*Pflicht und Ehre*

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  • Juhu, da bin ich wieder.


    Weißt du eigentlich, dass ich einige Horror-Bücher in meinem Regal stehen habe? Nein? Naja, jetzt schon. Dementsprechend habe ich den Stimmungsumschwung sofort gerochen und mit offenen Armen empfangen. Schließlich bekommt man im BB nicht sehr viel von diesem Genre geboten. Beginnend mit einem kurzen Alptraum von Sheinux hast du quasi keine Überleitung schaffen müssen. Schließlich ist nach einem solchen die Gefühlslage immer in einen ängstlichem und verletzbarem Zustand. Wenn dann auch noch alles still und dunkel ist und plötzlich etwas an deiner Tür vorbeihuscht, sind die Nerven schon in Nirvana. Bereits zu diesem Zeitpunkt habe ich dieses Kapitel gänzlich für gut befunden. Die düstere und beängstigende Atmosphäre geift wunderbar und alle Personen (Sheinux eingeschlossen) handeln sowohl ihrem Charakter entsprechend als auch allgemein sehr authentisch. Sheinux hat wohl bedingt durch seinen Alptraum ein wenig mehr Schiss, als gewöhnlich. Stan gibt den Neugierigen, aber auch den Zurückhaltenden - passt. Und Eagle versucht sich so souverän wie möglich zu geben, was ihm ab kaum gelingt, weshalb er seine Angst mit Wut übermalt - perfekt.


    Bei Simons Auftritt kam dann (ebenfalls typisch für das Horror-Genre) ein kurzes Aufatmen, bevor dann mit einer absolut unerwarteten und weitaus beängstigenderen Botschaft die Stimmung wieder kippt. Du schreibt es wirklich romanreif, ganz ehrlich. Wie du Nervosität und Angst hervorhebst und mit den Gedanken der Personen spielst, ist einfach klasse. Obwohl du hier relativ wenig Handlung auf viel Text gestreckt hast, ist mir nie langweilig geworden. Im Gegenteil, rückblicknd kam mir das Kapitel sogar kürzer vor, als die Textmasse tatsächlich ist.


    Ein wenig schade fand ich es allerdings schon, dass es am Ende nur´n Scherz war. Doch angesichts des Cliffhangers ist das schnell vergessen. Jeder versteht jetzt also Sheinux... oookaaaayyyyy. Warten wir mal ab, was du dir da wieder ausgedacht hast. Ich fand das Kapitel in erster Linie durch die fantastische Grusel-Atmosphäre sehr gelungen. Zudem gibt´s weitere interessante Fragen und auch einige neue Charaktere, die du evtl. noch tiefer einbauen könntest. Ebenfalls abwarten.


    LG Pheno

  • Part 2: Die Zurückgebliebenen


    Bevor ich nun mit meiner Erzählung fortfahre - und, oh ja, ich kann mir denken, wie sehr ihr der Fortsetzung entgegenfiebert - möchte ich an dieser Stelle die Begebenheiten der letzten Stunde noch einmal kurz rekapitulieren: Also, wir, das heißt Stan, Eagle und ich, waren in die Magnetbahn eingestiegen, die uns ursprünglich nach Johto hätte bringen sollen. Indessen hatte sich der Zug, während wir alle dem Tiefschlaf verfallen waren, geleert. Selbst das Personal hatte die Arbeit niedergelegt und war unauffindbar. Dieser Auffassung war zumindest unsere neuste Bekanntschaft, nämlich Simon Freeman, ein verkrampfter, schreckhafter Teenager, dessen Freunde ihn hatten sitzen lassen, während er, wie wir, ein Nickerchen gehalten hatte. In dieser Zwischenzeit war die Nacht eingebrochen und das Wetter hatte umgeschlagen - Wind und Regen hatten eingesetzt, die der sonst so lautlosen, nun sporadisch ächzenden und ratternden Magnetbahn scheinbar schwer zu schaffen machten. Zu unserer kleinen Runde hatten sich schließlich noch zwei weitere Mitleidensgenossen eingefunden: Claire Thompson und Kevin Carwell. Letzterer präsentierte sich uns als Spaßvogel mit einem äußerst fragwürdigen Sinn für Humor: Auf sein Konto ging ein bösartiger Streich, auf dessen Folge ich ungewollt unser Abteil in seine Bestandteile zerlegt hatte. Bei uns allen hatte Kevins kleiner Horrortrip einen bleibenden Eindruck hinterlassen, der nur von dem Umstand überboten wurde, dass meine lockere Zunge plötzlich für jedes menschliches Ohr zu verstehen war. Nicht aber nur die meine: Warum auch immer - Stans einzigartige Gabe, die Pokémon-Sprache zu verstehen, hatte sich auf sämtliche der verbliebenen Menschen im Zug übertragen. Zumindest diesbezüglich war die Begeisterung bei den Menschen groß. Nachdem Simon einen neuen Ohnmachtsanfall vorgetäuscht hatte, als plötzlich jeder - mit Ausnahme von Stan - eine begeisterte Unterhaltung mit seinen Pokémon-Freunden geführt hatte - besannen wir alle uns wieder auf die Komplexität der Lage, denn niemand besaß natürlich eine Antwort auf die zwei wichtigsten Fragen im Moment. Zum einen, wieso sich Stans linguistische Fähigkeiten auf sämtliche Menschen im Zug übertragen hatten, und zum anderen, ob es des Zufalls nicht zu viel war, dass sämtliche Anwesenden wegen derselben unglaubwürdig klingenden Geschichte mit uns zusammen schmachteten. Zu einem weiteren fehlenden Teil dieses sehr komplexen Puzzles kam dann noch das rätselhafte Verschwinden von Muntier hinzu, ein Pokémon, das Simon auf seiner Reise begleitete. Wiederholt stellte er jeden einzelnen seiner Pokébälle auf den Kopf - ergebnislos.


