tränen.
    „Noch ist nichts verloren. Wer wählt denn schließlich die Mitglieder aus? Knuddeluff natürlich, nicht Plaudagei. Plaudagei war doch nur sauer auf euch, weil er sich vor dem Gildenmeister blamiert hatte. Ich wette, dass wenn ich euch die nächsten Tage noch einmal richtig ins Zeug legt, ihr immer noch auf die Expedition mitkönnt“, sagte Krakeelo mit einem nicht wirklich zu ihm passenden aufbauenden Ton.
    „Ja richtig!“, stimmten die anderen ihm zu.
    Ein leichtes Lächeln huschte über Xell’s tränenverschmiertes Gesicht.
    "Danke Freunde." Er biss herzhaft in seinen Apfel.


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  • Soo =o ich habe die Story (wie die meisten anderen Storys) durch Zufall entdeckt und da du mir ein bissel leid tatest, weil du so lange Kapitel geschrieben hast und niemand es kommentiert (außer Spammer =o) habe ich sie mir mühsam durchgelesen und will sie kommentieren ^-^


    Vorweg erstmal: Ich habe die Story natürlich mit Kapitel 1 begonnen und hatte eigentlich gedacht, dass ich da auch wieder aufhören... so war es eigentlich geplant, da ich dachte, diese 6 langen Kapitel würde ich nur schwer schaffen! Aber du fragst dich, warum ich weiter gelesen habe? Ganz einfach ^-^ Die Story hat mich förmlich gapackt oô Der umwerfende Schreibstil hat mich mitgenommen und noch viel mehr positive Dinge haben mich verleitet, weiterzulesen~ Und so kommt es nun zu meinem Kommi xD Hier ist er:


    Zu der Idee kann ich natürlich kaum was sagen, da ja eigentlich Nintendo an allem schuld ist xD du hast es nur umgesetzt... Die Idee klingt jetzt zwar langeweilig, so "Hey, der ist so ein Freak! Der beschreibt, was er spielt und macht eine FS draus", aber so ist es nicht =o Ich finde die Idee und deine Umsetzung sehr besonders und sehr schön gemacht... so sieht man MD Himmel von einer ganz anderen Seite... nämlich von einer schöneren ;) Man spielt immer einfach vor sich hin und macht sich kaum Gedanken, doch wenn man dann deine Story liest, kommt man erstmal so richtig in das MD-Fieber rein und erlebt alles viel spannender! Verstehst du, was ich meine? Deswegen finde ich die Idee so toll!


    Und das bringt mich auch gleich zu deinem Schreibstil ;) Eigentlich das wichtigste, warum ich weitergelesen habe! Ich finde deinen Schreibstil echt einzigartig... wirklich sehr professionell und gut gemacht! Du beschreibst alles wunderbar schön und benutzt wunderbare, verschiedene Wörter. Man muss sich das mal überlegen: Du machst aus so einem kleinen Gameplay-Screen eine wunderschöne Beschreibung, die einen echt... berührt! Hast du wirklich alles sehr spannend und mitreißend gemacht! Dafür gibt es ein ganz dickes Lob von mir ^-^
    Mal jetzt kurz so am Rande: Die Bilder, die man zwischen den Zeilen da sieht, war auch eine ganz tolle Idee! Keine Ahnung, wieso, aber ich finde die passen wirklich gut zur Story, klar, das sind Ausschnitte aus dem Spiel, welches du beschreibst... aber ich finde trotzdem, dass die etwas tolles und passendes an sich haben ^-^ weiter so!


    Kommen wir nun zum letzten Punkt =o Wieder mal ein positiver Punkt :D
    Die Rechtschreibung! Du hast wirklich keine großen Fehler gemacht, hast immer die Rechtschreibung gut angewendet, alle Kommas richtig gesetzt, alle Satzzeichen richtig und und und. Da hast du wirklich alles perfekt gemacht! Toll ;)
    Na ja... du bist ja schon 22, kann man sagen, aber das ist natürlich kein Punkt, dass man die Rechtschreibung so beherrschen muss, wie du sie tust ;D Ich kenne gewisse Leute die älter sind und die Rechtschreibung töten ~_~ Aber das nur so nebenbei xD


    Hmm... aber weißt du, was mich an dieser FS stört...? Dass es eigentlich nichts zu kritisieren gibt^^ Zum Inhalt kann ich ja nicht wirklich was sagen und die anderen zwei Themen (Schreibstil und Rechtschreibung, Grammatik etc.) hast du ja wunderbar und korrekt ausgeführt... einfach wunderbar! ^-^
    Hoffentlich kommt bald das nächste Kapitel on... wenn ich es sehe, werde ich es lesen und kommentieren :D Und ich hoffe auch für dich, dass du mal ein paar mehr Leser bekommst ~_~ Aber toll, dass du trotz den fehlenden Lesern weiterschreibst ^-^ Gut so! Lass dich nicht runterkriegen ;)


    LG und viel Spaß noch beim zocken und aufschreiben x,D

  • Endlich! Darauf habe ich solange warten müssen: Feedback. Dabei wäre auch etwas negative Kritik für mich nicht schlimm, denn aus Fehlern lernt man ja bekannterweise, aber mir ist positives Feedback natürlich um einiges lieber. Das ist für mich Belohnung genug und gibt mir auch den Anreiz mit viel Elan weiter zu schreiben. :)



    Zu den Bildern: Die Bilder sind in den meisten Fällen 1:1 aus dem Spiel übernommen. In manchen Fällen schnipsel ich auch noch etwas an ihnen rum. Das kann man auf den ersten Blick kaum sehen, aber es passt dann eher zu meiner Beschreibung.


    Zu der Rechtschreibung: Sie wird sicherlich nicht 100% fehlerfrei sein, aber ich bemühe mich so gut es geht die korrekte Schreibweise anzuwenden.


    Nächstes Kapitel: Die ersten Zeilen stehen bereits. Ich komme idR. nur am Wochenende richtig dazu, etwas zu schreiben. Das nächste Kapitel wird außerdem sehr groß. Dummerweise würden meine eigenen Ideen das Ganze etwas zu stark aufblähen. Jedes Kapitel hat jetzt schon ca. 5000 Wörter. Naja mal schauen, was dabei raus kommt.

  • Kapitel VII.: Die große Gildenexpedition



    Unter den scharfen Augen Knuddeluff’s zogen Raven und Xell alle Register ihres Könnens. Unermüdlich schufteten sie Tagein, Tagaus bis in den späten Abend hinein, in der Hoffnung, doch noch an der Gildenexpedition teilnehmen zu dürfen. Mit jedem schweißtreibenden Arbeitstag rückte die Expedition Schritt für Schritt näher. Raven war schon fast davon überzeugt, dass Knuddeluff inzwischen ihr Vorhaben bereits vergessen haben könnte, als sie nach einem weiteren anstrengenden Arbeitstag mit den anderen Gildenmitgliedern auf den Beginn des Abendessens warteten.
    Gerade als sich die Gildenmitglieder auf ihr wohlverdientes Festmahl stürzen wollten, lies Plaudagei ein deutliche zu hörendes hüsteln ertönen.
    „Darf ich einen Moment um eure geschätzte Aufmerksamkeit bitten?“
    Die Reaktion, der bereits sehnsüchtig auf das Abendessen warteten Mitglieder, war durch diesen jähen Aufschub Plaudagei’s alles andere als erfreut.
    Xell blickte drein, als hätte er gerade erfahren, dass er in den nächsten Wochen mit Skunktank ein Quartier teilen müsste. Krebscorps ließ seinen Kopf einige male deutlich hörbar auf den Tisch knallen.
    „Hat das nicht Zeit...?“, quiekte Bidiza, der mittlerweile angefangen hatte, auf seinen Teller zu sabbern.
    „Beeil dich halt!“, bellte Krakeelo über den Tisch hinweg, jedoch ohne dabei seine großen Augen von einem besonders saftig aussehenden Apfel abzuwenden.
    „Ruhe!“, donnerte Plaudagei.
    Schlagartig war der Lärmpegel im Raum auf den absoluten Nullpunkt. Plaudagei räusperte sich.
    „Bevor wir uns auf das Abendessen stürzen, möchte ich euch noch eine Kleinigkeit mitteilen: Der Gildenmeister hat eure Arbeit der letzten Tage aufmerksam beobachtet und seine Entscheidung bezüglich der Gildenexpedition gefällt.
    Er legte eine kurze Pause ein und schaute in die von Spannung zerrissenen Gesichter der Crew.
    „Die Mitglieder werden bei der Ansprache morgen früh bekannt gegeben.“


    Ein lautes Stöhnen schallte durch den Raum, doch es half nichts. Bis morgen mussten sie sich also noch gedulden.
    „Gut, dann würde ich sagen: Haut rein!“
    „Hört! Hört!“, riefen alle Gildenmitglieder im Chor und langten sogleich ordentlich zu.


    Raven ahnte bereits, dass er in dieser Nacht wieder keine Ruhe finden würde. Erschöpft von dem langen Arbeitstag, lag er noch einige Zeit in seinem Bett und starrte auf die Zimmerdecke. Xell war bereits eingeschlafen und atmete langsam und gleichmäßig.
    Was sie wohl morgen erwarten würden? Hatten sie überhaupt noch eine Chance, bei der Gildenexpedition mitzukommen und was würde passieren, wenn sie nicht ausgewählt werden würde? Xell wäre sicher am Boden zerstört, da war er sich sicher...
    Langsam fielen ihm die Augen zu. Er rutschte von einem unsinnigen Traum in den Nächsten.
    Plaudagei teilte ihm mit, dass alle Gildenmitglieder zur Expedition aufbrechen dürften und nur er und Krakeelo zurückbleiben müssten, um Wachdienst zu halten. Ein Pokémon, dass er noch nie gesehen hatte, stand auf dem Wachposten...
    Die Szene wechselte: Er hatte an dem Morgen der Auswahl verschlafen und rannte so schnell er konnte zur morgendlichen Einweisung. Doch die Gilde war wie ausgestorben. Alle Gildenmitglieder waren bereits ohne ihn zur Expedition aufgebrochen...
    Wieder änderte sich der Schauplatz: Raven, Xell und Bidiza waren auf dem Weg zur Expedition und hatten sich offensichtlich verlaufen. Plötzlich befanden sie sich wieder tief im Apfelwald, wo sie plötzlich von Knuddeluff von einem Baum herab mit Perfekten Äpfel bombardiert wurden...
    Die Sonne knallte auf den Boden. Er wurde zur lebenden Statue. Skunktank lachte ihn aus...
    „AUFSTEHEN! ES IST MORGEN!“
    Die zerreisende Stimme Krakeelo’s weckte ihn aus seinem letzten Traum.
    >“Nie wieder lass ich mich von Xell dazu überreden Azurgummis zu probieren...“<, dachte Raven, als er sich mühselig aus dem Bett quälte.


    „Es ist soweit...“, flüsterte Xell. „Der Tag der Wahrheit. Oh, ich trau mich gar nicht. Ich glaube ich bleibe hier...“
    Raven wollte seinen Ohren nicht trauen. Seine allmorgendliche Trägheit war schlagartig verflogen.
    „Bist du übergeschnappt?! Wir haben so verbissen auf diesen Tag hingearbeitet und da willst du plötzlich kneifen? So nicht mein Freund!“
    Ohne Rücksicht auf Verluste schob er den verdutzt dreinblickenden Xell kurzerhand mit seiner ganzen Kraft aus ihrem Zimmer.
    „Schon gut! Ich geh ja...“, sagte Xell, als sie gerade ihre Zimmertür passierten.
    Die Luft im Raum, in dem die Gildenmitglieder ungeduldig auf die Ansprache Plaudagei’s warteten, war zum zerreißen gespannt.


    Die Minuten schleppten sich gnadenlos träge dahin. Kaum einer der Anwesenden konnte seine Ungeduld vor den anderen verbergen. Jedoch schien auch niemand es wirklich versuchen zu wollen.. Gerade als sich Sonnflora zum dritten Mal lautstark über Krakeelos nervöses, unaufhörliches im Raum umherwandern beschwerte, flog die Tür zum Quartier des Gildenmeisters auf. Knuddeluff tänzelte wie jeden anderen Morgen auch auf seinen gewohnten Platz und lächelte seinen Freunden entgegen.
    Spannungsgeladen beobachteten die Gildenmitglieder jede noch so winzige Bewegung Knuddeluff’s, als ob sie befürchteten, in einem kleinen Moment der Unaufmerksamkeit etwas wichtiges zu verpassen.
    Es waren nun alle Mitglieder der Gilde versammelt. Auch das Team Totenkopf hatte sich eingefunden. Alle warteten begierig auf die erlösenden Worte ihres Anführers. Doch die Minuten zogen dahin und nichts geschah. Die Gildenmitglieder begannen missvergnügt miteinander zu tuscheln und warfen Knuddeluff böse Blicke zu.
    „Was ist denn heute morgen mit euch los?“, fragte Knuddeluff verwundert. Sein fröhliches Lächeln war mittlerweile verschwunden. „So angespannt habe ich euch ja noch nie erlebt.“
    Plaudagei’s Gesicht nahm ein zartes Rosa an, als ob er sich für den Gildenmeister schämte.
    „Ähem Gildenmeister. Ich glaube die Gildenmitglieder möchten endlich erfahren, wer zusammen mit euch auf die Expedition aufbrechen darf“
    „Gildenexpedition? Ach ja! Das hatte ich ja ganz vergessen!“, kicherte Knuddeluff. „Öhm, wo hab ich denn nun gleich die Teilnehmerliste...?“
    Er begann wild in seinem Schatzbeutel zu kramen.
    „Ach wie dumm von mir. Die hab ich noch auf meinem Nachttisch liegen. Bin gleich wieder da liebe Freunde. Noch etwas geduld“, sagte er vergnügt hüpfte zurück in sein Quartier und schloss die Tür hinter sich ab.
    Selbst Plaudagei konnte einen lauten Seufzer nicht unterdrücken. Wieder war die Geduld der Gildencrew auf eine harte Probe gestellt. Jede Sekunde Wartezeit kam Raven wie ein stundenlanges Skunktank Giftgas Dampfbad vor.
    „Was treibt denn der da drin?! Es kann doch nicht so schwierig sein, diese blöde Liste vom Nachttisch zu klauben!“, fluchte Krakeelo, ohne dabei sonderlich seine Lautstärke im Zaum zu halten.
    Wieder öffnete sich die Tür zum Quartier des Gildenmeisters und Knuddeluff sprang heiter aus seinem Zimmer. In seiner Hand flatterte ein großes Stück Pergament. Begierig starrten einige auf den Zettel, in der Hoffnung, ihren Namen auf der Liste zu erkennen, doch Knuddeluff hielt sie bereits in sicherer Entfernung vor unerwünschten Augen.


    10.000 Volt. So konnte man wohl am treffensten die Stimmung in der Gilde beschreiben. Die Luft knisterte förmlich vor Spannung.
    „Autsch Raven! Pass doch auf wo du mit den Dingern hinschießt!“, schimpfte Xell und rieb sich seinen linken Arm.
    Verwundert schaute Raven sich um. Alle Pokémon um ihn herum hatten bereits mindestens 5 Meter Sicherheitsabstand eingenommen, um nicht von seinen vor Aufregung entstehenden Entladungen getroffen zu werden.
    „Plaudagei, wärst du so nett und ließt die Namen auf der Liste vor“, sagte Knuddeluff und reichte ihm die Liste.
    „Natürlich Gildenmeister“, antwortete Plaudagei und nahm die Liste entgegen.
    Raven’s Herz schlug unbarmherzig gegen seinen Brustkorb. Das war er nun: Der lang ersehnte Augenblick.


    „Ich bitte die aufgerufenen Pokémon nach vorne zu mir zu kommen. Ohne weitere Umschweife fangen wir an. Der erste Teilnehmer an der Expedition ist...
    Krakeelo!“
    „JAWOHL!!!“, jubelte Krakeelo und sprang meterhoch in die Luft.
    Es gab regen Beifall. Alle Gildenmitglieder waren sich einig, dass Krakeelo diese Ehre mit recht zu teil wurde. Er hatte wirklich ehrgeizig auf diesen Tag hingearbeitet.
    „So weiter im Text: Der nächste Teilnehmer wird...
    Krebscorps sein! Glückwunsch!“
    Krebscorps reagierte wesentlich zurückhaltender auf seinen Aufruf, doch stand ihm die Erleichterung wie im Gesicht geschrieben.
    Wieder gab es begeisterten Applaus, doch Raven und einige andere der übriggebliebenen wurden langsam nervös.
    Krebscorps gesellte sich zu seinem Genossen Krakeelo.
    „Wir machen auch gleich weiter. Unser nächster glücklicher Gewinner ist...Oh welch Überraschung: Unser alter Gildenneuling Bidiza.
    Bidiza schien wie festgewurzelt zu sein. Mit offenen Mund starrte er Plaudagei an, als ob er glaubte, dass es sich dabei um eine Verwechslung handeln müsste.
    „W-Wer? Ich? Wirklich ich? Bist du dir sicher?“, stotterte er.
    „Wenn ich es dir doch sage. Es steht hier auf der Liste. Nun komm schon.
    Unter tosendem Applaus stolperte Bidiza zu Krakeelo und Krebscorps hinüber und starrte zitternd auf den Boden unter ihm.
    „So, wen haben wir denn noch auf unserer Liste? Ah unser dynamisches Frauenduo: Sonnflora und Palimpalim!“
    Jubelnd schlossen sich beide gegenseitig in die Arme. Über Sonnflora’s Gesicht rann eine stille Träne, als sie sich neben Bidiza einreihten.
    „So und damit wäre dann das Expeditionsteam komplett. Noch einmal herzlichen Glückwunsch an alle Auserwählten“, rief Plaudagei.
    Xell sank vor Enttäuschung auf den Boden zusammen. Auch Raven war am Boden zerstört und hätte am Liebsten laut los geschrieen, doch wusste er, dass es an der Entscheidung des Gildenmeisters nichts mehr ändern würde. Gerade als er seinem Freund seinen Trost spenden wollte, meldete sich Plaudagei noch einmal unsicher zu Wort. Raven schöpfte neue Hoffnung.
    „Ähm einen Moment noch Geduld. Dürfte ich fragen, was das hier unten am Rand des Blattes ist Gildenmeister?“ Er zeigte Knuddeluff die Teilnehmerliste.
    „Na die Auswahl der Expeditionsteilnehmer natürlich“, antwortete Knuddeluff amüsiert. „Lies schon vor!“
    „Ist das dein ernst...? Na schön. Also so wie es aussieht gibt es noch weitere Expeditionsmitglieder. Ich bitte nun folgende Gildenmitglieder nach vorne: Digda, Xell, Glibunkel, Raven, Plaudagei (oh das bin ja ich...) und Digdri.“
    Fassungslos starrten sich die übrig gebliebenen Gildenmitglieder an. Sollte das vielleicht ein schlechter Witz sein? Musste es wohl. Ihre Namen wurden alle aufgerufen. Somit wäre die komplette Gilde an der Expedition beteiligt.
    „Nun, die Auswahl ist getroffen. Ihr habt alle richtig gehört: Alle Gildenmitglieder werden an dieser Expedition teilnehmen“, rief Knuddeluff vergnügt in die Runde und klatschte in die Hände.
    „Aber für was dann dieses ganze Auswahlverfahren? Das war ja dann völlig sinnlos?“, fragte Plaudagei verwirrt.
    „War doch witzig, findest du nicht?“, entgegnete Knuddeluff grinsend.
    „Aber warum alle Gildenmitglieder? Können wir uns es überhaupt erlauben, die Gilde völlig unbeaufsichtigt zurückzulassen?“, hakte Plaudagei nach.
    „Na umso mehr, umso besser oder nicht? Wir wollen ja schließlich, dass unsere Expedition ein voller Erfolg wird und da wird jede helfende Hand gebraucht. Ich bin mir sicher, dass wir alle unseren Spaß haben. Und was die Gilde betrifft: Wir schließen einfach gut ab und damit hat sich die Sache erledigt“, antwortete Knuddeluff heiter.
    Alle Gildenmitglieder waren über diesen Ausgang der Geschichte begeistert. Besser hätte es gar nicht kommen können. Nur Team Totenkopf schien mit diesem Ergebnis offenbar ganz und gar nicht zufrieden zu sein, obwohl es für sie ja eigentlich gar keine Rolle spielte, da sie von vornherein für die Expedition ausgewählt worden waren. Schmollend hielten sie sich abseits der anderen Teilnehmer im Raum auf, aber niemand scherte sich in diesem Moment der gemeinsamen Freude um sie.


    Plaudagei wirkte noch immer über die Entscheidung des Gildenmeisters völlig verdutzt. Er benötigte einige Sekunden um den Faden wieder zu finden.
    „Äh also... Ihr...Ihr solltet dann eure Vorräte für die Expedition zusammenpacken. Denkt daran, dass wir einige Zeit lange nicht mehr in die Gilde zurückkehren und ihr deshalb genügend Reserven mit euch mitführen müsst. Wir treffen uns hier in genau einer Stunde wieder. Dann werden wir die Gildenmitglieder in einzelne Reisegruppen unterteilen. Dazu aber später mehr.“


    Raven konnte sein Glück noch immer nicht fassen. Nicht nur er, sondern auch Xell und alle anderen durften auf die Expedition aufbrechen. Mit einem derartigen Ergebnis hatte er nicht einmal im Traum gerechnet. Sogleich machte er sich mit dem, noch immer über ihr unerwartetes Glück fassungslosen Xell, nach Schatzstadt auf, um ihre Reisevorbereitungen zu treffen. Es brauchte einige Zeit bis Xell sich endlich widersträubend dazu bereit erklärte, die Unmengen von Pirsifbeeren aus ihrem Schatzbeutel gegen eine Vielzahl von anderen Lebensmitteln und eventuell nützlichen Gegenständen zu tauschen.
    Mit rappelvollen Schatzbeutel eilten sie zurück in die Gilde. Ihre Stunde der Vorbereitung war fast vorüber, als sie den Eingang zu Knuddeluff’s Quartier erreichten. Alle ihre Kameraden waren bereits an Ort und Stelle versammelt und warteten begierig auf das Eintreffen des Gildenmeisters.
    Zum dritten Mal an diesem Morgen flog die Tür des Gildenmeisters auf und selbiger hüpfte heiter hinaus. Er blickte lächelnd in die erwartungsvollen Gesichter seiner Freunde.
    Plaudagei trat vor.
    „Da wir nun alle versammelt sind, möchte ich euch hier noch einmal das Wesentliche kurz zusammenfassen.“ Er räusperte sich vornehmlich.
    „Unser Ziel ist die Erkundung des Nebelsees. Wie ich euch bereits vor einiger Zeit mitgeteilt habe, ist die Existenz dieses Sees bislang nur eine Legende. Die Region in dem der Nebelsee liegen soll, ist fortwährend von einem dichten Nebelschleier umhüllt. Deswegen ist es bislang noch keinem Erkundungsteam gelungen, den Nebelsee zu finden. Man erzählt sich aber, dass dieser Ort einen sagenhaften Schatz beherbergt. Einen Schatz, der so atemberaubend sein soll, dass man ihn einfach nicht mit Worten beschreiben kann...“
    Unter den Gildenmitglieder brach begeistertes Tuscheln aus. Einen legendären Schatz zu finden: Davon muss jeder Erkunder träumen.
    „Bitte öffnet eure Wunderkarten“, sagte Plaudagei.
    Es raschelte im ganzen Raum, als jedes einzelne Gildenmitglied nach seiner Wunderkarte kramte.
    Plaudagei hielt seine Wunderkarte deutlich sichtbar nach oben und deutete auf einen fernen Punkt im Osten.
    „Hier soll sich der Nebelsee befinden. Wie ihr unschwer erkennen könnt, liegt ein weiter Weg zwischen unserer Gilde...“, er deutete auf die Position der Gilde auf seiner Karte, „...und dem Nebelsee. Da die Reise zum Nebelsee recht anstrengend sein wird, planen wir, am Fuße des Hochlands ein Lager aufzuschlagen, in dem wir uns sammeln werden, Informationen austauschen und natürlich übernachten. Diese Expedition soll gleichzeitig ein Prüfung für euch sein. Deswegen werden wir nicht als geschlossene Gruppe zum Nebelsee reisen, sondern kleinere Teams bilden. Wir erwarten von euch, dass ihr als unsere Gildenlehrlinge mit eurer Gruppe eigenständig handeln könnt, gemeinsame Entscheidungen trefft und eure Reiseroute zusammen koordiniert. Der Gildenmeister hat mich darum gebeten, die Gruppen einzuteilen.“
    Er verstaute seine Wunderkarte in seinem Schatzbeutel und zog ein anderes Dokument hervor.


    Es lag fast die selbe Spannung in der Luft, wie zu dem Zeitpunkt, als die einzelnen Expeditionsmitglieder bekannt gegeben wurden. Sonnflora rutschte leise in Richtung ihrer Freundin Palimpalim und auch Xell rückte zu Raven dichter auf.
    „Die erste Gruppe bilden Sonnflora, Krakeelo, Digda und Glibunkel.“
    Bitte enttäuscht entfernte sich Sonnflora von ihrer Freundin und trollte sich verdrießlich zu ihren Partnern.
    Raven wurde es Angst und Bange. Sicher, er wollte unbedingt auf die Expedition, aber er würde nur ungern ohne seinen Freund Xell diese Reise bestreiten und schon gar nicht mit einem von Team Totenkopf reisen.
    „Zur nächsten Gruppe gehören Digdri, Palimpalim und Krebscorps.
    Einzig und allein Digdri schien mit der Auswahl seiner Gruppenmitglieder zufrieden. Palimpalim blickte bekümmert in Sonnflora’s Richtung, während Krebscorps eher anteilslos in die Luft starrte.
    „Die nächste Gruppe bilden Knuddeluff und meine Wenigkeit.“
    Knuddeluff schien mit dieser Auswahl ganz und gar nicht zufrieden und zog eine Flappe.
    „Wie langweilig...“, maulte Knuddeluff.
    Plaudagei sah aus, als hätte er gerade in die bitterste Frucht seines Lebens gekostet. Verkrampft versuchte er sich wieder auf die Gruppeneinteilung zu konzentrieren.
    „Äh, ja... Wo waren wir...? Ach ja... Team Totenkopf wird natürlich als eigenes Team zum Nebelsee aufbrechen. Da sie keine Mitglieder unserer Gilde sind, haben wir kein Recht, ihr Team auseinander zu spalten. Damit verbleiben nur noch...“
    Raven sah sich um. Sein Herz machte einen Hüpfer.
    „...Bidiza, Raven und Xell. Sie bilden die verbliebene Gruppe.“
    >„Das muss ein Traum sein...“<, dachte Raven völlig fassungslos über ihr plötzliches Glück.
    Auch Xell und Bidiza schienen überglücklich. Besser hätte es wirklich nicht kommen können.
    „In Ordnung Gilde: Nun seid ihr und eure Gruppen auf euch allein gestellt. Plant eure nächsten Schritte sorgfältig und erreicht sicheren Fußes unseren Vereinbarten Treffpunkt. Macht uns stolz!“, rief Plaudagei.
    „HURRA!“, tönten alle Gildenmitglieder im Chor.


    Langsam aber sicher löste sich die Gemeinschaft auf. Raven, Xell und Bidiza lagen auf dem Boden und studierten ihre Wunderkarte, während Knuddeluff und Plaudagei in einem stillen Gespräch vertieft waren.
    „Was haltet ihr von dieser Route?“, fragte Xell. „Ein bequemer Spaziergang entlang der Schroffküste...“ sein Finger glitt über den unteren Teil der Karte, „aber dann die etwas mühselige Bezwingung des Hornberges. Von dort aus geht es dann schnurstracks zum Rendezvous mit der Gilde.“ Sein Finger stoppte an dem Punkt, wo der Nebelsee liegen musste.
    „Klingt gut oder was meinst du Raven?“, meinte Bidzia.
    Raven dachte an einen seiner vielen Träume in der vergangenen Nacht.
    „Soll mir recht sein, solange wir nicht durch den Apfelwald müssen...“, nuschelte er.
    Xell und Bidiza sahen sich fragend an.
    Xell sprang entschlossen zurück auf die Beine.
    „Dann ist es entschieden! Packen wir es an Team!“
    Er faltete die Wunderkarte sorgfältig zusammen und verstaute sie wieder sicher in ihrem Schatzbeutel.
    Sie verabschiedeten sich von Knuddeluff und Plaudagei und stiegen die beiden Leitern hinauf. Das Wetter an der Oberfläche war so wunderbar herrlich, als ob der Himmel persönlich ihnen auf ihrer Reise Glück wünschen wollte. Kein Windchen wehte, während die Sonne heiter von dem wolkenlosen Himmel auf sie herablachte. Raven warf noch einmal einen kurzen letzten Blick auf die Gilde hinter sich, bevor er mit Xell und Bidiza zur ersten Etappe ihrer Reise aufbrach.


    Schon bald hatten sie Schatzstadt weit hinter sich gelassen. Gemütlich schlenderten sie an einer traumhaften, mit Palmen übersäten Strandpromenade entlang. Der Sand unter ihren Füßen knirschte im Gleichtakt ihrer Schritte, während sie sich immer weiter von ihrer Heimat entfernten. Wenn es nach Raven ginge, könnte der weitere Weg ihrer Reise genau so weitergehen. Doch schon bald wurde der Weg vor ihnen unwegsamer. Der feine Sandstrand verwandelte sich immer mehr in einen schroffen, mit Steinen übersäten Weg. Dunkle Wolken brauten sich über ihren Köpfen zusammen. Ein eisiger Wind kam auf und peitschte ihnen ins Gesicht. Das Meer zu ihrer rechten Seite schlug kraftvoll gegen die felsige Küste.
    „Soviel zum Thema “gemütlicher Spaziergang““, rief Raven, während er mit hängendem Kopf verbissen gegen den immer stärker werdenden Wind ankämpfte.
    Xell versuchte auf ihrer Wunderkarte einen sicheren Unterschlupf zu finden, doch brauchte er fast beide Hände um zu verhindern, dass die Karte von dem Wind mitgerissen wurde.
    „Nicht weit von hier ist eine Höhle! Da können wir Deckung suchen!“, brüllte Xell seinen Freunden entgegen.
    „Dann mal nichts wie los...“, meinte Bidiza und eilte voraus.
    Es dauerte einige Minuten, bis die von Xell versprochene Höhle in Sichtweite kam. Sehr einladend sah sie zwar auf den ersten Blick nicht aus, doch war sie allemal besser als sich draußen eine Erkältung zu holen. Vom wüsten Wetter unbarmherzig gebeutelt, erreichten sie triefend die Höhle.


    „Dabei hatte der Tag so gut angefangen...“, seufzte Raven und schüttelte sich herzhaft.
    „Da hast du Recht“, sagte Bidiza, der sich ebenfalls schüttelte und Raven unbeabsichtigt mit Regenwasser besprenkelte.
    „Also, wie geht es jetzt weiter“, fragte Raven und sah zu Xell hinüber.
    Xell zerrte die Wunderkarte aus ihrem Beutel und breitete sie auf dem Boden aus.
    „Hinter dieser Höhle liegt die nächste Etappe unserer Reise: Der Hornberg. Wir könnten natürlich auch den Sturm abwarten und um die Höhle herum gehen, aber dann würde uns vielleicht viel Zeit verloren gehen. Wer weiß, wie lange dieses Mistwetter noch anhält...“
    Raven warf einen kurzen Blick in das innere der Höhle.
    „Das ist doch sicher wieder so ein verflixtes Mystery Dungeon. Was sollen wir machen, wenn wir uns verirren und nicht mehr hinaus finden...?“
    „Hast du eine bessere Idee?“, entgegnete Xell und packte die Wunderkarte wieder zurück in den Beutel.
    Raven schwieg. Er dachte an seinen gestrigen Traum. Doch die Vorstellung, dass sie plötzlich mitten im Apfelwald landen könnten und Knuddeluff sie mit Perfekten Äpfel bewerfen würde, war für Raven so absurd, dass er sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte.
    „Warum grinst du? An was denkst du gerade?“ fragte Bidiza verwirrt.
    Raven schüttelte den Kopf.
    „Erzähl ich euch ein andermal. Ich glaube du hast Recht Xell. Packen wir es einfach an. Wird schon schief gehen.“
    „Das wollte ich hören!“, rief Xell begeistert. „Los geht’s!“


    Es herrschte eine gespenstische Atmosphäre, als sie immer weiter in die Höhle vordrangen. Der Wind heulte bedrohlich durch die umschlungenen Pfade der Höhle. Sie konnten deutlich den Klang der schweren Regentropfen wahrnehmen, die schwer gegen die Außenseite der Höhle prasselten. Xell hatte inzwischen eine Fackel entzündet und führte seine Teamkameraden immer tiefer ins Unbekannte. Erneut schlug er einen anderen Weg ein.
    Raven verlor jegliches Zeitgefühl. Wie lange irrten sie bereits durch die Finsternis? Hätten sie vielleicht doch besser das Unwetter abwarten sollen? Sie mussten mittlerweile sehr tief in die Höhle vorgedrungen sein, denn das Pfeifen des Windes hatte nachgelassen. Auch konnten sie den Regen nicht mehr hören. Oder hatte sich der Sturm vielleicht gelegt?
    „Gib es doch einfach zu: Wir haben und gnadenlos verlaufen...“, seufzte Raven, als Xell wieder seine Laufrichtung wechselte.
    Bidiza schaute bedrückt zu Xell. Doch Xell lächelte.
    „Würde ich so nicht sagen. Seht mal.“
    Ein schwaches Licht war in der weiten Ferne zu erkennen. War dies vielleicht das Ende der Höhle? So schnell sie konnten rannten sie dem verlockenden Licht entgegen. Nur noch wenige Meter trennten sie von der Wahrheit.
    Sie hatten tatsächlich den Ausgang erreicht. Der Himmel hatte sich inzwischen aufgeklart und der ruppigen Böen hatten sich in eine sanfte Briese verwandelt. Von den Pflanzen tropften die letzten Spuren des vorbeigezogenen Sturms. Nicht weit von ihnen erhob sich majestätisch ein Koloss von einem Berg.
    „Na? Hab ich euch nicht gesagt, dass wir es schaffen werden?“, sagte Xell heiter.
    „Gib es doch zu: Du hast selbst nicht daran geglaubt“, sagte Raven und grinste seinem Freund entgegen.
    „Was? Warum? Woher weißt du das?“, rief er erschrocken.
    „Na dir steht die Erleichterung ins Gesicht geschrieben.“
    Raven und Bidiza lachten über den verdutzen Gesichtsausdruck Xell’s.
    Auch Xell musste lachen.
    „Ja, ich geb es ja zu, aber Hauptsache wir haben es geschafft.“
    „Da hast du recht. Dann muss das hier vorne dann der Hornberg sein, richtig?“, fragte Bidiza.
    Xell lugte auf die Wunderkarte.
    „Jepp, das muss er sein. Wir müssten jetzt hier sein“, er deutete auf die Karte. „Beeindruckend! Wir haben schon mehr als die Hälfte des Weges zurückgelegt und das an nur einem Tag. Ich würde vorschlagen, wir schlagen am Fuß des Berges unser Quartier auf und machen Schluss für heute. Oder was meint ihr?“
    Raven und Bidiza stimmten zu.


    Das Licht der Abendsonne tauchte die Landschaft vor ihnen in ein zartes orange ein, während sie sich immer weiter dem Hornberg näherten. Nach wenigen Minuten hatten sie den Fuß des Hornberges erreicht.
    Bidiza klappte erschöpft zusammen.
    „Uff! Ich bin fix und fertig...“
    Raven konnte sich ein herzhaftes Gähnen nicht verkneifen.
    „Ich geh eben noch fix etwas Feuerholz sammeln. Hoffentlich find ich nach diesem Regen irgendetwas trockenes“, sagte Xell, legte den Schatzbeutel ab und verschwand in einem kleinen Wäldchen.
    Nach kurzer Suche kehrte er mit einem breiten Grinsen im Gesicht und stapelweise brennbaren Zweigen zurück. Wenige Sekunden später prasselte auch schon ein munteres Feuer vor ihnen.
    „So was gibt’s zum Essen?“, fragte Xell händereibend und machte sich über ihren Proviant her.
    Bidzia war plötzlich schlagartig wieder munter und schnüffelte begierig in den Schatzbeutel hinein.
    Vergnügt rösteten sie ihre Äpfel über dem Lagerfeuer und rätselten noch lange in den Abend hinein, was sie wohl morgen erwarten würde.
    Die Abendsonne war inzwischen am fernen Horizont verschwunden. Zwei einsame Wölkchen zogen gemächlich an dem in dieser milden Nacht besonders strahlenden Vollmond vorbei.


    Xell und Bidiza waren mittlerweile eingeschlafen doch Raven starrte noch lange Zeit in den mit Sternen übersäten Nachthimmel. Seit langer Zeit quälten in wieder seine altbekannten Fragen: Wer ist er eigentlich wirklich, wie und warum ist er in dieser Welt gelandet und würde er jemals seine Heimat wieder sehen? Doch war es nicht eigentlich egal? War er vielleicht in dieser Welt zusammen mit Xell und seinen anderen Gildenkameraden viel zufriedener? Doch wünschte er sich endlich zumindest die Wahrheit zu erfahren...
    Eine Sternschnuppe zog am Firmament vorbei.
    Raven’s Augen wurden schwer. Endlich war auch er eingeschlafen.


    Schon lange hatte er nicht mehr einen solch erholsamen Schlaf genießen können. Frei von jeglichen Träumen, wachte er am nächsten Morgen noch vor seinen beiden Freunden auf.
    Er streckte sich ausgiebig und genoss noch einige Zeit die wärmenden Strahlen der Morgensonne, bevor sich Xell und Bidiza endlich regten.
    „Morgen!“, rief er seinen Freunden energiegeladen entgegen.
    „Guten Morgen...“, gähnten Xell und Bidiza im Chor.
    „Packen wir es an?“, fragte Raven erwartungsvoll.
    „Ja gleich. Ich brauch aber erst mal meine Ration Pirsifbeeren. Mögt ihr auch eine?“
    Vergnügt naschten sie die wenigen Pirsifbeeren, die Xell in ihrem Schatzbeutel mitgeschmuggelt hatte, bevor sie in Richtung des Eingangs zum Hornberges wanderten.
    „Hinter diesem Berg soll also der Nebelsee liegen, ja?“, fragte Bidiza und schaute an dem felsigen Riesen hinauf.


    Xell zückte seine Karte.
    „Ja richtig. Unserer Karte zufolge müssen wir nur noch den Hornberg überwinden, um den Treffpunkt mit den anderen zu erreichen.“
    „Ob die anderen bereits auf uns warten?“, frage Raven.
    „Vielleicht... Allzu viel Zeit sollten wir uns besser nicht lassen. Wir wollen ja schließlich nicht die letzten sein, oder?“, meinte Xell.
    Raven und Bidiza stimmten ihrem Freund zu.
    „OK! Dann legen wir mal los!“, rief Xell und ging voraus.


    Wie ihnen Xell bereits zu Beginn ihrer Reise prophezeit hatte, war die Besteigung des Hornberges alles andere als angenehm. Es war sogar untertrieben. Es schien fast so, als würde der Berg persönlich einen Groll gegen sie hegen. Sie tapsten von einer Sackgasse in die Nächste und Xell drohte beinahe an einem besonders steilen Abhang hinunter zu rutschen. Im letzten Moment konnte er sich noch an einem Vorsprung festkrallen.
    „Verdammt! Xell!, schrie Raven panisch und rannte zu seinem Freund.
    Mit aller Kraft konnten Raven und Bidiza ihren Freund noch einmal vor seinem sicheren Ende bewahren. Xell’s Herz hämmerte heftig, als er endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte.
    „D-Das ist grade noch einmal gut gegangen...“, stammelte Xell. Er zitterte am ganzen Körper.
    Raven atmete auf.
    „Das kannst du laut sagen.“ Er blickte in die Tiefe hinab. Der Boden war inzwischen außer Sichtweite geraten. Ihm wurde schlecht bei dem Gedanken, was passiert wäre, wenn sie nicht rechtzeitg zu Stelle gewesen wären.
    „Brauchst du eine Pause?“
    „Nein schon in Ordnung. Lasst uns weiter gehen.
    Sie hielten einen gebührenden Abstand von der Stelle, an der Xell beinahe in sein sicheres Verderben gestürzt wäre. Raven hatte inzwischen die Führung übernommen und ging dicht gefolgt von Bidiza und Xell vorsichtig voraus.
    Endlich wurde der Weg vor ihnen wieder breiter. Der Pass, dem sie folgten, führte sie geradewegs in eine neue Höhle in den Berg hinein. Raven warf einen kurzen Blick nach oben. Sie waren dem Gipfel nicht mehr fern. Vielleicht war es diese Höhle, die sie endlich zu ihrem Ziel bringen würde.
    Raven war der Verzweiflung nahe, als er seine Freunde zum dritten mal in eine neue Sackgasse führte. Liefen sie vielleicht im Kreis? Er meinte zu glauben, dass er diese Felsformation schon einmal gesehen hatte. Er schlug einen schmalen Pfad nach rechts ein.
    Xell und Bidiza folgten ihm stillschweigend.
    >„Jetzt bloß nicht die Nerven verlieren. Deine Freunde verlassen sich auf dich“<, dachte er verweifelt.
    Doch es war zum verrückt werden. Seine eingeschlagene Route wurde zunehmend enger. Hatte er sie geradewegs in die nächste Sackgasse geführt? Er zwänge sich mühselig durch den schmalen Tunnel, als er plötzlich von einem hellen Licht geblendet wurde. Nicht unweit vor ihm, war eine Spalte zu sehen.
    „Da vorne!“, rief er erwartungsvoll.
    „Was ist da vorne?“, fragte Xell keuchend.
    „Ein Licht! Vielleicht haben wir den Gipfel erreicht.“
    Sein Puls wurde schneller. Gewaltsam bahnte er sich seinen Weg durch den Engpass und erreichte schwer atmend den breiten Riss in der Wand.
    Es dauerte einige Sekunden, bis sich seine Augen wieder an das Licht der Außenwelt gewöhnten. Auch Xell und Bidiza hielten sich noch einige Sekunden die Hände vor die Augen, bis sie einen Blick riskierten.
    Sie hatten tatsächlich den Berg bezwungen und den Gipfel erreicht.
    „Wir haben es geschafft!“, jubelte Bidiza.
    Raven atmete aus. Sie hatten es tatsächlich geschafft.
    „Hey, kommt und seht euch das mal an! Das müsst ihr gesehen haben!“, rief Xell, der bereits am Rande des Plateaus stand.
    Raven und Bidiza eilten zu ihm. Ihnen bot sich ein ehrfurchterregender Anblick: In dem Tal vor ihnen erstreckte sich ein geheimnisvoller, von dichtem Nebel umhüllter Wald. Sie hatten ihr Ziel erreicht.


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  • Kapitel VIII.: Das Herz von Groudon



    Ehrfürchtig blickten Bidiza, Raven und Xell auf das mystische, von Nebel verschlungene Tal hinab. Wie, als ob sie die Geheimnisse des Waldes bis zum Ende der Zeit vor neugierigen Blicken beschützen wollten, schwebten die Nebelschleier stillschweigend über das Tiefland.
    Selbst aus solch großer Entfernung, konnte Raven deutlich die Mystik, die von diesem Ort ausging, deutlich spüren. Der Nebelwald strahlte etwas bedrohliches aus, als ob er jeden Eindringling, der so törricht war in sein Reich einzudringen, verschlingen und nie wieder aus seinen Fängen preis geben würde. Doch neben dieser beunruhigenden Geste strömte er gleichzeitig ein packendes Gefühl der Verlockung und Verführung aus, fast so, als ob er nur darauf warten würde, dass endlich jemand die Rätsel in seinem Inneren lüftet.


    Die Minuten verflogen, während Bidiza’s, Raven’s und Xell’s Blick nach wie vor auf dem Tal vor ihnen haften blieb. Raven hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Er wusste nicht, wie lange sie bereits auf dem Gipfel des Hornberges verbracht hatten, als er endlich seine Sprache wieder fand.
    „Hier also soll sich also der Nebelsee befinden?“
    Auch in Xell kehrte endlich wieder Leben zurück.
    „Das muss es sein.“ Er zückte ihre Karte. „Ja, unsere Position stimmt.“
    Wieder blickte er fasziniert auf das Tal hinab.
    „Es kommt mir fast so vor, als würde der Wald förmlich nach uns rufen...“
    „Mir auch“, sagte Bidiza nicht minder beeindruckt als seine Freunde.