    Nachdem es alle Beteiligten endgültig leid waren, im Wind und Regen zu stehen und dort wilde Spekulationen anzustellen, machten wir uns gemeinsam durch den dunklen, ausgestorbenen Korridor auf. Claire führte uns mit ihrer Taschenlampe an. Keine Geräusche kamen aus den links und rechts liegenden Abteilen, während wir uns im Gänsemarsch voran bewegten. Nur unsere eigenen, mehrfach verstärkten Schritte, der gelegentlich verräterisch aufknarrende rote Teppichboden, das Ächzen des Zuggetriebes und der uns verfolgende Wind des zerbrochenen Fensters begleitete uns auf unserm Weg an den verlassenen Kabinen vorbei. Auf Stans Arm vermochte ich gerade so durch die getönten Sichtfenster zu schauen, so wie es Simon und Kevin zuvor bei uns getan hatten. Im Inneren war es beinahe stockfinster ... und menschenleer.
    Der eisige Luftzug im Genick wurde zunehmend schwächer. Claire führte uns zu einer breiten Schiebetür, die zwei Waggons miteinander verband. Unter normalen Umständen hätte man das Öffnen kaum wahrgenommen. So aber hallte das Krachende Echo wie das Donnern eines Blitzgewitters in unseren Ohren, dass man glauben musste, die Toten konnten von dem Lärm geweckt werden. Stan, Eagle und auch ich, die darauf nicht vorbereitet waren, zuckten instinktiv zusammen. Am schlimmsten aber traf es Simon, der nach einer erneuten Panikattacke gar nicht mehr vom Korridorboden aufstehen wollte. Den restlichen Weg setzten wir mit den fest um Stans Hüfte geschlungenen, zitternden Arme von Simon fort, bis wir endlich das von Claire angesteuerte Ziel erreichten: Mit einem lauten Rums schlug auch die nächste Waggontür (Simon erdrückte beinahe Stan und somit auch mich) auf. Kaum hatte Claire die Schwelle zum nächsten Waggon übertreten, da schloss uns eine wohlbehagliche Wärme einladend in die Arme, während ein Regenbogen unterschiedlichster Gerüche zart unsere Sinne streichelte. Einer nach dem anderen drängte sich gierig durch die Tür - selbst Simon hatte es plötzlich sehr eilig, sich an Stan und mir vorbeizumogeln. Wir bildeten somit das Schlusslicht und betraten als letztes den ersten Abschnitt des Speisewagens. Der schlichte rote Teppichboden zu unseren Füßen nahm bereits nach dem ersten Schritt ein extravagantes, weinfarbenes Schnörkelmuster an. Die pompösen Goldlampen, die wie breite Äste von den Decken hingen, spendeten nur wenig Licht, in etwa die gleiche Menge wie in unserem Abteil vor dem Unfall. Die dekorativen Tischlampen im Schirmmotiv, von denen es auf jedem links und rechts befindenden Viermanntisch eine gab, waren außer Betrieb. Jeder Tisch war reich mit Silberbesteck, stilvoll hochgewachsenen, verzierten Trinkgläsern wie auch mit Aufsehen erregend gefalteten Servierten bedeckt. Speisen und Getränke waren aber nicht zu sehen; so auch keine Spuren eines erst kürzlichen Gebrauchs des Gedecks. Der Lärm der geöffneten Tür hatte das Interesse der dort Anwesenden geweckt. Vier weitere Menschen befanden sich bei unserer Ankunft im Raum. Vier, wie sie unterschiedlicher gar nicht sein konnten und von denen uns drei neugierig anstarrten. Der älteste von ihnen, ein hochgewachsener, schmaler Mann mittleren Alters, gekleidet in einer grauen Nadelstreifenhose und dunklem Jackett, und gepflegter Kurzhaarfrisur, stellte sich jedem einzelnen von uns - mich ausgeschlossen - förmlich als Lars Harvson, einundvierzig Jahre alt, Immobilienmakler, vor , wobei er zurückhaltend und sehr angespannt lächelte. In der Altershierarchie folgte Lindsay Fletcher, eine junge Frau mit wallenden, roten Haaren, die mit ihrem eher billig wirkenden Modeschmuck an mehreren Fingern und mit schlichter Straßenkleidung am Leib keinen so überspitzten Eindruck wie Lars zuvor erweckte. Zwar möchte ich nicht unbedingt behaupten, dass Lindsay ein Geheimnis um ihr Alter machte, doch hielt sie es nicht für notwendig, uns es mitzuteilen. Nichtsdestotrotz schätzte ich sie auf zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Jahre alt. Sie hatte mit ihren beiden am selben Tisch sitzenden Artgenossen alle Hände voll zu tun, weshalb sie ihre Vorstellung kurz hielt. Ihr unmittelbar gegenüber saß eine verstört wirkende Teenagerin. Dabei handelte es sich um Sharleen, die Claire bereits beiläufig erwähnt hatte. Ihr Gesicht, das sie in den Händen vergrub, hielt sie verborgen. Unzweifelhaft hatte sie noch schwer mit Kevins bösem Streich zu kämpfen, dem sie zuvor zum Opfer gefallen war. Ein feuchtes Hicksen - mehr brachte sie als Gruß nicht heraus. Zu guter Letzt: das Nesthäkchen unserer seltsamen Runde. Kelly war gerade so alt, dass sie ihr Alter halbwegs selbstsicher an einer Hand abzählen konnte, nämlich fünf. Verunsichert und nicht weniger ängstlich als es Simon war, saß sie auf Lindsays Schoß, wo sie uns ein mehr als flüchtiges, gehemmtes Lächeln schenkte. Von ihren Eltern, mit denen sie gemeinsam reiste, fehlte jede Spur.


    Jeder von uns erzählte seine eigene Geschichte, manch eine war länger, manch eine dagegen kürzer, manch eine turbulenter, manch eine geruhsamer. Viel Unterschiedliches hatten ein jeder von uns erlebt. Dinge, die uns unser ganzes Leben lang geprägt hatten und zu unterschiedlichen Persönlichkeiten entwickelt hatten. Eines aber verband uns an diesem Punkt unserer völlig unterschiedlichen Geschichten: Stan, Eagle, Simon, Kevin, Claire, Lars, Lindsay, Sharleen, Kelly und ich - wir alle waren hier, und niemand wusste, warum. Wir waren die Zurückgebliebenen.

  • Part 3: Intermezzo der Gefühle


    Da waren wir nun, wir zehn. Versuchsobjekte, gefangen auf einem morschen Kahn, ziellos treibend auf den endlosen, unberechenbaren Wassermassen des Meers der Ungewissheit, unablässig von den unendlichen Sternen auf Schritt und Tritt beobachtet, die hinter dem Schleier des dunklen, wolkenverhangenen Himmels auf uns niederstarrten, nur darauf wartend, dass wir begannen, uns gegenseitig an die Gurgel zu gehen. Zugegeben: Auch wenn ich Simons Paranoia nur reichlich wenig abgewinnen konnte, hatte seine sehr verworrene Auffassung unserer Lage auf manch anderen von uns einen nachdenklichen Effekt. Der Großteil aber von uns, zu dem auch ich zählte, besaß nicht nur einen völlig anderen Standpunkt, sondern hieß auch Simons übertriebene Panikmache alles andere als gut. In einem Punkt aber behielt Simon mit seiner düsteren Prophezeiung recht: Streit war vorprogrammiert, denn so verschieden wir alle im Geiste waren, so unterschiedlich waren auch unsere Ansichten; auch, was als nächstes zu tun war. Nach minutenlangem Hickhack schließlich wurden die größten Krawallmacher kurzerhand dazu verpflichtet, mit Lars den Zugführer aufzusuchen. Ohne Eagle und Kevin, die sich die meiste Zeit über lautstark angegiftet hatten, kehrte dann endlich wieder Ruhe ein. Ein trügerischer Frieden, wie wir alle sicherlich wussten. Und doch profitierten wir vom sinkenden Blutdruck, der uns nicht nur erstmalig Gelegenheit für ein halbwegs objektives Gespräch verschaffte, sondern auch ein linderndes Balsam auf Kellys verwundbarer Seele war. Von uns allen hatte das kleine Mädchen im zarten Alter von fünf, die sich wahrscheinlich noch gar nicht richtig über den Ernst der Lage im Klaren war, das denkbar schwerste Los gezogen. Wenn auch nur etwas einen Anlass zur Sorge gab, dann, dass elterliche Liebe und Fürsorge es niemals geschehen lassen würden, dass man die eigene Tochter zurücklassen würde.
    „Mulder und Scully haben recht! Die Wahrheit ist irgendwo da draußen!“
    „Junge, ich habe dir schon einmal gesagt, dass Mulder und Scully nur Schauspieler sind und Akte X nur eine Serie ist!“ Lindsays Nüstern blähten sich feindselig. Sie war es leid, auch nur eine weitere Sekunde über die abenteuerlichen Phantasien aus Simons krankem Hirn zu diskutieren. Ihre Abneigung wurde nur verstärkt, dass Kelly, für die Lindsay notgedrungen in die Rolle der Ersatzmutter geschlüpft war, sich während Simons Gehirnkapriolen ängstlich näher und näher an den Leib ihrer einzigen Bezugsperson gedrückt hatte.
    „Für mich ist der Fall jedenfalls klar“, erwiderte Simon trotzig. „Außerirdische haben uns im Schlaf entführt. Das alles hier“, sein Blick machte eine kurze Runde, bevor er wieder am Ausgangspunkt landete, „ist nur eine holografische Projektion einer uns vertrauten Umgebung.“ Hinter seiner dicken Brille verengten sich seine Augen. Verschwörerisch senkte er seine Stimme. „In Wirklichkeit ist das ein Labor. Sie experimentieren mit uns, setzen uns unter Drogen. Abnormale Schleimmonster mit langen Tentakelfangarmen, riesigen Glubschaugen, ...“
    „Geh weg ...! Mama ...!“
    Auf Kommando begann Kelly erneut leise zu wimmern. Ihren Kopf hatte sie schon eine ganze Weile nicht mehr von Lindsays Schulter lösen können.
    Ihre zornigen Augen verrieten es: Wäre Lindsay nicht zu sehr damit beschäftigt gewesen, Kelly zu trösten und ihr mitfühlend den Kopf zu streicheln, hätte sie Simon in diesem Moment wohl eine gescheuert.
    „Kannst du endlich mal dein dummes Maul halten?!“, fauchte Claire.
    Lindsay würgte ein gezwungenes, doch dankbares Lächeln für Claire hervor. Entrüstet rutschte Simons dicker Hintern auf seinen Stuhl zurück. Viel zu leise Worte murmelte er. Abschließend hob er dann aber noch einmal die Stimme, nicht aber mehr ganz so verwegen wie zuvor.
    „Jedenfalls stimmt etwas nicht.“
    „Natürlich stimmt etwas nicht - nämlich in deinem Kopf. Vampirzombies vom Mars ...“ Claire schüttelte abfällig ihren Kopf.
    „Vampirmutanten“, korrigierte Simon, „und von Rigel 7, nicht vom Mars.“
    Claire und Lindsay funkelten beide böse in Simons Richtung. Ihrer geballten Kraft sah sich Simon nicht gewachsen. Entmutigt streckte er die Waffen.
    „Aber was ist dann sonst hier los?“ Nur die eher dürftige Rückendeckung von Sharleen hatte Simon bislang zum Weitermachen ermutigt. Mit einer noch so unglaubwürdigen Antwort tappte es sich besser durchs Dunkel. Daher war sie es, die an Simons Lippen wie keine andere hing. „Irgendetwas ist faul. Warum sonst ... ich meine ...“ Schon seit geraumer Zeit besaß Sharleen ein nicht übersehbares Interesse sowohl an mir als auch an Stan. Und natürlich ahnte ich, woher das rührte.
    „Du hast erwähnt, du konntest schon immer Pokémon verstehen?“ Neugierig wandte sich auch Simon nun mir und meinem Freund zu. Unruhig wie er immer war, wenn seine Gabe thematisiert wurde, wippte er mit mir auf dem Schoß leicht auf und ab.
    „Nicht immer ...“, nuschelte Stan. Wir beide tauschten derweil flüchtige Blicke untereinander aus. „Seit etwa einer Woche.“
    „Wie kam es dazu?“, hakte Simon nach.
    Stan schüttelte nur den Kopf. „Ich will nicht darüber reden.“
    „Warum?“
    „Eben darum.“
    „Ich wette, du hattest außerirdischen Kontakt, stimmts? Haben sie dich aufgeschnitten und dir Pokémon-DNA eingepflanzt? Und jetzt haben sie uns deine eingesetzt oder die von Sheinux hier. Oder bist du vielleicht sogar einer von ihnen, hm?“
    „Und wer bist du? Frankensteins Braut?“, knurrte Claire angriffslustig. „Vorhin hast du dir bei jeder Kleinigkeit noch fast in die Hose gemacht, und jetzt spinnst du hier einen Nonsens zusammen.“
    „Jetzt weiß ich ja, dass es genügend Ersatzopfer gibt, die statt meiner seziert werden können.“
    „Schluss jetzt! Alle!“


    Das von Lindsay so rabiat gesprochene Machtwort quoll nur so von Nachdruck über, dass jedweder Protest schon im Keim einfach nur weggespült wurde. Die eisige Welle ließ die Überlebenden geknickt schweigend zurück. Zum ersten Mal seit unserer Zusammenkunft kehrte eine befremdende Stille ein. Noch surrten die leeren Wassergläser auf den Tischen synchron zu den Vibrationen des Zugs, und Kelly klagte weiterhin leise. Ansonsten war es ruhig.
    Die meiste Zeit verbrachten wir damit, bloß nicht Blickkontakt mit einem anderen herzustellen. Wir warteten einfach nur; warten, bis ein schwaches Licht durch das Fenster der Waggontür die Rückkehr von Lars, Kevin und Eagle signalisierte, die uns immer wieder magnetisch anzog. Beinahe fünfzehn Minuten waren seit ihrem Aufbruch in die unheimliche Fremde verstrichen. Sie mussten längst die Führerkabine erreicht haben ... es sei denn, ihnen war etwas zugestoßen. Das Verlangen, das hinter Simons dicken Brillengläsern die Waggontür durchbohrte, erweckte fast den Eindruck, als wartete Simon nur darauf, dass Eagle und die anderen mit einer schlechten Nachricht zurückkehrten, nur um uns dann großspurig unter die Nase zu reiben, wie recht er doch mit allem hätte.
    Bald darauf spaltete sich unser Zusammensein auf. Claire und Sharleen fingen an einem benachbarten Tisch eine leise Unterhaltung an. Stan und ich wollten ebenfalls etwas Abstand gewinnen, machten allerdings die Rechnung ohne Simon, der an keinem der beiden Frauentische sonderlich willkommen war. Stans Gastfreundschaftlichkeit wurde nur von seiner Nachsicht übertroffen, die er während der kurz darauf entbrannten Diskussion offenlegte. Dasselbe Lied wie zuvor - dieselben Noten, derselbe Text.
    „Okay! Wir werden alle sterben! Das ist es doch, was du hören willst, oder?“ Ich hatte dem herrschsüchtigen Redeführer mitten im Satz das Wort abgeschnitten und zum ersten Mal, seit ich mit Stan den Raum betreten hatte, das Wort gewaltsam an mich gerissen. Der Widerhall meiner Stimme klang merkwürdig fremd in meinen Ohren, irgendwie verfälscht. Vielleicht erregte ich auch gerade aus diesem Grund die Aufmerksamkeit der beiden anderen Tische.
    „N-nicht direkt, nein“, murmelte Simon nun wieder ziemlich kleinlaut.
    Auf den Hinterbeinen stemmte ich mich von Stans bebendem Schoß ab und legte die Vorderbeine zur Stabilisierung auf die Tischkante, damit ich Simon halbwegs in die Augen schauen konnte. Er erwiderte meinen angriffslustigen Blick nicht. „Du magst uns vielleicht brauchen, aber wir dich nicht, klar? Du willst unsere Rückendeckung? Dann mach dich gefälligst nützlich oder reiß dich zumindest zusammen! Ansonsten wird sich zeigen, wer hier als erstes von deinen Außerirdischen unters Messer kommt.“
    Totenstille. Selbst Kelly hatte das gedämpfte Klagelied beendet und, wenn es mich nicht täuschte, sah auch sie mich wie alle anderen im Raum an. Noch immer brannte meine Stirn so heiß, dass mir sogar die Ohren glühten. Auf dem schlichten, weißen Tischtuch konnte ich Speicheltröpfchen erkennen, die wie schäumendes Wasser nach für nach leise in sich zusammenfielen. Als ich realisierte, wie sehr Stan plötzlich zitterte, nahm ich wieder meinen Platz auf seinem Schoß ein.
    Stans Gesicht verharrte in einem Schockzustand. Zweifelsohne suchte er entschuldigende Worte, die er aber nicht fand, oder nicht den Mut besaß, sie aufzubringen. Doch auch allen anderen hatte es die Sprache verschlagen.
    „Ist doch wahr ...“, murrte ich, vermied es allerdings, Simon noch eine Sekunde länger anzusehen. Stattdessen servierte ich ihm das einzige, was es hier essbares gab, nämlich kalte Schulter.
    Gebannt wartete man. Darauf, dass irgendjemand etwas sagte. Sich Stan stellvertretend entschuldigte oder seine ganz eigene Meinung kundtat; Claire, Sharleen oder Lindsay mit in allen Punkten beipflichteten oder aber nur verständnislos den Kopf schüttelten; Simon schlagfertig konterte der aber einsichtig nickte; Kelly, die ihr Klagelied auf neues anstimmte; vielleicht aber auch auf mich, dass ich noch einen draufsetzte. Nichts aber von alledem trat ein. Stattdessen ... ein surrendes Geräusch von der Decke. Wir hoben die Köpfe, die einen schneller, die anderen langsamer. Die Deckenbeleuchtungen flackerten kurz auf, das Surren wurde stärker, dann knackste es. Ohne weitere Vorwarnung waren wir gefangen in absoluter Dunkelheit.