    Raven konnte endlich seinen Blick losreißen und begann eine günstige Stelle für ihren Abstieg zu suchen. Nach ausgiebiger Sondierung seiner Umgebung, hatte er eine geeignete Passage entdeckt. Zwar handelte es sich um einen recht steilen und unwegsamen Abhang, doch war dies die einzig geeignete Möglichkeit für den Abstieg.
    Raven brauchte einige “schockierende Argumente“, um endlich die Aufmerksamkeit seiner Gefährten wieder zu gewinnen.
    „Meinst du das ernst?“, fragte Bidiza und sah besorgt auf den von Raven ausgewählten Abstiegsort. „Das sieht ja lebensgefährlich aus... Gibt es nicht einen sichereren und leichteren Weg?“
    „Ich habe die Umgebung sorgfältig ausgekundschaftet. Uns bleibt leider nur dieser Abhang oder wir müssen uns noch einmal durch den Berg kämpfen und meilenweit das Gebirge umgehen. Das sagt zumindest unsere Karte...“, antworte Raven.
    Bidiza schluckte.
    Xell schien auch nicht unbedingt begeistert von Raven’s ausgemachter Route zu sein, doch schien seine Ungeduld auf die Geheimnisse die vor ihnen lagen größer zu sein, als seine Nervosität vor dem Abstieg. Langsam schritt er auf den Abhang zu und setzte seinen ersten Fuß auf das steile Gefälle und sondierte die Lage. Nach einigen weiteren äußerst sorgfältig gesetzten Schritten, drehte er sich um.
    „Es wird gehen. Wenn wir nichts überstürzen, sollten wir auch heil hinunter kommen“, rief er.
    Raven tat es seinem Freund gleich. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen.
    Auch Bidiza setzte sich in Bewegung. Zögernd begann er, Raven zu folgen.


    Der Abstieg stellte noch viel nervenaufreibender heraus, als der Aufstieg. Der von ihren Schritten aufgeworfene Kies kullerte mit hoher Geschwindigkeit die steile Böschung hinab. Raven konnte Bidiza hinter sich schwer schnaufen hören, während sie sich Schritt für Schritt dem Fuße des Berges näherten. Sie hatten den Gipfel schon weit hinter sich gelassen Gerade als der rettende Boden in greifbare Nähe gerückt war, verlor Xell das Gleichgewicht, purzelte die letzten Meter den Hang hinunter und legte sich nach einem zirkusreifen Überschlag spektakulär auf die Nase.
    „Autsch, das wird hässliche Flecken geben...“, stöhnte Xell als ihm seine Freunde wieder auf die Beine halfen. „Erinnert mich bitte daran, dass wir in Zukunft um diesen Ort einen weiten Bogen machen...“


    Der Berg hatte wahrlich deutliche Spuren bei ihnen hinterlassen. Schweißgebadet von Kopf bis Fuß verdreckt und in Xell’s Fall von dem Sturz über zerkratzt, legten sie im Schatten des steinigen Übeltäters eine kurze Verschnaufspause ein, bevor sie ihre Reise fortsetzten.
    Die Sonne brannte ihnen auf dem Weg zu dem vereinbarten Gildentreffpunkt unbarmherzig auf den Rücken.
    „Wie weit ist es noch?“, keuchte Bidiza, der am Ende seiner Kräfte war.
    Xell wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er warf einen Blick auf ihre verlässliche Karte.
    „Wir müssten eigentlich jeden Moment in Sichtweite kommen.“
    Mit jedem Schritt, den sie gingen, wurde es zunehmend kühler. Ein sanfter Nebelschleier hatte sich über ihren Köpfen zusammengezogen der die stechend heißen Strahlen der Sonne filterte.


    Xell schreckte plötzlich auf.
    „Schaut mal da vorne! Ich kann das Basislager sehen!“
    Tatsächlich. Einige Hundert Meter vor ihnen konnten sie eine Reihe von Zelten auf einer Lichtung ausmachen. Mit letzter Kraft, schleppten sich Bidiza, Raven und Xell in Richtung des Treffpunktes. Das Stimmengewirr aus der Ferne wurde mit jedem zurückgelegten Meter lauter. Raven konnte bereits deutlich die kommandierende Stimme Plaudagei’s herauslesen.
    Viel weiter hätten sie wahrlich nicht mehr geschafft. Völlig Ausgezehrt und jegliche Kraftreserven bis zum absoluten Minimum ausgeschöpft, erreichten sie endlich das Basislager.
    Auf einer weiten Lichtung, hatten sich ihre Freunde bereits häuslich eingerichtet. Eine Reihe von Zelten waren bereits an Ort und Stelle errichtet worden und ein kleines Lagerfeuer knisterte fröhlich im Zentrum der Lichtung.


    Als die drei Neuankömmlinge den Platz erreichten, brach reger Trubel aus. Von überall konnten sie die freudigen Zurufe ihrer Kameraden hören.
    Zu Raven’s Verwunderung, schienen bereits alle ihre Kameraden vor Ort zu sein. Waren sie etwa die letzten?
    Plaudagei, der auch ihre Ankunft bemerkt hatte, löste sich aus der Menge und flatterte Bidiza, Raven und Xell entgegen.


    „Wo seid ihr denn so lange gewesen und wie seht ihr eigentlich aus?“, fragte er verwundert und sah abwechselnd auf Bidiza, Raven und Xell.
    „Lange Geschichte...“, seufzte Xell. „Sind alle anderen etwa schon da?“
    „Und ob. Ihr habt euch ja eine Menge Zeit gelassen“, antwortete Plaudagei mit einem leicht spöttischen Unterton. „Ihr seid tatsächlich die letzten, aber irgendwie hatte ich mir das schon vor unserer Abreise gedacht. Schließlich seid ihr drei noch Frischlinge.
    Raven kochte vor Wut. Hatten sie etwa Kopf und Kragen riskiert, nur um sich am Ende von Plaudagei beleidigen zu lassen? Am liebsten hätte er sich mit Plaudagei ein hitziges Wortgefecht geliefert, doch war er viel zu müde, um sich mit ihm anzulegen.
    „Nicht wirklich, aber trotzdem danke für die Blumen“, knurrte Raven.
    Einige Sekunden standen sie stillschweigend da, bis sich Bidiza zu Wort meldete.
    „Wie sieht denn der Plan aus? Wollen wir heute uns noch auf die Suche nach dem Nebelsee machen?“
    „Das hatten wir eigentlich vor, aber da wir ja solange auf euch warten mussten...“, er hüstelte künstlich, „... werden wir die eigentliche Expedition erst morgen starten.“
    Das Blut schoss in Raven’s Kopf. Er klammerte sich verbissen an dem letzten bisschen Beherrschung, welche er in dem Moment finden konnte, um nicht über Plaudagei her zu fallen.
    „Ihr habt für den Rest des Tages frei. Dort drüben haben wir bereits ein Zelt für euch bereit gestellt. Ruht euch am besten für Morgen ordentlich aus.“
    Er hüpte davon, drehte sich aber nach einigen Metern noch einmal herum.
    „Und achja. Ihr solltet euch auf jeden Fall waschen. Ihr seht ziemlich bemitleidenswert aus...“ Sein Blick blieb kurze Zeit auf Xell haften, bevor er sich in Richtung eines Zeltes aufmachte.


    „Mit so einem herzlichen Empfang hatte ich wirklich nicht gerechnet...“, seufzte Xell. „Oh man, wir sind die letzten. Das ist beschämend...“
    „Ein Team musste ja die Nachhut bilden“, sagte Bidiza heiter. Ihn schien die Tatsache als letzter angekommen zu sein, nicht weiter zu stören. „Wie sieht’s aus? Wollen wir uns mal unser Zelt anschauen?“
    Raven war über den raschen Themenwechsel äußerst dankbar. Auf dem Weg zu ihrem Zelt wurden sie von den verbliebenen Gildenmitgliedern freundlich empfangen. Zum Leitwesen von Raven und Xell, mussten sie feststellen, dass auch die Mitglieder des Teams Totenkopf sich bereits eingefunden hatten. Raven versuchte verbissen, den ätzenden Gestank der pausenlos von Skunktank ausging zu ignorieren, und seine Gedanken auf etwas anderes zu lenken.


    Zu ihrer Freude waren in ihrem Zelt bereits 3 große einladende Heubetten für sie bereit gestellt worden. Xell legte ihren Schatzbeutel ab und ließ sich auf einem Bett nieder.
    „Ich bin echt fix und fertig. Mich kriegen heute keine zehn Galoppa’s mehr aus meinem Bett. Gute Nacht.“
    „Willst du etwa allen ernstes jetzt schon ins Bett?“, fragte Raven verwundert. „Es ist doch grade erst früher Nachmittag und außerdem...“
    Doch Xell war bereits binnen weniger Sekunden eingeschlafen. Raven schüttelte den Kopf, als er seinen Freund so matt daliegen sah.
    „Und was ist mir dir? Willst du dich etwa auch schon aufs Ohr hauen?“, fragte Raven Bidiza.
    „Hatte ich eigentlich nicht vor...“, flüsterte Bidiza leise, um Xell nicht zu wecken.


    Lautlos verließen sie das Zelt und ließen Xell alleine zurück. Nach einem kurzen Abstecher bei der hiesigen Wasserquelle, trotteten Raven und Bidiza (mittlerweile wieder völlig sauber) über den Platz.
    „Und, was hast du jetzt vor?“, wollte Raven wissen.
    „Ich werd mich mal hier etwas umsehen und etwas mit den anderen plaudern. Magst du mitkommen?“
    Als Raven so mit Bidiza über den Platz marschierte und sein Blick über das Lager wanderte, wurde er plötzlich sehr nachdenklich. Bildete er es sich nur ein oder kannte er diesen Ort von irgendwo her? Aber das konnte eigentlich gar nicht sein...
    „Ähm Raven? Alles in Ordnung? Du wirkst so weltfremd.“
    Raven schüttelte den Kopf.
    „Hm was? Nein, nein. Alles in Ordnung. Ähm, wenn es dir nix ausmacht, dann stoße ich später zu euch. Mir ist gerade etwas wichtiges eingefallen, um das ich mich noch kümmern muss“, log Raven rasch.
    „OK, alles klar. Bis später dann.“
    Bidiza trottete davon.


    Raven starrte gedankenverloren über den Platz. Dieses Gefühl der Vertrautheit um diesen Ort ließ ihn nicht mehr los. Warum kam ihm dieses Fleckchen Erde so bekannt vor? Es war eigentlich völlig unmöglich, dass er hier schon einmal gewesen war. Sein Blick wanderte von West nach Ost, von Baum zu Baum und von Fels zu Fels.
    Konnte es vielleicht sein...? Ja, war es vielleicht möglich...? Waren es vielleicht wiederkehrende Erinnerungen aus seinem früheren Leben? Krampfhaft kniff er die Augen fest zusammen und versuchte sich verzweifelt an irgendetwas erinnern. Doch da war nichts, an das er sich erinnern konnte. So sehr er sich auch konzentrierte, keinerlei Bilder wollten sich vor seinem inneren Auge manifestieren.
    Raven fluchte laut. Er war sauer auf sich selbst. Keine wiederkehrenden Erinnerungen, sondern nur dieses schemenhafte Gefühl, diesen Ort zu kennen, blieben in ihm zurück.


    Mittlerweile war die Sonne fast untergegangen. Raven lag mit weit geöffneten Augen in seinem Bett und starrte auf die Decke des Zeltes. Er fühlte sich, als würden brennend heiße Nadeln pausenlos seinen Kopf durchbohren. Er brauchte Schlaf, doch eine innere Stimme in ihm, wollte ihn an diesem Abend einfach nicht zur Ruhe kommen lassen. Er wälzte sich minutenlang in seinem Bett umher, bis er schließlich seine vergeblichen Einschlafversuche aufgab. Neidisch blickte er auf Xell, der seelenruhig schlafend in seinem Bett lag und wahrscheinlich die schönsten Träume hatte. Raven’s Blick wanderte in Richtung Bidiza’s Bett, doch der war noch immer unterwegs. Raven entschloss sich, noch einen kleinen Spaziergang zu machen. Zwar war er felsenfest davon überzeugt, dass ihn sein abendlicher Streifzug nicht auf andere Gedanken bringen würde und das es ihm spätestens beim Aufstehen am nächsten Morgen sehr Leid tun würde, doch was blieb ihm anderes übrig?


    Leise stieg er aus seinem Bett und ließ Xell alleine im Zelt zurück. Inzwischen war es draußen nahezu stockdunkel. Der Himmel war durch den dichten Nebelschleier über ihm nicht zu sehen und so spendeten an diesem Abend weder der Mond noch die Sterne ihr sanftes Licht. Einzig und allein das Lagerfeuer im Zentrum der Zeltplatzes, erhellte die Lichtung. Aus der Entfernung konnte Raven Stimmen und die hellen Umrisse der anderen Gildenmitglieder erkennen, die sich um das Lagerfeuer versammelt hatten.
    Raven überlegte nicht lange und schlurfte zu seinen Kameraden hinüber.
    „Guten Abend. Was dagegen, wenn ich mich etwas zu euch geselle?“, fragte er.
    Freudig hießen seine Freunde ihn herzlich in ihrer Runde willkommen. Raven nahm zwischen Bidiza und Sonnflora Platz und starrte gedankenversunken auf das Lagerfeuer. Zu seiner Erleichterung waren alle Gildenmitglieder, Knuddeluff und Plaudagei miteingeschlossen, anwesend, doch keine Spur von Team Totenkopf zu entdecken.


    Raven lauschte nur mit einem Ohr den Unterhaltungen seiner Freunde und versuchte sich wieder vergeblich an irgendetwas aus seiner Vergangenheit zu erinnern, als Plaudagei’s Stimme in seine Richtung schallte.
    „Was ich euch beide noch fragen wollte: Warum hat die Anreise bei euch solange gedauert?“
    Raven schreckte aus seinen Gedanken. Er blickte noch einige Sekunden ins Feuer, bevor er antwortete.
    „Ich weiß ehrlich gesagt nicht was du meinst. Ich finde, wir sind sehr schnell voran gekommen...“
    „Und trotzdem wart ihr die letzten“, entgegnete Plaudagei. „Welche Route habt ihr denn genommen?“
    „Hornberg...“ brummte Raven.
    Nahezu alle Gildenmitglieder zuckten erschrocken zusammen.
    „Ist das dein ernst? Ihr seid tatsächlich über den Hornberg gekraxelt?“, fragte Plaudagei bestürzt.
    „Ja. Na und?“
    „Warum habt ihr gerade diese Route genommen? Es ist wahrlich ein Wunder, dass ihr überhaupt in einem Stück hier angekommen seid. Der Hornberg ist selbst für die erfahrendsten Erkunder ein dicker Brocken.
    „Keine Ahnung. Xell hatte unsere Route geplant. Er dachte wohl, es sei der einfachste Weg...“, antwortete Raven mittlerweile etwas kleinlaut. „Welche Routen habt ihr denn genommen?“
    „Das war recht witzig: Obwohl alle Teams ihre Routen selbst festgelegt hatten, sind alle, bis auf euch natürlich, über den Apfelwald gezogen. Das war ein Spaß, als wir uns plötzlich alle über den Weg gelaufen waren“, lachte Knuddeluff.
    „Alles in allem zumindest eine gelungene Anreise. Alle Gildenmitglieder haben es heil hier her geschafft und der Gildenmeister konnte zwischendurch sogar noch einige Perfekte Äpfel bergen“, trällerte Plaudagei vergnügt.
    Raven schnaubte so laut, dass Bidiza und Sonnflora vor Schreck zusammenfuhren. Während sie bei Wind und Wetter den Gefahren des Hornberges getrotzt hatten, waren seine Kameraden also Äpfel pflücken und trotzdem schneller als sie. Das sollte er besser nicht Xell erzählen, sonst würde er wahrscheinlich wieder in ein tiefes Loch aus Selbstmitleid fallen.


    Raven und die anderen Gildenmitglieder saßen noch lange im Schein des Lagerfeuers und rätselten fleißig um das Mysterium des Nebelsees. Raven war sehr glücklich darüber, endlich von seinen stumpfsinnigen Gedanken abgelenkt zu werden.
    „Mich würde brennend interessieren, um was für einen Schatz es sich am Nebelsee handelt“, sagte Sonnflora und blickte verträumt ins Feuer.
    „Tja, das wüssten wir alle wohl gerne. Aber es wird garantiert kein Zuckerschlecken, es herauszufinden. Schon einige Erkunder sind bei ihrem Vorhaben gescheitert und sollen am Ende nicht mehr sie selbst gewesen sein“, sagte Plaudagei ernst.
    Es herrschte plötzlich eine bedrückende Stille. Nur das Knistern des Feuer was zu hören, als alle Augen auf Plaudagei ruhten.
    „Was willst du damit sagen? ’Sie sollen nicht mehr sie selbst gewesen sein.’ Was meinst du damit?“, fragte Sonnflora und konnte dabei ein zittern in ihrer Stimme nicht unterdrücken.
    Plaudagei blickte einige Sekunden auf den finsteren Wald. Er seufzte schwer.
    „Ich möchte euch wirklich keine Angst machen, aber wenn ihr es unbedingt wissen wollt...“
    „Nun spuck es schon aus“, rief Krakeelo.
    Alle Anwesenden, Sonnflora mit eingeschlossen, nickten.
    „Nun gut... Also neben der Legende um den sagenumwogenen Schatz des Nebelsees, kursiert eine weitere Sage...“
    Plaudagei setzte eine kurze Pause ein, bevor er weitersprach.
    „Man erzählt sich, dass der Nebelsee von einem heiligen Wächter bewacht wird und jeder, der es wagt, den Nebelsee unerlaubt zu suchen, augenblicklich sein Gedächtnis verliert.


    Ein Raunen ging über die Runde. Raven’s immer zunehmendere Müdigkeit war mit einem Wimpernschlag verschwunden. In seinem Kopf tobte ein erbitterter Kampf von unzähligen Informationen, die mit einem Schlag verarbeitet werden wollten.
    Hatte er vielleicht einst selbst den Nebelsee gesucht und war er dabei etwa auf den Wächter des Nebelsees gestoßen? War das der Grund, warum er keinerlei Erinnerungen an sein früheres Leben hatte und ihm zudem dieser Ort so vertraut vor kam? Aber warum war er dann an einem Strand aufgewacht und nicht hier? Und warum hatte er sich, wenn diese Geschichte so stimmen sollte, in ein Pokémon verwandelt? Es ergab einfach keinen Sinn...
    Je länger er sich darüber den Kopf zerbrach, umso größere Kopfschmerzen bekam er.


    „Es ist natürlich nur eine weitere Legende um den Nebelsee“, sagte Plaudagei schließlich. „Wir werden der Sache morgen auf den Grund gehen. Bis dahin wünsche ich euch eine gute Nacht.“ Er gähnte noch einmal ausgiebig, bevor er in Richtung seines Zeltes davon flatterte.
    „Ich werde mich dann für heute Abend auch mal trollen. Gute Nacht Freunde“, sagte Knuddeluff lässig und hüpfte davon.


    Die übrigen Gildenmitglieder sahen ihnen besorgt nach.
    „Glaubt ihr, dass die Geschichte wahr ist?, fragte Bidiza besorgt.
    Krakeelo lachte spöttisch.
    „Unsinn! Ich gehe jede Wette mit euch ein, dass Plaudagei und Knuddeluff uns nur etwas Angst machen wollten. Ein schönes Schauermärchen haben sie sich da einfallen gelassen.
    „Hoffen wir es...“, quiekte Digda.
    Raven schwieg.


    Es wäre wahrlich ein Wunder gewesen, wenn Raven nach Plaudagei’s Geschichte einfach so einschlafen hätte können. Tatsächlich ging es ihm nun innerlich schlechter, als vor seinem Spaziergang.
    Stundenlang, so kam es ihm vor, verfolgten ihn Plaudagei’s Worte. Raven wälte sich auf die andere Seite seines Bettes.
    War es wohlmöglich doch die Wahrheit? Ein Wächter der den Nebelsee beschützt, indem er Eindringlingen ihrer Erinnerungen um diesen Ort beraubt?
    Wieder wälzte er sich auf die andere Seite.
    Und was, wenn es tatsächlich stimmte? Hatte er auf diese Weise sein Gedächtnis verloren? Hatte er unerlaubt das Heilige Reich betreten?
    Erneut warf er sich in seinem Bett herum.
    Wenn es so stimmte, hatte er dann überhaupt eine Chance seine Erinnerungen nach dieser frevelhaften Tat wieder zu bekommen?
    Ein letztes mal noch, wälzte such Raven in seinem Bett umher, bevor er endlich seiner Müdigkeit erlag.


    Nach einer viel zu kurzen, aber glücklicherweise traumlosen Nacht, wurde Raven am nächsten Morgen von Xell mehr oder weniger sanft geweckt.
    „Hey Raven, aufwachen! Es wird Zeit. Die anderen warten sicher alle schon.“
    Raven plumpste aus seinem Bett. Ihm kam es so vor, als wäre er noch müder als Tags zuvor. Doch der Gedanke, dass er heute vielleicht das Rätsel um seine Vergangenheit lüften könnte, verhalf ihm an diesem Morgen zu unerwarteter Motivation. Dennoch warf er seinem Freund neidische Blicke zu, als dieser vor Freude einen akrobatischen Luftsprung hinlegte.
    „Ich könnte heute morgen Bäume ausreißen. Kann es kaum erwarten, bis es endlich los geht.“
    Als Raven und Xell schließlich am Sammelpunkt in der Nähe ihres inzwischen erloschenen Lagerfeuers eintrafen, reihten sie sich zu ihren schwatzenden Freunden ein.
    Neben allen Gildenlehrlingen, Plaudagei und Knuddeluff, hatten sich auch, zum Leitwesen von Raven’s empfindlicher Nase, die Mitglieder von Team Totenkopf versammelt.
    Er warf ihnen einen vielsagenden, abstoßenden Blick zu und versuchte seine Gedanken wieder auf die Expedition zu lenken.


    Plaudagei schien ihre Ankunft bemerkt zu haben und nahm sogleich seine gewohnte Ansprachenstellung vor ihnen ein.
    „Ich wünsche euch einen schönen guten Morgen“, flötete er.



    Nur wenige erwiderten seinen Gruß. Die Anspannung, auf das, was bald auf sie zukommen sollte, war wohl einfach zu groß. Plaudagei ließ sich davon allerdings nicht besonders stören und setzte seine Ansprache unbeirrt fort.
    „Heute ist es soweit. Der Tag auf den wir alle so lange gewartet haben. Vor uns liegt möglicherweise die schwierigste Aufgabe, der wir uns jemals gestellt haben: Die Suche nach dem sagenumwogenen Nebelsee.“
    >„Komm auf den Punkt und schwing keine so großen Reden...<“, dachte Raven verbittert. Er, und offenbar die meisten seiner Freunde auch, schienen der langen Warterei allmählich überdrüssig zu sein.
    „Ich möchte hier nicht lange um den heißen Brei reden...“
    „>Dem Himmel sei Dank...“<, dachte Raven.
    „...nur noch einige allgemeinen Informationen.“
    Raven stöhnte leise.
    „Ich werde hier im Lager bleiben, um eure Infos zu sammeln. Habt ihr etwas interessantes gefunden, so teilt mir das bitte unverzüglich mit.
    Es gab leises murren unter einigen Gildenmitgliedern. Natürlich musste auch jemand diese Aufgabe übernehmen, aber es wunderte offenbar niemanden, dass Plaudagei derjenige sein würde.
    „Euch bleibt selbst überlassen, ob ihr alleine oder im Team loszieht. Tut das, was ihr für euch und die Gilde am besten findet.“
    Xell rückte unmissverständlich etwas näher zu Raven auf.
    „Noch herrscht einigermaßen klare Sicht. In dem Wald aber vor uns, werden eure Sichtverhältnisse deutlich eingeschränkt. Glaubt ihr euch verirrt zu haben, so versucht nicht weiter in den Wald einzudringen, sondern den Weg zurück zu finden. Die sichere Wiederkehr von euch hat oberste Priorität. Vergesst das nicht. Notfalls werden wir Rettungsmannschaften bilden, um vermisste Crewmitglieder zu finden. Hoffen wir aber, dass es soweit nicht kommen wird.“
    Es gab allgemeines Kopfnicken, während Plaudagei sprach.
    „Wer glaubt, dass er der Aufgabe, die vor ihm liegt, nicht gewachsen zu sein, der sollte dies uns jetzt bitte mitteilen. Besser ihr macht jetzt noch einen Rückzieher, als dass er auf der Erkundung in Panik gerät und verloren geht.“
    Raven schaute sich um. Niemand rührte sich, noch gab jemand einen Mucks von sich. Ihre Entscheidung stand fest.
    „Gut“, sagte Plaudagei nach einigen Sekunden des Wartens.
    „Ein letztes noch: Versucht bitte rechtzeitig vor Sonnenuntergang wieder im Lager zu sein. In der pechschwarzen Nacht werdet ihr sicherlich nicht mehr vor Sonnenaufgang hinausfinden.
    Er suchte Knuddeluff’s Blick. Dieser nickte ihm entschlossen zu.
    „Möge die Erkundung beginnen. Viel Glück euch allen und eine sichere Wiederkehr.“


    Alle Gildenmitglieder brüllten vor Euphorie und Tatendrang, als Plaudagei endlich geendet hatte. Die meisten Teilnehmer stoben schlagartig in alle Winde aus und begannen auf ihre eigene Art den Nebelwald zu erforschen. Team Totenkopf hatte sich bereits mitsamt ihrer Duftnote ins Unbekannte gestürzt. Auch Krakeelo war nur noch weniger Sekunden zu sehen, bevor er in den nebligen Wald eindrang.
    Raven und Xell wollten sich gerade auf den Weg machen, als Bidiza auf sie zukam.
    „Ähm, hört mal... Tut mir leid, aber ich würde gerne diese Erkundung alleine bestreiten. Ich möchte beweisen, dass ich allein auch dazu in der Lage bin. Seid mir deshalb bitte nicht böse, ja?“
    „Natürlich nicht. Ich finde das ehrlich gesagt sogar sehr mutig von dir. Das sieht Raven sicher genauso oder?“, meinte Xell.
    Raven nickte stumm.
    „Viel Glück und pass auf dich auf.“
    „Ja danke! Bis später!“, rief Bidiza und eilte in Richtung des Nebelwaldes.


    Raven und Xell sahen ihm nach, bis auch er vom Dickicht des Waldes verschlungen wurde.
    „So, wollen wir dann so langsam auch mal?“, fragte Xell.
    „Du glaubst gar nicht, wie lange ich auf diese Frage gewartet habe“, antwortete Raven ungeduldig.
    Xell grinste.
    „OK! Dann legen wir mal...Oh nein warte... verdammt!“
    „Was ist denn nun noch?“, seufzte Raven.
    „Ich habe unsere Tasche im Zelt vergessen...“
    „Argh! Beeil dich halt!“, schnaubte Raven gereizt.
    „Jaja. Keine Sorge dauert nicht lange...“, rief Xell und rannte in Richtung ihres Zeltes.
    Raven stapfte verärgert über den Platz. Warum musste Xell auch diese blöde Tasche vergessen? Die anderen hatten sicherlich bereits einen riesigen Vorsprung und er stand immer noch untätig herum. Gedankenverloren starrte er in die verkohlten Überreste des erloschenen Lagerfeuers. Hatte ihm gerade die helle Morgensonne einen Streich gespielt oder hatte da nicht gerade etwas in der Asche gefunkelt? Neugierig näherte sich Raven und blickte auf abgebrannten Überbleibsel des Lagerfeuers.


    Ein lautes Schnaufen hinter ihm, kündigte Xell’s Rückkehr an.
    „So ich hab sie...“, keuchte er. „Wollen wir dann?“
    Raven schwieg und starrte immer noch auf die Asche vor ihm.
    „Hm? Was ist mit dir?“
    Xell’s Aufmerksamkeit wurde auf einmal auch von einem jähen Funkeln aus der Asche gepackt. Neugierig griff er in die hölzernen Überreste hinein. Nur wenige Augenblicke später hielt er ein faustdickes, rubinfarbenes Juwel in den Händen.
    „Boah! Wahnsinn! Raven schau mal, wie er funkelt.“
    Er rieb die letzte Asche von dem Edelstein und hielt es in das Licht der Sonne.
    Raven bestaunte ihren Fund von allen Seiten und spürte die angenehme Wärme, der das Juwel ausstrahlte.
    „Also selbst wenn wir den Nebelsee nicht finden sollten; das gute Stück hier dürfte auf jeden Fall ein würdiger Trostpreis für unsere Gilde sein“, sagte Raven ehrfürchtig.
    „Oh der Nebelsee!“, rief Xell erschrocken. „Wir sollten jetzt aber wirklich schleunigst losgehen. Ich werde den Klunker einfach mal auf die Expedition mitnehmen. Wir können ihn heut Abend immer noch Plaudagei zeigen.“
    Raven erschrak. Für kurze Zeit hatte er tatsächlich die Erkundung total vergessen. Er stimmte seinem Freund in allen Punkten zu und eilte, dicht gefolgt von Xell, in Richtung des Nebelwaldes. Spontan entschieden sie, etwas weiter westlich von ihren Kameraden in den Wald einzudringen.


    Raven betrat zuerst das dichte Unterholz des Nebelwaldes. Ein plötzlicher Temperatursturz ließ seine Haare zu berge stehen. Obwohl er nur weniger Meter von der Außenwelt getrennt war, fühlte er sich, als hätte er gerade ein Tor in eine andere Dimension betreten.
    Inzwischen hatte auch Xell den Wald betreten. Ehrerbietig schaute er sich um.
    „Irgendwie gruselig dieser Ort und so kalt...“ schlotterte er. „Lass uns losgehen, sonst frieren wir hier noch fest.“
    Plaudagei hatte wahrlich nicht untertrieben, was die Sicht im Nebelwald betraf. Die Nebelsuppe vor ihnen wurde mit jedem Schritt den sie taten dicker und dicker. Minütlich mussten sie sich beide vergewissern, ob der andere noch da war.
    Es herrschte eine unheimliche Stille, während sie immer tiefer in den Wald eindrangen. Kein Geräusch von der Außenwelt drang in ihr Ohr. Nur das laute Knacken der Zweige unter ihren Füßen begleitete sie Schritt für Schritt, während die gigantischen Bäume um sie herum ihnen finstere Blicke zuwarfen.
    „Raven? Bist du noch da?“, fragte Xell zum dritten Mal in dieser Minute.
    „Bin ich. Keine Sorge. Wie sieht es bei dir aus? Alles OK oder brauchst du eine Pause?“
    „Geht noch. Auch wenn ich die Hand vor Augen nicht mehr... Autsch!“
    Zwar konnte Raven nicht deutlich erkennen, was gerade passiert war, doch sagte ihm der dumpfe Aufprall und das laute Rascheln vor ihm mehr als genug.
    „Daher kommt also das Sprichwort ’Den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen’“, sagte Xell und rieb sich, sofern es Raven wahrnehmen konnte, die Nase. „Jetzt könnt ich eine Pause brauchen...“


    Ihr weiterer Weg führte sie immer weiter nach Osten, wo ihrer Vermutung nach das Herz des Waldes liegen musste. Raven’s Füße begannen allmählich zu ziepen. Er konnte nur mutmaßen, wie viele Stunden sie bereits in dem Wald umherirrten.
    Gerade, als er mit dem Gedanken spielte, Xell zur Rückkehr in das Gildelager zu bewegen, nahmen seine feinen Ohren ein fernes, leises Geräusch wahr. Er blieb abrupt stehen.
    „Hey Xell! Hörst du das auch? Dieses Rauschen?“
    Auch Xell blieb stehen und spitze gebannt seine Ohren.
    „Jetzt wo du es sagst...Ja! Was kann das sein? Klingt irgendwie wie ein Wasserfall.“
    Von unbändiger Neugier getrieben, vergaß Raven sogar seine schmerzenden Füße und eilte zusammen mit Xell der Geräuschsquelle entgegen. Mit jedem Meter, den sie zurücklegten, lockerte der Nebel zunehmend auf. Ihre Sicht war dennoch weiterhin sehr eingeschränkt, selbst als sie urplötzlich aus dem dichten Unterholz brachen und auf einer offenen Lichtung landeten.


    Vorsichtig betraten Raven und Xell die Lichtung und versuchten den Ursprung der Geräuschquelle zu finden. Doch von allen Seiten konnten sie plötzlich deutlich das laute Wasserplätschern wahrnehmen, doch lag weiterhin zwischen den Geräuschquellen und ihnen eine dichte, undurchdringliche Nebelbank. Gerade als sie immer tiefer in die Lichtung eindrangen, hörten sie eine ihnen bekannte Stimme.
    „W-Wer ist da?“, rief sie ängstlich.
    Raven erkannte sofort, um wessen Stimme es sich handelte.
    „Krebscorps? Bist du es? Wir sind es: Raven und Xell!“
    „Raven? Xell? Oh Wahnsinn! Perfektes Timing. Kommt mal hier schnell rüber. Ich hab etwas interessantes entdeckt.“
    Raven und Xell folgten dem Ursprung von Krebscorps Stimme und kannten nach einigen Schritten ihren Freund plötzlich deutlich vor ihnen erkennen. Doch was er nicht allein. Auf den ersten Blick sah es so aus, als würde hinter Krebscorps ein gigantisches Etwas lauern. Doch auf den nächsten Blick stellte Raven fest, dass es sich um eine Art Monument handelte. Es sah sehr verwittert aus, als ob es schon seit Urdenken hier sein Dasein fristen würde. Auf einem Sockel war ein Koloss eines Pokémon’s abgebildet, welches Raven nicht kannte.
    Sein kompletter Körper schien von einem starken Panzer umhüllt zu sein, auf dem sich merkwürdige Gravuren abzeichneten. Gleichzeitig hatte es am ganzen Körper spitze Stacheln, scharfe Klauen und einen mit todbringenden Dornen versehenen Schweif.



    „Was ist das?“, wollte Raven wissen. „Ein Pokémon?“
    „Möglicherweise“, antwortete Krebscorps. „Ich habe ein solches Pokémon aber noch nie gesehen. Aber laut der Inschrift an der Seite, heißt es Groudon.“
    „Inschrift? Lass sie mich mal lesen.“
    Krebscorps führte Xell an eine Stelle der Statue, an der, aus Raven’s Sicht, merkwürdige Symbole abgebildet waren.
    „Fußabdruckrunen“, murmelte Xell als er Raven’s verwirrten Blick sah. „Gib mir eine Sekunde...“
    Xell’s Augen flogen einige male über die Inschrift.
    „’Entfache wieder das in Groudon erloschene Leben. Dann wird die Hitze der Sonne den Himmel entflammen und der Pfad zum Schatz wird enthüllt.’“
    Xell sah nach dieser Lesestunde genauso verwirrt drein, wie seine beiden Kameraden.
    „Hm... Was kann das bedeuten? Wie soll man in so etwas wieder Leben entfachen?
    „Auf jeden Fall scheint das hier der Schlüssel um das Geheimnis des Nebelsees zu sein. Es wäre wohl das Beste, wenn wir alle anderen Gildenmitglieder zusammentrommeln. Ich werde mal zurück ins Lager gehen und Plaudagei davon zu berichten. Hoffentlich finde den Weg auch wieder...“, sagte Krebscorps aufgeregt
    „In Ordnung. Wir bleiben dann so lange hier“, sagte Xell.
    „OK! Bis später dann“, rief Krebscorps und lief zurück in den Wald.


    Raven nutzte die Gunst der Stunde und gönnte seinen wunden Füßen eine Pause. Xell hatte sich neben ihn auf den Boden niedergelassen, ließ dabei aber kein Auge von der Statue.
    „Wir sind so nahe dran, das Rätsel zu lösen“, murrte Xell. „Wenn es doch nur einen Weg gäbe, etwas mehr über die Statue herauszufinden...“
    Plötzlich sprang Xell wieder auf die Beine und klatschte begeistert in die Hände.
    „Das ist es! Raven, berühr doch mal die Figur. Vielleicht hast du wieder eine Vision, die uns weiterhilft.“
    Auch Raven sprang wieder auf die Beine. Warum war er nicht selbst darauf gekommen? Mit laut pochendem Herzen ging er auf das Monument zu und berührte es sanft am Sockel.
    Tatsächlich wurde es ihm auf einmal wieder schwarz vor Augen. Ein unerbittlicher Sog zog ihn in eine endlose Dunkelheit hinein. Als er wieder zu Bewusstsein kam, befand er sich in einer unendlichen, schwarzen Leere. Zwar konnte er die Hand vor Augen nicht sehen, dafür aber deutlich eine Stimme wahrnehmen.
    „Das ist es! Hier muss der Melioriestein hinein: In das Herz von Groudon. Das wird den Nebel auflösen!“
    Raven wurde schlagartig wieder zurück in die Welt der Farben geschleudert und erwachte nur weniger Zentimeter von der Statue Groudon’s entfernt. Was hatte das zu bedeuten? ‚Melioriestein und Herz von Groudon’? Und hatte er diese Stimme nicht schon einmal gehört? Sie kam ihm so merkwürdig vertraut vor...
    „Und? Was hast du gesehen?“, fragte Xell gespannt.
    „Gesehen hab ich leider nichts...“, sagte Raven noch immer tief in Gedanken versunken.
    Xell legte eine enttäuschte Miene ein.
    „...Aber ich hab was gehört!“
    Raven klärte seinen Freund über seine Vision sekundenschnell auf.
    Xell sah nicht weniger ratlos drein. Doch schien er eine Vermutung zu haben.
    „Das Herz von Groudon...“, flüsterte er.
    Xell lief um die Statue herum und betrachtete die Frontseite.
    „Hey schau mal! An der Stelle, wo eigentlich das Herz liegen müsste, ist eine Aushöhlung.
    Da muss also dieser Meloriestein hineingehören, den wir aber leider nicht haben...“
    Xell starrte geistesabwesend auf den Leerraum in der Statue.
    Ein Gedankenblitz durchschoss Raven’s Kopf.
    „Mir kommt da eine total absurde Idee“, sagte Raven. „Versuch doch mal das Juwel ein zu setzen, dass wir im Lager gefunden haben.“
    „Hm Ok. Versuch macht klug“, sagte Xell und kramte in der Tasche nach dem Edelstein.
    Vorsichtig setzte er ihn in die Brust der Statue hinein.
    „Ich glaub es ja nicht! Er passt wie angegossen! Oh was ist das?“


    Die Statue find plötzlich zu glühen an. Die Augen des leblosen Pokémons verfärbten sich schlagartig rubinrot und der Boden unter ihren Füßen fing zu Beben an.
    Eine gewaltige Schockwelle ging plötzlich von der Statue aus. Raven glaubte, dass er am lebendigen Leib verbrannte, so heiß war es auf einmal. Er schrie vor Schmerzen. Doch so schnell die Hitzewelle aufkam, so schnell war sie auch schon wieder verschwunden.
    Als er die Augen wieder öffnete, glaubte er, dass er sich an einem ganz anderen Ort befand. Zwar war die Statue Groudon’s noch immer an Ort und Stelle, aber um ihn herum hatte sich der gesamte Nebel gelichtet.
    Xell rappelte sich stöhnend auf, verstummte aber blitzartig.
    Wie im Wahn schauten beide in alle Himmelsrichtungen. Endlich wieder im Besitz ihrer vollen Sichtweite, sahen sie endlich, den Ursprung des entfernten Rauschens.
    In kurzer Entfernung konnten sie im freien Feld eine gigantische Felserhebung erkennen, von der von allen Seiten unzählige Wasserfälle ins Tal hinabliefen.


    „Raven! Glaubst du, was ich denke?“, fragte Xell begeistert.
    „Wenn du auch glaubst, dass da oben der Nebelsee liegt, dann sind wir wohl beide der gleichen Meinung“, sagte Raven und lächelte seinen Freund an.
    „Kein Wunder, dass niemand bislang den Nebelsee gefunden hat, wenn der wirklich da oben liegt. Damit konnte ja niemand rechnen“, sagte Xell.
    „Oh ja. Damit konnte wirklich niemand rechnen“, sagte plötzlich eine hämische Stimme hinter ihnen.


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  • Kapitel IX.: Das Mysterium des Nebelsees




    Erschrocken wirbelten Raven und Xell herum. Sie blickten in drei, ihnen nur allzu vertraute, hinterhältig grinsende Gesichter. Raven hätte es in diesem Moment vorzugsweise mit dem Wächter des Nebelsees persönlich aufgenommen.
    „Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet ihr das Rätsel knackt“, sagte Skunktank und grinste arroganter denn je. „Ich schätze, wir müssen euch dankbar sein, dass ihr alle Hindernisse zwischen uns und dem Schatz aus dem Weg geräumt habt.“


    „Wieso für euch? Da könnt ihr lange darauf waren, dass wir euch freiwillig einen Gefallen tun“, erwiderte Raven mit angriffslustigem Unterton.
    „Habt ihr aber schon!“ feixte Skunktank. „In nur wenigen Minuten werden wir uns den Schatz unter den Nagel reißen und das verdanken wir nur euch.“
    „Den Dank könnt ihr euch sparen“, entgegnete Raven. „Falls ihr das mit euerem Spatzenhirn vergessen haben solltet: Der Schatz wird, unabhängig wer auch immer ihn finden mag, zwischen der Gilde und leider auch euch, mehr oder weniger gerecht geteilt werden.“
    Skunktank, Smogon und Zubat lachten laut.
    „Was glaubst du interessiert mich eure Gilde? Wir haben euch nur gebraucht, um bis zu diesem Punkt zu kommen“, gackerte Skunktank.
    „Was? Wie meinst du das?“, wollte Xell wissen.
    Skunktank, Smogon und Zubat warfen sich grinsende Blicke zu.
    „Du bist genau so dämlich wie der restliche Haufen eurer beknackten Gilde. Ich werde euch dann mal in meiner unendlichen Güte aufklären. Wir wollen ja schließlich nicht, dass ihr dumm sterben müsst“, antwortete Skunktank zynisch.


    Raven hätte sich am liebsten sofort auf Skunktank und seine Spiesgesellen gestürzt, doch musste er seinen unbändigen Zorn noch etwas zurückhalten. Zumindest solange, bis er die ganze Wahrheit wusste.
    „Als wir von der kleinen Schatzsuche in eurer Gilde erfuhren, wurden wir natürlich sehr neugierig. Ein sagenumwogener Schatz würde sich bei uns schließlich besser machen, als bei eurem komischen Haufen. Aber wir wussten zu diesem Zeitpunkt selbst, dass es nicht einfach werden würde, den Schatz zu finden. Also dachten wir uns einfach: Ihr könntet ja für uns die Drecksarbeit machen und wir sacken dann die Beute ein. Das Problem war eigentlich nur, wie wir an eurer Expedition teilnehmen konnten. Aber euren Gildenmeister hatten wir schnell überzeugt. Hätten wirklich nicht gedacht, dass es so einfach werden würde.“
    Skunktanks Grinsen verschwand.
    „Aber nach der Aktion an dem Morgen unserer Vorstellung in der Gilde, wurde Knuddeluff plötzlich skeptisch. Die abweisende Reaktion von euch und der übrigen dämlichen Gilde schien ins Misstrauisch zu machen. Es wäre zu blöd gewesen, wenn Knuddeluff es sich auf einmal doch anders überlegt hätte, und uns zurücklassen würde. Also mussten wir dafür sorgen, dass wir auf jeden Fall an der Expedition teilnehmen durften.“
    Raven ahnte wage bereits, auf was Skunktank hinauswollte.
    „Es ist unter den Anwohnern von Schatzstadt kein Geheimnis, dass Knuddeluff einen unbändigen Heißhunger auf Perfekte Äpfel besitzt. Also haben wir einfach kurzerhand dafür gesorgt, dass der komplette Bestand aus eurem Vorratslager verschwindet, damit wir ihn dann anschließend mit einigen Äpfeln milde stimmen, und sein Vertrauen wieder gewinnen konnten.
    Skunktank setzte auf einmal wieder seine gewohnte, hämisch grinsende Grimasse auf.
    „Alles in allem war es doch ein gelungener Tag: Wir haben euch im Apfelwald eins ausgewischt, haben die Garantie für die sichere Teilnahme an der Expedition erhalten und haben uns schließlich noch köstlich über eure Abreibung von Plaudagei amüsiert.“
    „Aber warum habt ihr uns dann noch in Knuddeluff’s Quartier vor unserem sicheren Rauswurf gerettet, wenn euch nichts an der Gilde liegt?“, fragte Raven zähneknirschend.
    „Hatten wir eigentlich gar nicht vor, aber Knuddeluff hätte beinahe unseren genialen Plan zunichte gemacht. Wer hätte gedacht, dass er soweit gehen würde und die Gilde zum Einsturz bringen würde? Also mussten wir schnell eingreifen, bevor sein Zorn auf euch zwei die Gilde zerstört hätte. Und siehe da: Er hat sich gefreut wie ein großes Riesenbaby.“


    Skunktank legte eine kurze Pause ein und sah auf die Felserhebung, auf der wohl der Nebelsee liegen musste.
    „So und nun sind wir hier. Unser Plan ist voll aufgegangen, mit einer Ausnahme: Bevor wir nun im Glanze des Schatzes baden können, müssen wir uns noch eurer entledigen.“
    Skunktank’s kleine schwarzen Augen funkelten böse in Raven’s und Xell’s Richtung. Zubat wich einige Meter hinter seine Kameraden zurück, während Skunktank und Smogon sich unheilvoll vor Raven und Xell aufbauten.
    Raven ahnte bereits, was gleich auf sie zukommen würde. Wollten sie keinen grausamen Erstickungstod erleiden, musste sie schnell handeln. Raven und Xell gingen in Angriffsstellung. Dieses mal würden sie auf die hinterhältigen Tricks von ihren Widersachern nicht so einfach zum Opfer fallen.