  • Tach Jens,


    deine Ankündigung war offenbar nicht übertrieben. In diesen biden, doch recht kurzen Kapiteln bist du mehr auf die Situation an sich und die neuen Charaktere eingegangen un hast die Horror-Atmosphäre notgedrungen ausgelassen. Aber an jenen Charakteren hast du wieder eine sehr interessante Bandbreite geschaffen. Schon bei sämtlichen Pokémon ist dir das bereits gut gelungen und ich bin gespannt, wie du die Akteure einseten wirst. Einige Andeutungen hast du ja schon geliefert. So ist Simon jetzt schon mein absoluter Hass-Kanditat in der Gruppe, da ich Eagles Ansichten über ihn voll und ganz teile. So ein unglaublich ängstlichen und Sci-Fi gestörten Quälgeist wäre die reinste Folter für meine Nerven. Lindsay spielt die Ersatz-Mutter für die kleine, verletzliche Kelly und übernimmt zusammen mit Claire die Rolle der "Halt deine Schnauze du Freak-Fraktion". Ebenfalls Personen, deren Funktion mir aus so manchem Film bekannt vorkommt. Was die Name an sich angeht, bist du deiner Linie echt treu geblieben. Klingt alles wieder typisch amerikanisch.
    Ich finde es gut, dass trotz der Situaion noch einmal Sheinux und das plötzlich allgemeine Verstehen seiner Worte zur Sprache kommt. Ist ja immerhin nichts Alltägliches. Und auch wie er Simon hinterher zusammenstaucht ist eh typisch Sheinux und nicht zuletzt durch das Ziel der verbalen Attacke ein Genuss. Und von Anfang bis Ende machst du selbst solch Höhepunktarme Passagen deiner FF so schön lesbar. Und - wer hätte das gedacht? - es gab wieder einen feinen Cliffhanger, der viel Spannung und vielleicht auch wieder Gruselstimmung für das Folgekapitel verspricht.
    Bedenkt man den Sinn des vorantreibens der Handlung beider Kapis, bin ich doch wieder gut, wenn auch eher kurz unterhalten worden.


    Gruß

  • Part 4: Ungewissheit

    „Sheinux!“
    „Das war ich nicht!“
    „Nein, zieh deine Krallen ein! Du tust mir weh!“
    Mit dem Stromausfall war die nackte Panik in unserem Waggon ausgebrochen. Glas splitterte, ein Stuhl schabte über den Teppichboden, kurz bevor der hohle Klang schweren Holzes signalisierte, dass selbiger Stuhl eben umgeworfen worden war. Ein wahlloses Durcheinander verschiedener Stimmen dominierte die Geräuschkulisse. Kelly weinte bitterlich nach ihrer Mutter; zu unseren Füßen, wo Simon sich wohl unter dem Tisch verkrochen haben musste, hallte dessen Wimmern hervor; Stan fluchte; Sharleens aufgelöste Stimme rief wiederholt ihren Schöpfer an; Claire bemühte sich vergeblich für Ruhe zu sorgen; am leisesten von allen war Lindsay, die einfühlsam auf Kelly einredete.
    Wir waren von dunkelster Nacht eingehüllt, waren orientierungslos, beraubt jedweder Vernunft aus Furcht vor dem, was da womöglich im Schutz der Dunkelheit auf uns lauerte und wir nicht zu erkennen vermochten. Unwissend, dass ein derartiger Ausnahmezustand eintreten könnte, hatten wir zuvor Lars unsere einzige Lichtquelle mit auf den Weg gegeben. Eine vorzeitige Flucht aus unserer Lage war ausgeschlossen.
    „Ruhe! Seid mal ruhig! Alle!“
    Lindsays scharfe Stimme schnitt wie ein gleißendes Messer durch den rabenschwarzen Waggon, dass ich fast glaubte, es vor meinen Augen aufblitzen zu sehen. Soweit ich meinen Ohren trauen durfte, folgte fast jeder ihrem Geheiß. Ausnahme bildete der weiterhin kaum hörbar jammernde Simon und die bitterlich schluchzende Kelly. Die Geräuschkulisse wurde nach Lindsays Säbelrasseln genügend entschärft, um das Trommeln des Regens auf den Fensterscheiben und den am Zug rüttelnden, heulenden Wind herauszuhören. Beunruhigend aber war das, was wir nicht hörten - nämlich das Geräusch des fahrenden Zuges. Ohne Elektrizität stand er still, und wir saßen in seinem Bauch fest; gefangen, auf Gedeih und Verderb. Was sollte nun was uns werden?
    Vor dem Fenster leuchtete es auf - das Gewitter hatte einen weiteren Blitz geboren. Für Sekundenbruchteile waren unsere vor Grauen entsetzten Fratzen zu erkennen, bevor sie wieder von der Nacht verschluckt wurden. Von der Ferne hörte man den wettergebeutelten Himmel wütend grollen.
    „Wir fahren nicht mehr“, stellte Stan fest. „Was jetzt?“
    „Ändert nichts. Wir müssen warten“, sagte Lindsay.
    „Das ändert so ziemlich alles. Wir stecken fest, und es geht verflucht noch mal nicht weiter!“, erwiderte ich in Richtung von Lindsays unsichtbaren Stimme.
    „Wir müssen trotzdem abwarten. Und außerdem ist es wahrscheinlich nur kurzfristig“, entgegnete Lindsay.
    „Und was, wenn nicht? Was dann?“, hauchte Sharleen.
    „Wir warten!“
    „Seid still! Euer Geplärre lockt sie an ...!“
    „Ohne Licht kämen wir eh nicht weit ...“
    „Die werden schon nach uns suchen.“
    „Sollen wir bis dahin hier vor uns hinfaulen?“
    „Du willst raus? Bei dem Wetter?“
    „Ich bin auch für gehen.“
    „Sheinux?“
    „Niemand geht!“
    „Stimmen wir ab.“
    „Hier wird nicht abgestimmt!“
    Jäh erschütterte ein heftiges, nicht allzu fernes Krachen das Für und Wider. Unser schwelender Streit erstickte in einer eisigen Welle wiedergekehrtem Grauen. Aus der Richtung von einer der beiden Waggontüren war es gekommen. Stimmen. Wie viele waren es? Eine, zwei, drei. Die lauteste von allen glaubte ich zu kennen - sogar gut. Es war Eagles Fluchen.
    „Sie sind es!“
    Meine Worte waren kaum ausgesprochen, da donnerten uns bereits die Geräusche schweren Metalls in den Ohren. Die Tür war aufgeschoben worden. Keine Taschenlampe, das dünne Licht eines um sein Leben fürchtendes Sturmfeuerzeugs erhellte die von Besorgnis übertünchten Gesichter.
    „Lindsay?“, tastete sich Lars’ männliche Stimme zu uns heran. Er war es, der den anderen den Weg erhellte.
    „Wir sind hier. Was ist ...?“
    „Batterie leer. Zum Glück habe ich das Rauchen nie aufgegeben“, sagte Lars. Weiterhin erklärte er, Eagle wäre aus Übereifer zuvor gegen die Tür gerannt, was das Geheimnis um das furchtbare Getöse lüftete. Als wir dann aber auf das Ergebnis ihrer Suche zu sprechen kamen ...


    „Niemand?“
    „Was soll das heißen?“
    „Unmöglich!“
    Niemand wollte der Aussage der Neuankömmlinge im ersten Moment Glauben schenken - am allerwenigsten sie selbst, so schien es. Hätte ich Eagle nicht besser gekannt, hätte ich wohl an einen äußerst schlechten Scherz geglaubt. Dummerweise war dies nicht der Fall ... Ihrem Bericht zufolge war der Fahrwagen unbesetzt. Der Zug fuhr, beziehungsweise war allem Anschein führerlos gefahren. Niemand anderes war da, niemand außer uns, und so auch niemand, der uns helfen konnte. Wir waren auf uns allein gestellt.
    Wohin man auch sah, blickte man in verständnislose oder verunsicherte Gesichter. Das heißt, man hätte, wenn es nicht so dunkel gewesen wäre, dass man nicht einmal seinen unmittelbaren Gesprächspartner erkennen konnte.
    „Am besten fangen wir alle das Rauchen an, und in null Komma sitzen wir alle wieder im Hellen. Irgendwann geben wir es dann wieder auf, um Geld zu sparen.“
    „Witzbold.“
    Anstecken wollte sich niemand von Kevins schier unerschütterlichen Sinn für Humor, am allerwenigsten Eagle, der seine Wiederkehr dazu nutzte, weitmöglichen Abstand zu Kevin einzunehmen. Dabei rempelte er nicht nur einmal versehentlich einen Tisch an oder stolperte über eine Wülste im Teppich, bis er einen freien Stuhl an einem benachbarten Tisch zu uns erreichte und auch dann noch sein Schimpfen über sie eben erfahrenen Missgeschickte kaum im Zaum hielt. Letztendlich erhielt er jedoch mit seinen nicht gerade jugendfreien Äußerungen mehr Zustimmung als Kevin mit seinen eher deplatzierten Witzen.
    Etwas musste getan werden; etwas, um dem Prozess der sich in der Dunkelheit heranpirschenden Kälte entgegenzuwirken, die unsere Gedanken vergiftete und jede Spur von Hoffnung gewaltsam aus uns herauspresste, bis wir zu einem siechenden Häufchen Elend verkümmerten. Wir brauchten Licht.
    Claire war es, die mit dem Öffnen einer ihrer Pokébälle unseren krankenden Seelen Trost spendete und Gemüter aufhellte - im wahrsten Sinne des Wortes. Bereits zuvor, kurz vor unserem Aufbruch in den Speisewaggon, hatte Claire eine sehr knappe - und auch erste wirkliche - Unterhaltung mit Glumanda, einer aufrecht gehenden, kahlköpfigen, possierlichen Echse mit klauenbewährten Füßen, geführt, die ihre rotorangenen, glatten Schuppen schmiegsam wie Haut auf ihrem Leibe trug. Auf der Spitze des dünnen, geschwungenen Schwanzes tanzte eine kleine Flamme wie es das Feuer auf dem Docht einer Kerze tat. Große Augen waren von allen Seiten auf Glumanda gerichtet, die mit ihrem lodernden Licht mühelos gegen die Finsternis ankämpfte. Glumanda blinzelte kurz den vielen Augenpaaren entgegen, bis sie im Halbdunkel endlich die Orientierung fand und sich Claire glücklich lächelnd zuwandte. Hier, in diesem Waggon, schien sie sich deutlich wohler zu fühlen als in unserem zertrümmerten Abteil.
    Eine weitere Licht- und Wärmequelle bildete sich, nachdem Stan Igelavar lange gut zugesprochen und überzeugt hatte, es Glumanda gleich zu tun. Seine Begeisterung hielt sich allerdings eher in Grenzen, insbesondere als er realisierte, dass auf den festlich hergerichteten Tischen keine Speisen aufgedeckt waren. Mürrisch und sichtlich enttäuscht ließ es sich auf den Teppichboden nieder - die Intensität seiner Flammen auf Kopf und Rücken nahmen augenblicklich etwas ab. Dennoch war es mehr als ausreichend, um die Nacht deutlich in ihre Schranken zu weisen.
    Als letzte im Bunde wollte Lindsay es ihren beiden Vorgängern gleich tun, um auf das letzte bisschen Schatten von unseren Gesichtern zu tilgen. Niemals aber kam es dazu, denn der Pokéball, von dem sie schwor, er hätte eigentlich von einem Pokémon namens Elektek bewohnt werden müssen, war leer. Nach Simon zählte Lindsay nun als die zweite, die ein Pokémon an ihrer Seite vermisste.


    Eine lange, ergebnislose Diskussion über das spurlose Verschwinden zweier Pokémon entbrannte, die dazu führte, dass jeder der Menschen sich vergewisserte, ob auch er einen Verlust in seinen eigenen Reihen zu beklagen hatte. Kurze Zeit darauf war die Luft von den Klängen aufploppender Pokébälle erfüllt. Pokémon aller Art, Farben und Größenordnungen, mit schmückenden Federkleidern, stahlharten Schuppenpanzern oder gepflegten Fellen, aufrecht auf zwei Beinen gehend, auf vier oder sogar acht, mit verträumten Knopfaugen, großen Kulleraugen oder misstrauisch verengten Schlitzaugen. Eine erste Spur von Platzangst machte sich bemerkbar, insbesondere als Scorpio und Gaia auf der Bildfläche erschienen. Außer der üblichen Zwietracht zwischen Shaymin und Fiffyen, bei der Shaymin erstmals in der Geschichte freiwillig nach nur wenigen Worten das Feld räumte und in den Pokéball zurückkehrte, war auch in Stans Reihen alles beim Alten. Lars, Kelly und Sharleen, die keine Pokémon mit sich führten, hatten demzufolge auch keine Verluste zu beklagen. Insgesamt blieb die Zahl der Vermissten somit auf lediglich zwei bestehen.