    Just als sich Raven auf Skunktank stürzen wollte, wurde die Aufmerksamkeit aller Anwesenden plötzlich von einem kleinen, roten, runden etwas in den Bann gezogen, dass über den Platz in ihre Richtung rollte.
    „Ist das ein Perfekter Apfel? Aber was...“


    Die Antwort auf Xell’s Frage folgte aus dem Stegreif.
    Laut fluchend hüpfte plötzlich Knuddeluff aus dem nächsten Gebüsch hinaus und hetzte dem Apfel nach.
    „Hab ich dich!“, rief er laut und grabschte nach der süßen Frucht.
    Erst jetzt schien Knuddeluff bemerkt zu haben, dass er nicht alleine war.
    „Oh Hallo!“, sagte er und blickte fröhlich in ihre Richtung. Krebscorps hat mir bereits berichtet, dass ihr etwas interessantes entdeckt habt und... Oh was ist das?!“
    Sein Blick fiel auf die Statue von Groudon und nur Sekunden später auf den Berg, auf dem ihrer Vermutung nach der Nebelsee liegen musste.
    „Ihr fünf habt das Rätsel um den Nebelsee wirklich gelöst?! Wahnsinn! Saubere Arbeit von euch allen!“
    Knuddeluff nahm vergnügt einen großen Bissen von seinem Apfel und blickte imponiert die Felserhebung hinauf.
    „Krebscorps trommelt gerade die übrigen Gildenmitglieder zusammen“, schmatzte er. „Wie wäre es, wenn ihr beide in der Zwischenzeit etwas die Gegend um den Nebelsee auskundschaftet?“, fragte er und lächelte Raven und Xell entgegen.


    In Raven tobte ein verbissener Konflikt: Zum einen hatte er jetzt endlich die Chance, sich an Team Totenkopf für alle Gemeinheiten zu rächen, doch andererseits war nun vielleicht die einmalige Gelegenheit, seiner Vergangenheit ohne die neugierigen Blicke der anderen Gildenmitglieder auf die Spur zu kommen.
    Mit unbarmherzigen Widerwillen erfüllt, verdrängte er jedoch schließlich die Bilder von den Gestalten Skunktank’s, Smogon’s und Zubat’s, die sich auf dem Boden vor Schmerz krümmten und nickte Knuddeluff mit einem gezwungenen Lächeln zu.
    „Na dann legt mal los. Wir kommen in Kürze nach. Viel Glück“
    Unter den boshaften Blicken von Team Totenkopf und dem heiter hinterherwinkenden Knuddeluff, verließen Raven und Xell die Lichtung und machten sich auf, die Felserhebung etwas unter die Lupe zu nehmen.


    „Es war die richtige Entscheidung Raven“, sagte Xell plötzlich, als sie am Rande der felsigen Wand entlang wanderten.
    „Meinst du?“, fragte Raven zähneknirschend.
    „Ja natürlich! Was hätte es uns jetzt wohl gebracht, wenn wir uns mit den Typen geprügelt hätten? Außer ein paar blaue Flecken und die ein oder andere blutige Nase wahrscheinlich gar nichts. Jetzt hingegen haben wir vielleicht die Aussicht, die Ersten zu sein, die jemals den Nebelsee zu Gesicht bekommen.“
    Xell’s Augen fingen zu leuchten an.
    „Wer weiß; vielleicht finden wir sogar den Schatz!“
    Raven blieb so ruckartig stehen, sodass Xell mit ihm zusammenstieß. Mit diesen Worten hatte er nun absolut nicht gerechnet. War seinem Freund der Ruhm und der schnöde Mammon etwa wichtiger als das Wohlergehen seines besten Freundes?
    „Hey Raven? Was ist los? Warum hältst du an?“
    Es forderte Raven sämtliche Überwindung die er finden konnte, um Xell nicht auf dem Fuße in Grund und Boden zu brüllen.
    „Sag mal bist du etwa nicht ganz dicht? Glaubst du etwa, mir geht es hier noch um diesen dämlichen Schatz? Vergessen? Hier geht es um meine Vergangenheit und vielleicht sogar meine restliche Zukunft!“
    Xell schaute Raven plötzlich völlig konfus an.
    „Deine Vergangenheit und Zukunft? Hab ich irgendwas nicht richtig mitgekriegt? Von was zur Hölle redest du?“
    „Tu doch noch dämlich so und hör auf dich etwa über mich lustig zu machen! Du weißt doch ganz genau, dass...“
    Raven erschrak. Xell tat nicht nur so verwirrt, sondern wusste es tatsächlich nicht. Er hatte völlig vergessen, ihm von seinen Erlebnissen des gestrigen Abends zu berichten.
    „Ich weiß was ganz genau? Hättest du vielleicht die Güte, mich endlich aufzuklären?“, fragte Xell, noch immer völlig über das Verhalten Raven’s verwirrt.
    „Verdammt! Entschuldige bitte. Ich habe dir das gar nicht erzählt...“, nuschelte Raven kleinlaut und setzte sich wieder in Bewegung.


    Nahezu ohne Luft zu holen, erzählte Raven seinem Freund über die Geschehnisse des vergangenen Tages. Über das eigenartige Gefühl, den Nebelwald und seine Umgebung von irgendwoher zu kennen, von seinen vergeblichen Versuchen, sich an irgendwelche Details aus seiner Vergangenheit zu erinnern und schließlich von der Unterhaltung mit den anderen Mitgliedern über den ominösen Wächter des Nebelsees, welcher laut der Legende die Gabe besitzt, das Erinnerungsvermögen von Eindringlingen auszulöschen.
    Xell machte einige male Anstalten, Raven bei seiner Erzählung für einige seiner Fragen zu unterbrechen, doch dieser ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen.
    „So das wäre glaube ich alles...“, endete Raven schließlich, völlig atemlos.
    Xell’s Miene war eine Zeit lang unergründlich, bis er plötzlich seinem Freund skeptische Blicke zuwarf.
    „Ich weiß nicht so recht, was ich davon halten soll Raven...Es ist ja nicht so, dass ich dir nicht glauben würde...“, setzte er rasch nach, als er Raven’s Miene auf seine zweifelnde Reaktion bemerkte, „...aber einiges ergibt irgendwie keinen Sinn. Nehmen wir tatsächlich mal an, du warst tatsächlich, warum auch immer, mal hier, wie kann es dann aber sein, dass man dich nicht hier in der Nähe, sondern am kilometerentfernten Strand von Schatzstadt gefunden hat?“
    Raven schwieg.
    „Und du bist weiterhin davon überzeugt, dass du vor deinem Gedächtnisverlust ein Mensch warst. Das passt doch irgendwie nicht zusammen...“
    Xell griff genau jene Punkte auf, die Raven selbst schwer beschäftigten und seine Theorie nicht gerade untermauerten.
    „Schon, du musst aber auch zugeben, dass es nicht völlig abwegig erscheint“, entgegnete Raven stur. „Du kannst denken, was du willst, aber ich bin mir absolut sicher, dass der Nebelsee irgendwie mit meiner Vergangenheit in Verbindung steht. Ich weiß es einfach!“
    Nun war es Xell, der schwieg. Tief in Gedanken versunken lief er stumm an Raven’s Seite.
    „Du würdest genauso denken und handeln, wenn du in meiner Haut stecken würdest. Glaub mir“, sagte Raven schließlich.
    „Vielleicht...“, murmelte Xell.


    Einige Minuten vergingen, in denen Raven und Xell stillschweigend am Fuße des Berges entlang wanderten. Obwohl der Tag sich langsam aber sicher dem Ende neigte und die Sonne schon Anstalten machte, sich für heute zu verabschieden, wurde es mit jedem ihrer Schritte schwüler. Der vor wenigen Minuten noch so feste Boden unter ihren Füßen, hatte sich inzwischen in einen heimtückischen Morast verwandelt.


    Als Xell gerade zum dritten Mal in Folge seinen Fuß laut fluchend aus einer besonders tiefen Pfütze befreite, schreckte Raven jäh auf.
    „Sie mal! Da ist eine breite Spalte am Berg.“
    Raven nahm mit einem weiten Sprung zwei Pfützen gleichzeitig. Aufgeregt begutachtete er den Eingang und ließ sich dabei nicht von den kochend heißen Dampffontainen stören, die im Sekundentakt aus der Bergwand schossen.
    „Es ist tatsächlich ein Eingang! Ich wette, dass wenn wir dieser Höhle folgen, irgendwann auf dem Gipfel landen, wo sich mit Sicherheit der Nebelsee befindet“, sagte Raven mit siegessicherer Stimme.
    Raven suchte den Blick seines Freundes. Xell’s Blick ruhte starr auf die unheimliche Leere der Höhle vor ihnen. Seine Miene war unergründlich.
    „Xell?“, fragte Raven behutsam.
    Xell schwieg.
    Raven’s Nerven begannen zu flattern. Sollte Xell etwa im letzten Moment etwa kalte Füße bekommen? Hätte er selbst ohne die Hilfe und Erfahrung seines Freundes überhaupt die Chance, in einem Stück den Gipfel zu erreichen? Er war doch sah knapp vorm Ziel...
    Noch nie fühlte sich Raven so hilflos.
    Endlich erwiderte Xell Raven’s Blick. Mit tiefer Befriedigung stellte Raven fest, dass Xell ihn entschlossener denn je ansah.
    „Gut! Ich weiß zwar nicht was uns erwartet, aber das kann man im Erkundergeschäft eh niemals vorhersagen. Was du auch vorhast Raven: Ich bin dabei. Verlass dich auf mich!“
    Raven unterdrückte mit aller Gewalt einen lauten Schluchzer, konnte aber eine stumme Träne nicht mehr davon abhalten, über sein Gesicht zu kullern. Er wendete sich schnell wieder von Xell ab, drehte sich in Richtung des Höhleneingangs und rieb sein Gesicht unauffällig an seiner Schulter ab.
    „Danke Xell. Das bedeutet mir wirklich viel...“, sagte Raven mit deutlich höherer Stimme als gewöhnlich.


    Raven und Xell zwängten sich durch den schmalen Riss in der Felswand. Sie fanden sich in einer recht spärlich beleuchteten Höhle wieder. Aus allen Ecken und Ritzen zischte heißer Wasserdampf und bildete einen unangenehm warmen Nebelvorhang.
    Die Temperatur vor der Höhle war schon nahezu unerträglich, doch im Inneren des Berges herrschten noch einmal deutlich drückendere Bedingungen. Schon nach wenigen Minuten steilen Fußmarschs, perlte der Schweiß ununterbrochen an Raven’s Körper hinab. Selbst Xell, dem hohe Temperaturen normalerweise wenig ausmachten, litt in dieser gar feindlichen Umgebung wahre Höllenqualen. Ächzend schleppte er sich leidvoll hinter Raven her.
    „Nicht einmal meinem schlimmsten Feind, würde ich diese Pein auferlegen...“, schnaufte Xell nach einiger Zeit.
    „Bist du dir sicher? Nicht einmal Team Totenkopf? Für die wäre jede Strafe dieser Welt noch zu gering...“, entgegnete Raven.
    „So eine Tourtour hätten nicht einmal die verdient...Apropos: Ich hoffe den anderen geht es gut. Hast du gesehen, wie sauer Skunktank drein geblickt hat, als Knuddeluff auf der Bildfläche erschienen ist? Hoffentlich ist ihm nichts passiert.“
    „Team Totenkopf ist viel zu feige, als das sie sich an ihm vergreifen würden. Da bin ich mir sicher...“ meinte Raven.
    „Wer weiß? Du hast ja gehört, wie heiß sie auf den Schatz sind. Vielleicht sind sie uns ja dicht auf den Fersen“
    Instinktiv drehten sich Raven und Xell gleichzeitig um, doch niemand befand sich hinter ihnen.
    „Zwei Dumme, ein Gedanke, nicht wahr?“, kicherte Xell.
    Trotz ihrer gar unangenehmen Lage, schaffte Raven ein knappes Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern.


    Ihr weiterer Weg führte sie in schwindelerregende Höhen. Der Pfad, dem sie folgten, wurde zunehmend steiler, doch mit jedem Meter den sie an Höhe gewannen, ließen sie immer mehr von den lästigen Nebelschwaden hinter sich. Raven riskierte einen kurzen Blick über den äußersten Rand des Weges hinaus. Sofern Raven es durch den dichten Dunst unter ihm abschätzen konnte, war das Erdgeschoss in weite Ferne gerückt. Es konnte nicht mehr weit bis zum Gipfel sein. Hatte er nicht sogar gerade eben eine erfrischenden Luftzug wahrgenommen? Gerade in diesem Moment, als er nach dem Ursprung dieser willkommenen Erfrischung suchte, ließ ein Furcht erregendes fernes Tosen die Erde beben.
    Raven und Xell blieben ruckartig stehen.
    „Hast du das gehört? Was war das?“, fragte Xell erschrocken.
    „Ich habe eine böse Vorahnung. Hoffen wir, dass ich falsch liege...“, antwortete Raven mit zittriger Stimme.
    Xell warf seinem Freund einen angsterfüllten Blick zu.
    „Xell, ich zwinge dich nicht mit mir mitzukommen. Wenn du...“
    „Umkehren und dich in Stich lassen? Kommt überhaupt nicht in Frage! Ich habe dir versprochen, dass du dich auf mich verlassen kannst!“, entgegnete Xell, auch wenn er nicht mehr ganz so entschlossen wirkte, wie zu dem Zeitpunkt seines Versprechens.
    Wieder ran Raven eine stumme Träne an seinem eh schon völlig durchnässten Körper hinab.
    Raven hatte keine Gelegenheit, sich dieses mal über seinen peinlichen Gefühlsausbruch Gedanken zu machen, denn gerade in diesem Moment strich ihm erneut eine erfrischende Brise durch sein Haar.
    Aufgeregt wirbelte er herum und suchte nach der Quelle. Nach kurzer Suche hatte er sie auch schon entdeckt: Einige Meter über ihnen zeichnete die Felswand einen tiefen Spalt, aus der ein sanfter Lichtschwall drang.
    „Xell! Da oben! Ich glaube das ist der Ausgang!“, keuchte Raven und kletterte versessen die steile Felswand hinauf.


    Es dauerte einige Sekunden, bevor sich seine Augen wieder an das grelle Licht anpassten. Doch der angenehm kühle Windhauch verriet ihm bereits, dass er die Höhle
    endgültig hinter sich gelassen hatte. Keuchend und auf allen Vieren kriechend, schleppte sich Xell nach außen.
    „Endlich...“ stöhnte er und schirmte sein Gesicht mit einer Hand von dem blendenden Licht der Sonne ab.
    Der Gipfel stellte sich als ein weites Plateau, umgeben mit einer Vielzahl von schroffen Felsen, heraus. Doch weder von dem sagenumwogenen Nebelsee noch von dem mysteriösen Wächter war eine Spur zu entdecken.
    „Hm... Nichts zu sehen. Gehen wir weiter?“, fragte Xell.
    Raven nickte entschlossen.
    Raven’s Körper kribbelte unangenehm, während er über die weitläufige Hochebene wanderte. Etwas musste hier sein, da war er absolut sicher.
    Urplötzlich dröhnte ein gewaltiges Donnern über sie hinweg, so stark, dass die Erde zitterte.
    Raven und Xell fuhren zeitgleich vor Schrecken zusammen.
    Es war das selbe Geräusch, welches sie vor wenigen Minuten in der Höhle vernahmen.
    „Verdammt! Was ist das?“, rief Raven erschrocken und blickte in alle Himmelsrichtungen.
    „Keine Ahnung, aber ich hoffe, wir finden es niemals heraus...“, bangte Xell.


    Erneut hallte das markerschütternde Brüllen über den Berg hinweg. Doch dieses mal noch lauter als zuvor, als ob sein Verursacher sich ihnen näherte.
    Im Sekundentakt bebte der Boden unter ihren Füßen. Raven und Xell warfen sich panische Blicke zu, während die Erschütterungen immer weiter zunahmen.
    „Verstecken wir uns!“, schrie Raven.
    Raven rannte panisch zu einem gewaltigen Felsen und kauerte sich hinter diesem zusammen. Die Sekunden zogen sich unbarmherzig lange dahin, in denen die Erdstöße immer lauter wurden. Erst jetzt bemerkte Raven, dass Xell sich nicht neben ihm befand. Vorsichtig lugte er hinter seinem Versteck hervor. Er schauderte heftig. Zu seinem Ersetzen hatte sich Xell keinen Millimeter bewegt. Starr vor Schreck stand er noch immer wie festgewurzelt an Ort und Stelle.
    „Xell was tust du noch da? Hau ab!“, schrie Raven, doch es war bereits zu spät: Ein Koloss von einem Pokémon tauchte plötzlich hinter einem Felsen, nur unweit von Xell’s Position auf. Sein Körper glich einem dicken Panzer, der mit einer rubinroten Farbe überzogen war. Ausgestattet mit zwei gewaltigen Klauen an den Händen und mit einem mit unzähligen Dornen versehenen Körper, stapfte es schwerfällig auf Xell zu. Es war das Wesen, welches sie bereits in lebloser Form aus dem Nebelwald kannten: Groudon.


    Raven schluckte. Aber was sollte er tun? Er konnte seinen Freund jetzt unmöglich alleine lassen. Ohne zu zögern sprang er aus seinem sicheren Versteck hervor und eilte zu Xell.
    Groudon’s große gelben Augen beäugten die beiden Eindringlinge misstrauisch. Erneut ließ es ein ohrenbetäubendes Brüllen über den Berg hallen.


    „ICH BIN GROUDON, DER WÄCHTER DES NEBELSEES! IHR SEID UNERLAUBT IN DIESE HEILIGEN HALLEN EINGEDRUNGEN. MACHT EUCH BEREIT ZU STERBEN!“
    „Warte! Wir wollen nur...“, rief Raven doch es war bereits zu spät: Groudon holte tief Luft und schleuderte ihnen einen gewaltigen Feuerball entgegen.
    Raven stieß blitzschnell Xell zur Seite und konnte gerade noch selbst im letzten Moment dem lodernden Geschoss ausweichen. Mit einer heftigen Explosion schlug die Feuerkugel auf den Felsen ein, hinter dem sich Raven noch vor wenigen Sekunden versteckt hatte.
    Raven rappelte sich auf.
    „Xell bist du OK?“, schrie Raven mit angsterfüllter Stimme.
    Endlich rührte sich Xell wieder. Zitternd mühte er sich wieder auf seine Beine.
    „Ich bin OK, danke für deine Hilfe“, keuchte er.


    Groudon ließ sein kräftiges Brüllen ertönen. Schäumend vor Wut stapfte er in Raven’s Richtung. Raven konnte dem Blick des schwerfälligen Groudon’s schnell entkommen. Flinken Fußes sprintete er um es herum und ging in Angriffsstellung. Raven schoss einen knisternden Funkenschwall seinem Gegner entgegen. Groudon wirbelte ohne auch nur einen Kratzer vorzuweisen herum. Wieder holte er tief Luft und schoss Raven einen weiteren glühendheißen Feuerball entgegen. Mit einem Hechtsprung konnte Raven auch dieses mal noch knapp dem Angriff entkommen.
    „Keine Wirkung!“, schrie Raven panisch.
    „Jetzt bin ich dran!“, schrie Xell und bombardierte Groudon mit einem Sperrfeuer aus kleinen Feuergeschossen.
    Rasend vor Zorn wendete sich Groudon nun Xell entgegen. Xell’s Angriff hatte offenbar den selben Effekt, als würde man jemanden mit Wattekugeln bewerfen. Groudon holte mit seiner gewaltigen Pranke aus und schlug in Xell’s Richtung. In wirklich aller letzter Sekunde konnte Xell dieser kraftvollen Attacke ausweichen.
    „Bringt nichts!“, keuchte Xell. „Es hat nicht einmal einen Kratzer!“
    „Versuchen wir es gemeinsam!“, rief Raven.
    Erneut ließ Raven einen kräftigen Stromstoß in Groudon’s Richtung prasseln. Nur wenige Augenblicke später feuerte Xell ein weiteres Kreuzfeuer aus seinen Feuerbällen ihrem Widersache entgegen.
    Kurze Zeit glaubte Raven, dass sie Groudon geschlagen hatten, doch erneut wirbelte es herum und blickte mit seinen hasserfüllten Augen Raven und Xell entgegen.
    „Wieder nichts! Es ist einfach zu stark! Unsere Attacken kommen einfach nicht durch seinen Panzer“, schrie Xell und versuchte Groudon’s Blick zu entkommen.
    Abermals schoss Raven einen Funkenstrom seinem Gegner entgegen, welcher erneut an seiner harten Schale abprallte.
    „Das bringt doch nichts!“, schrie Xell.
    „Hast du vielleicht eine bessere Idee?!“, rief Raven und wich dabei einem weiteren Prankenhieb Groudon´s aus.
    Xell kramte in seinem Schatzbeutel nach etwas, was ihnen in dieser heiklen Situation helfen konnte, doch konnte er nichts nennenswertes vorweisen.
    Abermals verwandelte Groudon mit einem lodernden Feuerball einen Felsen in ihrer Nähe in ein Häufchen Asche.
    „Wird der denn nie müde?“, keuchte Xell und griff sich schwer atmend an die Brust.
    Als er Xell so dastehen sah, kam Raven plötzlich ein Geistesblitz.
    „Xell, ich habe eine Idee! Lenk ihn mal ein paar Sekunden von mir ab!“, rief Raven.
    „Das sagst du so leicht...“


    Während Xell Groudon’s Blick in seinen Bann zog, hechtete Raven hinter Groudon’s Rücken. Er hatte vielleicht nur diese eine Chance. Sollte er bei dem Versuch scheitern, müsste er wahrscheinlich mit dem Leben dafür bezahlen. Durchdrungen von einer gewaltigen elektrischen Ladung, rannte er auf Groudon zu, der sich noch immer ein Katz und Maus Spiel mit Xell lieferte.
    Raven wisch dem dornenüberzogenen Schweif Groudons aus und warf sich unter den kolossalen Körper seines Gegners. Es war so, wie er es sich gedacht hatte: Groudon’s Körper war von Kopf bis Rumpf mit einem dicken Panzer umhüllt, doch die Unterseite seiner Gestalt war nahezu ungeschützt.
    „Raven! Was tust du da?“, schrie Xell mit bebender Stimme.
    Raven verlor keine Sekunde und ließ einen mächtigen Funkenregen auf die bloßgestellte Unterseite seines Gegner prasseln.
    Groudon krümmte sich vor Schmerz, während sein Körper durch die Attacke Raven’s hell aufleuchtete.
    Raven robbte mit letzter Kraft von Groudon weg, der noch immer durchtränkt von Raven’s Stromstoß vor sich hin zuckte. Raven wurde es plötzlich schwarz vor Augen. Wenige Augenblicke später verlor er das Bewusstsein.


    Als er endlich wieder erwachte, lächelte ihm Xell entgegen.
    „Haben wir...?“, keuchte Raven.
    „Du hast es geschafft! Ihn hat es glatt umgehauen. Schau mal.“
    Raven blickte zu seiner Seite. Groudon’s Gestalt lag nicht unweit von ihm regungslos auf dem Boden.
    „Bist du in Ordnung? Kannst du aufstehen?“, fragte Xell.
    Etwas unbeholfen richtete sich Raven wieder auf. Es verlangte ihn aller Kraft, überhaupt wieder stehen zu können. Sein Blick ruhte auf Groudon, welches sich nach wie vor nicht rührte.
    „Ich glaube der steht so schnell nicht wieder auf“, sagte Xell. „Dummerweise ließ er nicht mit sich reden. Was hast du vor, jetzt wo du den Wächter des Nebelsees KO gehauen hast?“
    „Irrtum. Da muss ich dich leider enttäuschen. Groudon war nicht der Wächter. Der Wächter, das bin ich!“
    Raven und Xell zuckten erschrocken zusammen.
    „Wer ist da?“, rief Xell ängstlich.
    „Ich sagte doch, ich bin der Wächter des Nebelsees.“, sagte die Stimme. „Nach was verlangt es euch? Warum seid ihr hier?“
    „Informationen“, antwortete Raven ausgezehrt. „Wir gehören zwar zu einem Erkundungsteam, sind aber nicht an deinem Schatz interessiert. Wir wollen dich lediglich etwas fragen.“
    „In Ordnung. Wenn dem so ist, dann werde ich mich eurer nun enthüllen.“


    Vor ihren Augen manifestierte sich auf einmal ein kleines Wesen. Es hatte einen hellbläulichen Körper und einen merkwürdig geformten Kopf, an dem ein winziger Rubin funkelte. Zwei weitere rotglänzende Edelsteine waren an seiner zweigeteilten Rute zu sehen. Wesentlich kleiner als Raven, schwebte es starr vor ihnen in der Luft und begutachtete die beiden Eindringlinge vor ihm argwöhnisch.
    „Man nennt mich Selfe. Ich bewache den Nebelsee seit Anbeginn der Zeit.
    „Aber wenn du der Wächter des Nebelsees bist, was ist dann mit ihm?“, sagte Xell und deutete auf die bewusstlose Gestalt Groudon’s.
    „Das ist nur ein Trugbild. Eine Erscheinung, die ich ins Leben rufe, um den See und sein Geheimnis zu beschützen“, erklärte Selfe. Mit einem kurzen Wimpernschlag löste sich Groudon in Luft auf.
    „Du, den man Raven ruft...“
    Raven erschauderte. Was hatte Selfe vor?
    „Du hast hart gekämpft. Ich bewundere deinen Mut, trotz eurer aussichtslosen Situation. Noch nie zuvor, wurde mir eine solche Entschlossenheit zuteil.“
    „Danke...“, stammelte Raven und brach kraftlos zusammen.
    „Oh Raven!“, rief Xell und sprang besorgt zu seinem Freund.
    „Geht schon... Bin nur noch etwas ausgenommen...“
    Selfe blickte besorgt auf Raven.
    „Noch nie zuvor, hatte ein Wesen den Kampf gegen Groudon riskiert. Es liegt nicht in meiner Absicht, anderen Kreaturen Schaden zuzufügen. Verzeih mir bitte.“
    Selfe schwieg einige Sekunden und sah auf die kraftlose Gestalt Raven’s.
    „Ich werde euch ein besonderes Geschenk machen. Einer Ehre, der noch kein Außenwelter zuvor zu Teil geworden ist. Bitte folgt mir. Du wirst dich sicherlich gleich wieder besser fühlen.“
    Hinter Selfe öffnete sich plötzlich ein weiter Riss in einer Bergwand. Sogleich schwebte Selfe durch die Spalte und ließ Raven und Xell zurück.
    „Was meinst du, können wir ihm trauen?“, flüsterte Xell in Raven’s Ohr.
    „Ich denke schon. Wenn es uns etwas böses wollte, hätte es es längst getan.“, antwortete Raven.


    Von Xell’s kräftigen Armen gestützt, folgte Raven Selfe stumm. Nach kurzem Fußmarsch blieb Selfe plötzlich stehen.
    „Erblickt nun die Herrlichkeit des Nebelsees“, sagte es und öffnete Raven und Xell eine weiteren Riss in der Höhlenwand.
    Raven und Xell kamen aus dem Staunen nicht heraus. Vor ihnen erstreckte sich ein gewaltiges Gewässer. Das Wasser in ihm war so rein, dass es beinahe blendete. Über der Oberfläche des Sees tanzten bunte Lichtkugeln und ließen ihren sanften Schimmer über die Wasseroberfläche erstrahlen.



    „Nimm einen kräftigen Schluck. Danach wird es dir sicher wieder besser gehen“, sagte Selfe und nickte Raven zu.
    Raven tat wie ihm geheißen. Noch nie schmeckte einfaches Wasser so gut. In seinem Körper regte sich auf einmal wieder das Leben.
    „Danke“, stammelte Raven wieder im Vollbesitz seiner Kräfte.
    Xell’s Blick ruhte noch immer auf dem See.
    „Selfe? Darf ich dich etwas fragen? Was ist das im Zentrum des Sees? Dieses merkwürdig blaue Leuchten?“
    Auch Raven sah auf die Stelle, die Xell wohl gemeinte hatte. Der bloße Anblick, ließ seinen Körper unangenehm beben. Sein Puls wurde schneller und sein Herz begann heftig zu klopfen.
    „Das, was ist dort mit euren Augen vernehmt, ist der von mir wohl gehütete Schatz. Es ist ein Zahnrad der Zeit“, sagte Selfe und beobachtete interessiert die Reaktion von Raven und Xell.
    Xell blickte erschrocken zu Selfe.
    „Tatsächlich? Ein Zahnrad der Zeit??? Wahnsinn!“
    „Ja, so ist es. Ich denke ihr versteht jetzt, warum ich niemandem gestatten darf, diesen heiligen Ort zu betreten. Bislang konnte ich Eindringlinge mit dem Trugbild Groudon’s stets von diesem Ort halten. Allerdings bin ich bei manchen besonders hartnäckigen Störenfrieden auch zu deutlich drastischeren Mitteln gezwungen.“
    Raven wusste sofort, auf was Selfe hinauswollte: Seine Gabe das Gedächtnis auszulöschen. Es war also wahr.
    „Aus diesem Grund sind wir hier Selfe. Uns liegt nichts an dem Zahnrad der Zeit, sondern wollte ich dich etwas fragen“, erklärte Raven.
    „Frag ruhig. Ich höre“, antwortete Selfe.
    „Hast du jemals, in all der Zeit in der du den See bewachst, das Gedächtnis eines Menschen ausgelöscht. Bitte, ich muss es wissen. Es ist sehr wichtig.“
    „Bevor ich dir diese Frage beantworte, würde ich gerne wissen, warum dir das so wichtig ist“, sagte Selfe und blickte Raven tief in die Augen.
    „Ich bin eines Tages an einem Ort in weiter Ferne aufgewacht und hatte jegliche Erinnerung an mein früheres Leben verloren“, erklärte Raven. „Keine Erinnerung ist mir geblieben. Nur das Gefühl, dass ich vor meinem Gedächtnisverlust ein Mensch war. Deswegen frage ich dich Selfe: Hast du jemals einen Menschen das Gedächtnis ausgelöscht und ihn in ein Pokémon verwandelt?“ Sein Puls raste, während er Selfe’s unergründlichen Blick erwiderte.


    „Es tut mir Leid, dich enttäuschen zu müssen, aber nein. Noch nie zuvor ist ein Mensch soweit vorgedrungen.“
    Raven sackte bitter enttäuscht zusammen. Er war sich doch so sicher gewesen...
    „Eine solche Macht besitze ich nicht. Nicht einmal ich kann das komplette Erinnerungsvermögen auslöschen“, sagte Selfe schließlich. „Es tut mir Leid, dass ich dir nicht helfen kann, aber du wirst deiner Vergangenheit an einem anderen Ort auf die Spur kommen müssen.“
    „Schon gut. Trotzdem danke“, sagte Raven tonlos.
    Xell warf seinem Freund einen mitfühlenden Blick zu.
    „Tut mir Leid für dich Raven. Aber sieh es doch mal positiv. Immerhin gehörst du zu den ersten, die jemals ein Zahnrad der Zeit zu Gesicht bekommen haben“, sagte Xell und versuchte Raven wieder aufzumuntern.
    Raven schwieg.
    „Ein Zahnrad der Zeit?“, rief plötzlich eine ihnen wohl bekannte Stimme aus der Höhle hinter ihnen.
    Raven und Xell wirbelten erschrocken herum. Es war Knuddeluff.
    Begeistert hüpfte er ans Ufer und blickte interessiert auf den hellen Schein im Herzen des Sees.
    Zu schade, aber ein Zahnrad der Zeit können wir unmöglich mitnehmen“
    „Wer magst du sein?“, fragte Selfe den Neuankömmling.
    „Man nennt mich Knuddeluff. Ich bin der Anführer unserer Gilde. Hoch erfreut deine Bekanntschaft zu machen“ sagte Knuddeluff und lächelte Selfe entgegen. „Oh und da kommen schon die anderen!“
    Nacheinander trafen die restlichen Gildenmitglieder ein. Das Schlusslicht bildete Krakeelo, der die völlig erschöpfte Sonnflora stützte.
    „Wahnsinn!“, riefen die Gildenmitglieder im Chor, als ihre Blick über den See schweiften.
    „Und der Schatz?“, fragte Bidiza neugierig.
    Raven und Xell sahen erschrocken zu Selfe. Was würde es jetzt tun, nachdem so viele Fremde in sein Reich vorgedrungen waren?
    „Der Schatz bleibt wo er ist“, sagte Knuddeluff. „Es ist ein Zahnrad der Zeit und ist an diesen Ort gebunden. Wir haben kein Recht, es zu entfernen“, antwortete Knuddeluff und blickte ernst zu jedem einzelnen Gildenmitglied.
    „Ehrensache!“, rief Krakeelo und Krebscorps im Chor.
    Alle anderen nickten. Stumm blickten sie noch einige Minuten auf das stille Gewässer vor ihnen, bis sich Selfe zu Wort meldete.
    „Ihr scheint alle reinen Herzens zu sein. Ich werde euch gestatten, den Nebelsee unbeschadet und im Vollbesitz eurer Erinnerungen zu verlassen. Versprecht mir aber bitte, niemals auch nur ein Wort über den Nebelsee und dessen Geheimnis zu verlieren.“
    „Das versprechen wir dir“, antwortete Knuddeluff. „Dein Vertrauen in uns ehrt mich zutiefst.“



    Einige Zeit verging, in der sich die Gildenmitglieder am Ufer des Sees von ihrer strapazvollen Reise erholten.
    Noch immer ruhte Raven’s Blick auf dem Herzen des Sees, wo das Zahnrad der Zeit ruhte.
    >„Etwas stimmt hier nicht. Wenn ich noch nie zuvor an diesem Ort war, warum kam mir dann die Umgebung des Nebelwaldes so merkwürdig vertraut vor und warum lässt mich der Anblick des Zahnrads der Zeit nicht mehr los? Mein Herz pocht noch immer wie verrückt... Sollte Selfe vielleicht lügen?“<
    Raven warf einen raschen Blick auf Selfe. Es schwebte regungslos auf der Stelle und blickte ebenso auf den See.
    >„Aber warum sollte es lügen? Das ergibt doch keinen Sinn.“<
    „In Ordnung Gilde. Wir haben noch einen weiteren Weg vor uns. Kehren wir wieder ins Basislager zurück.“, sagte Knuddeluff.
    „Ich wünsche euch eine gute und sichere Heimkehr. Gehabt euch wohl und denkt an euer Versprechen“, sagte Selfe und musterte alle Anwesenden.
    „Das werden wir. Keine Sorge. Dein Geheimnis ist bei uns gut aufgehoben“, antwortete Knuddeluff.
    „Ich werde den Schutz des Nebels in den kommenden Tagen wiederherstellen. Auch wenn es euch schwer fallen wird: Ihr dürft nie wieder an diesen Ort zurückkehren. Ich hoffe ihr versteht das.“
    Raven warf einen letzten Blick auf den Nebelsee. Der Anblick des Zahnrads der Zeit, ließ erneut seinen Puls schneller werden. Er war felsenfest davon überzeugt: Irgendwie stand dieser Ort mit seiner Vergangenheit in Verbindung und irgendwann würde er sicherlich dem Geheimnis auf die Spur kommen.


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  • Kapitel X.: Zwirrfinst




    Seine Füße pochten schmerzvoll von den Strapazen des Tages, als sich Raven endlich am späten Abend in seinem warmen, gemütlichen Bett eingekringelt hatte. Wie sie in einem Stück den Abstieg durch die unerträglich heiße Dunsthöhle schafften und irgendwie den Rückweg durch den stockfinsteren Nebelwald fanden, glich im nachhinein an ein Wunder. Auf dem gesamten Rückweg in das Basislager gab er über die Ereignisse des Tages keinen Ton von sich. Doch wenn man von dem heftigen Schnaufen Sonnflora’s, als sie die Dunsthöhle durchquerten, absieht, sagte auch keiner seiner Kameraden ein Wort. Ihnen waren die Anstrengungen des Tages deutlich auf dem Gesicht geschrieben, als sie endlich wohlbehalten in ihr Lager einkehrten und kommentarlos in ihre Zelte stolperten.
    Doch für Raven waren es nicht die Strapazen des Tages, welche ihn zum Schweigen anregten, sondern allein die ernüchternde Wahrheit, dass Selfe nichts mit seiner Verwandlung in ein Pokémon und seinem Gedächtnisverlust zu tun hatte. Den ganzen Rückweg über brannten Selfe’s Worte, heißer als die kochend heißen Dampfstrahlen der Dunsthöhle, auf seiner Seele. Vielleicht kam ihm deshalb der Rückweg so kurz vor, doch das war für ihn natürlich kein Grund zum Jubeln. Nun lag er da: Mit der Gewissheit an diesem Tag absolut nichts erreicht zu haben. Seine Glieder schmerzten, die Worte Selfe’s echoten alle paar Sekunden durch seinen Kopf und die Bilder des Zahnrads der Zeit, wie es so in dem See vor sich hinschlummerte, wollten ihm keine Ruhe lassen.


    Finstere Gedanken machten sich in ihm breit: Würde er vielleicht nie seiner Vergangenheit auf die Spur kommen? Müsste er sich schließlich und endlich damit abfinden, dass er sein Dasein als Pokémon ohne eine Vergangenheit zu fristen? Vor wenigen Stunden glaubte er einer Antwort auf all seine Fragen so nah zu sein und nun ist er weiter davon entfernt als je zuvor. Was hielt ihn eigentlich davon ab, selbst auf die Suche nach Antworten zu gehen?
    Ja, warum sollte er nicht einfach selbst seiner Vergangenheit auf die Spur gehen?
    Gerade als er aus dem Bett steigen wollte, ließ ihn ein gewaltiger Schnarcher Xell’s heftig zusammenzucken.
    Raven’s Blick schweifte durch das stockdunkle Zelt auf die Stelle, wo Xell liegen musste. Raven ließ sich jäh wieder in sein Bett hinabsinken. Es war ihm insgeheim furchtbar peinlich zuzugeben, dass er in jenem Moment Xell völlig vergessen hatte. Wie konnte er überhaupt auf den Gedanken kommen, ihn nach allem was sie gemeinsam durchgestanden hatten einfach so zurücklassen? Ja, Xell hatte immer zu ihm gehalten. Auch wenn die Situation noch so aussichtslos erschien, war er immer zur Stelle. Die bloße Vorstellung, wie Xell am nächsten Tag wohl das Verschwinden seines besten Freundes aufnehmen würde, trieb ihm Tränen in die Augen.
    Nein, das durfte er ihm nicht antun. Ihm zuliebe würde er bleiben...


    Seine Glieder schmerzten nach wie vor, als er an dem darauffolgenden Morgen erwachte. Obwohl er schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr so lange und ausgiebig geschlafen hatte, fühlte er sich noch immer kraftlos und leer. Einige Minuten lag er noch halbwach in seinem Bett, starrte an die Decke des Zeltes und ließ den vergangenen Tag noch einmal vor seinem inneren Auge vorbeiziehen. Die Enttäuschung lastete noch genau so schwer auf ihm, wie sie es bereits am gestrigen Tag getan hatte. Doch es half ja nichts. Das Leben musste ja irgendwie weiter gehen...
    Missgelaunt stieg er aus seinem Bett und verließ das Zelt ins Freie. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel und ließ ihre wärmenden Strahlen auf die Welt unter sich hinabfallen. Nicht unweit von sich, konnte Raven einige seiner Gildenkameraden ausmachen, die sich um das knisternde Lagerfeuer versammelt hatten. Zwar hatte er keine große Interesse mit ihnen über den vergangenen Tag zu reden, doch würde ihn vielleicht ihre Gesellschaft wieder auf andere Gedanken bringen. Raven überlegte deshalb nicht lange und gesellte sich zu ihnen.
    Knuddeluff, Krakeelo und Krebscorps begrüßten ihn als vierten im Bunde herzlich, als er sich neben ihnen niederließ. Raven versuchte seinen Missmut so gut er konnte so unterdrücken und brummte ihnen das beste „Guten Morgen“ entgegen, das er an diesem Tag aufbringen konnte.


    Im Minutentakt stießen die übrigen Gildenmitglieder ihrer Runde hinzu, bis sie mit dem Eintreffen Bidzia’s schließlich komplett waren.
    „So da wir nun endlich alle da sind, kann ich euch nun unser weiteres Vorgehen erklären“, sagte Knuddeluff und lächelte in die Runde. „Wir werden uns gleich nach einer kleinen Stärkung auf den Nachhauseweg aufmachen. Dieses mal werden wir allerdings gemeinsam in einer Gruppe reisen. Sollte nichts dazwischen kommen, dürften wir am frühen Abend schon wieder in der vertrauten Umgebung unserer Gilde sein. Dabei möchte ich euch alle aber noch einmal an unser Versprechen gegenüber Selfe erinnern.“
    Alle Gildenmitglieder nickten unmissverständlich.


    Nach ihrer kurzen gemeinsamen Mahlzeit, bei der Raven und Xell ihre mittlerweile letzte Ration verputzten, löste die Knuddeluff-Gilde das Basislager auf und machten sich gemeinsam auf den Rückweg. Raven ließ zum Abschluss noch einmal den Blick zu dem dichten Nebelwald hinüberschweifen, bei dessen Anblick sich in ihm das sonderbare Gefühl der Vertrautheit um dieses Fleckchen Erde in ihm breit machte.
    „Sag mal, glaubst du nicht auch, dass wir irgendetwas vergessen haben?“
    Xell’s Worte ließen Raven jäh aus seinen Gedanken aufschrecken.
    „Was? N-Nein. Ich wüsste nicht...“, antwortete er.
    „OK. Vielleicht irre ich mich auch“, meinte Xell schließlich, als sie den Wald in immer weiterer Ferne hinter sich zurückließen.


    Alles in allem war es ein recht ereignisloser Tag, welcher wie im Flug verging. Die Gildenmitglieder holten die Gesprächspause des gestrigen Abends an diesem Tag ordentlich nach und ließen die Ereignisse der letzten Tage in leisem Flüsterton noch einmal Revue passieren. Nach einer kurzen Pause am frühen Nachmittag im Apfelwald rückte Schatzstadt und somit die Rückkehr in ihre Gilde immer näher. Nach einigen weiteren ereignislosen Stunden konnte Raven bereits die fernen Umrisse des Gildenkomplexes erspähen. Xell staunte nicht schlecht, als sie sich allesamt vor dem schweren Eisengitter der Gilde eingefunden hatten. Doch wirkte er gleichzeitig, wie Raven es bereits geahnt hatte, sehr verdrießlich darüber, wie lange sie vergleichsweise bei ihrer Hinreise gebraucht hatten.
    Knuddeluff wartete nicht lange, sondern gab sofort den Eingang zur Gilde frei. Sie fanden ihre Heimat genauso vor, wie sie es vor wenigen Tagen zurückgelassen hatten. Gerade als sich jedes einzelne Gildenmitglied in Richtung ihres Quartieres aufmachen wollte, räusperte sich Plaudagei noch einmal unmissverständlich. Der Tag schien also noch nicht ganz vorbei zu sein.
    Empört wirbelten die Gildenmitglieder herum und warfen Plaudagei einige vielsagende Blicke zu, von denen er sich jedoch in keinster Weise beeindrucken ließ.
    „Zwar glaube ich, dass es eigentlich nicht nötig ist, euch das mitzuteilen, aber dennoch bin ich mal so frei: Ich wollte euch nur noch kurz daran erinnern, dass morgen wieder der Alltag in unsere Gilde einkehrt. Wir erwarten euch morgen in alter Frische wieder wie immer pünktlich hier vor dem Quartier des Gildenmeisters“, flötete er.
    „Soll das ein Witz sein?“, rief Xell entrüstet. „Nach den ganzen Anstrengungen der letzten Tage?“
    „Recht hat er!“, stimmte Krakeelo Xell zu. „Wir haben wirklich mal eine Auszeit verdient!“
    Von den anderen Gildenmitglieder ging ein zustimmendes Raunen aus.
    „Ruhe!“, rief Plaudagei, doch seine Rufe gingen in dem immer lauter werdenden Gemurmel der Anwesenden unter.
    Plaudagei warf Knuddeluff einen hilflosen Blick zu. Der Gildenmeister lächelte sanft.
    „Nun gut. Ihr sollt morgen einen freien Tag bekommen. Nutzt ihn und erholt euch ordentlich, denn wir setzen unsere Arbeit ohne Widerrede übermorgen fort. Wir müssen dann aber einen Kompromiss bezüglich des Wachdienstes eingehen. Wir können schließlich die Gilde nicht den ganzen Tag sperrangelweit unbeaufsichtigt geöffnet lassen. Ich werde mir diesbezüglich heute Abend noch etwas überlegen“, sagte Knuddeluff.
    Es gab regen Beifall und Jubelrufe der beteiligten.
    „Ihr könnt den verbleibenden Tag frei gestalten. Der Ausgang wird euch aber verwehrt.“
    Niemand protestierte. Es schien, als würde niemand einmal im Traum daran denken heute noch einmal Gilde zu verlassen. Stattdessen taumelte einer nach dem anderen in sein Quartier.
    Auch Raven fiel an diesem Abend todmüde in sein Bett und noch ehe er Gelegenheit hatte, Xell eine gute Nacht zu wünschen, war er auch schon eingeschlafen.