    Bis auf Glumanda, Igelavar und natürlich mir kehrten alle Pokémon in ihre kleinen, runden Behausungen zurück. Die erste Erleichterung auf den Gesichtern wich schnell wieder der sich anschleichenden Verunsicherung. Nichts außer der trockenen Erkenntnis, dass man nicht das gleiche Schicksal wie Simon und Lindsay erlitten hatte, war gewonnen. Noch immer befanden wir uns hier, ohne zu wissen, wie es nun weitergehen sollte.
    „Allmählich bin ich gewillt, Simons Theorien als eine Möglichkeit in Betracht zu ziehen“, sagte Lars. Müde nach der langen Diskussion lehnte er sich zurück. Drei Zigaretten hatte er mittlerweile auf einem Kaffeeuntersetzer ausgedrückt. An der vierten nippte er gerade.
    „Sie werden uns vielleicht dazu zwingen, ihre zweihundertfünfundachtzig Erwerbsregeln auswendig zu lernen, nachdem sie uns um das letzte Stück goldgepresstes Latinum geprellt haben. Im schlimmsten Fall werden sie alle Frauen dazu zwingen, sich splitterfasernackt auszuziehen“, meinte Simon trocken.
    „Und dann setzen sie dich Spinner mit ihrer fliegenden Waschmaschine auf dem Klappsmühlenplaneten aus“, konterte Eagle.
    „Höre alles, glaube nichts ...“, antwortete Simon.
    Die Debatte um das Warum und Wieso war an einem toten Punkt angelangt. Schon seit geraumer Zeit hatte die meisten Anwesenden das Interesse verloren. Auch Stan - ohnehin kein geübter Redner - verharrte schon seit Minuten stillschweigend in tiefer Nachdenklichkeit. Kelly hatte vorerst ihre letzte Träne vergossen, Sharleen tat es Stan gleich, unser Rädelsführer Eagle beklagte sich kaum mehr und selbst Kevin waren mittlerweile die Albernheiten ausgegangen. Keiner sprühte vor Ideen, wir alle waren einfach nur furchtbar müde. Auf der Stelle einzuschlafen und vor der wachen Welt mit all ihren Problemen die Flucht anzutreten, klang in stillen Gedanken ungewöhnlich verlockend.
    „Ich halte es nicht mehr aus! Ich will hier raus!“
    Alle Köpfe schnellten herum. Es war Eagle. Er hatte sich erhoben.
    „Macht, was ihr wollt, ich gehe!“
    „Gar nichts tust du!“ Sicherlich hätte sich Lindsay ebenfalls erhoben, hätte nicht die verstört dreinschauende Kelly just auf ihrem Schoß gesessen. So aber beließ sie es mit einer nachdrücklich ausgesprochenen Warnung, die einem wütenden Bellen ähnelte.
    „Und wer bist du, dass du glaubst, mir Befehle erteilen zu können?“, höhnte Eagle. Taktgefühl oder gar Respekt suchte man in der Stimme des blasierten Menschen vergeblich. Im selben Augenblick stolzierte er bereits den Gang hinunter, begleitet von sämtlichen Augenpaaren im Raum. Er erreichte unseren Tisch. „Worauf wartest du? Pack deinen Kram - wir gehen!“
    „Äh, ich?“
    „Ihr bleibt hier!“
    Ein abgeschnittenes Wort, eine zögerlich gehobene Hand - zu mehr war der aus allen Wolken gefallene und plötzlich zwischen zwei kampfeslüsterne Fronten gefangene Stan nicht fähig. Lindsay hatte sich mittlerweile erhoben. Ihre kleine Schutzbefohlene hatte sie zuvor auf den benachbarten Stuhl untergebracht. Trotz des nahenden Konflikts belächelte Eagle Lindsays Reaktion abschätzig. Sein augenscheinliches Interesse an meinem besten Freund zählte nicht unbedingt zu dem, was man vielleicht als einen unerwarteten Ausbruch überschwänglicher Sorge oder gar Freundschaft betiteln würde. Nur Stan und ich wussten über Shaymin, Eagles verstecktes Motiv, Bescheid, das ihn gewissermaßen von uns abhängig machte. Ihm gründlich die Suppe zu versalzen, wäre ein Leichtes gewesen. Ein falsches Wort, ein ablehnendes Kopfschütteln, der Entschluss zum Bleiben. Zu meiner eigenen Schande musste ich mir aber eingestehen, dass ich Eagles Aufbruchentscheidung teilte, und als mich so umsah, hatte das Fernweh auch auf andere übergegriffen. Auf Stan trat dies allerdings nicht zu.
    „Gehen? Warum?“
    „Weil ich es sage. Oder muss ich dir erst Beine machen?“, knurrte Eagle.
    „Ich will aber nicht, und Sheinux auch nicht. Warum also gehst du nicht all...?“
    „Äh, ich würde auch lieber gehen, Stan“, unterbrach ich ihn zögernd.
    Ungläubig schaute er mich an. „Sheinux?“
    „Siehst du? Selbst deine Töle ist meiner Meinung“, sagte Eagle. „Also los!“
    „Ich geb’ dir gleich ...!“
    „Ihr könnt nicht weg! Ihr wisst ja gar nicht, wohin!“, warf Lindsay ein.
    „Egal. Alles ist besser als hier zu verschimmeln“, antwortete Eagle
    „Ich bin auch für den Aufbruch“, sagte Claire.
    Auch Kevin schloss sich der Meinung seiner Vorgänger an, nicht ganz in Eagles Einvernehmen. Eindringlich und zugleich flehentlich sah Lindsay in Lars’ Richtung. Der aber gab sich gleichgültig.
    „Ich würde auch lieber gehen; zumindest, damit mein Handy endlich wieder Netz hat. Funkloch, nehme ich an“, ergänzte er achselzuckend.
    Die völlig unerwartete Reaktion von Lars, ihrem persönlichen Hoffnungsträger, hatte einen zerstörerischen Einfluss auf Lindsays Selbstbewusstsein. Erschüttert darüber sank sie apathisch auf ihren Stuhl zurück.
    „Stimmen wir doch darüber ab“, schlug Claire vor.
    Sowohl Kevin als auch Lars nickten. Der Rest wirkte nicht ganz so zufrieden.
    „Ihr kennt meine Meinung!“, sagte Lindsay knapp.
    „Was ist mit dir?“, wandte sich Claire der nur wenig gesprächigen Sharleen zu.
    „Mmh ...“, antwortete Sharleen unruhig, wobei sie ihren Blick auf die Tischoberfläche beschränkte.
    „Ich bin auch für gehen“, gab ich meine Meinung kund.
    „Dich fragt aber keiner“, flötete Eagle mit einer furchtbar verstellten kindlichen Stimme. Bevor er mir auch nur eine winzige Gelegenheit zum Kontern einräumte, setzte er bereits seine Kampagne fort. „Du, Freakman, was ist mit dir?“
    „Also, ich ...“
    „Was?!“, drängte Eagle.
    Nicht jeder schien Lindsays Offenkundigkeit zu teilen, auch wenn einige sicherlich ihre Meinung und die damit verbundenen Gefühle in jeder erdenklichen Beziehung teilten. Auch angesichts der angriffslustigen Position der Gegenpartei war es scheinbar nicht einfach, frei von der Leber weg zu reden oder zu argumentieren. Eine geheime Wahl galt daher als angemessene Lösung des Problems, warf jedoch weitere Probleme auf.
    „Sollen wir jetzt darüber abstimmen, wie wir abstimmen?“, feixte Kevin. Eagle warf ihm daraufhin einen vernichtenden Blick zu, der an Kevin aber einfach abperlte.
    „Geheime Abstimmung - finde ich gut.“ Lars öffnete seinen nachtschwarzen, glänzenden Aktenkoffer auf seinem Tisch. Papier wurde in Fetzen gerissen. Bereits jetzt kritzelte er seine Meinung auf einen Zettel, bevor er Kugelschreiber und Papierstücke an Lindsays Tisch weitergab.
    „Und was soll ich bitteschön machen?“, warf ich ein. „Ein Pfotenabdruck für ,Gehen’, zwei für ,Bleiben’ und drei für ,Eagle ist ein Idiot’?“
    „Dich fragt ...“, knurrte Eagle, wurde aber von Glumandas piepsiger Stimme vor Beendigung seines Satzes unterbrochen.
    „Soll ich etwa auch abstimmen?“
    Es stand ganz und gar außer Frage, dass Glumanda mit dieser einfache Frage nicht die Spur eines böswilligen Gedankens hegte, und dennoch zog sie auf einen Augenschlag nicht nur sämtliche Aufmerksamkeit auf sich, sondern löste auch gleichzeitig unwissentlich einen Sturm der Gefühle aus.
    „Das wäre nicht fair! Die Pokémon wären sicherlich alle auf der Seite ihrer Trainer!“
    „Na und? Trifft dich doch dann genau so!“
    „Wer garantiert das? Sheinux ist auch anderer Meinung als Stan.“
    „Elektek ist nicht mehr da, und Simon hat auch ein Pokémon verloren, falls dir das entgangen sein sollte!“
    „Euer Pech!“
    „Wir sollten sie fragen - ist ihr gutes Recht.“
    „Wo ist da das Gleichgewicht?“
    „Sie stecken aber alle mit drin!“
    Das ging noch eine ganze Weile so und endete mit einer Fülle von knallroten Gesichtern, einem erneuten Ausbruch bitterer Tränen von Kelly und einem gewaltigen Machtwort seitens Lars. Wir konnten uns schließlich darauf einigen, dass ich mit abstimmen durfte; alle anderen Pokémon blieben außen vor. Gerecht, solidarisch, oder auch nicht - so geschah es.