    Unsanft und viel zu früh wurde Raven am frühen Morgen von niemand anderem als Xell geweckt.
    „Los aufstehen!“, rief Xell und rüttelte seinen Freund wach.
    „Was ist denn los?“, schnaubte Raven unwirsch. „Ich dachte wir hätten heute frei? Warum weckst du mich in aller Herrgottsfrühe?“
    „Da ist etwas in der Gilde im Gange. Los komm schon!“, drängte ihn Xell erneut.
    Missgelaunt quälte sich Raven aus seinem Bett hinaus und folgte seinem Freund in Richtung des Quartiers des Gildenmeisters. Obwohl es allem Anschein nach noch sehr früher Morgen war, tummelten sich bereits sämtliche Gildenmitglieder auf dem Stockwerk herum und tuschelten geheimnisvoll.
    Raven und Xell gesellten sich zu Krakeelo, Bidiza und Sonnflora hinüber.
    „Was ist denn hier los?“, fragte Raven verdutzt. „Was soll die ganze Aufregung?“
    „Oh, guten Morgen ihr zwei“, sagte Krakeelo. „Schaut mal darüber. Seht ihr diesen Typ, der sich gerade mit Knuddeluff unterhält? Wisst ihr wer das ist? Das ist der legendäre Zwirrfinst.“
    Erst jetzt bemerkte Raven, dass ein dunkelfarbenes Pokémon, welches er noch nie zuvor gesehen hatte, sich in der Gilde befand und sich mit Knuddeluff unterhielt. Eine gewaltige Aura ging von dem Unbekannten aus, die Raven trotz der großen Entfernung deutlich spüren konnte. Der Fremde war vergleichsweise zu den übrigen Gildenmitglieder recht groß und breit gebaut. Vielleicht kam Raven seine Körpergröße auch nur so vor, denn Zwirrfinst schwebte gut und gern einen halben Meter über dem Boden.


    „Zwirr wer?“, fragte Raven verwirrt und warf Xell einen fragenden Blick zu. Xell zuckte ratlos die Schultern.
    „Habt ihr etwas noch nichts von dem großen Zwirrfinst gehört?“, antwortete Krakeelo bestürzt.
    „Ich ehrlich gesagt auch nicht...“, quiekte Bidiza und starrte verlegen auf den Boden.
    Krakeelo seufzte.
    „Man kann es euch vielleicht nicht verübeln. Zwirrfinst ist erst vor kurzem bekannt geworden.
    „Ja, das kannst du laut sagen“, stimmte Sonnflora mit verträumter Stimme zu. „Eigentlich ist er über Nacht berühmt geworden. Eines Tages hörte man nur noch “Zwirrfinst hier“ und “Zwirrfinst dort“. Er hat sich Rang und Namen bei einigen spektakulären Erkundungen und Rettungen verdient. Unter anderem ist es ihm zu verdanken, dass der Großteil der Bewohner des Schemengehölzes kurz vor dem Zeitstillstand in Sicherheit gebracht werden konnte. Man erzählt sich außerdem, dass er unglaublich intelligent und belesen ist. Er soll auf nahezu jede Frage eine Antwort wissen. Er ist ein echtes Phänomen.“
    „Ach jetzt übertreibst du aber“, spottete Krakeelo. „Zwirrfinst ist zweifelsohne ein großer Erkunder, aber da wurde wahrscheinlich wieder maßlos übertrieben...“


    Sonnflora und Krakeelo fingen eine heftige Diskussion über Zwirrfinst an, doch Raven’s Sinne waren allesamt auf Zwirrfinst gerichtet. Es war wieder einmal ein eigenartiges Gefühl, welches nicht erklären konnte. Irgendetwas ging von Zwirrfinst aus. Doch ob es sich bei ihm um eine gute oder schlechte Empfindung handelte, konnte er in diesem Moment nicht mit Sicherheit sagen. Er wusste nur, dass Zwirrfinst anders als alle anderen Pokémon war, die er jemals getroffen hatte.
    Knuddeluff nickte Zwirrfinst zu, bevor er sich der Gilde zuwendete. Augenblicklich kehrte absolute Ruhe ein. Selbst Krakeelo und Sonnflora unterbrachen ihren Streit.
    „Freunde, das hier ist Zwirrfinst. Er ist, wie ihr vielleicht schon wisst, ein sehr großer Erkunder. Es ist daher eine große Ehre, ihn in unserer Gilde willkommen zu heißen.“
    „Das Kompliment gebe ich gerne zurück“, antwortete Zwirrfinst. Er hatte eine sehr tiefe melancholische Stimme, bei der sich Raven’s Haare für einen kurzen Augenblick sträubten.
    „Es ist eine Ehre in eurer Gilde zu sein. Man erzählt sich viel gutes über eure Arbeit. Als Erkunder bin ich immer auf der Suche nach den allerneusten Neuigkeiten und Nachrichten und da bin ich bei euch wohl an der richtigen Adresse. Auf meinen Reisen erfuhr ich außerdem, dass eure Gilde eine Erkundung des Nebelsees in Aussicht hat und da wurde ich natürlich auch sehr neugierig. Aber wie ich soeben leider erfahren habe, ist die Expedition ergebnislos ausgegangen.“
    „Ja so ist es“, sagte Knuddeluff. „Wir konnten den Nebelsee leider nicht finden. Vielleicht versuchen wir es irgendwann erneut.“ Er zwinkerte seinen Gildenkameraden verstohlen zu.
    „Der große Zwirrfinst hat mir soeben mitgeteilt, dass er einige Zeit in Schatzstadt verbringen wird und auch gelegentlich für einige Infos in unserer Gilde vorbeischauen will. Ich bitte euch ihn während seines Aufenthalts mit großem Respekt entgegen zu treten und ihn nicht allzu sehr zu belästigen.“
    „Bitte, nur keine Umstände wegen mir. Wenn euch etwas auf dem Herzen liegt habe ich immer ein offenes Ohr für euch. Doch jetzt muss ich mich leider entschuldigen, denn ich habe noch dringende Besorgungen zu erledigen. Wir werden uns sicher sehr bald wiedersehen.“
    Mit diesen Worten und einer tiefen Verbeugung entschwebte Zwirrfinst der Gilde.


    Zwirrfinst’s Verlassen löste nochmals ein reges Gemurmel unter den Gildenmitgliedern aus.
    Knuddeluff ließ einen gewaltigen Seufzer verlauten, bevor er sich der Gildencrew zuwendete.
    „Auch wenn es sich hierbei vielleicht um einen der größten Erkunder unserer Zeit handelt, müssen wir unser Versprechen Selfe gegenüber bewahren.“
    Alle anwesenden nickten zustimmend.
    „So jetzt aber zu dem heutigen Tag: Wenn ich das richtig sehe, sind wir alle vollzählig, ja?“ Sein Blick schweifte durch die Menge.
    „Krakeelo und Bidiza haben sich nach einer kurzen Unterhaltung mit mir bereit erklärt, heute den Wachdienst doch zu übernehmen. Dafür wird ihnen die Tage ein Tag Sonderurlaub gewährt. Für euch übrigen bedeutet das, freier Ausgang bis zum Abend. Ich wünsche euch viel vergnügen.“
    Unter johlenden Jubelrufen zog sich Knuddeluff in sein Quartier zurück. Krakeelo schaute etwas missmutig zu seinen Kameraden hinüber, die einer nach dem anderen fröhlich schwatzend die Leiter nach richtig Ausgang emporkletterten. Krakeelo machte sich etwas übellaunig mit Digda im Schlepptau in Richtung des Wachpostens auf und ließ Raven und Xell als die letzten verbliebenen Gildenmitglieder zurück.


    „So! Und was fangen wir mit unserem freien Tag an?“, fragte Xell gut gelaunt und warf Raven einen unternehmenslustigen Blick zu. Raven konnte einen ausgiebigen Gähner nicht unterdrücken und linste verstohlen in Richtung seines Quartiers.
    „Das ist doch jetzt nicht dein ernst oder? Du willst doch nicht tatsächlich den heutigen Tag verschlafen?“, fragte Xell bitter von der Reaktion seines Freundes enttäuscht.
    Raven seufzte schwer. Der betrübte Blick seines Freundes, die frühen Sonnenstrahlen, welche ihn durch ein Fenster sanft an der Nase kitzelten und die Begegnung mit Zwirrfinst hatten seine morgendliche Müdigkeit vertrieben. Selbst wenn er es wollte, könnte er sicherlich nicht mehr einschlafen.
    „Nein, natürlich nicht...“, sagte er schließlich.
    „Na also! Das wollte ich hören“, jubelte Xell und sprang die Leiter in weiten Sätzen hinauf.


    Es war ein recht warmer Morgen, als Raven und Xell Richtung Schatzstadt schlenderten. Der Himmel schien mit ihnen ihren freien Tag feiern zu wollen und bot einen absolut wolkenfreien Horizont.
    „Und was hast du heute vor?“, frage Raven mit nüchternem Ton, als sie das Stadttor passierten.
    „Hm, weiß noch nicht. Uns wird schon noch etwas einfallen“, antwortete Xell fröhlich.
    Auf ihrem Weg durch die recht belebten Straßen trafen Raven und Xell das ein oder andere bekannte Gesicht aus der Gilde, aber auch viele weiter, ihnen unbekannte Gestalten kreuzten ihren Weg.
    „Ist ja ganz schön was los hier“, sagte Xell erstaunt und bemühte sich mit keinem der Passanten zusammenzustoßen. „Ist heute irgendetwas besonderes oder warum ist hier alles so voll...? Oh hey! Was ist denn da drüben los?“
    Raven und Xell starrten auf eine gewaltige Pokémon-Ansammlung die sich in einem dichten Kreis im Zentrum des Marktes versammelt hatten.
    Neugierig darüber, was der Auflauf zu bedeuten hatte, näherten sie sich.
    „Kannst du etwas sehen?“, fragte Xell und hüpfte auf der Stelle um einen Blick auf das was sich inmitten der Traube von Pokémon befand zu erhaschen.
    „Nein. Wie denn auch...?“, antwortete Raven und versuchte durch eine Lücke zu finden, durch die er durchlugen konnte.
    „Hallo! Entschuldigung, aber was ist denn hier los?“, fragte Xell einen der Anwesenden, der sich am äußeren Rand des Kreises befand.
    „Zwirrfinst natürlich! Er gibt hier gerade Autogramme. Als ich hörte, dass er in Schatzstadt ist, bin ich sofort hierher aufgebrochen. Das ist eine vielleicht einmalige Gelegenheit!“, antwortete er.
    Xell starrte einige Sekunden auf die Pokémon-Traube vor ihm.
    „Was ist los? Sag bloß, du willst auch ein Autogramm von ihm?“, schnaubte Raven und rollte die Augen.
    „N-Nein“, sagte er erschrocken und schüttelte den Kopf. „Schon gut. Wollen wir weiter? Hättest du vielleicht Lust etwas trinken zu gehen?“


    Raven und Xell verließen den belebten Marktplatz und legten in der Pandir-Saftbar eine Pause ein. Nur wenige Besucher waren an diesem Morgen in der Bar anwesend. Offenbar hatte die Nachricht über Zwirrfinst’s Anwesenheit die meisten der Stammgäste auf den Marktplatz gelockt.
    „Scheint ja wirklich eine große Nummer zu sein dieser Zwirrfinst“, sagte Raven und nippte an seinem Glas.
    „Ist er wohl“, seufzte Xell. „Er ist genau das, was ich gerne sein würde: Ein großer und bekannter Erkunder.
    „Ach was. Sag bloß du würdest mit ihm tauschen wollen und jetzt draußen stundenlang Autogramme verteilen?“, kicherte Raven.
    Xell lief rot an.
    “Jetzt wo du es sagst... Eher nicht. Ich glaube das “normale“ Erkundergeschäft reizt mich mehr.”
    Eine Weile lang diskutierten Raven und Xell noch über Zwirrfinst und genehmigten sich noch einige Drinks, bevor sie wieder in die Innenstadt aufbrachen. Inzwischen hatte sich die Lage auf der Straße wieder etwas beruhigt. Mit dem Verschwinden Zwirrfinst’s war der Marktplatz wieder so überschaubar wie immer.
    „Oh, bevor ich es vergesse: Ich muss unbedingt meinen Vorrat an Pirsifbeeren auffüllen. Der hat mittlerweile alarmierende Bestände erreicht. Du hast hoffentlich nichts dagegen?“, fragte Xell.
    „Ach i wo! Mach du nur“, antwortete Raven.
    „Wunderbar. Gleich da vorne ist auch schon ein Gesch...Oh warte! Ist das etwa Zwirrfinst da vorne?“
    Raven blickte interessiert in Richtung des Geschäfts, welches Xell gerade aufsuchen wollte. Er hatte sich tatsächlich nicht getäuscht. Zwirrfinst überreichte gerade dem Ladenbesitzer eine Hand voll Münzen und verstaute einige Gegenstände in einer Tasche.


    „Guten Morgen“, sagte Xell mit leicht schüchterner Stimme.
    Zwirrfinst drehte sich herum und lächelte.
    „Euch auch einen guten Morgen. Oh, euch kenne ich doch. Ihr seid beide aus der Knuddeluff-Gilde, stimmt doch oder?“
    „Ja das ist richtig“, antwortete Xell prompt und lief rot an. „Wir sind Team Kugelblitz. Erfreut deine Bekanntschaft zu machen.“
    „Ganz meinerseits“, antwortete Zwirrfinst.
    Xell starrte einige Sekunden gebannt aus Zwirrfinst. Offenbar versuchte er ihn verzweifelt in ein Gespräch mit ihm zu vertiefen, fand aber nicht die richtigen Worte.
    „Ähm, gut. Ich werde mich dann mal wieder aufmachen. Wir werden uns sicher bald wiedersehen.“
    „Moment noch!“, rief Xell plötzlich. Er holte tief Luft. „Könnte ich bitte ein Autogramm haben?“, stotterte er.
    Zwirrfinst lächelte.
    „Natürlich“, antwortete er und überreichte Xell eine kleine Notiz mit seinem Namen.
    Xell’s Augen leuchteten vor Freude, als er das Blatt seinen Händen hielt.
    „D-Danke!“, stammelte er glücklich, faltete das Stück Pergament zusammen und verstaute es sorgsam in ihrem Schatzbeutel.
    „Keine Ursache. Gibt es sonst noch etwas, was ich...“
    „Oh! Da ist er ja wieder und er verteilt immer noch Autogramme! Los beeilt euch Leute!“
    Raven und Xell konnten sich gerade noch mit einem rettenden Satz zur Seite in Sicherheit bringen, bevor sie von etwa 20 Pokémon grob zur Seite und außerhalb von Zwirrfinst’s Sichtweite gestoßen wurden.
    „Autsch... Hey hier sind auch noch andere Leute!“, rief Xell empört und rieb seinen Arm. Doch seine Worte gingen hoffnungslos in dem Getose der Menge unter.
    „Ach, du hast ja was du wolltest...“, sagte Raven. „Deine Pirsifbeeren kriegen wir sicherlich auch an einem anderen Stand.“
    „Schon, aber hier geht es ums Prinzip“, entgegnete Xell und warf der Menge einen verachtenden Blick zu. An seinem Arm prangte ein blauer Fleck der mit jeder Sekunde dunkler wurde.


    „Raven! Xell! Dem Himmel sei Dank!“, piepste plötzlich eine Stimme hinter ihnen.
    Raven und Xell wirbelten herum. Marill und sein kleiner Bruder Azurill rannten so schnell ihre kleine Beine sie trugen auf die beiden zu.
    „Oh Hallo! Schön euch mal wieder zu sehen“, sagte Raven. „Was ist denn mit euch los? Ihr seht ja fix und fertig aus. Ist etwas passiert?“
    Marill war völlig außer Atem und benötigte einige Sekunden, bevor er reagieren konnte. Er reichte ihnen schwer atmend einen Zettel entgegen. Xell nahm das Pergament und las laut vor.


    „Wir haben das, was ihr sucht in unserem Gewahrsam. Wenn ihr euren Schatz jemals wiedersehen wollt, dann schickt jemanden von der Knuddeluff-Gilde zum mit uns verhandeln in die Ampere-Ebene.
    Hochachtungsvoll: Tja, das wüsstet ihr gerne.“


    „Ein Erpresserbrief! Wer könnte so niederträchtig sein?“, sagte Xell und starrte angewidert auf den Brief.
    Raven’s Augen huschten noch einige male über den Text.
    „Euren Schatz?“, fragte er stutzig.
    „Ja. Erinnerst du dich nicht? Wir waren doch damals, als wir uns das erste mal hier getroffen haben auf der Suche nach unserem verlorenen Item.“
    „Stimmt“, sagte Raven und hatte das Bild Traumato’s vor Augen.
    „Aber was hat unsere Gilde damit zu tun? ’Schickt jemanden von der Knuddeluff-Gilde zum mit uns verhandeln in die Ampere-Ebene’. Da ist doch etwas faul...“, murmelte Xell.
    „Egal“, rief Raven entschlossen. „Wir werden uns darum kümmern. Keine Sorge“
    „Hurra! Danke!“, riefen Marill und Azurill begeistert.
    „Raven. Wir haben heute eigentlich unseren freien Tag...“, flüsterte Xell.
    „Na und? Hast du etwas besseres vor“, entgegnete Raven ohne die Lautstärke zu senken.
    Xell’s Mund formte das Wort ’Pirifbeeren’, doch traute er nicht es laut auszusprechen.
    „In Ordnung. Dann auf zur Ampere-Ebene!“, rief Raven.
    Xell seufzte. „Na dann mal los... Ach Marill bevor ich es vergesse: Tu mir bitte den Gefallen und grüß Zwirrfinst noch mal recht herzlich von mir und sag ihm noch einmal herzlichen Dank für das Autogramm.“
    „Oh ist das etwa ’der Zwirrfinst’, von dem heute alle reden?“ Er warf der lebhaften Ansammlung von Pokémon vor ihnen einen neugierigen Blick zu.
    „Ja, das ist wirklich ’der Zwirrfinst’“, wiederholte Raven und konnte einen genervten Unterton nicht unterdrücken.
    „Ja mach ich. Passt bitte auf euch auf“, rief ihnen Marill nach.


    Raven und Xell ließen den Marktplatz und wenige Minuten später auch das Stadttor von Schatzstadt hinter sich. Xell kramte nach ihrer Karte.
    „Ampere-Ebene, Ampere-Ebene, wo war sie noch gleich... Ah da! Uff, ist das weit! Wir müssen noch ein ganzes Stück nach Norden“, stöhnte er.
    Raven ignorierte den Missmut seines Freundes. Er wusste zwar nicht so richtig, was er von Zwirrfinst halten sollte, doch hatte er insgeheim die ganze Zeit dafür gebetet, endlich einen Grund zu finden von ihm weg zu kommen. Es war nicht so, dass er Zwirrfinst nicht leiden konnte, aber irgendwie fühlte er sich in dessen Anwesenheit einfach nicht wohl.
    Sie wanderten mit der stechend heißen Sonne im Nacken immer weiter Richtung Norden. Mit jedem weiteren Meter den sie zurücklegten verdunkelte sich der Himmel über ihnen immer weiter, bis die Sonne schließlich komplett von unheilbringenden Wolken verschlungen wurde. Das Land vor ihnen hatte sich mittlerweile in ein mit granitfarbenen Felsen übersätes Ödland verwandelt.
    Xell warf einen Blick auf die Karte.
    „Das muss sie sein. Das ist die Ampere-Ebene. Ein ziemlich trostloser Fleck...“ Er warf einem abgestorbenen Baum einen traurigen Blick zu.



    Abgesehen von dem bedrohlichen Donnern des Himmels, herrschte eine gespenstige Stille, während sie über die zerklüftete Einöde wanderten. Es war ruhig. Zu ruhig. War das vielleicht nur die Ruhe vor dem Sturm? Raven blickte bei jedem Schritt den er tat angespannt in alle Richtungen. Doch wohin er auch sah: Nichts regte sich. Es war wie ausgestorben.
    „Siehst du jemanden?“, fragte Xell nervös.
    Raven schwieg nachdenklich, während sie immer tiefer in die Ampere-Ebene eindrangen.
    Was hatten sie denn erwartet? Das die Erpresser sie mit offenen Armen und den Worten ’Hallo hier sind wir’ empfangen würden? Wohl kaum. Es konnte sich dabei wohl nur um eine Falle handeln. Ein Hinterhalt!
    „Xell Stopp!“, rief Raven erschrocken, doch eine fremdartige Stimme, die gerade aus dem Nichts schallte, sagte ihm, dass es bereits zu spät war.
    „Wer wagt es? Das ist unser Revier!“, knurrte sie.
    Xell blieb verängstigt stehen.
    „Wer ist da?“, stotterte er erschrocken.
    „Das ist unser Revier!“, wiederholte die Stimme. „Ihr habt hier nichts verloren!“
    „Los zeigt euch ihr feigen Erpresser“, rief Xell und versuchte vergeblich das Zittern in seiner Stimme zu unterdrücken.
    Zu der ersten Stimme gesellten sich weitere. Das knurren wurde immer lauter.
    „Erst dringt ihr unerlaubt in unser Revier ein und dann beleidigt ihr uns? Das werden wir euch nicht verzeihen. Macht euch bereit!
    Ein greller Lichtblitz tauchte die Landschaft in ein helles Weiß ein. Raven taumelte und ging zu Boden. Unvorbereitet wie er war, hatte er mit weit offenen Augen die volle Ladung abbekommen. Seine Augen tränten vor Schmerz. Mühsam versuchte er zu erkennen, was um ihn herum passierte, doch das was er sehen konnte, gefiel ihm ganz und gar nicht.
    Ein ganzes Rudel Pokémon hatte sie umstellt und funkelten sie böse an. Von einem besonders großen Exemplar, der offensichtlich ihr Anführer war, stiegen im Sekundentakt Blitze von seinem Körper gen Himmel.
    Ohne weitere Vorwarnung ging das komplette Rudel in Angriffsstellung über. Xell schaute angsterfüllt zu Raven hinüber, als hoffe er, Raven könnte sie irgendwie aus dieser heiklen befreien. Doch Raven wusste sich auch nicht zu helfen. Flüchten konnten sie nicht und ein Kampf gegen diese Übermacht würden sie niemals gewinnen. Was sollten sie also tun?



    Raven bekam keine weitere Gelegenheit zum Nachdenken. Das letzte was er wahrnahm war, wie sein gesamter Körper von einer gewaltigen Ladung Elektrizität durchströmt wurde. Xell teilte sein Schicksal. Er krümmte sich vor Schmerzen, während er auf dem Boden lag und wie am Spieß schrie. Auch Raven sackte zusammen. Sein ganzer Körper war taub, doch spürte er, wie seine Glieder heftig zuckten, während die Stromstöße weiter auf ihn niederprasselten. Mittlerweile ließ das Rudel von Xell ab, der offensichtlich das Bewusstsein verloren hatte und attackierten nur noch Raven. Alles um ihn herum wurde schwarz. Er spürte, wie er, obwohl er bereits wehrlos auf dem Boden lag und dem Tod näher als dem Leben war, noch einige Sekunden lang von weiteren Entladungen malträtiert wurde, bevor er schließlich völlig das Bewusstsein verlor.


    Das nächste, an was er sich erinnert, war wie eine ferne Stimme ihn aus seiner Ohnmacht befreite.
    „Hörst du mich? Bist du in Ordnung?“
    Raven blinzelte. Er versuchte sich zu regen, doch sein ganzer Körper war starr vor Lähmung. Ein trübes Wirrwarr manifestierte sich vor seinen Augen. Wer sprach dort? Er konnte nichts erkennen...
    „Bist du in Ordnung?“, wiederholte die Stimme.
    Raven röchelte heftig, was er sogleich bereute. Plötzlich war sein Körper von dem Taubheitsgefühl befreit und konfrontierte ihn sogleich mit den zerreisenden Schmerzen in seinen Gliedern.
    Die Bilder wurden zunehmend schärfer. Bald erkannte er wer da sprach. Doch wollte er nicht seinen Augen trauen.
    „Zwirr- Zwirrfinst?“, stammelte er und versuchte aufzustehen.
    „Ruhig. Schone deine Kräfte. Du kannst wahrlich von Glück reden, dass du noch am Leben bist.“
    Raven erschauderte.
    „Xell?“
    „Mach dir um ihn keine Sorgen. Er ist in weitaus besserer Verfassung als du es bist. Schau.“
    Raven neigte den Kopf sachte zur Seite. Nicht unweit von ihm erkannte er seinen Freund, der sich schwer angeschlagen mit der Hand vom Boden abstützte. Von den Angreifern jedoch, fehlte jede Spur.
    Raven atmete tief aus.


    Einige Minuten vergingen, bis er wieder auf seinen zittrigen Beinen halt fand.
    „Zwirrfinst? Wie, warum...?“, stammelte er.
    „Marill hat mir gesagt, wohin ihr aufgebrochen wart. Allerdings wusste ich sofort, dass man euch eine Falle gestellt hat“, antwortete Zwirrfinst.
    „Wer waren sie?“, wollte Xell wissen.
    „Das waren Voltenso und sein Rudel Firzelbliz. Sie sind ein Rudel von Nomaden und zu dieser Jahreszeit immer in der Ampere-Ebene. Leider sind sie sehr ungehalten, was Eindringlinge betrifft“, antwortete Zwirrfinst.
    „Ich glaube jedoch nicht,...“, fuhr er fort, als er Xell’s fragenden Blick bemerkte, „...dass der Erpresserbrief von ihnen war. Wie ich bereits sagte, haben sie nichts für Eindringlinge übrig. Sie wären die letzten, die andere Leute in ihr Revier einladen würden. Glücklicherweise konnte ich Voltenso gerade noch rechtzeitig klar machen, dass ihr nicht die Absicht hattet, ihr Revier streitig zu machen.“
    Zwirrfinst legte eine kurze Pause ein, bevor er weitersprach.
    Irgendwer wusste, dass Voltenso und sein Rudel jeden angreifen würden, der in ihr Gebiet eindringt. Dieser jemand hat euch wohl diese Falle gestellt und er dieser jemand ist auch hier. Los zeig dich! Ich weiß genau das du uns hörst!“ Die letzten beiden Sätze rief Zwirrfinst mit ohrenbetäubender Stimme in die weite Ebene hinein.
    Raven schaute sich um. Glaubte Zwirrfinst etwa allen ernstes, dass der Übeltäter einfach so aus seinem Versteck kriechen würde. Doch zu seiner großen Überraschung, regte sich tatsächlich etwas. Raven wollte seinen Augen nicht trauen, als hinter einem großen Felsen plötzlich drei ihm nur allzu bekannte Gestalten auftauchten und mit einem breiten Grinsen im Gesicht auf sie zu marschierten.
    „Oh Hallo!“, sagte Skunktank und grinste in die Runde.
    „Ich glaub’s ja nicht! Ihr habt uns diese Falle gestellt?“, rief Raven bebend vor Zorn.
    „Ja und ihr seid voll hineingetappt. Eigentlich hatten wir sie für irgendjemanden aus der Knuddeluff-Gilde gestellt, aber das ausgerechnet ihr in sie blind hineinläuft, hat uns natürlich besonders gefreut.“
    Smogon und Zubat feixten.


    „Schaut nicht so blöd. Irgendwie mussten wir uns schließlich für die Demütigung Knuddeluff’s im Nebelwald rächen“, sagte Skunktank.
    Raven wusste zwar nicht, was im Nebelwald zwischen ihnen und Knuddeluff vorgefallen war, doch war es ihm in dem Moment reichlich egal.
    „Wenn ihr so scharf auf eine Auseinandersetzung mit der Gilde seid, dann los! Kommt doch her!“, rief er angriffslustig
    Skunktank lachte hohl.
    „Ich glaube kaum, dass du in der Lage bist uns in irgendeiner Weise Widerstand zu leisten, also wäre ich an deiner Stelle mal ganz leise. Glaub mir, nur zu gern würden wir euch jetzt den Rest geben, doch unglücklicherweise habt ihr ja euren Leibwächter dabei.“ Er nickte in Richtung Zwirrfinst. „Also belassen wir es für heute und verabschieden uns. Wir werden uns schon sehr bald wiedersehen, verlasst euch drauf. Kommt Jungs.“
    Mit diesen Worten stolzierten sie davon.


    Auf ihrem Rückweg redeten Raven und Xell kein Wort. Sie hatten beide schon allein mit dem weiten Weg schwer zu kämpfen, als dass sie noch die Kraft hätten, sich zu unterhalten. Xell’s Haare standen ihm noch immer teilweise zu bergen, während Raven’s Körper noch einige male heftig zuckte. Marill und Azurill nahmen die Nachricht, dass sie leider ihren Schatz nicht finden können völlig gleichgültig auf
    „Ach was kümmert es mich, dass ihr ihn nicht gefunden habt. Hauptsache ihr lebt!“
    Tränen spiegelten sich in Marill’s Augen.
    „Glaubt mir, ich hatte keine Ahnung, dass der Brief eine Falle war. Es tut mir schrecklich leid...“, schluchzte er.
    „Kein Problem. Zwirrfinst war ja noch rechtzeitig zur Stelle und hat das Schlimmste verhindert“, sagte Xell.
    „Zwirrfinst war schockiert, als ich ihm sagte, in welche Gefahr ich euch versehentlich geschickt hatte. Er ist sofort losgeeilt um nach euch zu suchen. Wir können von Glück reden, dass er von der Gefahr die auf euch lauerte Bescheid wusste...“, sagte Marill trocken.
    „Durch mein jahrelanges Erkunderleben habe ich schon einiges erlebt, viel Erfahrung gesammelt und die seltsamsten Dinge beobachtet. Das hat sich heute glücklicherweise wieder einmal bezahlt gemacht“, antwortete Zwirrfinst.


    Marill und Azurill verabschiedeten sich von ihnen, jedoch nicht ohne sich noch knappe 5 mal bei Raven und Xell zu entschuldigen. Als sie kaum noch zu sehen waren meldete sich Xell zu Wort.
    „Zwirrfinst? Da gibt es war, dass ich dich gerne fragen würde.“
    Zwirrfinst drehte sich interessiert in seine Richtung.
    „So? Dann frag ruhig.“
    Auch Raven schaute neugierig in seine Richtung.
    „Du sagtest, dass du auf deinen Reisen schon die merkwürdigsten Dinge erlebt hast, aber hast du schon von einem Phänomen gehört, bei dem jemand am helllichten Tag beim berühren von Dingen Visionen über den Gegenstand erhält?“
    Raven wusste sofort auf was sein Freund aus war. Er meinte seine Fähigkeit in die Vergangenheit oder Zukunft zu blicken.
    „Kannst du das genauer beschrieben?“, fragte Zwirrfinst mit leicht unsicherer Stimme.
    „Hast du etwas dagegen, dass wir Zwirrfinst alles über dich erzählen? Vielleicht weiß er ja etwas, was mit dir vorgefallen ist“, flüsterte Xell in Raven’s Ohr.
    Raven nickte stumm. Zwirrfinst hatte ihnen bewiesen, dass er vertrauenswürdig war und vielleicht wusste er ja tatsächlich etwas?
    „Hm OK. Komm am besten mal mit“, sagte Xell zu Zwirrfinst.


    Er führte sie auf direktem Weg zum Strand. An die Stelle, an der er und Raven sich zum ersten Mal trafen. Unterwegs erzählte er ihm alles erwähnenswerte, was er mit Raven und seinen Visionen erlebt hat.
    „Was? Ein Mensch?“, unterbrach ihn Zwirrfinst jäh. „Du behauptest tatsächlich, dass du eines Tages hier aufgewacht bist und jegliche Erinnerung verloren hast. Du aber davon überzeugt bist, dass du vor deinem Gedächtnisverlust ein Mensch warst?“
    „Richtig“, antwortete Raven und schaute tief in Zwirrfinst’s Augen. Würde er ihnen glauben oder hielt er sie nur für völlig übergeschnappt?
    „Und du bekommst Visionen, bei denen du in die Vergangenheit oder Zukunft blickst, wenn du manche Dinge berührt?“, fragte Zwirrfinst erneut.
    „Ja, aber nur selten“, antwortete Raven.
    „Nun, ich weiß leider auch nichts über deine Verwandlung zum Pokémon, aber von deinen Visionen hab ich schon gehört. Es nennt sich Dimensionaler Schrei. Eine besonders seltene und noch recht unerforschte Fähigkeit, bei denen Erinnerungen über Zeit und Raum wandern. Mehr weiß ich leider auch nicht.“
    „Hm Schade...“, sagte Xell. „Nun trotzdem Danke für deine Hilfe. Ich glaube wir machen uns dann mal wieder auf zurück in die Gilde. Es ist schon spät. Die anderen werden sich sicher schon fragen, wo wir stecken oder was meinst du Raven?“
    Raven nickte nüchtern.
    „Was? Wie war noch gleich dein Name?“, fragte Zwirrfinst mit einem feurigen Verlangen in der Stimme.
    „Ich heiße Raven“, antwortete er.
    „Soso, Raven also. Nun gut Raven und Xell. Wir werden uns sicher wieder sehen.“
    Zwirrfinst machte eine tiefe Verbeugung und schwebte wieder Richtung Stadt.
    Raven sah ihm nachdenklich nach. Täuschte er sich oder hatte Zwirrfinst für den Augenblick einer Nanosekunde beim Klang seines Namens gegrinst?


  • Kapitel XI.: Reptain der Dieb




    Nachdem sich ihr vermeidlicher freier Tag als der schmerzhafteste Tag in ihrem Leben entpuppt hatte, wären Raven und Xell am liebsten gleich ins Bett gefallen. Doch ihre Mägen rebellierten bald so laut, dass sie sich doch noch einen Happen genehmigen wollten.
    Die ernsten Mienen Knuddeluff’s und Plaudagei’s beim gemeinsamen Abendessen, kündigten jedoch an, dass dieser Tag noch lange kein Ende fand.
    „Einen Moment noch bitte!“, rief Plaudagei mit ernstem Gesichtsausdruck in die Runde, just als sich die Gildenmitglieder auf ihr Abendmahl stürzen wollten.
    Es bedurfte alles, was Plaudagei’s Stimmbänder in diesem Moment hergaben, um die aufgebracht quengelten Gildenmitglieder endlich zum Schweigen zu bringen.


    „Wie wir soeben aus sicherer Quelle erfahren haben...“, setzte er mit leicht heißerer Stimme fort, „...wurde ein weiter Diebstahl auf ein Zahnrad der Zeit verübt. Dabei handelt es sich jedoch NICHT um das Zahnrad, welches wir am Nebelsee entdeckt haben, sondern um eines, welches in den Tiefen der Kalksteinhöhle verborgen lag. Wie anzunehmen war, steht die Zeit nun auch an diesem Ort und in seiner unmittelbaren Umgebung still.“
    „Ich möchte euch nicht verheimlichen...“, fuhr er mit ansteigender Lautstärke um gegen das entsetzte Getuschel seiner Kameraden anzukommen, fort „...dass die Lage sehr ernst ist. Wer auch immer hinter den Diebstählen steckt, hat es offenbar gezielt auf die Zahnräder der Zeit abgesehen.“
    Auf die Frage Sonnflora’s, was wohl passieren würde, wenn noch weitere Zahnräder von ihrem Platz entwendet werden würden, wusste weder Plaudagei noch Knuddeluff eine Antwort.


    Obwohl sich Raven noch vor wenigen Stunden nichts sehnlicher gewünscht hätte, als das er diesen Tag endlich entgültig hinter sich bringen könnte, kam er an diesem Abend einfach nicht zur Ruhe. Halbwach lag er noch lange Zeit in seinem Bett und dachte über den vergangenen Tag nach. Zwar schämte er sich ungemein für dass, was Xell einzig und allein durch ihn ertragen musste und die blauen Flecken an seinem ganzen Körper würden ihn noch lange Zeit an seinen Fehler erinnern, doch war die Geschichte ja glücklicherweise doch noch gut für ihn und seinen Freund ausgegangen.
    >„Vielleicht war es sogar das beste, was hätte passieren können...<“, redete er sich selbst in Gedanken zu. >„Wenn wir nicht in die Falle getappt wären, hätte es wohlmöglich jemand anderen der Gilde getroffen...“<
    Wie die Geschichte dann ausgegangen wäre, mochte er sich nicht ausmalen. Vor seinem inneren Auge tauchten kurz die Bilder von einem, mit glasigem Blicke in den Augen regungslosen Bidiza auf, der wochenlang in den weiten der Ampere-Ebene vor sich dahinsiechte. Eine stumme Träne ging lautlos in den tiefen seines Bettes verloren.


    Doch eine andere, weit aus bedeutendere Sache beschäftigte ihn an jenem Abend noch viel mehr, als seine schmerzhaften Erlebnisse in den Weiten der Ampere-Ebene: Ein weiteres Zahnrad der Zeit hatte seinen, den für ihn vorgesehenen Platz unfreiwillig verlassen und liegt jetzt vielleicht in den Klauen eines völlig wahnsinnigen oder geisteskranken Kriminellen und damit lag nun ein weiteres Gebiet in einer ewigen Starre gefangen und dieses mal war Zwirrfinst nicht zur Stelle gewesen. Wie viele unschuldige Opfer hatte dieser egoistische Raub gefordert? Der Räuber wusste mit Sicherheit von den Gefahren, die der Diebstahl eines Zahnrads der Zeit mit sich brachte und doch war es nun das zweite, welches er von seinem Platz entwendete. War er vielleicht sogar just in dem Moment zu einem weiteren Zahnrad unterwegs? Wie lange kann Selfe den Schatz des Nebelsees vor ihm bewahren, gerade jetzt wo sein Schutz durch das Eindringen der Gilde aufgehoben war? Was würde passieren, wenn noch weitere Zahnräder verloren gingen?
    Raven erinnerte sich plötzlich an die Worte Plaudagei’s, die er ihm und Xell am ersten Tage kurz vor ihrem aller ersten Auftrag in der Gilde sagte: “ Gerüchten zufolge soll der Fluss der Zeit gestört sein...“
    „>Der Dieb musste also schon mindestens drei Zahnräder der Zeit besitzen<“, dachte Raven und wälzte sich in seinem Bett herum.
    Was bezweckte der Räuber mit den Zahnrädern? Was hatte er mit ihnen vor? Wie weit würde er noch gehen? Diese Fragen ließen Raven keine Ruhe. Doch war ihm eins klar: Er würde ihm nie verzeihen und ihn eines Tages zu Rechenschaft ziehen. Ihn für seine Taten büßen lassen...
    Mit diesen düsteren Gedanken im Kopf, fielen Raven endlich die Augen zu.


    In den nächsten Tagen konnte man nirgends einen Fuß hinsetzen, ohne das man in irgendeiner Form an den Diebstahl des Zahnrads der Zeit erinnert wurde. Irgendwie hatte es die Information über den Raub des Zahnrads an die Öffentlichkeit geschafft, mit dem Ergebnis, dass, überall wo man hinsah, in verängstigte und verwirrte Gesichter blickte. Auf der Straße spekulierte man ununterbrochen über die Geschehnisse, welche sich wohl in der Kalksteinhöhle zugetragen hatten. Nicht allzu selten bekam man bei einem gemütlichen Bummel in der Stadt Gesprächsfetzen mit den wildesten Geschichten und Theorien, eine verrückter und abgedroschener als die andere, mit.
    Auch in der Gilde sorgte das Thema Gesprächsstoff für jede freie Minute. Zwar ging man durch die enge Arbeit mit den Gesetzeshütern etwas professioneller mit dem Verarbeiten und Analysieren von Daten und Fakten um, doch auch hier brodelte die Gerüchteküche nicht viel weniger heiß, als auf der Straße.



    Inzwischen waren einige Tage ins Land gezogen und die Spekulationen in und um Schatzstadt bezüglich der Zahnrad-Geschichte hatten etwas abgeflaut. Auch in der Gilde ging man mittlerweile wieder der gewohnten Tätigkeit nach und so waren Raven und Xell wieder auf dem Rückweg zurück in die Gilde.
    „Bin mal gespannt, ob es heute etwas neues gibt“, sagte Xell am Ende eines langen Arbeitstages.
    „Ist dir eigentlich aufgefallen, dass du das jeden Abend aufs neue sagst?“, antwortete Raven.
    „Entspricht ja auch nur der Wahrheit“, meinte Xell. Du willst mir ja hoffentlich nicht weiß machen, dass dich die Sache kalt lässt“
    „Versuch es erst gar nicht zu leugnen mein lieber Raven. Glaubst du etwa, ich hab es nicht mitbekommen, wie du jeden Abend noch einen kurzen Abstecher zur örtlichen Polizeibehörde machst um dich nach dem rechten zu erkundigen?“
    „Schleichst du mit etwa nach?“, rief Raven erschrocken.
    „Gewissermaßen... Ich habe mir nun mal Sorgen um dich gemacht...“, verteidigte sich Xell schnell, als er Raven’s leicht säuerlichen Gesichtsausdruck sah. „Du warst seit der Nachricht von dem Verschwinden des Zahnrads der Zeit vor einigen Tagen etwas merkwürdig drauf.“
    „Ich möchte nur den Frieden in unserem Land wiederherstellen und den Dieb seiner gerechten Strafe zuführen“, sagte Raven mit trockener Stimme.
    „Ja, ist natürlich verständlich. Es ist auch wirklich schlimm, was in unserer Welt gerade vor sich geht und... Hey du! Keine Mätzchen! Hier wird nicht aus der Reihe getanzt!“
    Ihr eben im Auftrag der Gilde gefangener Ganove hatte gerade Anstalten gemacht, sich still und heimlich während ihrer Unterhaltung zu verdrücken, doch Xell hatte seinen Vordermann stets wachsam im Blick. Mit einem schaudern reihte er sich wieder zwischen Raven und Xell ein.
    „Also wirklich...“, sagte Xell bissig. „Wo waren wir...? Ach ja: Du kannst ja heute gleich Magnezone fragen, ob es etwas neues gibt, wenn wir unseren Freund hier...“, er klopfte seinem Vorgänger etwas unsanft auf die Schulter, „...im Wachbüro abliefern. Würde mich nicht weniger interessieren.“
    Raven nickte stumm.


    Mit ihrem nervös in alle Richtung blickenden Gefangenen, kamen Raven und Xell in Sichtweite des Wachbüros von Schatzstadt. Schon aus weiter Ferne konnten sie unschwer erkennen, dass offenbar etwas nicht stimmen musste. Zwar was das Wachbüro immer schon recht belebt, doch war das nicht mit der heutigen Hektik, welche sich in und um der Anlage abspielte, vergleichbar. Wie von einem Arriados gestochen, flogen die Wach-Magnetilos mit schriller Sirene um das Gebäude herum, während im Sekundentakt die Post-Pelipper der Region starteten oder landeten.
    Raven und Xell warfen sich einen ahnungslosen Blick zu und eilten mit ihrem Gefangenen im Schlepptau zum Wachbüro.
    „Was ist denn hier los?“, fragte Raven einen von Magnezones Angestellten, der sie sogleich kritisch musterte.
    „Ach ihr seid doch von der Knuddeluff-Gilde“, antwortete er atemlos. Eine Nachricht ist schon zu eurer Gilde unterwegs.“
    „Nachricht? Was für eine Nachricht? Was ist hier überhaupt los?“, hakte Raven mit einem mulmigen Gefühl in der Brust nach.
    „Steht alles in der Nachricht“, antwortete er knapp. „Ich kann mich jetzt nicht weiter mit euch befassen, tut mir Leid.“ Er eilte wieder zu seinen Kameraden.
    „Was hat die den gebissen?“, fragte Xell kopfschüttelnd.
    „Keine Ahnung, aber ich habe eine schlimme Vorahnung. Gehen wir zurück zu der Gilde“, schlug Raven vor.
    „H-Hey! Und was ist mit mir?“, stammelte der von ihnen eingefangene Ganove und sah ihnen völlig verdattert nach.
    „Sieh zu das du Land gewinnst und wehe du stellst noch einmal Dummheiten an. Dann lernst du mich erst richtig kennen!“, rief Raven mit drohender Stimme und spurtete Xell nach.