    So wie Lindsay der schreibunfähigen Kelly bei ihrer Entscheidung half, erhielt auch ich von Stan Unterstützung. Zwar respektierte er meine Entscheidung zu bleiben, doch der kritische Ausdruck auf seinem Gesicht sprach Bände; der sich deutlich abgrenzende Text auf seinem Stimmzettel tat den Rest. Alle Papierzettelchen wanderten zur Auszählung an Lars’ Tisch. Häufchen bildeten sich - einer links, einer rechts. Die reinste Farce, wie ich fand. Man brauchte nur in die Gesichter um mich herum zu sehen und man wusste genau, wie man mit wem dran war. Claire, Eagle, Kevin, Lars und ich - wir bildeten die Partei der Aufbruchbereiten. Exakt die andere Hälfte wollte bleiben. Ein klares Unentschieden, mit allen daraus folgenden Konsequenzen.
    Lars zählte durch. Schnell erreichte er das Ende des Papiers. Er kontrollierte sich selbst, indem er die Prozedur wiederholte. Einmal, dann noch einmal. Er war sehr gründlich. Lars hob seinen Kopf langsam. „Sechs zu vier für gehen.“
    Das kam unerwartet. Man erkannte deutlich, dass ich nicht der einzige war, der ursprünglich fest an eine Pattsituation geglaubt hatte. Jemand aber der vermeintlichen Stubenhockern verbarg eine andere Einstellung als das, was ihm oder ihr ins Gesicht gemeißelt war. Denn eben das war seltsam: Sie alle wirkten über das Ergebnis ebenso überrascht.
    „Dann ist es entschieden: wir gehen.“
    Ich glaubte, Lindsays weiße Zähne angriffslustig blecken zu sehen, dabei biss sie sich lediglich auf die Unterlippe. Sie war unzufrieden, das stand ganz außer Frage, doch wagte sie es nicht Lars zu widersprechen und sich so gegen die knappe Mehrheit aufzubäumen, zumindest nicht direkt.
    „Und wo, wo sollen wir hin?“
    Eine Frage, auf deren wohl durchdachte Antwort man vergeblich wartete. Blindlings in die Landschaft aufzubrechen, nur um sich eventuell bei strömendem Regen irgendwo im Nirgendwo zu verirren oder schreiend und zappelnd in einem heimtückischen Morast zu versinken, hielt niemand für einen sonderlich guten Verlauf der Dinge; auch Eagle und Claire bildeten da keine Ausnahme. Den Gleisen zu folgen, in der Hoffnung, dass sie vielleicht direkt an ein Fleckchen menschlicher Zivilisation angrenzten, klang da schon wesentlich vernünftiger. Alle war en sich einig. Alle bis auf ...
    „Ich - ich bleibe.“
    Die Abstimmung und der knappen Mehrheit zum Trotz festigte Sharleen als letzte Verbliebene ihre wackelige Position, zum Leidwesen aller anderen.
    „Spinnst du? Ihr wurdet überstimmt!“, bellte Eagle.
    „Bleib locker!“, sagten Stan und ich wie aus einem Mund.
    „Sharleen ...“ Mitfühlend legte Claire ihre Hand auf die Sharleens. Trotzig schüttelte Sharleen ihren Kopf, dass die Haare nur so durch die Luft wirbelten. Weder ihre Freundin Claire noch einen von uns schaute sie dabei in die Augen.
    „Entweder alle oder keiner“, sagte Lindsay bestimmt, die in Sharleens Eigensinn sicherlich eine Gelegenheit sah.
    „Ich mache, was ich will, und ich gehe! Macht doch, was ihr wollt!“
    Keine Wimper zuckte in Lars’ Gesicht. Kein Gefühl der Ratlosigkeit warf auf seinem Gesicht einen verdunkelnden Schatten. Unempfänglich für äußere Einflüsse näherte er sich Sharleens und Claires Tisch. Der Mann, der gut und gern Vater der beiden Mädchen hätte sein können, blieb eine gefühlte Ewigkeit neben dem Tisch stehen. Erst dann, als selbst dem wütenden Wetter vor lauter Aufregung der Atem zu stocken schien und der bislang anhaltende sinnflutartige Niederschlag in leichten Sprühregen überging, öffnete Lars den Mund.
    „Wir gehen trotzdem. Ist das für dich in Ordnung?“
    „Wir können sie doch nicht alleine lassen!“ Die Lippen von Lindsays vor Entrüstung halb geöffneten Mund zuckten. Man wartete nur noch auf das erneute Einsetzen des Unwetters, das Entfachen weiterer schwelenden Unruhen außerhalb der schützenden Fensterscheiben, der Spiegel zu den wiedergeborenen Unruhen. Eine vergebliche, wenn auch nicht allzu zeitlastige Liebesmüh, denn nichts dergleichen geschah.
    Ruhig und gelassen fuhr Lars fort. „Ich halte es sogar für äußerst sinnvoll, wenn hier jemand die Stellung hält. Früher oder später muss ein Wartungsdienst kommen, und wenn es dann so weit ist, hab en wir jemanden vor Ort, der die Lage schildern kann.“
    Nur langsam lichtete die stille Einsicht den zäh in so manchen Gedanken wabernden Nebel der Vorbehalts. Schließlich und endlich zeigten alle Verständnis, die einen mehr, die anderen weniger.
    Da Sharleen kein tragbares Telefon ihr eigen nannte, überreichte Claire ihrer neuen Freundin das ihre. Handynummern wurden ausgetauscht. Außer einigen aufbauenden Worten war das auch schon alles, was man für den Moment tun konnte.