    „Fußabdruck entdeckt! Fußabdruck entdeckt!“, quiekte die Stimme Digda’s, als Raven und Xell nach einem rekordverdächtigen Sprint auf dem Wachposten standen.
    „Es sind Raven und Xell! Mach das Tor auf Krakeelo!“
    Nur wenige Augenblicke später wurde das mächtige Eisentor in die Luft gezogen und ein völlig atemloser Krakeelo tauchte vor ihren Augen auf.
    „Da seid ihr ja endlich! Alle warten schon auf euch! Los rein da!“, sagte er unwirsch und zerrte Raven und Xell unsanft in die Gilde.
    „Autsch! Geht’s nicht auch ein bisschen sanfter?“, rief Xell nachdem er das Gleichgewicht verlor und die letzten 2 Sprossen von der Leiter hinabfiel.
    „Beeilung!“, brummte Krakeelo.
    Krakeelo führte sie, wie Raven es bereits geahnt hatte, vor das Quartier Knuddeluff’s, vor dem bereits alle Gildenmitglieder und zu Raven’s Überraschung, auch Zwirrfinst wartete.
    „Da sind sie. Würdest du uns jetzt bitte sagen, was draußen vor sich geht?“, keuchte Krakeelo und sah in Richtung Knuddeluff.
    Alle Augen im Raum taten es ihm gleich. Raven fiel sofort auf, dass Knuddeluff einen Brief in der Hand hielt, bei dem es sich offenbar die von Magnetilo erwähnte Nachricht handeln musste.
    Raven glaube Knuddeluff noch nie so nervös, beinahe verstört gesehen zu haben. Etwas schreckliches musste geschehen sein, da war er sich jetzt absolut sicher.
    Knuddeluff warf noch einmal einen raschen Blick in die Menge, um sich allem Anschein noch einmal zu vergewissern, ob tatsächlich alle seine Schützlinge anwesend waren, bevor er sprach.
    „Freunde: Die Lage ist sehr ernst! Wir haben soeben erfahren, dass ein weiteres Zahnrad der Zeit verschwunden ist...“
    Es war genau das, was Raven schon die ganze Zeit über geahnt hatte. Noch ein Zahnrad der Zeit war verschwunden. Ob es sich dabei vielleicht sogar...
    „Es kommt noch schlimmer!“, setzte Knuddeluff fort und riss Raven aus seinen Gedanken. Seine zweite Ahnung schien sich zu bestätigen. „Das Zahnrad, welches diesmal verschwand war kein anderes als das vom Nebelsee!“
    Alle Gildenmitglieder starrten starr vor Schreck auf Knuddeluff.
    „A-Aber wie?“, flüsterte Xell. „Wie konnte das passieren? Selfe bewacht doch das Zahnrad. Wie konnte der Dieb an ihm vorbei kommen?“
    „Laut dieser Nachricht hier, hatte Selfe keine Chance gegen den Räuber und wurde völlig überwältigt. Ich muss euch aber leider sagen, dass wir an der Sache auch nicht ganz unschuldig sind. Schließlich haben wir durch unser Eingreifen unwissentlich den Schutz des Zahnrads geschwächt“, antwortete Knuddeluff mit schuldbewusster Miene.
    „Moment mal... Hattet ihr nicht gesagt, dass ihr am Nebelsee nichts gefunden habt?“, schaltete sich Zwirrfinst plötzlich in das Gespräch ein.
    „Es tut mir Leid Zwirrfinst, aber wir haben einen Eid geschworen, es niemandem zu erzählen“, sagte Knuddeluff. „Nicht das wir dir misstrauen, aber ein Schwur ist eben ein Schwur...“
    „Schon in Ordnung. Ich verstehe voll und ganz“, antwortete Zwirrfinst.
    „Es ist zwar nur ein schwacher Trost, aber durch Selfe haben wir inzwischen die Identität des Täters erfahren. Diese Steckbriefe werden schon bald überall verteilt werden.“
    Knuddeluff nagelte eines der Bilder auf und offenbarte das Bild eines verstohlen dreinblickenden Pokémons. Mit seinen gelb leuchteten Augen grinste es heimtückisch auf die Gildenmitglieder hinab.


    „Selfe behauptet, der Name des Diebes lautet Reptain. Es wurde bereits eine Großfahndung nach ihm eingeleitet und ein beträchtliches Kopfgeld ausgesetzt.
    „Apropos: Wie geht es Selfe eigentlich?“, wollte Palimpalim wissen.
    „Den Umständen entsprechend“, antwortete Knuddeluff trocken. Mit letzter Kraft konnte es die örtlichen Behörden von dem Diebstahl informieren. Es war ein echtes Wunder, dass es trotz seiner großen Verletzungen noch rechtzeitig vor dem Stillstand der Zeit aus dem Nebelwald fliehen konnte. Im Moment wird es medizinisch vor Ort und Stelle versorgt.“
    Es gab reges Getuschel unter den Anwesenden.
    „Hört zu! Das ist jetzt wichtig!“, rief Knuddeluff in die Menge.
    Sämtliches Geflüster erstarb augenblicklich.
    Magnezone hat uns als Gilde um die Mitarbeit bei der Lösung des Falles gebeten. Wir werden nun alles in unserer Macht stehende tun, um Reptain zu fangen und ihn zur Rechenschaft zu ziehen.“
    Alle Gildenmitglieder nickten stumm.
    „Ich möchte bei dem Fall auch meine Hilfe anbieten“, sagte Zwirrfinst mit einem, noch nie da gewesenen brennenden Verlangen in seiner Stimme.
    „Danke Zwirrfinst. Die Hilfe nehmen wir gerne an“, antwortete Knuddeluff und lächelte zum ersten mal wieder. „Plaudagei, Zwirrfinst und ich werden uns heute Abend über unser weiteres Vorgehen unterhalten. Morgen werden wir gemeinsam uns auf die Jagd nach Reptain machen.


    Die Runde löste sich mit diesen Worten und unter heftigen Geflüster auf. Nur Raven stand noch immer vor dem Quartier des Gildenmeisters und starrte ununterbrochen auf den Steckbrief Reptain’s. Sein Puls raste wie verrückt und sein Herz schlug immer schneller. Jede Sekunde, in der sich seine Augen in das Bild vor ihm bohrte, wuchs sein Zorn immer weiter an. Eine plötzliche tiefe Stimme hinter ihm ließ ihn für einen kurzen Moment seine Wut vergessen.
    „Was wirst du tun, Raven?“, fragte Zwirrfinst.
    Raven wirbelte herum.
    „Was meinst du damit?“, fragte Raven zurück.
    „Wirst du auch nach Reptain suchen und falls ja: Was wirst du tun, wenn du ihn findest?“
    Raven schaute Zwirrfinst skeptisch an.
    „Was soll diese komische Frage? Natürlich werde ich ihn suchen und ich werde ihn zur Rechenschaft ziehen! Er soll für seine Taten büßen!“, antwortete Raven grimmig.
    Zwirrfinst blickte einige Sekunden tief in die Augen Raven’s.
    „Verzeih mir bitte meine Frage“, sagte Zwirrfinst schließlich. „Der Diebstahl der Zahnräder der Zeit haben auch mich sehr betroffen gemacht...“ Er verbeugte sich vornehm und entschwebte in das Quartier Knuddeluff’s.


    „Darüber würde ich mir keine Gedanken machen, Raven... Vielleicht haben ihn die Diebstähle wirklich mitgenommen“, sagte Xell, als sie am späten Abend in ihrem Quartier saßen. Raven hatte seinem Freund soeben mitgeteilt, was zwischen ihm und Zwirrfinst vorgefallen ist.
    Raven blickte stumm aus dem Fenster. Eine einsame Wolke zog an dem, an diesen Abend sichelförmigen Mond, vorbei.
    „Erinnere dich: Er hat einen Stillstand der Zeit mit eigenen Augen miterlebt, nämlich den im Schemengehölz. Möglicherweise hat er damals schreckliche Dinge gesehen, an die er heute wieder erinnert wurde.“
    „Ja, das könnte tatsächlich sein...“, antwortete Raven ohne seine Augen vom Mond abzuwenden.
    Xell hatte sich inzwischen in seinem Bett niedergelassen. Er gähnte ausgiebig.
    „Wir werden ab morgen nach Reptain suchen und ihn sicherlich bald finden. Zerbrich dir heute nicht mehr deinen Kopf darüber.“
    Raven konnte endlich seinen Blick nach draußen abwenden.
    Xell hatte recht. Es half ihm jetzt auch nichts, sich darüber Gedanken machen. Schon sehr bald könnte er seine Taten sprechen lassen.


    Raven war nicht der einzige, der am nächsten Morgen angespannt auf die Verkündung des Gildenmeisters wartete. Selbst die stets fröhliche Sonnflora stand an diesem Morgen ein bittereinster Ausdruck wie im Gesicht geschrieben. Es sprang Raven sofort ins Auge, dass Plaudagei einen für ihn völlig ungewöhnlich müden Eindruck machte. Offenbar hatte er, Knuddeluff und Zwirrfinst noch lange in den gestrigen Abend über ihre Vorgehensweise diskutiert. Zwirrfinst schwebte ausdruckslos, aber allem Anschein nach, im Gegensatz zu Plaudagei im Vollbesitz seiner Kräfte, zu Digdri’s rechten.


    Nach kurzer, jedoch nervenzerreibender Wartezeit, flog endlich die Tür des Gildenmeisters krachend auf und Knuddeluff trat hervor. Er sah alle seine Kameraden mit großen, erwartungsvollen Augen an und nickte ihnen entschlossen zu.
    „Wie ihr sicher wisst, haben Plaudagei, Zwirrfinst und ich uns gestern ausgiebig über die Jagd nach Reptain unterhalten. Folgender Plan...“
    Alle Augenpaare waren auf Knuddeluff gerichtet. Niemand wagte auch nur zu laut zu atmen oder gar einen Mucks zu machen.
    „Es ist eher unwahrscheinlich, dass wir irgendwo in der Weltgeschichte auf Reptain stoßen, also haben wir uns folgendes überlegt: Anhand der bisherigen Fundorte der Zahnräder der Zeit mutmaßen wir nun über weitere potenzielle Verstecke. Finden wir ein Zahnrad der Zeit, werden wir sicherlich auch früher oder später auf Reptain stoßen, der anscheinend eine besondere Gabe im aufspüren der Zahnräder hat. Wir werden diese Orte systematisch nach weiteren Zahnrädern absuchen. Dafür teilen wir uns in Gruppen... ja Krebscorps du auch!“
    Raven blickte in Krebscorps Richtung und erhaschte noch einen kurzen Moment, in dem er allem Anschein nach missmutig über Knuddeluff’s Entscheidung Gruppen zu bilden, verärgert den Kopf schüttelte.
    „Reptain ist zwar allein, aber dennoch ein gefährlicher Gegner. Vergesst nicht, dass er bislang von niemandem gestoppt werden konnte. Zu unserer eigenen Sicherheit werden wir deshalb in Gruppen nach ihm suchen. Raven und Xell: Ihr seid natürlich bereits ein eingespieltes Team und werdet deshalb weiter in einer Gruppe arbeiten. Wir möchten das ihr beide die Nordwüste nach einem Zahnrad der Zeit absucht.“
    „Geht klar!“, riefen Raven und Xell im Chor.
    „Ebenso Sonnflora und Palimpalim: Ihr beide sucht bitte den Fluss der Klarheit ab.“
    „Wir geben unser bestes!“ rief Sonnflora entschlossen.
    „Krakeelo und Digda: Euch überlassen wir die Erdrutschhöhle“
    „Verlass dich nur auf uns“, brüllte Krakeelo voller Tatendrang.
    „Krebscorps: Zwirrfinst hofft auf deine Hilfe bei der Erkundung einer Inselgruppe im Südosten.“
    Wieder einmal huschten Raven’s Augen in Richtung Krebscorps. Jeder in der Gilde hätte gerne mit ihm Platz getauscht. Er hatte die vielleicht einmalige Gelegenheit mit Zwirrfinst auf Erkundung zu gehen, doch ließ ihn diese Nachricht eher kalt. Er nickte stumm.
    „Plaudagei und ich werden die Flimmerhöhe auf den Kopf stellen.
    „Der Rest, das wären im heutigen Fall Digdri, Bidiza und Glibunkel: Ihr hütet bitte heute die Gilde. Es tut mir Leid...“, sagte Knuddeluff als er ihre enttäuschte Gesichter sah, „...aber wir können sie nicht einfach unbeaufsichtigt lassen. Digdri, als Gildenältester übertrage ich dir während unserer Abwesenheit die Verantwortung.“
    „Ich werde das Kind hier schon schaukeln“, antwortete Digdri einsichtig.
    „Sollte eine Gruppe ein Zahnrad finden, so bitte ich diese an Ort und Stelle zu verweilen um das Zahnrad zu beschützen. Wir werden dann so schnell wie möglich nachkommen. Ansonsten seid ihr bitte vor Sonnenuntergang wieder zurück. Habt ihr alles soweit verstanden?“
    „Ja Gildenmeister!“, riefen alle Gildenmitglieder einstimmig.
    „In Ordnung Freunde! Packen wir es an!“


    „Die Nordwüste also. Ist das weit weg?“, fragte Raven als sie das Nordtor Schatzstadts hinter sich gelassen haben.
    Xell inspizierte einige Sekunden die Karte, bevor er sein Gesicht zu einer merkwürdigen Fratze verzog.
    „Ha! Du wirst lachen: Die Nordwüste liegt nur einen Mauzisprung westlich der Ampere-Ebene“, antwortete Xell.
    „Mir ist bei dem Gedanken an die Ampere-Ebene eher nicht zum lachen zumute“, antwortete Raven trocken.


    Raven und Xell folgten dem selben Pfad, den sie bereits wenige Tage zuvor zur Ampere-Ebene genommen hatten, hielten sich aber nach einer Stunde Fußmarsch immer weiter nach Westen, bis sie schließlich nach einer weiteren Stunde am Rande eines schier endlosen Sandmeers, gespickt von einigen scharfkantigen Felsen und verdörrten Pflanzen, vor sich hatten.



    „Tja, da wären wir“, murmelte Xell und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Ein schattiges Plätzchen werden wir hier wohl vergeblich suchen...“
    „Brauchst du eine Pause oder sollen wir gleich loslegen?“, fragte Raven, dem ebenso die Hitze schwer zu schaffen machte.
    „Geht schon... Legen wir los“


    Die heiße Mittagssonne brannte unerbittlich auf die beiden nieder, während sie buchstäblich jeden Stein umdrehten.
    Nur ein einziges mal in seinem Leben, glaubte Raven einer solchen Hitze ausgesetzt gewesen zu sein, nämlich als sie die Dunsthöhle auf der Suche nach dem Geheimnis des Nebelsees durchquerten. Doch wenn er die Wahl hätte, wäre Raven mit Freuden noch einmal die Dunsthöhle bestiegen. Nicht nur das sie nun mit der heißen Umgebungstemperatur klar kommen mussten, auch waren sie noch der erdrückenden Last der Sonne ausgeliefert. Sein Körper fühlte sich so schwer wie Blei an, während er jeden Zentimeter um ihn herum, so genau er es in seiner momentanen Verfassung bewerkstelligen konnte, unter die Lupe nahm.
    Der von der Sonne aufheizte Sand hatte inzwischen fast die selbe Temperatur angenommen, wie die dünne Luft, die sie umgab und brannte bei jeden ihrer Schritte wie glühende Nadeln. Raven perlte der Schweiß im Sekundentakt von der Stirn, der aber bevor er überhaupt den Boden erreichte, in der Luft verdunstete.
    Raven und Xell nutzen die erste Gelegenheit die sich ergab und legten im Schatten einer kleinen, vom Land geformten Felsformation, eine Pause ein.
    Xell stierte erneut auf ihre Karte.
    „Wenn ich mich nicht irre, haben wir fast die ganze Wüste abgesucht.“
    „Ein Glück...“ keuchte Raven.
    „Nimm es mir nicht übel Raven, aber ich hoffe, dass wir hier kein Zahnrad finden. Ich will diesen Ort so schnell wie möglich wieder verlassen...“, keuchte Xell und setzte Markierungen auf der Karte.
    „Geht mir genauso“, antwortete Raven.
    „Und bleibt nur noch ein kleiner Fleck im Südwesten.“
    „Gut. Packen wir es an.“


    Qualvoll schleppten sich Raven und Xell zu der letzten, noch unerforschten Stelle des Ödlands. Die Intensität der Sonne hatte zwar inzwischen etwas nachgelassen, doch die Luft schien so heiß wie nach wie vor.
    Xell blieb plötzlich ohne Vorwarnung stehen und stieß sogleich mit seinem Hintermann Raven zusammen.
    „Hey Raven, hörst du das auch?“, fragte er und lauschte gebannt in die endlose Leere der Wüste hinein.
    Jetzt wo das unaufhörliche Knirschen des Sandes unter ihren Füßen erstarb, konnte auch Raven’s feines Gehör ein merkwürdiges Surren wahrnehmen. Doch weit und breit war nichts zu sehen. Xell näherte sich neugierig der Geräuschquelle, doch von dem Ursprung fehlte nach wie vor jede Spur.
    Plötzlich geriet Xell ins Wanken, verlor das Gleichgewicht und fiel kopfüber auf den weichen Wüstensand. Zu Raven’s Verwunderung, schien sich Xell noch immer zu bewegen, obwohl er regungslos auf dem Boden lag. Sein Blick wanderte langsam vom fernen Horizont hinunter auf den Boden. Er wurde kreidebleich.
    „XELL! WEG DA!“
    Auch Xell schien inzwischen begriffen zu haben, was hier vor sich ging: Er war in den Sog eines Strudels geraden, der ihn unaufhörlich näher an sich heranzog und ihn zu verschlucken drohte.
    Panisch flüchtete Xell auf allen Vieren kriechend von dem unheilvoll rotierenden Zyklon und wirbelte dabei gehörig Sand auf.


    „Alles in Ordnung? Das war verflucht knapp...“, japste Raven erleichtert, aber noch immer völlig blass im Gesicht.
    „A-Alles OK. Mir geht’s gut“, keuchte Xell und griff sich schwer atmend an die Brust.
    Raven warf einen Blick zurück. Am Boden rotierten ein halbes Dutzend Treibsandstrudel unaufhörlich in einer endlos erscheinenden Spirale und verschlangen alles, das dumm genug war ihre Nähe zu kommen, in ihrem schier endlosen Schlund.
    „Tja, Sackgasse. Hier ist wohl nichts weiter... Hier sind wir fertig. Zeit nach Hause zu gehen oder was meinst du? Raven? Hey Raven? Hörst du mir überhaupt zu?”


    Raven starrte gedankenversunken auf die Strudel vor ihm und versuchte die Stimme Xell’s so gut er konnte zu ignorieren. Zum zweiten mal seit er zurückdenken kann, glaubte er kurz davor zu sein, einige Erinnerungen an sein früheres Sein wieder zu erlangen. Es war das gleiche Gefühl, dass er vor wenigen Tagen bei ihrer Ankunft am Nebelwald vernommen hatte. Die Ahnung, dass er diesen Ort von irgendwoher kannte. Aber wie konnte das sein? Es ließ ihn einfach nicht los...
    „Raven...?“, fragte Xell erneut und suchte besorgt den Blick seines Freundes.
    Raven wandte seinen Blick von dem Schauspiel auf dem Boden ab.
    „Mir geht es gut“, log er tonlos.
    „Gut. Wollen wir vielleicht noch eine kurze Pause einlegen, bevor wir zurückgehen?“, fragte Xell.
    „Keine schlechte Idee“, antwortete Raven.
    Vielleicht würde er es an irgendetwas erinnern, wenn er noch längere Zeit hier verbrachte, hoffte er.
    „Gut, dann lass uns aber sicherheitshalber noch etwas Abstand nehmen...“, sagte Xell, entfernte sich einige Meter von den Strudeln und ließ sich erschöpft in dem wenigen Schatten eines kleinen Felsens nieder.


    Raven machte es sich ebenfalls in dem Schatten eines Felsens, jedoch etwas näher an dem Naturwunder als sein Freund, bequem. Er lehnte sich an den blanken Stein und spürte wie die angenehme Kühle seinen ganzen Körper erfrischte. Urplötzlich versank alles um ihn herum in tiefer Finsternis und das pausenlose Surren der Strudel erstarb. Ein gewaltiger Sog zerrte ihn aus dieser Welt und beförderte ihn in einer seiner Visionen.
    Raven konnte nichts um ihn herum erkennen, doch konnte er eine leise Stimme wahrnehmen.
    „Hier ist es“, flüsterte sie.
    Raven lauschte gebannt in die Finsternis hinein. Es war die selbe vertraute und doch so fremde Stimme, die er damals bei seiner Vision im Nebelwald vernommen hatte. Doch die Stimme schwieg. War der Traum etwa schon vorbei?
    „Siehst du diese kreisförmigen Felder im Boden?“, meldete sie sich triumphierend nach einigen Sekunden bedächtiger Stille wieder. „Da muss es versteckt sein! Wir müssen an dieser Stelle graben!“
    „Raven? Raven?!“
    Eine verschwommene, entfernte Stimme riss Raven plötzlich aus seiner Vision. Das endlose Vakuum um ihn herum verwandelte sich wieder in ein helles Farbenmeer. Die Sonne blendete ihn, als er endlich das Tor zur wirklichen Welt durchschritten hatte und im Schatten des Felsens erwachte.
    Xell beugte sich neugierig über ihn.
    „Oh sorry. Habe ich dich etwa geweckt?“
    Raven sah sich erschrocken um. Was hatte er eben gehört? Jemand hatte sich allem Anschein nach über die Wüste und die Strudel unterhalten. Etwas war unter dem Sand versteckt. Aber warum kreisförmige Felder? Meinte sie etwa die Strudel? Das ergab doch keinen Sinn. Außer...
    „Du gefälltst mir gar nicht. Hoffentlich hast du keinen Hitzschlag erlitten. Wir sollten hier schleunigst verschwinden...“, sagte Xell besorgt.
    „Nein!“, rief Raven und sprang auf seine Beine. „Es war eine Vision!“
    Xell’s Augen weiteten sich.
    „Eine Vision? Du meinst den, wie nannte es Zwirrfinst doch gleich...Dimensionalen Schrei? Was hast du gesehen oder gehört? Los sag schon!“


    Sogleich berichtete Raven alles, was seine Ohren in seiner kurzen Vision vernahmen.
    „Etwas ist unter dem Sand versteckt? Kreisförmige Felder“, wiederholte er verwirrt und sah sich um. Sein Blick fiel auf die rotierenden Strudel. „Vielleicht sind die Strudel gemeint, aber warum sollte man dort graben?“
    „Vielleicht stammt meine Vision aus einer Zeit, in der die Strudel noch nicht oder nicht mehr existieren“, antwortete Raven, schon jetzt von seiner Theorie absolut überzeugt.
    „Ich weiß nicht so recht...“, murmelte Xell und blickte besorgt auf den gierigen Treibsand.
    „Xell...“, wollte ihm Raven gerade zureden, als sich dieser urplötzlich umdrehte und ihn entschlossen ansah.
    „Ich vertraue dir. Im Grunde ist es auch nicht anders, als damals bei unserer ersten Expedition am Wasserfall. Erinnerst du dich? Nehmen wir unseren Mut zusammen!“
    „Oh Xell...Ich...Danke“, stammelte Raven erleichtert über den Sinneswandel seines Freundes und damit das Vertrauen, welches er ihm schenkte.
    Raven war etwas unwohl zumute, als er sich vor dem größten Strudel aufbaute. Sein Herzschlag beschleunigte sich.
    „Ich zähle runter, dann springen wir “, sagte Raven und versuchte ein zittern in seiner Stimme zu unterdrücken.
    „Das weckt alte Erinnerungen...“, seufzte Xell.
    „3“
    „2“
    „1“
    Er stockte eine Sekunde lang und schaute hinüber zu Xell. Er nickte ihm zu.
    „Los!“
    Raven schloss die Augen und legte nach einem kurzen Spurt einen weiten Satz nach vorne hin. Als er wieder Boden unter den Füßen hatte, spürte er auch schon ein unbändiges Reißen. Sein Körper wurde vom Sog erfasst. Der Strudel würde ihn jeden Augenblick verschlucken. Er wagte nicht die Augen zu öffnen. Sein Körper wurde versank immer tiefer im warmen Sand. Das Surren der Treibsandstrudel wurde mit jeder weiteren Sekunde lauter. Raven spürte, wie sein Kopf vom Sand begraben wurde und hielt die Luft an, als würde er nichts weiter als einen kleinen Tauchgang im Meer machen. Nach wenigen Sekunden verlor er den Boden unter den Füßen und fiel in eine scheinbar bodenlose Leere. Noch immer hielt er Augen und inzwischen auch Ohren fest verschlossen und hoffte inständig darauf, weich zu landen. Sein Körper schlug plötzlich auf den Boden, der sich glücklicherweise sehr weich anfühlte, auf. Nur wenige Augenblicke später hörte er, wie ein kleines wimmerndes Etwas unmittelbar in seiner Nähe sanft auf den Boden landete. Raven öffnete vorsichtig ein Auge und spähte in die Fremde. Sand rieselte Raven sanft auf seinen Kopf und es war angenehm kühl. Sie waren inmitten einer unterirdischen Sandgrube gelandet. Vor ihnen tat sich ein weiter Spalt in einer Felswand auf, die offenbar den Eingang zu einer Höhle, die unterhalb der Wüste verlief, freigab.



    Über ihren eigenen Fund selbst noch ungläubig, suchte Raven den Blick seines Freundes. Xell starrte imponiert und mit hängendem Kiefer in der Grube umher. Er konnte es offenbar auch nicht glauben.
    „Das ist Wahnsinn Raven!“, rief Xell. „Du hattest wirklich recht!“
    „Ja, zum Glück“, antwortete Raven. „Mir war trotzdem bei dem Gedanken nicht ganz wohl...“
    „Nenn es Intuition, aber ich glaube, dass hier unten tatsächlich etwas verborgen liegt.“, mutmaßte Xell.
    Plötzlich fiel Raven wieder ein, weshalb sie überhaupt hier waren. Seine Augen weiteten sich.
    „Los gehen wir.“


    Raven und Xell zwängten sich durch den Riss in der Felswand und hatten einen spärlich beleuchteten Gang, der schnurgerade in nur eine Richtung führte, vor sich. Ungewiss über das, was kommen mag, wanderte sie vorsichtig den langen Gang entlang. Die Untergrundpassage war wie die gesamte Wüste völlig ausgestorben. Nichts rührte sich oder zeigte eine Spur von Leben.
    Einige Zeit verging, in der Raven und Xell stillschweigend dem Pfad der vor ihnen lag folgten. Plötzlich wurde Raven’s Geruchsinn von einem eigentümlichen Geruch geweckt.
    Raven holte tief Luft und sog die Luft die ihn umgab an sich heran.
    Ein schwaches Gemisch aus Pflanzen und stillem Gewässer drang ihm in die Nase. Etwa ein See? Konnte das sein? Er beschleunigte seine Schritte.
    „Raven! Sieh mal da vorne! Ein Licht!“, rief Xell aufgeregt und rannte dicht gefolgt von Raven voraus
    Der Gang wurde mit jedem ihrer Schritt weiter. Bis sie sich auf einmal in einer riesigen Grotte befanden und einen gigantischen See vor sich hatten. Obwohl es sich hierbei wohl um ein einzigartiges Naturwunder handelte, interessierte sich Raven in diesem Moment nur für das blaue Leuchten, welches im Zentrum des Sees lag. Es stahlte haargenau mit der selben Intensität wie das Licht, welches sie noch vor wenigen Tagen am Nebelsee sahen.
    Xell näherte sich dem Ufer des Sees, seine Augen fest auf das Zentrum des Gewässers gerichtet. Er bestätigte seine Gedanken.
    „Raven, das Licht da vorne... Es muss tatsächlich ein Zahnrad der Zeit sein! Es ist absolut identisch mit dem Leuchten am Nebelsee.“



    „Euch ist also die Existenz des Zahnrads bekannt...“
    Raven und Xell fuhren erschrocken zusammen. Eine Stimme; doch woher kam sie? Wer war noch bei ihnen? Etwa Reptain? Erschrocken schauten sie in alle Richtungen und suchten nach dem Ursprung der Stimme.
    „...Und wisst ihr über das Zahnrad vom Nebelsee. Im klaren bin ich mir nun, wer ihr seid...“
    Die Stimme schien mit jedem weiteren Satz lauter und zorniger zu werden.
    „Ihr wart es! Verraten habt ihr meinen Bruder! Niemals verzeihen werde ich euch! Beugt euch der Macht Vesprit’s, dem Wächter des Zahnrads der Zeit!“
    Bevor Raven auch nur begreifen konnte, wie es um ihn geschah, wurde er und Xell ruckartig in die Luft geschleudert in mit gewaltiger Kraft gegen eine scheinbar unsichtbare Wand aus Luft gedrückt. Vor ihnen manifestierte sich plötzlich ein kleines Wesen. Es hatte eine unglaubliche Ähnlichkeit mit Selfe, auch wenn es sein Kopf in einem anderen Licht erstrahlte, als der Selfe’s.
    „Du irrst dich...“, würgte Raven hervor. „Wir haben deinen Bruder nicht verraten...“
    „Sei still!“, zischte Vesprit. „Mir ist bereits bekannt, dass ihr euch noch vor kurzem am Nebelsee aufgehalten habt. Versprochen habt ihr meinem Bruder, die Existenz des Zahnrads geheim zu halten. Hintergangen habt ihr ihn!“
    Raven spürte ein kräftiges Reisen seiner Glieder, als würde sein Körper von unsichtbaren Greifarmen in alle Richtungen gezerrt. Die Schmerzen waren unerträglich.
    Xell schwebte heftig zitternd neben ihm. Sein Gesicht krampfhaft verzogen. Auch er litt Höllenqualen.
    „Nein...“, stöhnte Raven. “Hör zu...“
    „SCHWEIG VERRÄTER!“, brüllte Vesprit.
    Raven’s unsichtbarer Griff wurde stärker und schnürte ihm die Kehle zu.
    „Ihr wagt es Unschuld zu heucheln? Wen glaubt ihr vor euch zu haben?!“
    Raven versuchte mit aller Kraft etwas zu sagen, doch brachte er keinen Ton heraus. Jeder Atemzug glich einer Folter.
    „Ich bin nicht so einfältig wie meine beiden Geschwister“, knurrte Vesprit und näherte sich langsam seinen beiden Opfern. Er blickte Raven tief in seine vor Schmerzen tränenden Augen. „Ihr begehrt das Zahnrad der Zeit? Niemals verlassen werdet ihr diesen Ort!“
    Raven hätte nicht geglaubt, dass die Schmerzen, die er gerade empfand, noch weiter steigern lassen doch mit einem mal wurde er eines besseren belehrt. Seine Schmerzensschreie halten durch die Höhle.
    „Raven...“, stöhnte Xell neben ihm. „Wir müssen...müssen uns verteidig...“
    Auch er schrie plötzlich vor Schmerzen auf. Vesprit schien sich nun mit ihm zu beschäftigen und ließ von Raven’s Folter kurz ab.
    Raven atmete schwer und sein ganzer Körper zitterte, doch überlegte er nicht lange. Er mobilisierte alle Kräfte, die er finden konnte und feuerte einen knisternden Funkenstrom auf Vesprit. Die Attacke fand ihr Ziel und ließ Vesprit hell aufleuchten und heftig zusammenzucken. Sofort blickte es erzürnt auf den Ursprung dieses Angriffs, Raven.
    „DU WAGST ES?!“, schrie es, doch bevor es seinen Zorn auf Raven freien Lauf lassen konnte, wurde es in einer lodernden Feuersbrunst gefangen. Raven blickte erschrocken zur Seite. Xell spie, mit dem Mut der Verzweiflung, einen glühenden Hitzestrahl auf Vesprit.
    Raven merkte wie sich der Griff, der ihn in der Luft hielt lockerte. Augenblicklich nutzte er die Gunst der Stunde und schoss einen weiteren Funkenstrom auf die Feuersäule vor ihm, in der Vesprit gefangen war.
    Mit einem Mal kamen Raven und Xell ins taumeln. Mit rasender Geschwindigkeit wurden sie in der Luft hin und her. Vesprit schien die Gewalt über den unsichtbaren Haltegriff fast verloren zu haben. Plötzlich löste sich Vesprit’s Einfluss. Xell wurde krachend gegen die nächste Wand geschleudert und blieb regungslos liegen, während Raven klatschend auf den See aufschlug.


    Das angenehm kühle Wasser linderte sogleich etwas seinen Schmerz, doch war es zum Ausruhen die falsche Zeit So schnell er konnte paddelte er in Richtung des Ufers. Auf halbem zurück ans Rettende Ufer, stoppte er plötzlich abrupt. Ein eisiger Schauer, kälter als das Wasser welches ihn umgab durchströmte ihn, als sein Blick auf das Gestade vor ihm fiel: Ein weiterer Besucher war erschienen. Gelbäugig, von Kopf bis Fuß mit einer grünen Farbe bemalt und mit scharfkantigen Blättern an beiden Händen versehen, näherte sich Reptain dem See.
    „Ich weiß zwar nicht was hier los ist...“, sagte er, die gelben Augen mit gierigem Verlangen auf das Zentrum des Sees gerichtet, „...aber das ist mir auch egal. Ich bin nur wegen dem Zahnrad gekommen. Euer kleines Spiel interessiert mich nicht.“
    Raven schwamm so schnell er konnte zurück. Er musste Reptain aufhalten. Koste es was es wolle!
    „Du bist Reptain!“, keuchte Vesprit, welches schwer atmend am Boden kauerte. „Dass das Zahnrad am Nebelsee verschwand war dein Werk!“ Vesprit versuchte aufzustehen, doch brach bei dem ersten Versuch augenblicklich zusammen.
    „Versuch mich nicht aufzuhalten. Ich bin nicht hier um zu kämpfen. Ich will nur das Zahnrad der Zeit haben“, sagte Reptain ruhig.
    Vesprit rührte sich nicht. Es war offensichtlich bewusstlos.
    Reptain näherte sich mit einem gierigen Funkeln in den Augen dem See.
    „Stopp!“, keuchte Raven und kletterte an Land. „Nur über meine Leiche!“
    „Sei nicht dumm! Du kannst dich kaum auf den Beinen halten, geschweige denn mir Paroli bieten. Geh mir aus dem Weg und dir geschieht nichts!“
    „NIEMALS!“, brüllte Raven und rammte wutentbrannt seinen ganzen Körper in Reptain’s Magengegend.
    Reptain taumelte einige Schritte zurück, presste sich seine Hand an Rippen und funkelte Raven böse an.
    Wie aus dem Nichts kommend, entgegnete Reptain Raven’s waghalsigen Angriff mit einem blitzschnellen Rammmanöver seinerseits. Raven brach augenblicklich zusammen.
    „Wer nicht hören will...“, hörte Raven Reptain leise sagen. Alles um Raven wurde plötzlich verschwommen. Er verlor das Bewusstsein. Das Letzte was er wahrnahm, war ein lautes Klatschen. Reptain war in den See gesprungen. Sein Ziel klar im Blickfeld: Das Zahnrad der Zeit.


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  • Kapitel XII.: Die einzige Möglichkeit




    Es war das Vibrieren des Bodens, dass Raven aus seiner Besinnungslosigkeit weckte. Wie lange war er ohnmächtig gewesen? Mühsam versuchte er aufzustehen, doch seine Beine knickten unter der Last seines Körpers zusammen und ließen ihn unsanft auf den staubigen Boden zurückkehren.
    Wo war Reptain? Raven drehte seinen Kopf mechanisch in Richtung des Sees. Ein kalter Schauer jagte ihm durch seine zermalmten Glieder: Das Leuchten, das den See umgab war verschwunden. Reptain hatte sein Ziel erreicht. Doch das würde bedeuten...


    Raven’s Theorie wurde mit einer weiteren Erschütterung der Höhle schlagartig bestätigt. Vom Zentrum des Sees, genau von der Stelle, wo vor kurzem noch das Zahnrad der Zeit schlummerte, setzte sich langsam eine dunkle Welle in Bewegung und hüllte alles, was sich ihr in den Weg stellte in einen tristen, grauen Schleier ein. Geröll, dass durch das Pulsieren der Höhle von der Decke bröselte, erstarrte plötzlich mitten in der Luft. Der Zeitstillstand hatte eingesetzt.
    „Nein... bitte nicht...“, keuchte Raven und robbte verzweifelt zum Eingang der Höhle. Er warf einen Blick hinter sich. Der Schatten verbreitete sich unaufhörlich und verschlang alles auf seinem Weg. Raven fühlte den kalten Angstschweiß auf seiner Stirn. Er musste fliehen, aber was war mit den anderen? Sein Blick fiel auf Xell, der regungslos vor einer Felswand lag.
    „XELL! XELL!“, brüllte er verzweifelt, aber vergebens: Sein Freund rührte sich nicht.
    Auch Vesprit lag besinnungslos am Rande des Sees. Schon bald würde es das erste Opfer des Zeitstillstand sein.


    Raven wollte sich schon entgültig seinem Schicksal beugen, als er plötzlich eine Stimme vor ihm wahr nahm.
    „Raven? Bist du es?“
    Raven blickte zum Eingang hinüber. Es war Knuddeluff mit Zwirrfinst an seiner Seite.
    „Knuddeluff... Zwirrfinst... Wir müssen hier raus... Zahnrad... Schnell...“, stammelte Raven verzweifelt und hoffte, dass sie sofort handelten.
    Zwirrfinst schien bei dem Anblick Raven’s für einen kurzen Moment wie versteinert, doch schoss er plötzlich pfeilschnell zu Raven und packte ihn unter seine großen Arme.
    „Wo ist Xell? Wart ihr nicht zusammen?“ fragte er fieberhaft.
    „Dort...“, stöhnte Raven und deutete auf die Stelle, an der Xell regungslos lag. „...Und Vesprit... Da...“
    „Knuddeluff! Pack dir Vesprit und dann nichts wie raus hier!“
    Die dunkle Woge hatte inzwischen fast das Ufer erreicht.
    Knuddeluff zögerte keine Sekunde, rannte hinüber zu Vesprit und schloss es fest in seine Arme.
    Zwirrfinst hievte inzwischen Xell unter seinen anderen Arm.
    „RAUS HIER!“, brüllte Zwirrfinst und flog so schnell er konnte, dicht gefolgt von Knuddeluff, zum Ausgang.
    Das rhythmische Schaukeln in dem Arm Zwirrfinst’s, ließ Raven nach wenigen Sekunden erneut das Bewusstsein verlieren.


    „...Wie geht es ihnen?“
    „...Sind sie ernsthaft verletzt?“
    „...War es Reptain?“
    „...Wer hat euch erlaubt hier reinzukommen. Marsch raus, allesamt! Was sie jetzt brauchen ist vor allem Ruhe, Ruhe und noch mal Ruhe!“
    Eine Tür knallte. Raven fuhr erschrocken aus seiner Ohnmacht auf. Die Umgebung wirkte noch stark verschwommen, als er die Augen einen Spalt weit öffnete, doch der vertraute Geruch verriet ihm sofort, dass er sich in der Gilde befinden musste.
    Mit mal zu mal nahmen die Bilder immer deutlichere Formen an. Er lag im Bett seines Quartiers.
    Stumm drehte er seinen Kopf zur Seite. Xell befand sich ebenfalls im Raum. Offenbar tief schlafend lag er in seinem Bett und atmete ruhig und gleichmäßig. Palimpalim tupfte seinem Freund mit einem feuchten Tuch die Stirn ab. Erleichtert ließ Raven wieder seinen Kopf wieder nach vorne gleiten. Wer war noch im Raum?
    Plötzlich erschien die Gestalt Knuddeluff’s über ihm.
    „Raven? Raven? Kannst du mich hören?“
    Raven nickte stumm.
    Knuddeluff seufzte erleichtert.
    „Palimpalim, bitte kümmere dich um die beiden. Ich werde inzwischen die anderen informieren.
    „Natürlich Gildenmeister“, antwortete Palimpalim.
    Knuddeluff verlies den Raum und schloss die Tür leise hinter sich. Ein undeutliches Stimmengewirr drang an Raven’s Ohr. Allem Anschein nach wurde Knuddeluff sofort von den anderen in die Zange genommen.


    Palimpalim segelte sofort zu Raven hinüber und tupfte auch ihm die Stirn ab.
    „...Mir geht’s gut...“, flüsterte Raven.
    „Ruhig. Das kannst du mir auch später erzählen. Ruhe dich aus“, antwortete Palimpalim mitfühlend.
    Raven fühlte sich noch immer saftlos und leer. Seine Augenlieder wurden von Sekunde zu Sekunde schwerer, bis er schließlich einschlief.
    Er wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte, als ihn ein leises Geflüster im Raum weckte.
    „...Er war wach, sagst du? Wie geht es ihm?“
    „...Es scheint ihm gut zu gehen. Allem Anschein nach ist er auch nicht verletzt.“
    „...Wie geht es Xell?“
    „...Ihm scheint auch nichts zu fehlen. Er schläft nach wie vor.“
    „...Zumindest eine gute Nachricht. Die haben wir bitter nötig, jetzt da wir wissen, dass ein weiteres Zahnrad verschwunden ist.“
    „Das Zahnrad... Verschwunden...?“ murmelte Raven und öffnete die Augen.
    „Oh Raven!“, rief Knuddeluff und sprang zu ihm hinüber. „Wie geht es dir?“
    „Mir ging es schon mal besser, aber ich glaube ich bin OK...“, antwortete Raven tonlos. „Xell?“
    „Keine Angst, ihm geht’s gut. Sicherlich ist er morgen wieder auf dem Dampfer.“
    Raven machte Anstalten aufzustehen.
    „Nein, bleib liegen. Schone deine Kräfte“, sagte Palimpalim und drängte ihn sanft zurück.
    Kraftlos wie er war, ergab sich Raven ihrem gutmütigen Willen.
    „Raven? Glaubst du, du kannst uns erzählen, was passiert ist?“
    Raven holte tief Luft und erzählte ihnen alles, was nach ihrer Abreise vorgefallen war. Das hieß alles, mit Ausnahme seiner Vision vom Treibsand und das Gefühl, auch diesen Ort von irgendwoher zu kennen. Er erzähle auch von ihrer Auseinandersetzung mit Vesprit und wie er sich letztendlich Reptain geschlagen geben musste.


    „Das ist alles...“, schloss Raven seine Erzählung ab. Er blickte tief in die Augen Knuddeluff’s. „Es tut mir Leid, aber ich konnte das Zahnrad nicht beschützen...“
    „Das muss dir nicht Leid tun Raven. Du hast dein bestmöglichtes getan“, sagte Knuddeluff mit aufbauender Stimme.
    „...Er war zu stark für uns...“, stöhnte die schwache Stimme Xell’s.
    „Oh Xell! Geht es dir gut?“, rief Knuddeluff und begutachtete ihn mütterlich.
    „...Mir geht’s gut...“, antwortete er knapp. „...Das Zahnrad ist also weg?“
    „Ja, aber darüber brauchst du dir heute Abend keine Gedanken zu machen. Ruh dich besser aus. Morgen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus“, sagte Knuddeluff und lächelte ihn an.
    „Wir lassen euch beide jetzt allein. Schlaft euch ruhig aus.“
    Knuddeluff hatte gerade die Hand auf die Türklinke gelegt, als Raven sich noch etwas einfiel.
    „Moment noch. Ich hab auch noch eine Frage...“
    Knuddeluff drehte sich neugierig um.
    „Ja?“
    „Wie habt ihr uns eigentlich gefunden?“, fragte Raven.
    „Ach das war nicht weiter schwer. Da ihr nicht in die Gilde zurückgekommen seid, dachten wir uns schon, dass entweder etwas nicht stimmen musste, oder ihr ein Zahnrad gefunden habt.“
    Raven erinnerte sich plötzlich wieder. Es war so, wie sie es vor ihrer Abreise vereinbart hatten.
    Wir sind einfach kreuz und quer euren Fußspuren durch die Wüste gefolgt. Uns war zwar sehr mulmig zumute, als wir entdeckten, dass ihr in den Treibsand gesprungen seid, aber das Risiko mussten wir einfach eingehen. Allerdings oblag es mir als Gildenmeister, diese Gefahr einzugehen. Zwirrfinst kann ich natürlich schlecht etwas befehlen. Die anderen wollten uns zwar auch folgen, du weißt ja wie dickköpfig sie sind, aber...
    „Die anderen...? Waren auch dort...? Geht es ihnen gut?“, fragte Raven erschrocken.
    „Keine Angst. Wir haben es alle heil aus der Wüste geschafft.“
    Raven atmete auf.
    „Jetzt ist aber genug der vielen Worte. Gute Nacht ihr zwei“, sagte Knuddeluff, lächelte ihnen zu und schloss die Tür hinter sich.


    Raven ließ seinen Kopf zurück in sein Bett fallen. Er seufzte. Die Geschichte war noch einmal gut ausgegangen; Raven’s Augen weiteten sich. Zorn ließ seinen Puls schneller werden. Nein... war sie nicht: Sie konnten zwar aus der Wüste entkommen, aber Reptain hielt nun ein weiteres Zahnrad in seinen Klauen. Und damit lag nun ein weiteres Gebiet in einem temporalen Gefängnis gefangen. Wie viele Leben mussten noch geopfert werden und wie viel Leid müssten sie noch ertragen, bis dieser Wahnsinn endlich aufhören würde?
    Raven warf einen Blick zu seiner rechten. Xell war inzwischen wieder eingeschlafen. Einige Sekunden vergingen, in denen Raven ununterbrochen seinen Freund anstarrte, wie er so friedvoll schlafend vor ihm lag.
    Blanker Hass stieg in Raven auf. Hass, gegenüber Reptain. Er würde sich rächen.
    Für alles, was Reptain ihnen angetan hatte. Für alle Tränen, die seinetwegen vergossen wurden. Für das Leid, das er über sie gebracht hatte. Für den Schmerz, dem er, Xell und seine Freunde ausgesetzt waren. >“Ich werde mich rächen... Für alles...“<


    Raven befand sich plötzlich an einem Strand. Es regnete. Die Wellen schlugen heftig gegen die schroffen Felsen der Küste und der Wind peitschte ihm ins Gesicht. Er war nicht allein. Die gelben Augen Reptain’s starrten ihn an; Gefühllos und kalt. Nur wenige Meter stand er von ihm entfernt. Grinsend hielt er ihm gestenvoll ein Zahnrad der Zeit entgegen.
    „Du willst es? Dann hol es dir“, zischte er.
    In Raven stieg erneut blanker Hass auf. Er rannte. Er rannte so schnell er konnte. Er wollte ihn verletzten, ihn büßen lassen und wenn es sein Leben forderte.
    Gerade als er zum Sprung gegen Reptain ansetzen wollte, ermattete sein Körper. Das Meer, der Wind, der Regen: Alles stand still. Die Landschaft umhüllt von einem düsteren Schleier.
    Einzig und allein Reptain war von dem Fluch verschont geblieben. Grinsend blickte er in die starren Augen Raven’s.
    „Hol es dir doch“, flüsterte er und hielt ihm das Zahnrad vor die Augen.
    „Oh, du willst also nicht?“ Sein Grinsen wurde breiter.
    „Nun dann leb wohl“, sagte er, legte seine Hand auf die regungslose Statue Raven’s und warf sie um. Sie zersplitterte in Tausend Teile. Reptain lachte. Es war ein krankhaft, boshaftes Lachen.
    „NEEEEIIIIINN!“
    „Raven! Raven! Wach auf!“
    Jemand ohrfeigte ihn.
    Raven öffnete erschrocken die Augen. Panisch sah er sich um. Er war wieder in seinem Quartier. Kalter Angstschweiß auf der Stirn und sein Gesicht von Tränen durchnässt. Xell beugte sich besorgt über ihn.
    „Du brüllst ja das ganze Haus zusammen... Alptraum?“
    Raven nickte stumm. Sein Herzschlag war auf 180.
    „Ich dachte, ich krieg dich niemals wach. Du hast dich über eine Minute lang wie besessen in deinem Bett rumgeworfen und am Spieß gebrüllt. Was kann dich nur so erschreckt haben?“
    Raven schüttelte den Kopf.
    „Ein andermal Xell...“, antwortete Raven knapp. „Nicht heute Abend...“
    Xell legte sich zurück in sein Bett, sah aber noch einmal besorgt zu ihm hinüber.
    „Versuch wieder einzuschlafen. Schlaf hast du jetzt mehr als nötig...“


    Es war die frühe Mittagssonne, die Raven am nächsten Tag weckte. Er hatte die restliche Nacht glücklicherweise traumlos überstanden. Zwar fühlte er sich längst noch nicht wieder völlig fit, doch Reptain würde sicherlich nicht auf seine Genesung warten.
    Er warf einen Blick hinüber zu Xell’s Bett. Es war leer.
    Leichtfüßig sprang Raven aus seinem Bett und trottete schnurstracks hinüber zum Quartier des Gildenmeisters. Die ganze Gilde schien auf seinem Weg wie ausgestorben zu sein. Noch nie solange er Mitglied der Gilde war, hatte er die Gilde so unbesetzt erlebt. Es war regelrecht unheimlich. Er klopfte an die Türm des Gildenmeisters. Niemand antwortete oder bat ihn herein. Erneut klopfte er, diesmal stärker, doch eine Antwort blieb aus. Gerade als er kurz davor war, Anlauf zu nehmen und die Tür einzutreten, erschallte eine Stimme vom Gang herunter.
    „Die Mühe kannst du dir sparen.“
    Raven blickte beim Klang der Stimme erleichtert herum. Es war Xell.
    „Xell! Wo sind denn alle?“
    „Na wo wohl? Reptain suchen natürlich“, antwortete Xell. „Alle, bis auf Krakeelo, Digda und Palimpalim. Die sollen heute die Stellung in der Gilde halten.“
    „Schön und wo sollen wir heute nach Reptain suchen?“, fragte Raven entschlossen.
    Xell wirkte verlegen.
    „Ähm... Das fragst du besser Krakeelo. Der hat heute hier das Sagen.“
    Raven sah seinen Freund verwirrt an, doch Xell entgegnete seinen Blick nicht. Stattdessen sah er schüchtern zu Boden. Warum wollte Xell ihm nichts sagen? Er konnte ihm doch nicht weismachen, dass er sich noch nicht nach Instruktionen erkundigt hätte.
    Zielstrebig ging Raven, gefolgt von Xell, der einen merkwürdig großzügigen Abstand zu seinem Freund einhielt, hinüber zu dem Loch, das zum unterirdischen Wachposten führte. Krakeelo hatte es sich neben der Untergrundpassage bequem gemacht und döste gedankenversunken vor sich hin.


    „Hallo Krakeelo.“
    Krakeelo schreckte auf.
    „Wer da? Oh Raven! Wie geht es dir? Alles gut überstanden?”
    „Ja, danke“, antwortete Raven.
    „Heute ist es ruhig. Bislang noch keine Besucher und es ist schon fast Mittag. Das hatten wir bisher noch nie, ODER DIGDA?“ Er brüllte die letzten zwei Worte in das Loch neben ihm.
    „Nein, noch nie“, quiekte die leise Stimme Digda’s.
    Krakeelo schüttelte den Kopf.
    „Es ist aber auch verständlich. Die Bevölkerung muss von dieser Zahnrad-Geschichte ganz schön verängstigt sein...“
    „Wo du gerade die Zahnräder erwähnst: Wo sollen wir heute suchen?“, fragte Raven.
    Krakeelo sah ihn ungläubig an.
    „Suchen? Heute? Nein mein Lieber. Du bleibst heute schön hier.“
    „Waaas!? Das kannst du nicht...“
    „Strikte Anweisung von Knuddeluff“, entgegnete Krakeelo knapp. „Ihr sollt heute eine Auszeit nehmen.“
    „Knuddeluff hat das gesagt?“, fragte Raven ungläubig.
    „Höchstpersönlich.“
    Raven bebte vor Zorn. Er wollte nicht hier zur Untätigkeit verdammt sein. Knuddeluff hatte kein Recht, ihn einzusperren. Aber was sollte er tun? Krakeelo hatte ihn in der Hand...
    „Schön...“, blaffte Raven Krakeelo an. „Ich beuge mich dem Willen des Gildenmeisters.“ Er drehte sich um und würdigte Krakeelo keines weiteren Blickes. Innerlich wusste er zwar, dass Krakeelo keinerlei Schuld traf und Knuddeluff sicherlich nur das Beste für ihn im Sinn hatte, aber es machte ihn einfach wahnsinnig, nur da zu sitzen und nichts zu tun.
    „Ich wusste es. Genau damit hatte ich gerechnet...“, sagte Xell als er den verärgerten Gesichtsausdruck seines Freundes sah.
    „Was wusstest du? Gar nichts weißt du!“, entgegnete Raven wutentbrannt.
    „Raven, wie lange kennen wir uns jetzt schon? Glaubst du ernsthaft, ich würde dich mittlerweile nicht kennen? Aber wenn du dich dadurch besser fühlst, wenn du jeden, der sich um dich sorgt anschnauzt? Nur zu, dann mach weiter...“
    Raven wurde es schwer um sein Herz. Er fühlte sich jetzt noch miserabler als vorher.
    „Sorry Xell... Ich weiß echt nicht, was mit mir los ist...“, entschuldigte sich Raven verlegen.
    „Ich schon. Du hast nämlich heute Nacht, nach deinem “kleinen“ Alptraum, noch im Schlaf geredet.“
    Raven blieb erschrocken stehen.
    „Oh ja. Du hast pausenlos von Reptain gesprochen. Das du es ihm heimzahlen willst. Das du dich an ihm rächen willst.
    Raven schaute schamhaft auf den Boden.
    „Willst du mir nicht vielleicht jetzt sagen, von was du immer träumst? Ich höre dich oft ihm Schlaf stöhnen und klagen.“
    Raven holte einige male tief Luft und blickte aus einem Fenster hinaus.
    „In Ordnung...“, sagte er nachgiebig.


    „Echt? Von so was träumst du? Du musst ja Nerven aus Stahl haben, dass du bislang noch nicht verrückt geworden bist...“, sagte Xell beeindruckt und nervös zugleich.
    Raven hatte gerade seinen letzten Traum beschrieben.
    „Die Geschichte mit den Zahnrädern muss dir echt nachgehen.“
    „Die Wahrheit ist...“, sagte Raven, „...das ich solche Träume schon hatte, bevor ich überhaupt von der Existenz der Zahnräder wusste.“
    Xell schwieg.
    „Ich glaube inzwischen, dass ich mich irgendwie zu den Zahnrädern verbunden fühle. Frag mich nicht warum, aber je tiefer wir uns darin verstricken, umso mehr macht mir die ganze Sache zu schaffen.“
    Xell schüttelte den Kopf.
    „Raven, meinst du etwa, mir geht es in der Beziehung anders? Da draußen rennt ein völlig Geisteskranker herum und jongliert mit dem Leben von anderen, als wären es Kleinkiesel. Glaubst du, mich macht das nicht auch völlig wahnsinnig? Den anderen geht es da sicherlich nicht anders.“
    „Kann sein. Ich weiß ehrlich gesagt nicht mehr, was ich glauben soll...“, sagte Raven tonlos.
    „Denk nicht so viel darüber nach. Wir werden Reptain bald schnappen und dann hat der Alptraum eh ein Ende. Vielleicht bringen ja die anderen heute Abend ein paar gute Neuigkeiten mit, wer weiß?“
    Jetzt war es Raven, der schwieg.
    „Hör mal: Wir können heute eh nichts mehr tun. Wollen wir vielleicht Palimpalim einen Besuch abstatten. Ich wollte mich eh noch bei ihr für ihre Pflege bedanken.“
    „Gute Idee. Wo ist sie überhaupt?“, fragte Raven.
    „In einem Quartier und kümmert sich um Vesprit. Du erinnerst dich doch an Vesprit, oder?“
    „Ja...“, sagte Raven nüchtern. Die Begegnung mit Vesprit steckte ihm noch mit leicht pochendem Schmerz in den Gliedern. „Nur zu gut...“


    Sie ließen sich auf ihrem Weg zu Palimpalim besonders viel Zeit. Schließlich hatten sie es ja nicht eilig. Der halbe Tag lag noch vor ihnen, den sie wahrscheinlich ohne, in Raven’s Augen, sinnvolle Beschäftigung verbringen würden. Xell klopfte an die Tür.
    „Herein“, meldete sich die zierliche Stimme Palimpalim’s.
    „Oh, Hallo Raven. Wie fühlst du dich? Geht es dir besser?“, fragte sie, als Raven den ersten Fuß in das Zimmer setzte.
    „Ja. Danke noch mal wegen gestern Abend.“
    „Von mir auch“, rief Xell.
    „Psst. Bitte nicht so laut. Vesprit schläft.“
    Raven’s Blick fiel auf ein Bett, in dem Vesprit lag. Es sah so unscheinbar aus, wie es so friedlich schlafend im Bett lag. Als ob es keiner Fliege etwas antun könnte.
    „Wie geht es ihm?“, fragte Xell neugierig.
    Palimpalim seufzte schwer.
    „Nicht sehr gut. Es hat hohes Fieber. Wir haben die halbe Nacht gebraucht, bis es endlich einschlafen konnte. Es ist noch keine Besserung in Sicht...“
    Raven näherte sich Vesprit leise. Erst jetzt sah er, dass Vesprit’s Gesicht schmerzerfüllt war.
    Er spürte plötzlich, dass er tiefes Mitleid für Vesprit empfand. Schließlich waren er und Xell es, die Vesprit so zugerichtet hatten. Aber was hätten sie anderes tun sollen? Es ließ schließlich nicht mit sich reden...


    Urplötzlich riss Vesprit seine Augen auf. Raven sprang erschrocken einen Meter zurück.
    Vesprit sah ihn schwer atmend und mit weit geöffneten Augen an.
    „Raven? Was ist los?“, rief Palimpalim erschrocken.
    „Vesprit... Da...“, stammelte er.
    Vesprit erhob sich plötzlich aus dem Bett und flog schwer schwankend in Raven’s Richtung; den Blick fest auf ihn gerichtet. Raven stolperte erschrocken einige Schritte zurück. Er stieß gegen eine Wand. Vesprit näherte sich ihm nach wie vor. Raven konnte sein eigenes verängstigtes Bild in den erweiteten Pupillen Vesprit’s sehen. Es streckte seine Hand aus und klammerte sich an Raven’s Körper fest.
    „Das Zahnrad... Wo?“, stammelte es.
    „Vesprit. Bitte leg dich wieder hin“, sagte Palimpalim besorgt.
    „Zahnrad... Wo?“, wiederholte es.
    „Es tut mir Leid, aber Reptain hat es. Wir konnten es nicht beschützen“, antwortete Raven nervös.
    Vesprit begann heftig zu zittern, während es sich weiterhin an Raven festklammerte.
    „Reptain...?“, flüsterte Vesprit.
    „Vesprit, bitte...“, flehte Palimpalim verzweifelt.
    „Reptain. Du hast ihn bereits gesehen. Er sucht die Zahnräder der Zeit. Er hat auch das vom Nebelsee gestohlen. Wir versuchen ihn aufzuhalten.“, sagte Raven. Er war sich nicht sicher, ob Vesprit alles verstand was er sagte, doch wusste er in dem Moment nicht, was er hätte anders tun sollen.
    Palimpalim näherte sich inzwischen und machte Anstalten Vesprit von Raven zu lösen und es zurück ins Bett zu befördern.
    „Nein!“, brüllte Vesprit und verstärkte seinen Griff.
    Palimpalim schien selbst den Tränen nahe.
    „Bitte... Zahnrad... Kristallhöhle... Bitte...“
    „Was?“, fragte Raven verwirrt.
    „Selfe... Wissen... Ich Emotion...“
    „Es spricht im Fieberwahn. Bitte Raven. Bring es zurück ins Bett“, schniefte Palimpalim.
    „...Tobutz... Stärke... Bitte... Zahnrad...“
    „Warte noch einen Moment Palimpalim!“, rief Raven plötzlich. Er glaubte zumindest Ansatzweise zu verstehen, was Vesprit sagen wollte.
    „Bitte... Kristallhöhle... Tobutz... Zahnrad...“
    „Es liegt ein weiteres Zahnrad der Zeit in der Kristallhöhle versteckt! Ist es das, was du uns sagen willst“, rief Raven energisch.
    Vesprit zitterte heftig doch Raven glaubte ein Nicken zu erkennen. Nur wenige Sekunden später löste sich sein Griff und segelte bewusstlos zu Boden. Xell schaffte noch im letzten Moment Vesprit aufzufangen.
    Palimpalim atmete erleichtert auf. Eine Träne lief ihr stumm über das Gesicht.
    „Danke Xell. Bitte leg Vesprit wieder zurück aufs Bett.“


    „Was sollte das?“, fragte Xell verwirrt, als er Vesprit zurück ins Bett beförderte.
    „Fieberwahn. Ich hab euch ja gesagt, dass es ihm nicht gut geht...“, antwortete Palimpalim kopfschüttelnd.
    „Nein!“, rief Raven entschlossen. „Das war sicherlich kein Hirngespinst. Ich bin mir absolut sicher, dass es uns etwas wichtiges sagen wollte.“
    Raven wiederholte noch einmal Vesprit’s Worte in Gedanken.
    „Unsinn Raven. Vesprit ist...“, entgegnete Palimpalim doch Raven unterbrach sie jäh.
    „Xell! Gibt es irgendwo einen Ort der Kristallhöhle heißt?“, fragte er energisch.
    „Woher soll ich das... Oh natürlich die Karte! Moment...“
    Er kramte in seiner Tasche nach ihrer Wunderkarte. Seine Augen huschten über das Pergament.
    „Ja gibt es!“ rief er euphorisch. „Sie liegt nordöstlich von hier. Glaubst du etwa...“
    „Haargenau. Ich glaube, nein ich weiß einfach, dass dort ein weiteres Zahnrad liegt!“
    Sie nickten sich entschlossen zu.
    „Wir gehen!“, sagte Xell. „Palimpalim, gib Knuddeluff bitte bescheid und sag ihm wo wir sind. Er soll so schnell wie möglich mit den anderen nachkommen.
    „Oh Xell, Raven... Ihr könnt doch nicht…”, stammelte Palimpalim, doch ihr Entschluss stand bereits fest.
    „Und ob wir können! Los Xell! Auf zur Kristallhöhle!“


    Raven und Xell liefen schnurstracks zu Krakeelo. Sie würden gehen, egal was er sagen würde und wenn sie ihn erst überwältigen müssten.
    „Krakeelo!“
    Krakeelo schreckte aus seinem Wachschlaf.
    „Wie? Was? Oh ihr seid es. Hast du dich inzwischen wieder beruhigt?“
    „Lass uns raus! Bitte...“, flehte Raven.
    „Häh? Hast du vorhin nicht zugehört? Ich hab dir doch gesagt, dass der Gildenmeister höchstpersönlich...“
    „Zum Teufel mit Knuddeluff!“, unterbrach ihn Raven barsch. „Wir wissen wo ein weiteres Zahnrad liegt.“
    „WAAAAS? Woher?“, rief Krakeelo völlig perplex.
    „Das tut jetzt nichts zur Sache. Bitte lass uns raus. Jede Sekunde zählt. Bitte Krakeelo“, flehte Xell.
    Krakeelo’s sah hin und hergerissen aus. Sich den Anweisungen des Gildenmeisters zu widersetzen war überhaupt nicht seine Art. Aber hier ging es um ein Zahnrad der Zeit. Das ging auch an ihm nicht vorbei. Man konnte seinen Kampf mit sich selbst förmlich spüren.
    „Na schön! Ich nehme es dann auf meine Kappe! Ihr könnt gehen...“
    „Danke“, riefen Raven und Xell im Chor.
    „Palimpalim weiß auch schon bescheid. Sie wird Knuddeluff informieren und die anderen nachschicken. Wir schauen derweil in der Kristallhöhle nach dem Rechten“, sagte Raven und drehte Krakeelo den Rücken zu.
    „Moment mal!“, rief Krakeelo.
    Raven und Xell wirbelten herum.
    „Die Kristallhöhle sagtest du? Dort soll ein Zahnrad liegen? Das kann aber nicht sein“
    „Wieso sagst du das?“, fragte Xell.
    „Ganz einfach: Bidiza war erst vor zwei Wochen in der Kristallhöhle auf Erkundung und er hat nichts entdeckt.“
    Das Gesicht von Raven wurde plötzlich blass.
    „Er hat nichts gefunden...?“, wiederholte er entmutigt.
    Krakeelo schüttelte den Kopf.
    „Nein nichts. Er meinte er sei irgendwann in einer Sackgasse gelandet. Aber er hat einen ziemlich dicken Klunker gefunden.“
    „Häh? Warum wissen wir nichts darüber?“, fragte Xell neugierig.
    Krakeelo schnaubte.
    „Bidiza wollte es geheim halten und hat es auch irgendwie geschafft, das Juwel an Plaudagei vorbeizuschmuggeln. Ihr wisst ja, dass wir solche Fundstücke eigentlich an die Gilde abdrücken müssen. Ich bin zufällig in unserem Quartier darüber gestolpert und habe ihn natürlich gleich ausgefragt. Ich fand es ja nicht in Ordnung, aber...“
    „Bidiza hat ein Juwel aus der Kristallhöhle mitgebracht sagst du? Wo ist es?“, unterbrach ihn Raven aufgeregt.
    „In unserem Quartier. Warum willst du das wissen? Du wirst ihn doch nicht verpfeifen wollen?“ Krakeelo schien plötzlich sehr nervös. „Äh, das habt ihr jetzt aber nicht von mir. Ich will mit der ganzen Sache nichts zu tun haben...“
    „Natürlich nicht. Lass schon mal das Tor runter. Wir brechen gleich auf“, rief Raven und rannte in Richtung der Quartiere.


    „Hey Raven! Was hast du vor?“, fragte Xell, als sie das Quartier von Krakeelo und Bidiza betraten.
    „Ich glaube nicht, dass sich Vesprit irrt“, sagte Raven und durchforstete das Zimmer. „Ich denke eher, dass Bidiza nicht gründlich genug gesucht hat. Vielleicht gibt es irgendwelche Fallen und Geheimnisse in der Höhle, so wie beim Nebelsee und in der Nordwüste. Möglicherweise, aber auch nur möglicherweise gelingt es mir, durch das Juwel eine weitere Vision auszulösen. Wo ist nur dieser verdammte Stein?“, fluchte er.
    „Gar keine schlechte Idee. Moment ich helfe dir beim Suchen.“, sagte Xell und durchstöberte Bidiza’s Sachen.
    „Hey! Wusstest du, dass Bidiza auch ein Tagebuch hat? Was da wohl drin steht? Ich riskier mal einen Blick...“, sagte Xell mit einem heimtückischen Grinsen im Gesicht.
    „Xell! Das ist jetzt wirklich der falsche Zeitpunkt für... Oh da ist er ja!“
    Raven hatte kaum den azurblauen Stein berührt, als ihn schon die Vision aus dem Zimmer riss und an einen fernen Ort beförderte. Er befand sich plötzlich in einer mit Glasplatten bepflasterten Höhle. Sie blitzten so hell und strahlend wie Diamanten. In der Mitte der Höhle lag ein azurblauer See. Raven’s Augenmerk lag aber im unteren Teil Höhle. Niemand anderes als Reptain beugte sich an den Rand des Sees. Die Augen gierig auf das Zentrum des Gewässers gerichtet. Doch er war nicht allein. Ein bläuliches Pokémon, offenbar schwer verletzt, hielt sich im Hintergrund auf. Es hatte eine sehr starke Ähnlichkeit zu Vesprit und Selfe.
    „Nein... Es sei dir verboten das Zahnrad zu berühren. Unter keinen Umständen darf es entfernt werden.“, flehte das Pokémon.
    „Ich werde es nehmen! Du kannst mich nicht aufhalten“, zischte Reptain ohne seine gelben Augen vom See abzuwenden.

    Wenige Sekunden später befand sich Raven wieder zurück in dem Quartier Bidiza’s.
    „Ich wusste es!“, jubelte er.
    Xell’s Augen lösten sich erschrocken von dem Tagebuch Bidiza’s.
    „Hast du etwa etwas gesehen?“, fragte er.
    „Du sagst es! Beeil dich. Ich erzähl dir alles weitere unterwegs.“


    Raven und Xell flitzten über die weite Ebene der Region. Die Sonne hatte mittlerweile einen zarten orangefarbenen Ton angenommen.
    „Und hinter Reptain war noch ein weiteres Pokémon. Du meinst es wirkte verletzt? Wer kann das sein?“, keuchte Xell.
    „Erinnerst du dich in etwa daran, was Vesprit gesagt hat? Es erwähnte seinen Namen, den von Selfe und einen weiteren Namen. Tobutz oder so ähnlich.“
    „Oh ja! Dann muss das Tobutz gewesen sein, wer immer das auch ist.“, sagte Xell.
    „Ich habe noch eine Vermutung: Als wir Vesprit das erste Mal trafen, sagte es, dass es nicht so leicht zu täuschen wäre, wie seine Geschwister.“
    „Du meinst...?“
    „Haargenau. Ich bin mir sicher, dass Selfe, Vesprit und Tobutz Geschwister sind. Jedes bewacht ein Zahnrad der Zeit“, antwortete Raven.
    „Aber woher wissen wir, dass Reptain noch nicht das Zahnrad hat? Er könnte das Zahnrad schon vor Tagen aus der Kristallhöhle gestohlen haben. Vielleicht stammt ja deine Vision aus der Vergangenheit...“
    „Glaube ich nicht. Erinnere dich: Vesprit schien irgendwie zu wissen, dass das Zahnrad der Zeit vom Nebelsee verschwand. Außerdem wusste es auch, das wir am Nebelsee waren. Ich wette mit dir um alle Pirsifbeeren dieser Welt, dass sie über eine Art Telepathie miteinander kommunizieren.“
    „Aber was hat das mit dem Zahnrad in der Kristallhöhle zu tun?“, fragte Xell verwirrt.
    „Denk doch mal nach. Vesprit erwähnte bei unserem Aufeinandertreffen in der Nordwüste nur das Zahnrad vom Nebelsee, nicht jedoch das von der Kristallhöhle. Also muss dieses zu dem Zeitpunkt noch unberührt gewesen sein.“
    „Jetzt verstehe ich! Jetzt können wir nur noch hoffen, dass wir noch rechtzeitig ankommen.“


    Mit heftigem Seitenstechen und einem völlig fertigen Xell, erreichten sie schließlich nach einer halbstündigen Hetzjagd durch die Landschaft den Eingang zur Kristallhöhle. Raven lugte vorsichtig in die Höhle hinein. Eine erfrischend kühle Briese strich sanft durch sein Fell.
    „Keine Spur von einer Zeitanomalie. Wir sind noch rechtzeitig.“

    „...Dann los...“, keuchte Xell.
    Wachsamen Schrittes drangen sie in die Höhle ein. Es dauerte nicht lange, bis sie herausfanden, warum dieser Ort den Namen “Kristallhöhle“ trug. Von allen Seiten funkelten ihnen prächtige Kristallformationen in allen Regenbogenfarben entgegen. Sie wucherten förmlich aus dem Boden. Die Kristalle waren so rein wie frischen Quellwasser. Makellos und schön leuchteten sie den beiden Besuchern den Weg. Doch es war nicht die gleiche Umgebung, wie sie Raven in seiner Vision wahrgenommen hatte. Auch von einem See fehlte noch jede Spur. Er beschleunigte seine Schritte. Xell blickte minütlich nervös über die Schultern. War Reptain hinter oder gar vor ihnen? Diese Frage ließ auch Raven nicht los. Er rannte jetzt schon fast. Die Schönheit der Höhle nahm er nur noch als einen leuchtenden Schleier wahr.


    Nach einer viertelstündigen Hetzjagd über die verschlungenen Pfade der Höhle und einigen ärgerlichen Zwischenstopps in Sackgassen, verebbte die Anzahl der Kristalle zu ihrer rechten und linken langsam aber sicher. Hatten sie sich etwa verlaufen? Würden sie sich vielleicht immer weiter von dem Zahnrad entfernen, statt sich ihm zu nähern? Nein! So durfte er nicht denken. Nicht jetzt!
    „Raven! Schau mal!“, rief Xell begeistert.
    Raven schreckte aus seinen Gedanken.
    Sie hatten einen weiten Raum betreten. Vor ihnen glänzten und funkelten drei gigantische Kristalle in unterschiedlichen Farben; ungefähr fünf mal so groß, wie er selbst.
    Doch Raven hatte keine Augen für den Glanz der Steine. Sie mussten weiter. Sie durften keine weitere Zeit verlieren. Sie...
    „Sackgasse?“, keuchte Raven und war am Boden zerstört. „Nein! Das darf nicht wahr sein!“
    Raven hatte schon fast den Ausgang erreicht, als ihn Xell zurückrief.
    „Halt Raven! Komm zurück!“
    Xell starrte interessiert auf eins der Juwele vor ihm.
    „Xell! Dafür haben wir jetzt wirklich keine Zeit!“, rief Raven erregt. Wie konnte Xell jetzt nur an irgendwelche Schätze denken.
    „Die Zeit müssen wir uns nehmen“, antwortete er. „Krakeelo meinte, dass Bidiza an einem bestimmten Punkt nicht mehr weiter kam. Vielleicht ist das genau diese Stelle.“
    Neue Hoffnung gedieh in Raven. Xell hatte recht!
    „Der Nebelsee und die Nordwüste... Wir mussten an diesen Orten auch erst ein Rätsel lösen, bevor wir das Zahnrad fanden. Hier ist es vielleicht nicht anders“, murmelte Xell und berührte interessiert den violetten Kristall vor ihm.
    Urplötzlich nahm der Kristall ein zartes orange ein und tauchte alles um ihn herum in eben dieser Farbe ein.
    „Ich wusste es!“, rief Xell euphorisch. „Es ist ein Rätsel! Raven, versuch du doch mal bitte ein anderes Juwel zu berühren.“


    Raven zögerte nicht lange, sondern tat wie ihm geheißen. Er hoffte inständig, dass sein Freund einen Plan hatte, denn er hatte keinen und mit jeder weiteren Sekunde würde Reptain vielleicht näher und näher dem Zahnrad kommen.
    Raven berührte einen sonnengelben Kristall. Schlagartig nahm auch dieser ein helles grün an.
    Noch im selben Augenblick wurde es Raven plötzlich schwindelig.
    >„Ein weiterer Dimensionaler Schrei“<, dachte er und er hatte Recht.
    Xell’s Stimme, die zu ihm sprach entfernte sich immer weiter. Wie damals im Nebelwald und in der Nordwüste tauchte er in ein ewig dunkles Meer der Finsternis ein. Er fand sich in einem stockdunklen Raum wieder, doch er wusste, dass er nicht allein war. Eine Stimme, so vertraut und doch so fremd, meldete sich.
    „Die Kristalle sind der Schlüssel. Aber was muss getan werden...?“
    Die Stimme schwieg einige Sekunden lang.
    „Der Legende nach verkörpern die drei Seen Weisheit, Emotion und Stärke.“
    Wieder schwieg die Stimme.
    „Etwas muss also mit den Kristallen geschehen. Etwas, dass mit dem See dieses Ortes in Verbindung steht. Aber was...?“
    Ein Sog erfasste Raven und schleuderte ihn zurück in die Welt der bunten Farben.
    „Nein! Verdammt“, fluchte er verzweifelt, als er sich zitternd in der Höhle mit den drei Kristallen wiederfand.
    „Was ist los?“, rief Xell erschrocken.
    „Dimensionaler Schrei“, antwortete Raven knapp.
    Xell war völlig aus dem Häuschen vor Freude.
    „Und? Was hast du gesehen oder gehört?“


    Zu Raven’s Enttäuschung schien Xell ebenso ratlos wie er selbst zu sein.
    „Keine Ahnung...“, seufzte er. „Versuch doch noch einmal den Kristall zu berühren. Vielleicht bekommst du ja wieder eine Vision.
    Sofort beherzigte Raven den Vorschlag seines Freundes und berührte den Kristall erneut. Er nahm ein dunkles blau an, aber eine Vision blieb aus.
    Raven schüttelte mutlos den Kopf.
    „Aufgegeben wird nicht!“, rief Xell entschlossen. „Und fällt schon noch was ein.“
    Raven wiederholte noch einmal alles, was er eben in seiner Vision hörte.
    „Die Kristalle sind der Schlüssel...“
    Er starrte auf den blauen Stein vor sich.
    „Drei Seen... Weisheit... Emotion... Stärke.“
    Wo hatte er das schon einmal gehört...? Sein Blick fiel erneut auf den strahlend blauen Kristall vor ihm.
    Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.
    „Xell! Ich glaube ich hab’s!“
    Xell stolperte begeistert zu ihm hinüber.
    „Weisheit, Emotion und Stärke! Erinnerst du dich? Genau das Selbe sagte auch Vesprit heute Mittag zu uns. Es sagte...“
    „Selfe steht für Wissen, Vesprit steht für Emotion und Tobutz für Stärke“, beendete Xell seinen Satz.
    „Genau. Vesprit bewachte den See der Emotion. Selfe den See der Weisheit und Tobutz muss den See der Stärke bewachen. Mit den Kristallen muss etwas getan werden, dass mit Tobutz und dem See der Stärke in Verbindung steht!“
    „Aber was...?“, hakte Xell nach.
    Raven’s Gehirn ratterte auf Hochtouren.
    „Was muss getan werden...?“, flüsterte er.
    Das dunkle Blau des Kristalls vor ihm leuchtet in seinen Augen.
    „Natürlich! Xell, berühr den einen Kristall bis er die selbe Farbe wie dieser hier annimmt.“
    Raven sprang hinüber und ließ den dritten Kristall seine Farbe wechseln. Sein Herz hämmerte wie verrückt, während die Farben vor ihm stetig wechselten. Von rot auf gelb, von gelb auf grün, von grün auf violett, von violett auf orange, bis er schließlich ein dunkles blau annahm. Der ganze Raum war nun in blau eingehüllt. Plötzlich schien die ganze Erde zu zittern. Erschrocken wirbelten Raven und Xell herum. An der Stelle, an der sich vor wenigen Sekunden noch eine blanke Felswand befand, war nun ein weiter Durchgang zu sehen.
    „Wahnsinn Raven! Du hast es geschafft! Aber wie...?“, fragte Xell völlig perplex.


    Sie rannten durch den Eingang. Das Aussehen der Höhle hatte sich vollständig verändert. Der Boden, vor wenigen Minuten noch steinig, war mit azurblauen Kristallplatten bepflastert. Selbst die Höhlenwände und die Decke war mit den durchsichtigen Platten bedeckt.
    „Der See der Stärke steht mit Tobutz in Verbindung“, rief Raven, während sie immer tiefer in die Höhle eindrangen. „Aus meiner Vision im Quartier von Bidiza habe ich Tobutz erkennen können. Es war von Kopf bis Fuß blau. Folglich mussten die Kristalle...“
    „...Alle in einem blau erstrahlen“, beendete den Satz. „Genial Raven. Darauf wäre ich nie gekommen. Du wirst sicherlich...“
    „Still Xell!“, zischte Raven und stoppte abrupt.
    Er konnte Stimmen hören. Sie waren schwach, doch sie konnten nicht weit entfernt sein.
    Raven näherte sich vorsichtig.
    „Du hast mir einen schweren Kampf geliefert, doch vergebens. Das Zahnrad ist mein! Endlich bin ich am Ziel.“
    „Nein... Es sei dir verboten das Zahnrad zu berühren. Unter keinen Umständen darf es entfernt werden.“
    „Ich werde es nehmen! Du kannst mich nicht aufhalten“
    „Reptain! Er ist es! Beeilung! Wir müssen ihn aufhalten!“, rief Raven und rannte was das Zeug hielt.
    Da war er. Der Raum den Raven aus seiner Vision her kannte. Tobutz schwebte verletzt auf der Stelle und musste hilflos mit an sehen, wie Reptain jeden Moment in den See vor ihm eintauchen würde.
    „Stopp Reptain!“, brüllte Raven.
    Reptain und Tobutz wirbelten erschrocken herum.
    „Du?“, flüsterte er ungläubig.

    „Das lassen wir nicht zu!“, rief Xell entschlossen.
    Reptain sah die beiden Störenfriede finster an. Sein Gesicht war wutverzerrt.
    „Glaubt ihr tatsächlich, ihr könntet mich aufhalten?“ Sein Blick war fest auf Raven gerichtet.
    Wie aus dem Nichts startete er einen Angriff. Es war die selbe Attacke, mit der er Raven am See der Emotion KO geschlagen hatte. Doch dieses mal war Raven vorbereitet. Er sprang leichtfüßig zur Seite. Reptain’s Angriff ging ins Leere. Er rutschte über die Kristallplatten am Boden.
    „Du bist langsam geworden Reptain“, rief Raven hämisch. „Du bist wohl vom Kampf mit Tobutz angeschlagener als du denkst.“
    „Für euch beide reicht es alle mal!“, brüllte Reptain und rannte blind vor Zorn auf Raven zu. Die Blätter an seinen Armen blitzten silbern auf, während er mit unglaublicher Geschwindigkeit sich Raven näherte.
    Aus Xell’s Richtung flogen ein halbes Dutzend Feuerbälle entgegen. Reptain wisch ihnen mit beispiellosen Leichtfüßigkeit aus und setzte zum Angriff gegen Raven an. Es geschah alles gleichzeitig. Xell’s Feuerbälle schmetterten mit einer gewaltigen Explosion gegen die Höhlenwand, der Boden bebte, Raven wich dem Angriff Reptain’s mit einem Hechtsprung zur Seite aus, ein stechender Schmerz an seinem Bein, Blut tropfte auf den klaren Boden.
    Reptain kam auf dem blanken Fußboden schlitternd zum Stillstand. Er drehte sich langsam um und blickte auf Raven, der sich zitternd auf seinem verletzten Bein stützte.


    Raven konnte die weit entfernte Stimme seines Freundes in seinem Kopf klingen hören, die panisch nach ihm rief. Ihm wurde schwarz vor Augen. Die Umgebung um ihn herum schien zu verblassen.
    „Ich sagte doch, dass es für euch reicht. Seid nicht dumm. Kehrt um und kommt nie wieder!“, konnte Raven Reptain flüstern hören. Seine Miene war ausdruckslos.
    „Vergiss es“, antwortete Raven zähneknirschend. Die Bilder um ihn herum nahmen wieder festere Formen an. „Wir sind noch lange nicht fertig.“
    Sein ganzer Körper fing plötzlich zu leuchten an. Seine Wut schien grenzenlos. Eine gewaltige Lichtkugel löste sich aus seinem Körper und flog laut knisternd auf Reptain zu.
    „Pah!“, spottete Reptain und entkam dem Angriff mühelos. „Wenn du nicht mehr zu bieten hast, dann solltest du schleunigst das Weite suchen.“
    Die Lichtkugel prallte gegen die Wand, doch statt dass sie sich auflöste, wurde sie stattdessen von den blanken Kristallplatten reflektiert. Raven wollte seinen eigenen Augen nicht trauen.
    Er starrte regungslos auf die leuchtende Sphäre, die sich mit jeder Sekunde Reptain’s ungedeckten Rücken näherte.
    Auch Xell blickte sprachlos auf die Kugel. Nur Reptain schien noch nichts zu bemerken. Das unheilvolle Knistern wurde immer lauter.
    „Was zum?“, fragte Reptain und wirbelte beim Klang des prasselten Geschosses erschrocken herum, doch es war zu spät. Raven’s missglückter Angriff fand sein Ziel. Reptain’s gesamter Körper leuchtete in einem strahlenden Gelb auf. Er zitterte heftig bevor er laut klatschend zu Boden ging.
    Tobutz, Xell und Raven starrten fassungslos auf die bewusstlose Gestalt Reptain’s.
    Raven hinkte langsam zu der bewusstlosen Gestalt Reptain’s hinüber. Er musste es beenden. Jetzt war die Chance Reptain für alles büßen zu lassen.
    Raven stand zitternd vor Reptain’s Körper. Er atmete noch. Seine Glieder zuckten.
    >„Tu es!“<, rief ihm eine innere Stimme zu. >„Erledige ihn!“<
    Raven zitterte. Er zitterte noch heftiger als Reptain vor ihm. Nichts wäre einfacher gewesen, als Reptain den finalen Schlag zu verpassen und den Alptraum endlich zu beenden, doch er konnte es nicht. So sehr er sich auch bemühte, so sehr er sich auch anstrengte: Irgendetwas hielt ihn davon ab. War es etwa Mitleid? Wie konnte er nur für eine solch niederträchtige Figur plötzlich Mitleid empfinden?
    Reptain riss plötzlich die Augen auf. Raven wurde kreidebleich. Er war wie versteinert.
    „Du zögerst? Das war dein letzter Fehler!“
    Reptain sprang leichtfüßig zurück auf seine Beine. Die Blätter an seinen Armen blitzten erneut silbern auf. Er holte zum entscheidenden Schlag aus...
    Urplötzlich drängte sich ein Finsterer Schatten zwischen ihn und Reptain. Der Angriff Reptain’s wurde von einer gewaltigen Gestalt vor Raven abgeblockt.


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  • Kapitel XIII.: Das Geheimnis von Zwirrfinst




    Raven hatte bereits mit der Welt abgeschlossen, als er endlich die Augen öffnete. Aus seiner Wunde sickerte ein feines Rinnsal Blut, doch schien der letzte Angriff Reptain’s keine weiteren Spuren bei ihm hinterlassen zu haben. Erneut war er der Ohnmacht nahe und die verschwommenen Bilder um ihn herum verblassten immer mehr.
    Raven ging auf die Knie. Die Schmerzen seiner Verletzung wurden von Sekunde zu Sekunde schlimmer. Doch durfte er jetzt unter keinen Umständen seine Deckung vernachlässigen. Reptain war wieder auf den Beinen und würde sicherlich gleich wieder angreifen.
    Er konnte deutlich Stimmen hören, doch wer war es? Xell, Reptain? Nein, jemand anderes sprach. Raven zwang seinen Blick in die Richtung, wo sich Reptain befinden musste, doch irgendetwas großes, düsteres vor ihm versperrte ihm die Sicht. Raven kniff die Augen fest zusammen, in der Hoffnung, die schemenhaften Bilder würden endlich ihre wahre Gestalt zeigen. Doch was seine Augen ihm plötzlich weiß machen wollten, konnte einfach nicht sein. Er musste träumen oder war er etwa bereits tot?
    „Zwirr-Zwirrfinst?“, stammelte Raven, als er endlich die massive Figur erkannte, die zum Rücken zu ihm stand.
    Zwirrfinst rührte sich nicht, noch machte er Anstalten nach Raven zu sehen. Stattdessen ruhte seine ganze Aufmerksamkeit auf Reptain.


    Reptain und Zwirrfinst standen sich regungslos gegenüber. Zwirrfinst war noch immer in einer Abwehrhaltung und blockte mit seinem gewaltigen rechten Arm nach wie vor den von Reptain erloschenen Angriff ab.
    „So... Hab ich dich endlich gefunden“, sagte Zwirrfinst mit einem seltsamen Verlangen in der Stimme. Er senkte den Arm, mit dem er den gegen Raven ausgeführten Angriff abgeblockt hatte; lies den Blick aber nicht von Reptain sinken. Sein Gegenüber sprang behände mit einem Satz einige Meter zurück.
    „Also doch...“, flüsterte Reptain. „Du bist mir also tatsächlich in diese Welt gefolgt. Ich ahnte schon seit langem, dass mir jemand dicht auf den Fersen ist. Aber nicht du...“


    Die Gestalt Xell’s tauchte auf einmal neben Raven auf.
    „Raven! Bist du schwer verletzt? Verschwinden wir besser hier. Zwirrfinst wird...“
    „Psst!“, zischte Raven erregt. Die Ereignisse, die sich vor ihm abspielten ließen ihn jeglichen Schmerz vergessen. Wenn man sie reden hörte könnte man meinen, Zwirrfinst und Reptain würden sich kennen.
    „Ich war fast am Ziel. So nah und doch so fern.“, seufzte Reptain. „So hat mich also die Zukunft tatsächlich eingeholt...“
    „Du solltest wissen, dass man seinem Schicksal nicht entkommen kann, Reptain. Aber genug der schönen Worte. Bringen wir es endlich hinter uns“, entgegnete Zwirrfinst und ging in Angriffsstellung.
    Reptain ging langsam einige Schritte zurück. Zum ersten Mal ließ er den Blick von Zwirrfinst ab. Offenbar erschrocken musste er feststellen, dass er den Rand des Sees erreicht hatte. Das kalte Wasser an seinen Füßen ließ ihn erschaudern.
    „Es gibt kein Entrinnen. Stell dich dem Kampf!“, rief Zwirrfinst, holte mit seiner gewaltigen Rechten aus und schlug in Richtung Reptain.
    Mit einem gekonnten Satz nach rechts wich Reptain dem Angriff Zwirrfinst’s aus. Der Boden erzitterte, als Zwirrfinst’s Faust den Boden berührte. Xell holte die Erschütterung glatt von den Füßen. Wasser spritze, als Reptain’s Füße wieder den Boden berührten.
    Erneut holte Zwirrfinst aus und führte seine Faust in Richtung Reptain und abermals wich Reptain zur Seite aus. Sie standen sich wieder gegenüber.
    „Die Zeit für Spielchen sind vorbei, Reptain. Los wehr dich! Oder hat dich das viele Versteckspielen etwa aus der Übung gebracht?“, höhnte Zwirrfinst.
    Reptain funkelte seinen Widersache böse an.
    „Du weißt genau so gut wie ich, dass ich einen Kampf nicht gegen dich gewinnen kann, Zwirrfinst“, sagte Reptain.
    „Auf diese Weise wirst du garantiert nicht gewinnen!“, brüllte Zwirrfinst und holte zum dritten Mal mit seiner niederschmetternden Rechten aus.
    „Dann eben so!“, rief Reptain fuhr mit seiner Hand blitzschnell in seine Tasche und schleuderte eine bläulich schimmernde Kugel auf den Boden. Ein ohrenzerreibender Knall ließ die Wände zittern, gefolgt von einem gleißenden Lichtblitz, der die gesamte Höhle in einem unerträglich grellen Licht aufleuchten ließ.
    Ein unerträgliches Pfeifen jagte durch Raven’s Ohr und hämmerte schmerzhaft gegen sein Trommelfell. Obwohl er seine Augen kurz nach dem Reptain seine Aktion gestartet hatte, fest verschlossen hielt, war unter seinen Augenliedern noch helllichter Tag.


    Erst nach einigen Sekunden, verzog sich das unerträgliche Lärmen in seinem Ohr. Er konnte das dumpfe Fluchen von Zwirrfinst und das leise Wimmern von Xell vernehmen. Raven öffnete seine Augen einen Spalt weit, doch noch immer war alles um ihn herum in einem hellen Weiß durchtränkt. Es dauerte weitere zehn Sekunden, bis seine Augen endlich einige andersfarbige Flecken preis gaben. Da war Xell, der sich neben ihm zusammengekauert hatte und Zwirrfinst, der noch immer wie ein großes Schutzschild vor ihm schwebte. Doch von Reptain fehlte jede Spur.
    Zwirrfinst hatte seine gewaltigen Hände schützend vor sein Gesicht gehalten.
    „Eine Schockorb?! REPTAIN DU FEIGLING!“, brüllte Zwirrfinst bebend vor Zorn.
    Sein Blick schweifte erregt durch die Höhle. Vom Ausgang am Ende der Höhle, über die Decken und Wänder, hinüber zu Raven und Xell und schließlich zu dem weiten See vor ihm. Doch Reptain schien wie vom Erdboden verschluckt.
    Vom Herzen des Gewässers ging nach wie vor ein blaues Leuchten aus. Das Zahnrad der Zeit schien also noch an seinem angedachten Platz zu befinden.
    „Versteck dich ruhig... ICH FINDE DICH JA DOCH!“, brüllte Zwirrfinst schließlich und löste sich vor den Augen aller Beteiligten.
    „W-Was ist jetzt?“, stammelte Xell und rieb sich entsetzt die Augen. „Wo ist Zwirrfinst und wo ist Reptain?“
    Raven wollte etwas sagen, doch die Kraft entwich immer mehr seinem Körper. Mit dem Verschwinden von Zwirrfinst kehrte der Schmerz seiner Verletzung in seinen Körper zurück. Erst jetzt bemerkte er, dass sein Bein schon völlig blutverschmiert war und er bereits auf seiner eigenen Blutlache stand. Zum dritten und letzten Mal verschwamm der Raum um ihn herum, bis er ächzend zusammenbrach. Xell’s verzweifeltes Rufen und ein merkwürdig wildes Trommeln auf dem Boden schienen sich immer weiter von ihm zu entfernen.


    Raven’s Augen klappten nach einer schier endlosen Finsternis auf. Er starrte an die Zimmerdecke seines Quartiers in der Knuddeluff-Gilde. Langsam bewegte er den Kopf zur Seite, bis er in die erleichterten Augen Xell’s blickte.
    „Oh Raven! Endlich bist du wieder wach...“
    Raven blinzelte. Sein Blick fiel auf sein verletztes Bein, dass mit einem dicken Verband fest verbunden war, aber noch heftig pochte.
    „Geht es dir besser? Du hast fast 10 Stunden geschlafen...“
    „10... Stunden?“, stammelte Raven ungläubig, bevor er erschrocken hochfuhr.
    „Reptain! Das Zahnrad der Zeit! Wo...?“
    Xell schüttelte den Kopf.
    „Langsam, langsam. Leg dich besser wieder hin. Ich erzähl dir schon alles. Keine Angst.
    Raven ließ sich wieder rücklings in sein Bett fallen; den Blick fest auf Xell geheftet.
    „Kurz nachdem du das Bewusstsein verloren hast, ist die halbe Gilde mitsamt Magnezone und einem halben Dutzend seiner Helfer angekommen. Wir haben dich vor Ort so gut es ging wieder zusammengeflickt und dich und Tobutz anschließend zurück in die Gilde gebracht.“
    „Was ist mit Reptain und dem Zahnrad der Zeit?“, fragte Raven.
    „Das Zahnrad der Zeit ist noch vor Ort. Reptain konnte es dieses mal nicht stehlen...“
    Raven atmete erleichtert auf.
    „...aber was Reptain betrifft: Von dem fehlt noch immer jede Spur. Die anderen meinten, sie hätten die ganze Höhle auf den Kopf gestellt, aber sie konnten ihn nicht finden. Zwirrfinst ist erst vor zwei Stunden in die Gilde zurückgekehrt. Er hat ihn aber wie du dir vielleicht schon denken kannst auch nicht gefunden. Wir vermuten, dass es Reptain irgendwie aus der Höhle geschaffen hat.“
    „Reptain ist also wieder entkommen...?“, hakte Raven nach.
    „Ja leider, aber im Moment ist das Zahnrad sicher. Magnezone hat mit seinen besten Leuten in der Kristallhöhle Stellung genommen. Tobutz hatte am Anfang noch einige Bedenken, seinen Posten an eine Schar Fremde abzugeben, doch konnten wir es schließlich und endlich doch umstimmen.“
    Raven schwieg nachdenklich.
    „Fürs erste ist das Zahnrad in guten Händen. Wir schauen morgen weiter... Wie geht es dir eigentlich?“, fragte Xell.
    Raven schreckte aus seinen Gedanken.
    „Gut, denke ich. Es lässt sich aushalten.“
    „Du hast uns ganz schön Angst gemacht. Reptain hat dich übel zugerichtet. Das ist übrigens jetzt schon der dritte Verband.“
    Raven schwieg erneut.
    „Ich weiß an was du denkst Raven, aber du solltest dich für die nächsten Tage wirklich schonen. Wir stürzen ja förmlich von einer Affäre in die nächste...“
    „Schon... Aber das Zahnrad...“
    „...ist vorerst sicher“, sagte Xell und schüttelte den Kopf. „Mach dir heute Abend darum keinen Kopf mehr.“
    Xell seufzte tief.
    Erst jetzt bemerkte Raven, dass Xell dunkle Ringe unter den Augen hatte und sehr müde wirkte.
    „Warst du etwa die ganze Zeit auf?“, rief Raven entsetzt. „Du musst doch todmüde sein...“
    „Bin ich auch, aber ich konnte einfach schlafen, bevor ich weiß, dass es dir wirklich gut geht.“
    „Oh Xell du...“
    „Es ist in Ordnung“, antwortete Xell und lächelte verschlafen. „Hauen wir uns aufs Ohr. Morgen sehen wir weiter.“


    Es war für ihn nicht sonderlich verwunderlich, dass er am nächsten Tag noch vor Xell aus seinem Schlaf erwachte. So leise er konnte, um seinen Freund nicht zu wecken, hüpfte Raven aus seinem Bett und wurde sogleich mit einer sehr schmerzhaften Wahrheit konfrontiert. Er hatte in seinem Eifer völlig die Verletzung an seinem Bein ignoriert und wurde für seine Unachtsamkeit auf dem Fuße mit der Wiederkehr der Schmerzen bestraft.
    Zähneknirschend und leise fluchend humpelte Raven aus seinem Quartier.
    Deutlich langsamer als sonst, ließ Raven die Quartiere hinter sich und machte sich in die Haupthalle auf. Er erhoffte sich zwar nicht, viele seiner Kameraden in der Gilde anzutreffen, denn die hellen Sonnenstrahlen verrieten ihm sofort, dass es bereits früher Mittag war und somit die Meisten seiner Freunde ihren täglichen Aufgaben nachgehen würden, aber wollte er dennoch nach dem Rechten sehen und sich vielleicht sogar nach möglichen Neuigkeiten bei den Daheimgebliebenen erkundigen. Raven staunte nicht schlecht, als er plötzlich auf gänzlich alle seiner Kameraden stieß, die sich vor Knuddeluff’s Quartier versammelt hatten.
    „Was ist denn hier los?“, fragte er verwundert.
    Keine Sekunde später war Raven auch schon von seinen Kameraden umringt.
    „Raven! Wie geht es dir?“, fragte Bidiza.
    „Du solltest im Bett liegen...“, sagte Palimpalim und stierte besorgt auf sein verbundenes Bein.
    „Das hast du sauber hingekriegt, Raven. Hast es Reptain ganz schön gezeigt, wie ich gehört habe“, rief Krakeelo begeistert und gab ihm einen äußerst schmerzhaften Klaps auf die Schulter.
    „Hätte vielleicht jemand die Güte mir zu sagen, was hier los ist?“, musste Raven schon fast brüllen, um gegen den Ansturm seiner Freunde anzukommen.
    „Oh, stimmt davon weißt du ja noch gar nichts“, antwortete Krakeelo. „Knuddeluff meint, Zwirrfinst hätte wichtige Neuigkeiten. Der Gildenmeister wollte jeden Moment eine Versammlung aller Gildenmitglieder einberufen.“
    „Und Xell und ich gehören nicht zur Gilde oder warum erfahren wir davon erst jetzt?“, fragte Raven erregt.
    „Wo denkst du hin?“, antwortete Krebscorps. „Natürlich hätten wir euch bei Beginn der Versammlung gerufen. Wir wollten euch nur noch so lange wie wir warten schlafen lassen...“
    Es gab zustimmendes Gemurmel.
    „Gut. Um was es aber genau geht, wisst ihr nicht zufällig?“, fragte Raven.


    Im selben Moment sprang die Tür auf und Knuddeluff schritt gefolgt von Plaudagei und zu Raven’s Verwunderung von Tobutz und Vesprit aus seinem Quartier.
    „Raven! Wie geht es dir?“, fragte Knuddeluff sogleich.
    „Ich bin in Ordnung, danke. Ich hab gehört es gibt Neuigkeiten?“
    „Da hast du recht. Du bist gut informiert. Zwirrfinst meinte, er hätte und etwas wichtiges mitzuteilen, aber anscheinend ist er noch nicht da. Er meinte, er müsste noch dringend etwas erledigen und wir sollten auf ihn warten.“
    Vesprit schwebte langsam auf Raven zu.
    „Gehe ich richtig in der Annahme, dass dein Name Raven ist?“, fragte Vesprit.
    Raven nickte unsicher über Vesprit’s Verhalten.
    „Entschuldigen wollte ich mich, für mein Misstrauen gegenüber dir und deines Freundes. Mein Zorn über den Angriff gegen meinen Bruder machte mich blind. Hätte ich euch bei unserem ersten Aufeinandertreffen geglaubt, so wäre der Alptraum nun vielleicht vorbei. Verzeih mir bitte meine Ignoranz. Bekannt ist mir nun, dass eure Absichten mehr als nur edel sind. Dein Mitgefühl, dass du mir gestern gezeigt hast, mir die Augen geöffnet hat.“
    „Es ist in Ordnung“, sagte Raven. „Fass es bitte nicht als Beleidigung auf Vesprit, aber warum bist du und dein Bruder hier?“
    „Euer großer Freund uns gerufen hat. Zwirrfinst war sein Name, wenn ich mich nicht täusche“, sagte Tobutz.
    „Zwirrfinst? Aber warum...?“
    „Das werde ich euch gleich erklären...“
    Alle Anwesenden wirbelten herum. Zwirrfinst kam gerade, dicht gefolgt von Selfe, die Leiter zur unteren Gildenebene hinunter.
    „Ihr seid zu unvorsichtig. Der Eingang steht sperrangelweit und völlig unbeobachtet auf...“
    Ich kümmere mich darum“, antwortete Krakeelo verlegen.
    „Sind alle anwesend?“, fragte Zwirrfinst.
    „Nein, Xell fehlt. Ich hole ihn schnell. Einen Moment“, sagte Bidiza und spurtete los.
    Selfe, Vesprit und Tobutz bildeten einen kleinen Kreis.
    „Lange ist es her, dass wir zusammen sind...“, sagte Tobutz.
    „Lange, viel zu lange...“, seufzte Vesprit.
    „149 Jahre, wenn mich mein Gedächtnis nicht trübt“, sagte Selfe.
    „Das Zahnrad sicher ist?“, fragte Vesprit?
    „Ja, doch wie lange, ist die Frage... Bald zurückkehren zum See ich sollte, um es wieder zu beschützen.
    Die anderen Gildenmitglieder lauschten interessiert der Unterhaltung unter den drei Geschwistern, bis Bidiza schließlich mit einem noch recht verschlafen wirkenden Xell im Schlepptau zurückkehrte.
    „So, dann wären wir alle anwesend. Du kannst beginnen Zwirrfinst“, sagte Knuddeluff.


    „Wie ihr wahrscheinlich alle bereits wisst...“, begann Zwirrfinst, „... ist Reptain entkommen.“
    Nahezu alle Anwesenden nickten stumm.
    „Die gute Nachricht jedoch ist, dass das Zahnrad in Sicherheit ist.“
    „Das wissen wir doch alle schon...“, murmelte Xell und streckte sich ausgiebig.
    Einige Gildenmitglieder warfen ihm einen strengen Blick zu.
    „Doch wie lange ist das Zahnrad noch sicher? Reptain wird irgendwann wieder kommen und einen erneuten Angriff auf das Zahnrad versuchen.“
    Zwirrfinst schwebte rastlos durch den Raum, während er sprach. Alle Augen folgten ihm.
    „Reptain würde über Leichen gehen, um sein Ziel zu erreichen. Er kennt keine Skrupel und wird jeden, der sich ihm in den Weg stellt ohne mit der Wimper zu zucken aus dem Weg räumen.“
    „Sein Ziel? Aber was ist sein Ziel?“, fragte Sonnflora.
    Zwirrfinst sah Sonnflora sehr ernst an. Sonnflora schien unter seinem ernsten Blick immer weiter zu schrumpfen.
    „Er sucht die Zahnräder der Zeit... Sein Ziel kann folglich nur eins sein...“
    Zwirrfinst schwieg bedächtig und drehte seinem Publikum den Rücken zu.
    „Sag es schon!“, drängte Krakeelo.
    Zwirrfinst drehte sich langsam herum. Sein Blick schweifte über die Menge, die ihn wissbegierig anstarrte.
    „Sein Ziel kann nur eins sein: Das Ende der Zeit.
    Ein dumpfes Raunen zog durch den Raum
    „Das Ende der Zeit?“, fragte Xell. „Was soll das sein?“
    Zwirrfinst starrte Xell tief in die Augen und näherte sich ihm langsam.
    „Willst du das wirklich wissen? Glaubst du, du verkraftest diese Wahrheit?“
    Xell sah sich um. Alle Augen waren plötzlich auf ihn gerichtet. Er nickte unsicher.
    „Das Ende der Zeit...“, seufzte Zwirrfinst, „... ist eine Welt, die ununterbrochen in Dunkelheit gehüllt ist; eine Welt, in der die Zeit still steht. Eine gelähmte Welt. Die Naturgesetzte, wie wir sie kennen, existieren nicht. Man kann noch so lange auf das Morgengrauen warten. Stunden, Tage, Wochen, Monate, Jahre... Es macht keinen Unterschied, denn in dieser Welt gibt es keinen Sonnenaufgang. Ein niemals endender Alptraum. Alle Lebewesen wären auf Gedeih und Verderb an diesen Ort als Schatten ihrer selbst gebunden. Jeden Tag mit der Erkenntnis aufzuwachen, dass es kein Entrinnen aus diesem ewigen Reich des Kummers und der Qual gibt. Bis Verzweiflung und Wahnsinn die immer schwächer werdende Lebensflamme schließlich und endlich zum ersticken bringen und man einen elendigen und einsamen Tod stirbt...“

    „ES REICHT!“, brüllte Raven. Seine eigene Stimme kam ihm plötzlich merkwürdig fremd vor. Sein Herz pochte so schnell, als hätte er gerade den Erdball im Laufschritt umrundet. Er zitterte heftig.
    Alle im Raum sahen ihn entgeistert an, doch es war ihm egal.
    „Wieso? Wieso kann man nur so etwas wollen?“
    „Tut mir leid, aber das überschreitet auch meinen Verstand“, antwortete Zwirrfinst kopfschüttelnd. „Ich vermute, dass er durch die Zahnräder der Zeit eine besondere Macht ausüben kann, mit denen er über besagte Welt herrschen kann. Oh ja, das würde zu ihm passen: Er als alleiniger Herrscher über eine Welt, die er geschaffen hat...“
    „Zwirrfinst? Wenn man dich so reden hört, könnte man glauben, dass du Reptain kennst oder täusche ich mich da?“, unterbrach ihn Xell interessiert. „Das ist mir schon gestern aufgefallen, als du Reptain in der Kristallhöhle gegenüber gestanden hast...“
    Zwirrfinst löste seinen Blick von Raven und sah wieder hinüber zu Xell. Seine Miene war unergründlich.
    „Du hast recht. Tatsächlich kenne ich Reptain schon länger als ihr alle...“
    Zwirrfinst wirkte plötzlich recht verlegen, während er wieder rastlos durch den Raum schwebte.
    „Aber ich denke, ihr verdient die ganze Wahrheit, auch wenn hier einige im Raum es nicht glauben werden...“


    Raven verscheuchte zwanghaft seine Gedanken über das Ende der Zeit und blickte interessiert auf. Was hatte ihnen Zwirrfinst über sich und Reptain die ganze Zeit vorenthalten?
    „Reptain ist kein Bewohner dieser Welt“, sagte Zwirrfinst.
    Unruhiges Gemurmel unter den lauten Rufen von Krakeelo machte sich im Raum breit. Auch Vesprit, Selfe und Tobutz unterhielten sich leise.
    „Bitte Freunde! Lasst Zwirrfinst weiter erzählen“, rief Knuddeluff in den Raum.
    Wenige Sekunden später herrschte auch schon wieder ein angespanntes Stillschweigen. Knuddeluff nickte Zwirrfinst vielsagend zu.
    „Reptain ist ein Pokémon aus einer anderen Zeit. Um genau zu sein: Er stammt aus einer Zeit, die etwa 33 Jahre nach eurer Zeitrechnung liegt.“
    „Eurer Zeitrechnung?“, fragte Digdri. „Heißt das etwa...“
    „Ja, heißt es. Auch ich entstamme dieser Zeit. Wie auch Reptain bin ich ein Besucher aus der Zukunft.“
    Erneut begannen alle Anwesenden wild zu tuscheln.
    „Reptain ist in meiner Zeit ein gesuchter Krimineller. Er hat es irgendwie geschafft, unserer Zeit zu entfliehen und in eure Welt einzutreten. Er hat nur wenige Tage nach seiner Ankunft damit begonnen, die Zahnräder der Zeit zu sammeln. Ich wurde entsandt, um die Zahnräder vor seinem Eingriff zu schützen und ihn wieder zurück in unsere Zeit zu bringen, um ihn dort seiner gerechten Strafe zuzuführen. Es tut mir leid, dass ich euch dies alles solange verschwiegen habe, aber eigentlich wollte ich niemanden in diese Sache hineinziehen. Anfangs ahnte ich jedoch nicht, dass es solche Ausmaße erreichen würde...“
    „Ich denke, ich spreche im Namen aller Anwesenden wenn ich dir sage, dass du dich bei uns nicht entschuldigen musst“, sagte Knuddeluff und blickte in die Runde.
    Die Gildencrew, sowie Vesprit, Selfe und Tobutz nickten einstimmig.
    „Wir würden uns freuen, wenn wir dir weiterhin bei deiner Mission behilflich sein könnten. Für unsere Zeit und für die jene, die noch kommen mag.“
    „Das Hilfeangebot nehme ich gerne, aber nur in einer bestimmten Form, an. Keine Angst, ich erkläre es euch“, sagte Zwirrfinst, als er in die verwirrten Gesichter um ihn herum blickte.
    Zwirrfinst’s Blick schwenkte hinüber zu den drei Geschwistern.
    „Oh ihr drei Wächter der Seen und Beschützer der Zahnräder der Zeit. Gestattet mir bitte die Frage, wie viele Zahnräder der Zeit existieren.“
    Selfe, Vesprit und Tobutz sahen sich einige Sekunden nachdenklich an. Selfe nickte seinen beiden Geschwistern zu.
    „Fünf sind es. Fünf Zahnräder, die Welt im Gleichgewicht halten.“
    „Fünf also...“, murmelte Zwirrfinst nachdenklich.
    „Wir wissen, dass Reptain die Zahnräder aus dem Schemengehölz, aus den Kalksteinhöhlen, aus dem Nebelsee und das aus der Nordwüste besitzt. Folglich fehlt ihm nur noch das Zahnrad aus der Kristallhöhle für seine Sammlung. Sehe ich das richtig?“
    „Deine Vermutung korrekt ist“, antwortete Tobutz. „Einzig mein Zahnrad verblieben ist.“
    „Reptain hat also gar keine andere Wahl, als sehr bald einen neuen Angriff auf dieses Zahnrad zu unternehmen. Ich nehme an, dass er sich von den Auseinandersetzungen der letzten Tage nur noch erholt und dann einen weiteren Diebeszug unternehmen wird und bei diesem Versuch schnappen wir ihn.“
    „Du planst ihm eine Falle zu stellen?“, fragte Plaudagei.
    „Korrekt. Wir, dass heißt Tobutz, Selfe, Vesprit und ich lauern ihm auf.
    „Ihr vier? Aber was ist mit uns?“, rief Krakeelo.
    Zu allgemeiner Verwunderung schüttelte Zwirrfinst den Kopf.
    „Nein, dass wäre nicht gut. Lass mich erklären: Reptain wird sicherlich sehr vorsichtig bei seinem nächsten Angriff auf das Zahnrad vorgehen. Je weniger wir sind, umso größer ist die Chance, bei unserem Hinterhalt nicht entdeckt zu werden. Klingt das verständlich?“
    „Ja, absolut“, antwortete Krakeelo.
    „Reptain könnte uns beobachten; vielleicht sogar gerade jetzt. Bitte haltet euch einfach von der Kristallhöhle fern und geht euren normalen Beschäftigungen nach. Verliert auch kein weiteres Wort mehr über das Zahnrad der Zeit bis Reptain hinter Schloss und Riegel sitzt. Wir vier werden uns um ihn kümmern. Wichtig ist, dass er keinen Verdacht schöpft. Unser Vorteil liegt in dem Überraschungsmoment. Alles weitere werde ich aber mit Vesprit, Selfe und Tobutz bereden, wenn es recht ist.“
    „In Ordnung. Ihr habt unser Wort, das wir uns zurückhalten werden und euch freie Hand lassen“, sagte Knuddeluff.
    „Danke für eure Kooperation. Wir werden uns dann zur Kristallhöhle aufmachen. Das liegt wohl auch in Tobutz’ Interesse.“
    Tobutz nickte stumm.
    „Wir wünschen euch bei eurem Vorhaben viel Glück. Krakeelo, öffne ihnen bitte den Ausgang“, sagte Knuddeluff.


    Zwirrfinst verabschiedete sich mit einer tiefen Verbeugung zu allen Seiten und entschwebte dicht gefolgt von Vesprit, Selfe und Tobutz der Gilde. Wenige Augenblicke später waren die Gildenmitglieder wieder unter sich.

    „Puh... Wer hätte mit einer solchen Entwicklung der Dinge gerechnet...?“, seufzte Knuddeluff. „OK Gilde, ihr habt es gehört. Wir überlassen Zwirrfinst und den anderen Reptain. Auch wenn es manchen von uns vielleicht schwer fällt...“, Raven glaube, das Knuddeluff eine kurze Sekunde in seine Richtung schielte, „... gehen wir wieder unseren Gildenaktivitäten nach, als ob wir von nichts wüssten. Alles, was wir eben besprochen haben, bleibt vor der Öffentlichkeit ein von uns wohl gehütetes Geheimnis und wird, bis Reptain gefasst wurde, kein Gesprächsthema mehr von uns sein. Wenn nichts mehr weiteres ansteht, löse ich dann unsere Versammlung...“
    „Entschuldige Gildenmeister...“, rief Krebscorps, „... ich hätte da noch ein Anliegen.“
    „So? Dann mal raus mit der Sprache“, antwortete Knuddeluff interessiert.
    „Ich frage mich, ob ich vielleicht die Gildenprüfung absolvieren dürfte?“
    Reges Gemurmel machte sich unter den anderen Gildenmitgliedern breit. Raven warf Xell einen fragenden Blick zu, doch Xell zuckte verwirrt die Schultern.
    „Die Gildenprüfung?“, wiederholte Plaudagei unwirsch. „Wie kannst du dir nur ausgerechnet jetzt darüber Gedanken machen?
    „Also ich finde das ehrlich gesagt eine formidable Idee, Plaudagei. Was könnte für uns natürlicher sein, als die Abschlussprüfung für eines unserer Mitglieder durchzuführen?“ Knuddeluff zwinkerte der Menge verstohlen zu. „Wenn du willst, kannst du gleich Morgen dein Glück versuchen.“
    „Und ob ich das will!“, rief Krebscorps begeistert.
    „Gehe ich recht in der Annahme, dass du die Prüfung alleine ohne jegliche Hilfe angehen möchtest?“, fragte Knuddeluff.
    „So ist es“, antwortete Krebscorps prompt.
    „Gut. Alles weitere kläre ich später mit dir unter vier Augen. Hiermit löse ich dann unsere Besprechung auf. Den restlichen Tag über habt ihr frei. Vergesst aber nicht, was ich gerade eben noch über das...“, Knuddeluff räusperte sich, „... verbotene Thema gesagt habe.“
    Knuddeluff hatte schon seine Hand an der Türklinke zu seinem Quartier, als er sich noch einmal umdrehte.
    „Oh, das hätte ich beinahe vergessen: Krakeelo, Raven, Digda und Xell bitte auf ein Wort zu mir in mein Quartier.“
    Recht verwirrt, was Knuddeluff von ihnen wollte, betraten die vier sein Quartier. Raven war schon lange nicht mehr im Quartier des Gildenmeisters gewesen. Das letzte mal, bei ihrer schmachvollen Rückkehr aus dem Apfelwald, schien für ihn schon Jahre zurück zu liegen.
    „Vielleicht wisst ihr bereits schon, warum ich euch noch einmal zu mir bestellt habe.“
    Knuddeluff seufzte tief.
    „Nein, wenn ich mir so eure Gesichter ansehe, dann anscheinend nicht... Also, dann lasst mich euch etwas auf die Sprünge helfen: Krakeelo!
    Krakeelo blickte erschrocken auf.
    „Habe ich dir gestern bei unserem Aufbruch klare Anweisungen gegeben?“
    Krakeelo machte plötzlich einen sehr verlegenen Eindruck. „Ja, das hast du Gildenmeister...“
    „Und dennoch, hast du meine Anweisungen ignoriert?“
    „Ja, Gildenmeister...“
    „Und du Digda. Mir ist bewusst, dass du und Krakeelo sehr gute Freunde seid, aber du bist gleichzeitig auch ein Mitglied unserer Gilde. Du hättest ihn von seinem Vorhaben, Raven und Xell aus der Gilde zu entlassen, aufhalten müssen.“
    „Ja das hätte ich tun müssen. Tut mir leid, Gildenmeister.“
    „Moment mal“, rief Xell. „Entschuldige bitte Gildenmeister, aber es ging hier nicht um irgendeinen Auftrag, sondern um die Rettung eines Zahnrads der Zeit!“
    „Ich bin mir dessen bewusst“, sagte Knuddeluff. Auch bin ich mir im Klaren, das wenn ihr nicht gewesen wärt, Reptain wahrscheinlich alle Zahnräder in seinen Klauen halten würde. ABER! Ihr hattet strikte Anweisungen missachtet. Auch wenn es für eine größere Sache diente, liegen klare Regelverstöße vor. Auch wenn es mir innerlich sehr weh tut, muss ich euch bestrafen.“
    „Das ist doch ein Witz...“, murmelte Xell zähneknirschend.
    „Krakeelo und Digda: Ihr hattet noch einen freien Tag für eure aufopfernde Arbeit am Tage nach unserer Rückkehr von unserer Expedition bei mir gut. Dieser Tag wird euch gestrichen. Stattdessen werdet ihr beide morgen bei der Abschlussprüfung von Krebscorps aushelfen.“
    „Ja, Gildenmeister“, sagten Krakeelo und Digda im Chor.
    „Raven und Xell: Ihr werdet für morgen Krakeelo’s und Digda’s Job übernehmen und Wachdienst halten. Auch wenn es mir für dich Raven angesichts deiner Verletzung mehr als nur leid tut, aber ich darf leider keine Ausnahme machen.“
    „Ja, Gildenmeister“, murrten Raven und Xell.
    „In Ordnung. Wegtreten!“


    „Das ist doch echt ein Witz“, maulte Xell erregt, als sie das Quartier Knuddeluff’s weit hinter sich gelassen hatten. „Wir retten die Welt und riskieren dabei Kopf und Kragen und bekommen noch eine dicke Strafe!“
    „Irgendwie ahnte ich schon, dass das so ausgehen wird. Naja, aber der Gildenmeister war recht kulant, was die Strafe angeht. Könnte schlimmer sein...“, sagte Krakeelo achselzuckend.
    „Vielleicht... Immerhin nur einen Tag Wachdienst. Und ihr müsst bei der Gildenprüfung von Krebscorps aus helfen. Was soll das eigentlich sein?“, fragte Xell neugierig.
    „Die Prüfung, um ein vollwertiger Erkunder zu werden. Das ist das eigentliche Ziel von allen Lehrlingen der Gilde“, antwortete Digda prompt.
    „Aha. Und was muss man da genau machen.“
    Krakeelo begann plötzlich zu zittern. Er wirkte plötzlich merkwürdig ängstlich.
    „Ähm... Darüber möchte ich ehrlich gesagt nicht reden. Ich werde mich dann mal vom Acker machen. Wir sehen uns später...“
    Krakeelo eilte unter den verwirrten Blicken Raven’s und Xell’s davon.
    „Was ist denn in den gefahren?“, fragte Raven.
    „Nehmt es ihm nicht übel. Krakeelo hat kurz bevor ihr beide in die Gilde gekommen seid, selbst die Prüfung abgelegt und ist gescheitert. Seitdem ist er recht empfindlich, was dieses Thema angeht“, sagte Digda.
    „Und du? Kannst du uns etwas über die Prüfung sagen?“, fragte Xell.
    „Nein leider nicht. Ich war bei Krakeelo’s Prüfung nicht dabei und er wollte mir nie etwas darüber erzählen.“


    Den restlichen Tag verbrachte Raven alleine in seinem Quartier. Er hatte widerwillig auf den Einkaufsausflug mit Xell verzichtet. Etwas anderes blieb ihm auch nicht großartig übrig, denn mit ihm würde er wohl noch einige Zeit lang nicht mehr mithalten können. Seine Gedanken ruhten bei Zwirrfinst. Ob er mit seinem Plan Erfolg haben würde? Reptain fangen und dann mit ihm in die Zukunft aufbrechen.
    Die Zukunft... Was für ein Ort sie wohl sein mag? Er hätte am liebsten Zwirrfinst danach gefragt. Vielleicht ist es aber auch besser, nicht zu viel über seine eigene Zukunft zu wissen, wenn man nicht einmal seine eigene Vergangenheit kennt... Wenn Reptain endlich gefasst wird und alles wieder seinen gewohnten Gang nimmt, könnte er sich endlich wieder auf die Suche nach seiner Vergangenheit machen. Alles wäre vielleicht schon vorbei, wenn er doch nur gestern nicht gezögert, und Reptain den Gnadenstoß gegeben hätte. Er war ihm schutzlos ausgeliefert. Aber etwas hielt ihn zurück. Mitleid? Er wusste es nicht...


    Langsam aber sicher näherte sich der Tag seinem Ende. Raven genoss stillschweigend die letzten Minuten der zarten Abendsonne vor dem Eingang der Gilde. Inzwischen waren alle seine Kameraden in die Gilde zurückgekehrt. Auch Xell kam, wenn auch etwas spät, mit einem prall gefüllten Beutel in die Gilde geeilt.
    „Oh, nabend Raven. Ich bin doch hoffentlich noch nicht zu spät zum Abendessen oder?“
    Raven schüttelte stumm den Kopf. Sein Blick ruhte weiterhin auf der Sonne, die langsam hinter einem weit entfernten Berg verschwand.
    Er seufzte.
    „Ach was ich dich noch fragen wollte... Was war das eigentlich vorhin?“
    Raven löste seinen Blick von dem frühen Abendhimmel und schaute seinen Freund an.
    „Was meinst du? Was war vorhin?“
    „Naja, du weißt schon... Als du vorhin ausgerastet bist. In dem Moment, als Zwirrfinst von dem Ende der Zeit gesprochen hat. Du hättest dich mal sehen sollen. Du sahst völlig aufgelöst aus...“
    „War ja auch keine schöne Vorstellung oder? Eine Welt ohne Sonnenaufgang, ohne Hoffnung auf einen neuen Tag...“
    Raven schüttelte sich, als ob ihm kalt wäre.
    „Ja, da hast du recht. Wirklich kein schöner Gedanke. Aber das wird niemals eintreffen. Zwirrfinst wird schon dafür sorgen. So was hältst du davon, wenn wir uns jetzt erst mal richtig den Bauch voll schlagen?“, rief Xell vergnügt.
    Raven’s Blick fiel noch einmal auf den orangefarbenen Abendhimmel. Die Sonne war inzwischen hinter dem Berg verschwunden.
    „Ja, lass uns was essen“, antwortete er.


    Körperlich ging es Raven zwar den Umständen entsprechend, jedoch litt seine Seele Tags darauf im finsteren und von der Außenwelt abgeschiedenen Untergrund förmlich Höllenqualen. Da Xell Krakeelo’s Part übernehmen musste, hielt Raven den ganzen Tag über mutterseelenallein in dem Tunnel unter der Gilde die Stellung. Wären nicht ab und an einige Besucher am Wachgitter über seinem Kopf erschienen, hätte er darauf gewettet in dem von Zwirrfinst erwähnten Ende der Zeit festzusitzen. Seine Schicht endete zu seiner großen Freude recht früh, mit der Wiederkehr von einem völlig körperlich und seelisch angeschlagenen Krebscorps. Raven verkniff sich die Frage, wie es ihm ergangen war. Der sonst so gesprächige Krebscorps hielt sich den restlichen Tag über sehr bedeckt und war auch der erste, der vom noch reichlich bedeckten Tisch aufstand und in seinem Quartier verschwand.
    „Er wird schon wieder...“, meinte Krakeelo kopfschüttelnd, als Palimpalim Anstalten machte, nach ihm zu schauen. „Wirst schon sehen: Morgen ist er wieder quietschlebendig. Krebscorps ist einfach nicht der Typ, der lange deprimiert ist.“
    Raven wurde an dem selben Tag von Knuddeluff in sein Quartier zitiert. Es wunderte ihn nicht, das Knuddeluff ihm anbot, sich und sein Bein in den nächsten Tagen zu schonen. Raven lehnte jedoch das gut gemeinte Angebot ab. Das letzte was er jetzt brauchen könnte, wäre noch mehr Zeit zum Nachdenken, auch wenn die Regenwolken, die sich draußen anbrauten, nicht gerade zum Arbeiten einluden.
    Die nächsten Tage vergingen im Flug. Jeden Morgen spielte sich unter den Gildenmitgliedern das mittlerweile alltägliche Ritual ab, bei der morgendlichen Einweisung ihren Gildenmeister nach irgendwelchen Neuigkeiten zu dem “verbotenen Thema“, wie sie es mittlerweile nannten, zu fragen.
    „Ich werde euch sofort informieren, wenn etwas neues bekannt ist...“, sagte Knuddeluff leicht genervt, als Xell am fünften Tag nach Zwirrfinst’s Aufbruch in die Kristallhöhle den Mund aufmachen wollte.


    An einem, zum ersten Mal seit Tagen, wieder klaren Morgen, nahm Raven endlich seinen Verband ab. Die Wunde war nahezu verschwunden. Nur ein blasser Schnitt, erinnerte ansatzweise an den von Reptain angerichteten Schaden.
    „Na also. Man sieht fast nichts mehr. Wirst mich ab heute beim Spurten wieder überholen“, sagte Xell vergnügt, während er die Überreste der Verletzung von allen Seiten unter die Lupe nahm.
    „Ja, ein Glück. Ich war das rumgehumpel auch allmählich leid“, antwortete Raven glücklich.
    Krakeelo’s lautes Getöse ließ die beiden in ihrer Euphorie plötzlich erschrocken zusammenfahren.
    „Hey! Wo bleibt ihr denn? Beeilt euch!“
    „Was ist denn mit dir los? So spät sind wir doch gar nicht. Man könnte glatt meinen, es sei irgendwas passiert...“, sagte Xell.
    „Und ob etwas passiert ist! Ihr werdet es nicht glauben: Reptain wurde heute Nacht geschnappt!“, rief Krakeelo begeistert.
    „Wirklich?! Großer Gott endlich!“, jubelte Xell.
    „Stark! Endlich!“, jauchzte Raven nicht weniger glücklich.
    „Zwirrfinst und die anderen sind laut Knuddeluff unterwegs in die Stadt. Vielleicht sind sie auch schon da. Wir sollten uns beeilen“, rief Krakeelo und spurtete los.


    Die Botschaft, über die Gefangennahme Reptain’s hatte sich offenbar bereits in der ganzen Stadt versammelt. Auf dem Marktplatz herrschte reger Durchgangsverkehr, als Raven, Xell und Krakeelo sich durch die Menge kämpften.
    „Boah! Was ist denn das?“, fragte Xell erschrocken und deutete auf eine seltsame Anomalie, die mitten auf dem Platz schwebte.
    „Das muss eine Art Zeitportal sein“, antwortete Plaudagei. „Heute morgen sind durch dieses Portal einige weitere Pokémon aus der Zukunft gekommen, um Zwirrfinst bei der Eskorte zu unterstützen. Kommt ihm nicht zu nahe oder ihr werdet vielleicht in eine andere Zeit geschleudert.“
    „Ist es also tatsächlich wahr? Reptain wurde gefangen?“, fragte Xell, ohne seinen Blick von dem pulsierenden Loch zu lösen.
    „So ist es. Reptain in sicherem Gewahrsam ist“, sagte eine vertraute Stimme hinter ihnen.
    Die Gildenmitglieder wirbelten herum.
    „Oh Tobutz, Vesprit und Selfe! Euch allen geht es gut“, rief Knuddeluff fröhlich. „Und Reptain wurde gefangen sagt ihr? Wunderbar. Besser kann es wirklich nicht mehr kommen.“
    „Wenn wir vom Teufel sprechen...“, sagte Sonnflora bitter ernst. „Schaut mal wer da kommt.“
    Raven spähte durch die Menge. Zwirrfinst näherte sich langsam dem Marktplatz. Hinter ihm konnte Raven zwei weitere Pokémon sehen, die er noch nie zu vor gesehen hatte. In der Mitte aber, war ganz deutlich Reptain zu sehen. Geknebelt und gefesselt trottete er seinen Bezwingern nach.

    Schallende Buhrufe tönten über den Platz, als Reptain umringt von seinen Wächtern immer näher kam. Ein merkwürdiges Gefühl machte sich in Raven breit. Obwohl er pausenlos diesen Augenblick herbeigesehnt und sich nichts anderes gewünscht hatte, als das Reptain endlich gefasst werden würde, war er nun keinesfalls glücklich. Im Gegenteil: Der Anblick des völlig wehrlosen Reptain, wie er von allen Anwesenden verhöhnt und ausgelacht wurde, stimmte ihn innerlich seltsamerweise betrübt, fast traurig. War es Mitleid, wie er es schon einmal in der Kristallhöhle empfand? Raven schüttelte den Kopf. Nein! Er durfte kein Mitleid für diese Gestalt empfinden. Hatte er nicht in diesem Augenblick seiner Schwäche beinahe mit dem Leben bezahlt? Reptain hatte sein Mitleid nicht verdient.
    Zwirrfinst baute sich vor dem Portal auf.
    „Wie ihr unschwer erkennen könnt, ist es uns endlich gelungen, Reptain zu fangen“, rief Zwirrfinst, gefolgt von lauten Jubelrufen in die Menge.
    „Doch nun ist es für mich leider Zeit, von euch Abschied zu nehmen. Nicht viele wissen, wohin dieses Portal hinter mir führt. Seid aber gewiss, das sobald wir dieses Portal durchschreiten, Reptain euch nie wieder belästigen wird.“
    Erneut johlten alle Pokémon vor Freude. Sonnflora ließ es sich sogar nicht nehmen, den völlig verdutzten Krakeelo vor Freude zu umarmen.
    „Führt ihn ab!“, rief Zwirrfinst seinen beiden Untergebenen zu. Unsanft packten Zwirrfinst’s Helfer Reptain und stießen ihn durch das Portal. Die Zeitpforte leuchtete drei mal hell auf, als sie durch sie hindurch schritten und im Nichts verschwanden.
    Die Menge stöhnte bei dem Anblick auf.
    „So, nun ist es auch für mich Zeit, Lebewohl zu sagen...“, seufzte Zwirrfinst. „Wir werden uns wohl nicht mehr wiedersehen.“
    „Schade das du gehen musst“, sagte Knuddeluff traurig. Du hättest uns in der Gilde sicherlich noch viel zu erzählen gehabt, da bin ich mir sicher.“ Er zwinkerte Zwirrfinst zu.
    „Gerne würde ich noch länger hier verweilen, aber unsere Begegnung hätte im Grunde genommen gar nicht passieren dürfen. Ich denke ihr versteht das genauso gut wie ich.“
    Zwirrfinst drehte sich um und schwebte langsam auf das Zeitportal zu.
    „Oh! Bevor ich es vergesse: Ich würde mich gerne noch von zwei ganz besonderen Pokémon verabschieden. Raven? Xell? Würdet ihr bitte zu mir kommen?“
    „Sicher“, sagte Xell etwas verwirrt.
    Raven und Xell schritten langsam zu Zwirrfinst hinüber. Jetzt, wo sie sich unmittelbar in der Nähe des Zeitportals befanden, spürte Raven plötzlich seinen unbändigen Sog.
    „Tja Zwirrfinst. Nun heißt es wohl Abschied nehmen. Und bleibt eigentlich nichts anderes übrig, als dir noch einmal für alles zu danken, was du für uns und unsere Welt getan hast“, sagte Xell und lächelte Zwirrfinst an.
    „Das gehörte alles zu meiner Aufgabe. Aber erst jetzt, kann ich auch meine letzte Aufgabe erfüllen. Den auch für euch ist die Zeit des Abschieds gekommen.“
    „Wie meinst du... Waah! Was tust du?“, rief Xell erschrocken.
    Zwirrfinst’s gewaltige Hände hatten seinen und den Körper von Raven fest umschlossen.
    „Ihr zwei... Kommt mit mir mit!“

    Raven fühlte den immer stärker werdenden Sog des Portals. Er wehrte sich verzweifelt, doch vergebens: Zwirrfinst’s gewaltige Hände hielten ihn fest in seinem Griff. Die panischen Rufe seiner Freunde und die der Stadtbewohner wurden immer schwächer, bis sie gänzlich von dem Getöse des Portals übertönt wurden. Das Bild von Schatzstadt vor ihm verzerrte sich von Sekunde zu Sekunde immer mehr, bis es und alles weitere um sich herum schließlich sich in eine wilde, bunte Deformation verwandelte. Raven spürte, wie sich Zwirrfinst’s Griff um seinen Körper löste und er im selben Moment von dem gewaltigen Sog des Zeitstroms erfasst und in alle Richtungen umhergeschleudert wurde. Tiefer... Immer tiefer...


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  • Kapitel XIV.: In die Zukunft


    Part 1: Folter und Flucht




    Ein feucht-modriger Geruch lag in der Luft, als Raven entkräftigt aus seiner Ohnmacht erwachte. Raven’s Blick wanderte langsam durch den dunklen Raum. Er befand sich auf dem kalten, schmutzigen Boden eines kleinen, nur spärlich beleuchteten Raums. Die Wände und Decke waren stellenweise mit einer widerlich riechenden, schleimigen Substanz überzogen. Sein Blick blieb an einem massiven Eisentor hängen. Mühselig richtete er sich auf und rüttelte instinktiv an dem Gatter, doch es war fest verschlossen. Raven zitterte vor Kälte. Sein Atem schwebte einige Sekunden lang wie ein dünner Nebelschleier vor seinen Augen.
    Sein Magen rebellierte heftig gegen den strengen Gestank dieses Ortes. Oder war es vielleicht seine unfreiwillige Reise durch das Zeitportal? Erst jetzt wurde es ihm plötzlich klar, was passiert war: Zwirrfinst hatte ihn, aus welchen Gründen auch immer, gepackt und durch das Zeitportal gezerrt. Aber dann musste dies ja...
    Ein würgendes Röcheln ließ Raven plötzlich erschrocken zusammenfahren. Er wirbelte herum. Aus einer dunklen Ecke am Ende des Raumes regte sich etwas.
    „Hallo? Wer ist da?“, fragte er in die Dunkelheit vor ihm und versuchte mutiger zu klingen, als er war.
    „Raven...?“, keuchte die Stimme. Es war Xell.
    „Xell!“, rief Raven erleichtert, rannte zu seinem Freund hinüber und half ihm auf die Beine.


    „Wo zum Henker sind wir. Was ist hier los?“, fragte Xell verwirrt, während er unsicher den Raum durchquerte und jeden Winkel begutachtete. Auch er rüttelte an dem schweren Eisentor. Es rührte sich keinen Millimeter. „Was soll das?“
    „Ich bin mir nicht sicher. Ich bin auch nicht viel länger als du wach, aber...“,
    Raven stockte einige Sekunden.


    „Weißt du noch, was passiert ist?“, flüsterte er gehemmt. „Zwirrfinst hat uns in das Zeitportal gezogen. Dann muss das...“
    „...Die Zukunft sein?“, beendete Xell den Satz. „Aber warum? Was sollen das?“
    „Ich weiß es nicht...“, wiederholte Raven erneut. „Ich mag mich irren, aber sieht dieser Ort nicht irgendwie wie ein Gefängnis oder so aus?“

    „Ein Gefängnis? Jetzt hör aber auf! Warum sollen wir in einem Gefängnis landen. Das muss alles ein riesen Missverständnis sein“, antwortete Xell entschieden und lief zu dem Eisentor hinüber.
    „Hey! Hört mich jemand? Lasst uns raus hier!“, brüllte er und rüttelte heftig an dem stählernen Eisentor. Xell’s Stimme und das rattern des Gatters echote laut durch die Finsternis, doch eine Antwort blieb aus.
    „Das kann doch alles nicht sein!“, rief Xell ungläubig und sank auf die Knie zusammen. Seine Hände hatten die Gitter des Tor vor ihm noch fest umschlungen. Er begann heftig zu zittern.
    „Wir müssen Zwirrfinst finden. Nur er kann uns erklären, warum das alles.“, sagte Raven mit aufbauendem Ton. „Xell? Glaubst du, du könntest das Tor mit einem deiner Feuergeschossen zerlegen?“
    Xell sprang mit einem Satz wieder auf.
    „Versuchen kann ich es ja mal“, antwortete er unsicher, ging langsam einige Schritte zurück und feuerte eine Salve seiner glühenden Feuerbälle gegen das Gatter. Die Explosionen ließen die Höhle erzittern. Dreck und Staub bröselte von der Decke und hüllte den ganzen Raum in einen trüben Nebel ein. Raven und Xell röchelten schwer. Es dauerte eine halbe Minute, bis sich der Staub in der Luft endlich gelegt hatte. Das Tor stand nach wie vor auf seinem Platz. Seine blanken Eisengitter glänzten ihnen entgegen, als würden sie höhnisch über ihren vergeblichen Ausbruchsversuch spotten.
    Xell sank erneut resigniert zusammen und hämmerte verzweifelt mit seinen Fäusten auf den Boden.
    Raven blickte mitleidig auf das verzweifelte Häufchen mit Namen Xell vor ihm und überlegte, wie er ihm neuen Mut machen könnte, als plötzlich eine hohe und unangenehme Stimme ihr Schweigen unterbrach.
    „Wer macht denn hier so einen Krach?“
    Raven’s und Xell’s Blick fiel zurück auf das Tor vor ihnen. Raven erkannte ihn sofort. Es war einer von Zwirrfinst’s getreuen Untergebenen.
    „Oh! Ihr seid also wach! Gut, gut!“, rief er und verschwand wieder so schnell wie er gekommen war.
    „Hey warte!“, rief Xell und rannte verzweifelt hinüber zum Ausgang. „Verschwunden...“
    Raven zuckte die Schultern. Insgeheim lief ihm jedoch mittlerweile ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht...


    Xell hatte gerade dem Gatter wieder den Rücken zugekehrt, als plötzlich das Schloss des Tors knackte und laut krachend aufflog. Raven und Xell wirbelten erschrocken um. Insgesamt vier von Zwirrfinst’s Helfern wuselten sich laut gackernd zu ihnen in die Zelle.
    „Was ist hier los?“, fragte Raven. Die Neuankömmlinge grinsten ihnen hämisch entgegen.
    „Ruhe du Wurm!“, rief einer von ihnen. Seine brillantförmigen Augen blitzen unheimlich durch die Dunkelheit.
    „Ihr wollt wissen, was hier los ist?“, spottete ein anderer von ihnen. „Das wirst du noch früh genug erfahren. Früher, als es dir lieb ist...“
    „Was meinst du damit?“, fragte Xell ängstlich. „Hey! Was soll das. Lass mich los!“
    Einer von ihnen hatte sich plötzlich an Xell geklammert und presste ihn mit aller Gewalt auf den Boden. Keine Sekunde später wurde auch Raven mit einer unglaublichen Gewalt gegen die Höhlenwand gestoßen. Ein anderer des Quartetts drückte ihn grob gegen den feuchten Fels. Raven wehrte sich verzweifelt, doch war er völlig ausgezehrt und konnte der groben Gewalt seines Gegners nichts entgegensetzen. Feste Stricke schnürten sich unsanft um seinen Körper. Raven konnte den vergeblichen Kampf seines Freundes mit seinen Überwältigern deutlich hören, den er offensichtlich auch verlor.
    „So, und die hier noch zum Abschluss“, kicherte derjenige, der Raven die Stricke angelegt hatte und verband ihm nicht weniger sanft die Augen.
    „Und jetzt los!“, rief einer hinter ihm und schubste Raven rüde nach vorne.
    Raven stolperte und fiel auf den kalten Boden. Er schmeckte den ekelhaften Geschmack des dreckigen Fußbodens. Keine Sekunde später wurde er brutal wieder auf die Beine gezogen.
    „Los! Vorwärts!“, rief die Stimme erneut und schubste ihn erneut nach vorne.


    Raven wusste nicht, wie lange er blind wie er war, von seinen Wächtern durch die Flure gedrängt wurde. Es kam ihm wie ein stundenlanger Höllenmarsch vor, als er zum etwa zehnten Mal auf den Boden fiel und ruckartig von seinen Wächtern wieder auf die Beine gestellt wurde, nur um wieder weiter durch die Finsternis gejagt zu werden. Hinter sich konnte er deutlich das Wimmern seines Freundes vernehmen, dem es allem Anschein nach auch nicht viel besser als ihm erging.
    „Hör auf zu Winseln! Du hast noch gar keinen Grund dazu“, gackerte eine weitere Stimme hämisch weit hinter ihm.
    Es vergingen einige weitere Minuten, bis Raven endlich abrupt gestoppt, aber sofort wieder im aller Gewalt gegen einen blanken Gegenstand vor ihm gedrückt wurde. Er spürte, wie sich weitere Seile um seinen Körper und tief in sein Fleisch schlangen und ihn fest an das kalte Ding hinter ihm pressten. Das Blut staute sich mittlerweile in seinen Adern und das Atmen fiel ihm immer schwerer, so fest war er an eine steinerne Säule geschnürt.


    Für wenige Sekunden herrschte eine beängstigende Stille. Nur Xell’s leises Wimmern hallte durch den Raum.
    „Flennt wie ein Baby“, höhnte eine Stimme durch die Dunkelheit. Plötzlich zerrte etwas heftig an Raven’s Augenbinde. Heißer, stinkender Atem hauchte ihm ins Gesicht. Seine Augenbinde wurde ihm heruntergerissen. Er befand sich, so weit er das durch seinen unbeweglichen Zustand beurteilen konnte, in einer großen weiten Halle. Etwa 20 Meter vor ihm hatten sich fünf der mysteriösen Pokémon in Reih und Glied aufgereiht und grinsten ihm mit ihren gelb verfärbten Zähnen höhnisch entgegen.
    Raven kämpfte mühselig gegen die unzähligen Fesseln um seinen Körper an. Die Seile bohrten sich immer tiefer in seinen Leib ein, doch zumindest konnte er seinen Kopf etwas zur Seite drehen. Xell befand sich nur wenige Meter neben ihm. Auch er war fest an eine massive Säule gebunden und bekam just in dem Moment seine Augenbinde abgenommen.
    „Gleich ist alles vorbei“, gackerte das Pokémon, welches Xell gerade versorgte.
    „Was meinst du damit? Was wollt ihr von uns?“, rief Raven panisch.
    Das boshafte Gelächter ihrer Peiniger hallte durch den Raum.^


    „Was die von euch wollen, sollte euch doch mittlerweile klar sein...“, tönte eine Stimme zu Raven’s rechten.
    Raven kämpfte erneut gegen seine Fesseln an und linste zum Ursprung der Stimme hinüber.
    „Was du? Was machst du hier?“, rief Raven.
    „Wer ist es? Ich kann nichts sehen...“, sagte Xell.

    „Das Selbe, was auch ihr gerade macht: Rumhängen und auf den Tod warten“, sagte Reptain gelassen, schon fast gelangweilt.
    „Aber warum? Warum wir?“, rief Xell entsetzt. „Das sie dich bestrafen war ja klar, aber was wollen sie von uns?“
    „Danke für dein Mitgefühl“, antwortete Reptain trocken. „Ich weiß es nicht und um ehrlich zu sein interessiert es mich auch nicht. Ihr müsst wohl jemandem einen gewaltigen Dorn im Auge sein, wenn ihr hier seid. Fragt doch am besten ihn hier.“ Reptain machte mit seinem Kopf eine stumme, aber eindeutige Geste nach vorne.
    Raven’s und Xell’s Blick schnellte von Reptain weg und nach vorne. Zwirrfinst schwebte durch das weite Portal in den Raum hinein. Die sechs Pokémon verbeugten sich unterwürfig vor ihm.
    „Meister! Es ist alles vorbereitet“, sagte einer von ihnen demütig.
    „Zwirrfinst! Zwirrfinst!“, rief Xell und kämpfte verzweifelt gegen seine Fesseln an.
    „Gut, gut“, antwortete Zwirrfinst ohne Xell eines Blickes zu würdigen.
    „Zwirrfinst! Ich bin es, Xell!“
    „Spar dir deinen Atem“, zischte Reptain. „Egal, was auch immer du glauben magst: Zwirrfinst will uns alle tot sehen. Da kannst du noch so viel betteln und flehen.“
    „Aber warum? Wir haben doch nichts schlimmes getan...“, rief Xell.
    „Sei still“, fauchte Reptain leise. Ich sagte doch bereits, dass ich nicht weiß, warum ihr hier seid. Wenn euch euer Leben lieb ist, hört ihr mir jetzt besser gut zu, solange wir noch die Zeit dazu haben.“
    „Wir sollen dir zuhören?“, wiederholte Raven skeptisch.
    „Wenn ihr weiterleben wollt, dann solltet ihr das“, antwortete Reptain knapp. „Also was ist?“
    Raven wusste nicht, was er davon hallten sollte, aber das Verhalten von Zwirrfinst war mehr als merkwürdig. Dieses eine mal, würde er auf Reptain hören. Was blieb ihm auch sonderlich anderes übrig? Er nickte ihm zu.
    „Brav. Ich bin mir sehr sicher, dass Zwirrfinst in wenigen Augenblicke seine Zobiris auf uns loslassen wird, um uns zu beseitigen.“
    Xell schniefte.
    „Zobiris greifen normalerweise mit ihren scharfen Klauen an. Wenn dem so ist und wenn sie vielleicht unsere Fesseln mit ihren Pranken treffen, bevor sie uns völlig ausgeweidet haben und wenn wir dann noch etwas Kraft haben, um die letzten Fesseln zu sprengen, dann können wir vielleicht entkommen...“
    „Soll das etwa ein Plan sein? Da sind meiner Meinung nach zu viele ’vielleichts’ drin...“, flüsterte Raven skeptisch.
    „Wenn du einen besseren Vorschlag hast, dann immer raus damit. Ich höre...“
    „Fangt an. Exekutiert sie“, befahl Zwirrfinst den Zobiris plötzlich.
    „ZWIRRFINST!“, brüllte Xell verzweifelt. Tränen glänzten in seinen Augen.


    Jeweils zwei der Zobiris bauten sich zähnebleckend vor Raven, Xell und Reptain auf. Für den kurzen Augenblick des trügerischen Friedens war Raven fast davon überzeugt, alles um ihn herum wäre nur ein schlechter Traum und er würde jeden Moment sicher und wohlbehalten in seinem warmen, weichen Bett in der Gilde aufwachen. Doch als sich plötzlich die scharfen Klauen seiner Peiniger blitzartig in sein Fleisch bohrten, war ihm klar, dass es die Realität und nicht einer seiner Alpträume war.
    Wie besessen hämmerten die zwei Zobiris vor ihm pausenlos mit ihren scharfen Pranken auf ihn ein. Die Schürfwunden brannten in seinem Leib wie Zunder. Wie lange konnte er dieser sadistischen Folter noch standhalten? Zwirrfinst’s höhnisches Gelächter tönte in seinem Kopf.


    >„Einfach nur das Bewusstsein zu verlieren und im Schlaf zu sterben, wäre am einfachsten...“<, schoss es ihm durch den Kopf, als die Schmerzen sich ins unendliche auszudehnen drohten. War dies etwas sein Ende? Sein Leben zog vor seinem inneren Auge vorbei. Xell, seine Freunde, seine Erlebnisse seit seiner Verwandlung, die Suche nach seiner Vergangenheit und seiner Erinnerungen, die Zahnräder der Zeit. Sollte er etwa so sterben? Nie wieder einen einsamen Sonnenauf- oder Untergang genießen können? Niemals mehr mit Xell auf eine Erkundung aufbrechen? Zeit in der Gilde verbringen? Traurig, wütend oder froh sein? Nein, er durfte nicht aufgeben. Niemals!
    „NIEMALS!“, brüllte Raven und sprengte die von den Krallen der Zobiris aufgerissenen Fesseln.
    Erschrocken sprangen seine beiden Peiniger zurück. Auch die anderen Zobiris, die Xell und Reptain bearbeitet hatten, stoppten ihre Folter und starrten ihn mit großen Augen an.
    Jetzt, wo das Blut wieder ungehindert durch seine Adern floss, spürte Raven die wahren Ausmaße seiner Folter. Er hatte sich zwar irgendwie von seinen Ketten befreien können, konnte sich aber kaum auf den Beinen halten. Er hatte keine Chance gegen die zahlenmäßige Übermacht. Und was war mit Xell?
    „Was zum?“, rief Zwirrfinst. „Tötet ihn!“
    Raven ging in Angriffsposition. Wenn er schon sterben müsste, dann würde er es seinen Gegnern zumindest nicht leicht machen.
    „...ven...renn...“, stammelte Xell, noch immer gefesselt und offenbar kurz vor dem totalen Kollaps.
    Ein Rascheln aus der Nähe, ließ die Zobiris kurz vor ihrem Angriff innehalten. Auch Reptain hatte seine Fesseln abgeworfen und war wieder auf freiem Fuß. Schwer angeschlagen hielt er seine Hand gegen eine Wunde an seinem Arm.
    „Steht hier nicht so blöd rum, wie die Ölgötzen. Tötet sie!“, brüllte Zwirrfinst und flog bereits mit weit ausgestreckten Armen in Richtung Reptain.
    „Augen zu!“, brüllte Reptain und machte eine jähe, undeutliche Bewegung.
    Noch bevor Raven begriff, was Reptain von ihm wollte, tauchte ein blendender Lichtblitz, dicht gefolgt von einer ohrenbetäubenden Schallwelle, die Halle in ein gleißend helles Weiß ein. Geblendet und benommen torkelte Raven durch den Raum und stieß dabei mit irgendjemand zusammen. War es Reptain, ein Zobiris oder vielleicht Zwirrfinst? Noch bevor er sich darüber Gedanken machen konnte, verlor er plötzlich den Boden unter den Füßen und wurde von einer unbekannten Macht unsanft weggezerrt. Einige Sekunden lang spürte er wieder, dass er sich wieder auf dem kalten Boden befand, bevor er erneut von der fremden Kraft entführt wurde.


    Der schrille Pfeifton in seinen Ohren nahm allmählich ab und die Umrisse wurden allmählich auch wieder klarer. Doch wo war er? Er spürte nicht mehr den Boden unter den Füßen, stattdessen aber den warmen Körper eines anderen.
    „Was zum...“
    Noch bevor er seinen Satz beenden konnte, drückte sich eine Hand kraftvoll auf seinen Mund.
    „Kein Mucks mehr!“, zischte die leise Stimme Reptain’s in sein Ohr.
    Die Bilder wurden zunehmend klarer. Raven befand sich offenbar noch immer in der Halle, in der sie vor wenigen Augenblicken noch gefoltert wurden. Reptain drückte ihn rücklings an seinen Körper und presste seine eigene Gestalt gegen eine der Säulen, an denen sie vor wenigen Sekunden noch gefesselt waren. Reptain’s Herz hämmerte so laut gegen seine Brust, das Raven jeden einzelnen Herzschlag deutlich hören konnte. Die arg mitgenommene Gestalt Xell’s lag regungslos zu Reptain’s Füßen. Xell’s ganzer Körper war mit hässlichen, rötlichen Striemen übersäht, doch sie atmete. Raven malte sich gerade aus, wie er wohl selbst nach der Folter aussehen würde, als Zwirrfinst’s zornige Stimme durch den Raum donnerte.
    „IDIOTEN! Warum habt ihr ihnen nicht ihre Ausrüstung abgenommen?! Steht nicht so dumm und untätig in der Gegen rum und sucht sie! Und wagt euch nicht mit leeren Händen zurück zu kommen, sonst ziehe ich euch die Haut bei lebendigen Leibe ab!“
    „J-Ja Meister“, erklang die zittrige Stimme eines Zobiris.
    „Sucht das gesamte Außengelände ab. Sie können noch nicht weit sein. Macht keinen weiteren Fehler und tötet jeden einzelnen. Ich werde inzwischen IHM Bericht erstatten.“
    Unzähliges Fußgetrappel hallte durch den Raum und wurde von Sekunde zu Sekunde schwächer. Reptain liste nach einigen Momenten der Stille vorsichtig hinter ihrem Versteck hervor.
    „Sie sind weg“, murmelte er leise.


    Raven riss sich abrupt von Reptain’s Griff los und landete, wenn auch etwas ungraziös, wieder auf dem Boden. Er blickte einige Sekunden verlegen in die gelben Augen seines Retters. Doch auch wenn Reptain ihn und Xell, aus welchen Gründen auch immer, gerade vor ihrem sicheren Ableben bewahrt hatte, würde er ihm nicht trauen. Reptain hatte nicht nur einmal bewiesen, dass man ihm nicht trauen durfte.
    „Danke...“, sagte Raven nüchtern ohne seinen starren Blick von Reptain zu lösen, als würde er erwarten, das sein Gegenüber sich jeden Moment auf ihn stürzen würde.
    Reptain schnaubte. Er schien das Misstrauen von Raven ihm gegenüber deutlich zu spüren.
    Reptain war es, der seinen Blick zuerst löste. Er blickte zu der regungslosen Gestalt Xell’s hinunter.
    „Hey, aufwachen. Zum Schlafen ist jetzt keine Zeit“, sagte er und rempelte Xell leicht mit seinem Fuß an.
    „Geht es vielleicht auch etwas sanfter?“, rief Raven empört. Es war ihm egal, ob Reptain sie gerade gerettet hatte und er ihm gegenüber keine Spur von Dankbarkeit zeigte.
    „Für Weinerlichkeiten haben wir jetzt keine Zeit“, antwortete Reptain und rempelte Xell noch einmal an.
    Xell zuckte leicht.
    „Urgh... Wie…Wo...?“, stammelte er und öffnete langsam die Augen.
    „Keine Zeit für Erklärungen. Hoch mit dir. Wir müssen hier schnell verschwinden“, antwortete Reptain.
    Xell rappelte sich langsam auf. Er zitterte am ganzen Leib und hatte starke Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten. Erst jetzt bemerkte er, wer zu ihm sprach.
    „Du!“, rief er und fiel entsetzt rücklings auf seinen Hintern.
    „Wenn ich du wäre, würde ich etwas leiser sprechen. Wir sind noch lange nicht in Sicherheit!“, zischte Reptain und warf einen raschen Blick zum Ausgang hinüber. „Kaffeepause beendet. Wenn ihr weiter leben wollt, solltet ihr jetzt mit mir kommen. Hier erwartet euch nur der Tod.“
    Raven und Xell warfen sich fragende Blicke zu. Was sollten sie tun? Wie weit konnten sie Reptain trauen? Doch in einem hatte Reptain auf jeden Fall recht: Hier durften sie nicht bleiben. Raven nickte seinem Freund bedenklich zu. Xell wirkte nicht sehr angetan von der Entscheidung seines Freundes aber erwiderte sein Nicken halbherzig.


    Reptain huschte leise an den Wänden entlang und zum Ausgang am Ende des Raumes hinüber. Fest gegen den Torrahmen gepresst lugte er vorsichtig hinaus. Wenige Augenblicke später machte Reptain mit seinem Kopf eine stumme aber eindeutige Geste, das die Luft rein ist und sie ihm folgen sollten. Raven tat es Reptain gleich und stahl sich leisen, aber schnellen Schrittes, dicht gefolgt von Xell, durch den Raum. Raven spürte, bei jedem seiner Schritte einen heftigen Schmerz in seinem Bein. Seine erst kürzlich geheilte Verletzung, hatte sich wieder geöffnet. Blut sickerte langsam durch den Schnitt und tropfte auf den Boden.
    „Bist du OK?“, fragte Xell besorgt, als er das schmerzerfüllte Gesicht seines Freundes sah.
    „Geht...“, antwortete Raven knapp und reihte sich hinter Reptain ein.
    Auch Reptain warf einen Blick auf die Wunde.
    „So können wir nicht weiter“, sagte er kopfschüttelnd, kramte in seiner Tasche und zückte einen Verband.
    Raven hatte ein unbehagliches Gefühl, als Reptain seine Verletzung mit den Bandagen versiegelte. Seit wann sorgte sich Reptain um das Wohl anderer?
    „Du hinterlässt verräterische Spuren...“, sagte Reptain, als er den Verband schloss.
    Raven schnaubte. Natürlich... Wie konnte er auch nur eine Sekunde daran denken, dass Reptain so etwas wie Gefühle hatte. Es war nur ein notwendiges Übel für ihn..."So fertig", sagte Reptain und schnürte die letzte Schlaufe zu.
    "Danke", sagte Raven tonlos.
    Reptain entgegnete Raven's Blick nicht weniger kühl. "Wie war noch dein Name? Xell?", fragte er plötzlich und warf Xell noch nie da gewesenen argwöhnischen Blick zu.
    "Ja", antwortete er. "Ein Problem damit?"
    Reptain's gelbe Augen ruhten noch einige Sekunden auf ihm. "Nein, schon in Ordnung."


    Die finsteren Korridore, durch die das vom Schicksal unfreiwillig zusammengewürfelte Trio sich klammheimlich stahl, waren wie ausgestorben. Raven’s Herz hämmerte unbarmherzig gegen seinen Körper und schien sich mit jedem weiteren noch so kleinen Geräusch ins Unermessliche zu steigern. Reptain warf ihm einige male strenge Blicke zu, als fürchtete er, das ihre Verfolger von dem rasenden Puls seines neuen Gefährten angelockt werden könnten.
    Raven warf einen raschen Blick hinter sich. Der gespenstische Gang lag ebenso ausgestorben und stockfinster hinter ihm, wie auch der Weg vor ihm. Ob Reptain wusste, wohin er sie führte? Für Raven sah ein Flur haargenau wie der nächste aus. Jedoch glaubte er, das sich langsam aber sicher der bestialische Gestank dieses Ortes etwas auflöste. Waren sie dem Ausgang vielleicht schon ganz nahe? Raven erhoffte sich gedanklich schon, endlich wieder saubere Luft zu atmen und die wärmenden Strahlen der Sonne auf seinem Körper zu spüren, als er mit der Gestalt Reptain’s zusammenstieß.
    „Pass doch auf du Tölpel“, fluchte er leise und spähte vorsichtig nach links Gang hinunter. Schlagartig zog er den Kopf wieder ein.
    „Was ist los?“, fragte Raven besorgt.
    „Da vorne scheint der Ausgang zu sein. Sie haben aber einen Wachposten stationiert. Wenn sie uns entdecken ist das Spiel vorbei“
    „Und wie geht’s jetzt weiter? Sollen wir warten? Vielleicht verschwindet die Wache irgendwann“, fragte Raven.
    „Unwahrscheinlich...“, antwortete Reptain. Sein Blick schweifte über den Boden. „Und viel zu gefährlich. Je länger wir uns hier aufhalten, umso wahrscheinlicher wird es, das man uns entdeckt. Spätestens dann, wenn die Wachablösung ist.“
    Reptain schien gefunden zu haben, was er gesucht hatte. Vorsichtig linste er die rechte Seite des T-förmigen Korridors entlang.
    „Haltet euch zurück. Den übernehme ich...“, sagte er knapp.
    Noch bevor Raven überhaupt fragen konnte, was er damit meinte, holte Reptain weit aus und warf einen Apfelgroßen Stein in die scheinbar endlose Leere des Korridors zu seiner rechten.
    Laut hallend prallte der Felsen auf den Boden und ließ ein markerschütterndes Echo durch den Raum tönen.
    „Bist du irre?!“, fauchte Xell.
    „Keinen Mucks mehr!“, zischte Reptain und presste sich gegen die Wand.
    Schnelle Schritte waren zu hören. Die Wache am Ausgang schien seinen Posten verlassen zu haben, um am Ende des Gangs nach dem Ursprung des Lärms zu suchen. Nicht nur die immer näher kommenden Schritte, auch Raven’s Herzschlag wurden von Sekunde zu Sekunde lauter. Plötzlich erschien die Gestalt eines Zobiris, welches nach der Quelle der Unruhen suchte. Es schien jedoch nicht zu bemerken, dass der Übeltäter sich nicht vor ihm, sondern zu seiner rechten befand. Noch bevor es einen weiteren Meter zurücklegen konnte, schnellte Reptain aus seinem Versteck hervor und schlug die unachtsame Wache mit einem einzigen gezielten Treffer ins Genick KO. Reptain fing sein Opfer bevor er auf den Boden einschlug ohne eine Miene zu verziehen auf, schleifte es unter den sichtlich beeindruckten Blicken Raven’s und Xell’s in eine dunkle Ecke und ließ es dort in seinem Elend zurück.


    Raven konnte in dem Moment nicht anders: Er empfand tiefe Bewunderung für Reptain und sein übermütiges aber kühnes Verhalten.
    „Los weiter!“, drängte Reptain ohne sein Opfer noch eines Blickes zu würdigen schritt er auf das weite Portal zu, hinter dem sie glaubten den Ausgang zu finden. Aber war das wirklich möglich? Warum war es dann draußen fast genau so finster wie drinnen? Oder war einfach nur mittlerweile die Nacht angebrochen?
    Reptain linste derweil, wie er es schon einige male zuvor getan hatte, vorsichtig an dem großen Portal vorbei in die denkbare Freiheit.
    „Die Luft ist rein. Los weiter“, sagte Reptain, winkte Raven und Xell herbei und schritt voran.
    Die Schritte Raven’s beschleunigten sich von Sekunde zu Sekunde. Er konnte es gar nicht mehr erwarten, endlich diesem schrecklichen Ort zu entkommen. Umso größer war jedoch der Schock, als er endlich das Portal hinter sich gelassen hatte. Sicher, sie waren soeben ihrem Gefängnis entkommen und hatten auch das Freie erreicht, wenn man es so nennen konnte.
    Raven und Xell blieben geschockt stehen.
    Wäre es nur der schier kilometerlange und scheinbar ewig tiefe Graben gewesen, der sich vor ihnen im Zickzackmuster durch das Land fraß, hätte es Raven vielleicht noch einigermaßen verkraftet. Doch dies schien im Vergleich zu der übrigen Umgebung schon fast belanglos zu sein.


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    Weiter gehts: Part 2

    13 Mal editiert, zuletzt von Eagle () aus folgendem Grund: Kleine, doch für den weiteren Verlauf der Geschichte sehr bedeutende Szene zwischen Reptain und Xell hinzugefügt. Update 16.05: Kapitel vervollständigt

  • Kapitel XIV.: In die Zukunft:


    Part 2: Bittere Wahrheit

    Die Landschaft, der Himmel, alles, was das Auge berührte war von einer quälenden Finsternis verschlungen. Die Szenerie glich eher einer abgestorbenen Mondlandschaft, als die des blauen Planeten: Die Umgebung machte den Eindruck, als hätte sich eine gigantische Feuerwalze in das Landesinnere gefressen und hätte auf ihrem zerstörerischen Unterfangen vor nichts und niemandem halt gemacht. Der kahle, aschebedeckte Boden schien schon lange den Willen, sattes grünes Gras hervorzubringen verloren zu haben. Die in ihrer Blüte so prächtigen und anmutigen Bäume, boten nun mit ihren kahlen leblosen Ästen, die sie trostlos gen Himmel streckten, einen traurigen und schaurigen Anblick zugleich. Vergeblich suchte man in dieser feindlichen Umgebung nach einer weiteren Spur von Leben. Raven’s starrer und angsterfüllter Blick wanderte stumm von dem kargen Ödland gen Himmel. Kein Gestirn, sondern gewaltige Felsbrocken schwebten, wie an unsichtbaren Schnüren befestigt, stocksteif in der Luft. Das Firmament war von einer scheinbar dicken Staubwolke bedeckt und ließ keinen einzigen Lichtstrahl von den entfernten Himmelskörpern durch die Atmosphäre. Wäre es dazu in der Lage gewesen, hätte das Land sicherlich vor Schmerz laut aufgeschrieen.


    „W-Was ist das hier?“, stammelte Xell, nicht weniger entsetzt als sein bester Freund neben ihm. „Soll das die Zukunft sein? Unsere Zukunft?“
    „Das kann nicht... Das ist nicht war...“, flüsterte Raven fassungslos. „Das muss ein Traum sein...“
    Reptain tauchte plötzlich neben Raven auf.
    „Was treibt ihr hier so lange? Wir müssen weiter!“
    Raven bewegte seinen Kopf langsam in Reptain’s Richtung, bis sich schließlich ihre Augen kreuzten. Raven schüttelte apathisch und mit hängendem Kiefer seinen Kopf.
    „Was ist das hier? Sag es mir! Ist das die Zukunft?“
    „Später! Wir müssen weiter. Hier stehen wir wie auf dem Präsentierteller. Los jetzt!“
    Weder Raven noch Xell machten Anstalten sich zu bewegen.
    „Wir haben dafür keine Zeit!“, drängte sie Reptain und blickte nervös in alle Richtungen.
    Xell’s Blick hing noch immer wie am Himmel festgeklebt, während Raven’s Augen ungläubig auf Reptain ruhten. Reptain stöhnte genervt auf.
    „Also gut... Ich erzähl euch unterwegs alles, was ihr wissen wollt, aber nur wenn ihr jetzt sofort mit mir mitkommt.“
    „Los Xell, folgen wir ihm...“, sagte Raven.
    Xell löste zum ersten Mal seit einer ganzen Minute seinen Blick vom Himmel und warf seinem Freund einen misstrauischen Blick zu.
    „Ich halte das für keine gute Idee...“ Er schielte argwöhnisch zu Reptain hinüber. „Ich traue ihm kein Stück über den Weg...“
    „Ich auch nicht aber...“, sagte Raven.
    „So, ihr traut mir also nicht? Nun gut, dann ist für mich die Sache eh gegessen...“, antwortete Reptain.
    „Wie meinst du das?“, fragte Raven.
    „Wenn zwischen uns kein gegenseitiges Vertrauen existiert, ist eine weitere Kooperation nicht möglich. Eure Hilfe käme mir zwar in dieser Stunde sehr entgegen, aber...“
    „Dir helfen?“, unterbrach ihn Xell barsch. „Träum weiter! Wir sollen einem steckbrieflich gesuchten Ganoven wie dir vertrauen? Das ich nicht lache...“
    „Achso ist das... Ich bin also der üble Schurke und Zwirrfinst das fromme Voltilamm, ja?“ fauchte Reptain sarkastisch.
    Xell blickte stumm zur Seite.
    „Nun dann bleibt mir nichts weiter zu sagen, als euch für eure weitere Zukunft viel Glück zu wünschen. Und...“
    Reptain stoppte und verzog plötzlich seine spöttische Miene zu einem noch nie da gewesenen besorgten Blick.
    „...Und was?“, fragte Xell argwöhnisch.
    „Lasst euch nicht fangen“, beendete Reptain seinen Satz, kehrte ihnen den Rücken zu und schritt unter den hängenden Blicken Raven’s und Xell’s von dannen.


    „Der hat echt Nerven...“, schnaubte Xell und warf der entfernten Gestalt Reptain’s boshafte Blicke zu. „Mit ihm zusammenarbeiten. Soweit kommt es noch.“
    „Du kannst von ihm denken was du willst, aber in einer Sache hat er sicher recht: Wir sollten schleunigst von hier verschwinden.“, antwortete Raven und warf einen nervösen Blick zu dem hinter ihrem Rücken liegenden Gefängnisses, aus dem sie vor wenigen Minuten ausgebrochen waren.
    „Aber wo sollen wir hin? Wir wissen doch nicht einmal, wo wir hier sind...“
    „Wir haben im Grunde genommen nur eine Wahl: Wir müssen Reptain hinterher...“, sagte Raven trocken.
    „Bist du übergeschnappt“, rief Xell empört. „Er ist...“
    „Ich weiß“, antwortete Raven kopfschüttelnd. „Aber haben wir eine andere Wahl?“
    Raven blickte in die Richtung, in die Reptain verschwand. Er war mittlerweile nicht mehr zu sehen.
    „Ich weiß wirklich nicht, was ich davon halten soll Raven. Aber ich vertraue dir. Gehen wir ihm nach“, sagte Xell und ging voraus.
    „Ich auch nicht, aber haben wir eine andere Wahl? Reptain ist vielleicht unsere einzige Chance zurück zu kommen. Er hat es einmal geschafft, also wird er sicherlich irgendwie wieder zurück reisen können“, sagte Raven und folgte, unter den stechenden Schmerzen seiner Verletzung, seinem Freund.


    Stillschweigend wanderten Raven und Xell über das verkümmerte, mit gigantischen Felsbrocken übersäte Ödland, welches wohl ihre Zukunft darstellen sollte. Sie konnten es sich nicht wirklich erklären warum, jedoch glich die Landschaft jener, die Zwirrfinst ihnen vor gar nicht all zu langer Zeit, als ’Ende der Zeit’ beschrieben hatte. Doch wie konnte das sein? Hatte Zwirrfinst ihnen nicht gesagt, das es nur durch den Diebstahl der Zahnräder der Zeit soweit kommen könnte und hatten sie nicht eben dies verhindert? Doch war es nicht Zwirrfinst, welcher sie plötzlich, warum auch immer, unter allen Umständen los werden wollte? Erst hatte er sie und ihre Welt einige male vor dem sicheren Untergang bewahrt und auf einmal soll er abgrundtief böse sein? Wie passt das zusammen? Raven glaubte, sein Kopf müsste zerspringen, als plötzlich zwei grelle Stimme ihn schlagartig aus seinen Gedanken rissen.
    „Was war das?“, flüsterte er erschrocken und suchte Xell’s Blick.
    „Hier rüber“, rief Xell leise und winkte seinen Freund hinter einen großen, kahlen Felsbrocken.
    Vorsichtig lugten Raven und Xell hinter ihrem Versteck hervor. Zwei Zobiris standen mit den Rücken zu ihnen gelangweilt in der Gegend. Raven erkannte sofort einen als einen seiner beiden Peinigern aus der Folterkammer wieder. Das Blut staute sich in seinem Kopf.
    „... ja, Zwirrfinst kriecht gerade vor Dialga zu kreuze. Bis dahin können wir uns einen faulen Lenz machen.“ Er lehnte sich lässig gegen einen abgestorbenen Baum neben ihm.
    Der andere lachte gehässig.
    „Letztendlich geht es mit Zwirrfinst heim, wenn die drei entkommen können. Lehnen wir einfach zurück und genießen die Show.“
    „Wie recht du doch hast. Außerdem brauchen wir uns um die zwei ohnehin keine Gedanken machen. Ich habe gehört, das sie eigentlich aus der Vergangenheit kommen.“
    „Ach wirklich?“
    „Ja. Aus der schönen, heilen Welt.“ Er betonte die letzten Worte besonders stark und feixte hämisch.
    „Die liegen sicherlich schon beide irgendwo in einer Ecke und sind kurz vor dem Abnippeln,“ meinte der andere mit einer widerlich belanglosen Stimme.
    „Da kannst du Gift drauf nehmen. Dem einen habe ich ordentlich zugesetzt, sage ich dir.“ Er leckte sich sadistisch seine Finger.
    „Blut“. Feixte er gehässig und schnalzte mit der Zunge.
    Raven’s Puls begann zu rasen. Seine Wut stieg ins Unermessliche und drohte schon fast, seinen Körper in zwei Stücke zu zerreisen. Xell, der offenbar den stummen aber heftigen Konflikt seines Freundes bemerkte, legte ihm seine Hand auf die Schultern und schüttelte mahnend seinen Kopf.
    „... und der andere erst“, ertönte die Stimme des anderen Zobiris. „Hat die ganze Zeit über geflennt wie ein Baby. Würde mich nicht wundern, wenn der sich schon längst von der nächst besten Klippe gestürzt hat.“
    Xell hatte neben Raven zu zittern begonnen. Doch es war nicht sein angsterfülltes Zittern, da war sich Raven sicher.
    „Zwirrfinst, ich bin es, Xell. Bitte lass mich leben, bitte...“, Ein Zobiris äffte Xell’s Stimme auf eine schrecklich unverwechselbare und schrecklich Art und Weise nach, das Raven’s Haare zu berge standen.
    „Wir sind doch Freunde. Bitte Zwirrfinst, bitte“
    Die beiden kringelten sich vor lachen.
    „Was für ein armseliger Jammerlappen“, japste der andere und presste sich die Hand vor Seitenstechen an seine Taille.
    „Das kannst du laut sagen. Wenn er sich noch nicht von der Klippe gestürzt hat, dann...“
    Eine gewaltige Explosion ließ die Erde zittern. Nicht nur Raven sondern auch Xell waren plötzlich und ohne zu wissen was der andere tat, gleichzeitig aus ihrem Versteck gesprungen und hatten ihrer Wut freie Bahn gelassen.
    Der von ihren Attacken aufgewirbelte Staub legte sich und enthüllte den Ausmaß ihres unbändigen Zorns. Der Baum, an den sich das Zobiris gelehnt hatte welches sich über Xell lustig gemacht hatte, hatte eben dieses unter seinem morschen aber massiven Stamm begraben. Das andere, welches sich vor kurzem noch an Raven’s Leid sattgesehen hatte, lag mit weit voneinander ausgestreckten Armen und Beinen regungslos in einem kleinen Krater.
    Raven starrte mit blankem Hass auf ihre beiden bewusstlosen Peiniger, die sie am liebsten tot hätten gesehen. Xell schien plötzlich von seiner Tat völlig aus der Fassung zu sein.
    „Was haben wir nur getan? Das hat man sicherlich kilometerweit gehört...“
    „Das hat sich aber gelohnt“, antwortete Raven zähneknirschend und versenkte sein gesundes Bein mit aller Härte in der Magengegend des in dem Krater liegenden, bewusstlosen Zobiris.
    „Wir müssen hier weg. Los komm!“, sagte Xell und blickte nervös in alle Richtungen.


    Schnellen Schrittes eilten Raven und Xell von dem Ort des Geschehens fort. Reptain hatte sicherlich bereits einen gewaltigen Vorsprung, den es einzuholen galt, wollten sie jemals wieder in ihre Zeit zurückkehren. Über Stunden hinaus, wanderten sie über das verkümmerte Ödland, jedoch nicht ohne alle paar Minuten lang einen nervösen Blick über die Schultern zu werfen.
    Raven’s verletztes Bein schmerzte bei jedem seiner Schritte.. Seine Wunde schien sich nicht schließen zu wollen und färbte seinen Verband von Minute zu Minute immer mehr in einer blutroten Farbe. Erbittert, aber stumm nahm er seinen stillen Kampf hin. Sie durften wegen ihm nicht noch mehr Zeit verlieren. Vielleicht war Reptain schon längst über alle Berge oder sogar bereits sogar wieder zurück in ihrer Zeit. Es war Xell’s charakteristisch optimistische Art, selbst in diesen schweren Stunden die Hoffnung nicht aufzugeben, aus denen Raven neuen Mut schöpfte. Dieser Mut und die Spuren Reptain’s auf dem staubigen Boden, waren es, die Raven vorantrieben. Mit dieser, wenn auch nur winzigen Hoffnung in Gedanken, ließen sie die scheinbar endlose Steppe endlich hinter sich und näherten sich langsam aber sicher einem eindrucksvollen, aber aus der Ferne nicht weniger traurig anzusehenden Berg. Sie hatten inzwischen schon einen weiten Weg zurück gelegt, weder die Umgebung, noch die Tatsache, bisher keine einzige andere Seele zu treffen, hatte sich verändert. Wüst und leer, nicht viel anders als die weite Steppe hinter ihnen, gab sich auch dieser Landstrich. Von einem wärmenden und hoffnungsmachenden Sonnenstrahl von dem verschleierten Himmel herab, konnte man auch nur träumen.
    Die Augen stets fest auf Reptain’s Spur am Boden gerichtet, folgten Raven und Xell seiner Fährte, bis seine Fußabdrücke sie schließlich zu einem breiten Eingang des gigantischen Kolosses in das Bergesinnere führte.
    „Seine Spur führt in diese Höhle“, meinte Xell und musterte noch einmal die Reptain’s verwischte Spur. „Brauchst du eine Pause oder sollen wir gleich weiter?“
    „Weiter!“, antwortete Raven wie aus der Pistole geschossen und stierte bereits in das Innere des Berges.
    „Sicher? Du machst nicht gerade den fittesten Eindruck...“, sagte Xell und warf einen besorgten Blick auf die Verletzung seines Freundes.
    Raven schüttelte emsig seinen Kopf.
    „Ich bin in Ordnung. Mach dir um mich keine Gedanken. Wir müssen Reptain einholen. Koste es was es wolle.“ Raven stoppte einige Sekunden. „...Selbst wenn du mich irgendwann zurücklassen musst.“
    „Wie kannst du nur so etwas sagen?“, rief entrüstet. „Glaubst du, ich lasse dich hier einfach zurück?“
    Zum ersten Mal seit Stunden huschte ein schwaches aber deutliches Anzeichen eines Lächeln über Raven’s Gesicht.
    „Nein, natürlich nicht“, antwortete er.
    „Gut. Wollen wir dann? Viel schlimmer als hier draußen, kann es in der Höhle auch nicht sein“, sagte Xell und warf noch einmal der toten Landschaft hinter ihm einen traurigen Blick zu.


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