    Der Waggon leerte sich zunehmend. Eagle, Lars, Kevin - sie waren die ersten. Mit kurzen, dafür umso schnelleren Schritten hastete Simon ihnen nach und rannte Igelavar nur knapp nicht über den Haufen. Claire redete auf Sharleen ein. Vielleicht beschwor sie die Zurückbleibende ihre Meinung doch noch zu ändern, vielleicht ging es um Glumandas weiteren Verbleib im Abteil, oder es waren Ratschläge. Ich vermochte es nicht zu sagen. Ebenso nicht, worüber sich Lindsay noch mit Kelly unterhielt. Verschwörerisch tuschelten sie, linsten wiederholt in unsere Richtung ...
    „Zufrieden?“ Seine Geselligkeit hatte Stan nicht gerade während der vergangenen halben Stunde unter Beweis gestellt. Auch jetzt bemerkte man das am Klang seiner Stimme. Mutlos wirkte er, gedrückt, zaudernd.
    „Warum hältst du es für keine gute Idee?“, fragte ich ihn.
    Stan zögerte. „Lars hat irgendwie Recht ... aber ...“
    „Aber was?“
    Achselzuckend schaute er mich an. „Weiß nicht ... Ein Gefühl, nichts Handfestes. Nach allem, was in den letzten paar Stunden passiert ist, fühle ich mich hier eben wesentlich wohler, und vor allem sicherer. Verständlich, oder?“
    „Wahrscheinlich auch trockener“, stimmte ich Stan kurz nickend zu.
    Ein kurzes Lächeln tropfte von seinem Gesicht auf mich hinab. „Und trockener, ja.“ Er überlegte kurz. „Du etwa nicht? Was denkst du?“
    „Also ...“
    „Entschuldigung? Stan, Sheinux?“
    Lindsay war an unseren Tisch herangetreten. Es war das erste Mal, dass Lindsay einen von uns direkt ansprach. Was konnte sie wollen? Die kleine Kelly hielt sie an der rechten Hand. Das Mädchen reichte ein gutes Stück über die Stuhlkante und über Stans Knie, sodass wir uns beinahe auf einer Augenhöhe befanden. Es lag etwas sehr Unangenehmes auf ihrem Gesicht, hinter der Fassade der Angst und des Heimwehs nach ihren Eltern. Etwas, das ich nicht mochte.
    Lindsay lächelte gequält. „Sieht so aus, als wären wir die letzten hier.“
    Es stimmte. Mit Claires und Glumandas zwischenzeitlichem Verlassen zogen die Schatten ihren Ring wieder enger um uns. Nur noch Igelavars Flammen geboten ihnen Einhalt. Noch ...
    Stan sagte nichts. Mir kam ein kurzes „Mhm ...“ über die Lippen. Irgendwie aber bezweifelte ich, dass Lindsay Smalltalk halten wollte. Da war noch etwas anderes ...
    „Hier drinnen ließe es sich gut ausharren. Hilfe ist bestimmt schon unterwegs. Aber stattdessen fordern wir das Glück auf eigene Faust hinaus. Jagen der Taube auf dem Dach nach, wie man so schön sagt. Tja, so spielt das Leben - manchmal gewinnt, manchmal verliert man.“
    Für eine Verliererin lag nur begrenzte Bitterkeit in ihrer Stimme. Sie schien sich unlängst mit ihrer Situation abgefunden zu haben, auch ohne auf unsere Sympathie zu hoffen. Alles Fassade.
    „Schlimmer kann es ja kaum werden“, meinte Stan.
    „Du versuchst uns jetzt aber nicht gegeneinander aufzuwiegeln?“
    „Sheinux!“ Strenge lag in Stans Stimme, als er mir die Hand gewaltsam auf den Mund presste. Mir blieben nur wenige Augenblicke, in denen ich seinen tadelnden Gesichtsausdruck auffangen konnte, bevor er diesen abwarf und entschuldigend Lindsay zuwandte.
    „Sorry ...“, nuschelte er verlegen. „Er hat es nicht so gemeint.“
    Womit er auch Recht hatte. Zumundest wollte ich keinen bösen Willen zeigen. Lediglich ehrlich war ich, und das wollte ich mir auch nicht nehmen lassen.
    „Ich sage lediglich, was ich denke“, würgte ich zwischen Stans Fingern hervor. Er ließ von mir ab.
    „Klingt ehrlich. Das schätze ich.“ Zuvor hatte sie sich zu einem Lächeln zwingen müssen. Jetzt hatte sie es wieder abgeworfen. „Deswegen bin ich aber wirklich nicht hier.“ Selten befangen atmete Lindsay tief ein. Die erwachsene Frau fixierte mich. Ich glaubte nichts Gutes in dieser Geste zu erkennen. Und dann noch dieser nervös machende, zudringliche Blick des Mädchens an ihrer Seite ...
    „Kelly würde sich wohler fühlen, wenn du, Sheinux, für die nächsten paar Srunden an ihrer Seite wärst.“
    Etwas Ähnliches hatte ich bereits insgeheim befürchtet. Vielleicht gerade deshalb erweckte ich nach außen hin keinen allzu überraschten Eindruck als man eventuell erwartet hätte. Warum auch immer - Pokémon zogen leuchtende Kinderaugen und penetrant streichelfanatische Händchen magnetisch an. Diese Erfahrung hatte ich während meiner Reise an Stans Seite bereits wiederholt machen dürfen, und auch Stan war während seiner einwöchigen Zeit in meinem Pelz von einer negativen Erfahrung nicht verschont geblieben. Was sollte ich sagen - ich hatte mich mit diesem peinlichen Umstand zwischenzeitlich abgefunden, was aber natürlich nicht bedeutete, dass ich es auch akzeptierte. So wenig sich die Überraschung auf meinem Gesicht spiegelte, umso mehr bemerkte man daher wohl meine Abneigung. Doch wurde mir eigentlich überhaupt eine Wahl gelassen? Konnte ich den Gefallen einfach ablehnen? So schon hatte ich regelrecht auf die Knie fallen müssen, um ein dürftiges Mitspracherecht in dieser parteiischen Menschendemokratie erhalten zu können. Was wurde heraufbeschworen, wenn ich mich weigerte?
    „Wenn du nicht willst, werde ich dich natürlich nicht zwingen. Es wäre nur, naja, es wäre sehr nett von dir. Du würdest Kelly damit einen großen Gefallen tun und ...“
    „Ich mache es.“
    Was es der Trieb, schleunigst die Last der neugierigen Augen abzuschütteln? Mich so aus der Affäre zu ziehen, obwohl ich damit gleichzeitig den Kopf in die Schlinge des Scharfrichters legte? Tat ich es für Stan, damit er meinetwegen in keinem schlechten Licht stand? Oder war es sogar ein schwacher Windhauch des Mitleids, der mich in diese unvorhergesehene Richtung navigierte. Vielleicht war es von allem ein bisschen. Fakt war, dass ich zugestimmt hatte. Für einen Rückzieher war es nun zu spät; nun, da sich Kellys Augen vor Freude weiteten.
    „Das ist sehr nett von dir, wirklich“, sagte Lindsay. Sie wirkte sehr erleichtert. „Und es macht dir auch nichts aus?“
    „Nein, schon in Ordnung“, log ich. Stan tauschte derweil mit mir Blickkontakt. „Geht doch in Ordnung, oder?“
    Stan war im ersten Moment so über meine Frage nach Erlaubnis überrascht, dass er keinen Ton herausbekam, und schon gar nicht mein geheimes Flehen nach Ablehnung erkennen konnte.


    Polternde Schritte, eine aufkrachende Tür. Das verstört verzerrte Gesicht von Simon tauchte im Halbdunkel auf. Die Hand presste er sich auf die Brust, er rang nach Atem.
    „Da draußen ... müsst ihr euch ansehen ... jetzt!“
    Mit aufgedrehtem Kopfschütteln ließ er unsere Fragen offen. Am Ende konnte wir nicht anders, als den Raum, der uns die ganze Zeit über eine sichere Zuflucht gewährt hatte, hinter uns zu lassen; der Raum, in dem wir nur wenige Dinge zurückließen: die Gedanken und Vorbehalte über das eben geführte Gespräch und Sharleen inmitten der pechschwarzen Nacht.

  • Part 5 Wohin?



    Das Licht war dünn wie Papier. Eine hastige Bewegung und es hätte verschwimmen müssen, einer verblassenden Erinnerung im Fluss der Zeit gleich. Und doch zog es uns magnetisch an, so wie es der Docht einer brennenden Kerze vermochte, Insekten in ihr trügerisches Feuer zu locken. Bald schon trennten uns mehr als fünfzig Schritte von unserem Ausgangspunkt, der sich in diesem matten Licht kaum von der restlichen Umgebung hervorhob. Manch einer vielleicht etwas dem anderen voraus oder eben dahinter, bewegten wir uns jedoch schlussendlich in einer einzigen großen Gruppe an den Schienen entlang. Vorsichtig. Langsam. Unsicher. Sorge und Ungewissheit waren beinahe greifbar und bildeten eine unsichtbare Kuppel des Argwohns um unsere klamme Gemeinschaft. Auf den Weg vor uns schaute fast keiner. Und wenn, dann nur für einen kurzen Augenblick.
    „Linie sieben ...“
    Es handelte sich erst um das zweite Mal, dass Lars die schmutzigen Schriftzeichen auf dem verrosteten Metall beim Vorbeigehen entzifferte. Erschreckenderweise empfand ich es aber bereits als eine Art vertrautes Ritual. Es waren alte Güterwaggons, Fahr- und Zugwagen. Ein Eisenbahnfriedhof.
    Wie ausgehöhlte Gerippe lagen sie da: Kopfüber. Oder auf der Seite. Aufeinandergestützt, sodass sie mit ihren Dächern kleine Rampen bildeten. Einer ragte steil dem Himmel entgegen. Ein anderer wiederum schuf mit seiner waagrechten Linie beinahe die Illusion voller Fahrtüchtigkeit. Letztendlich waren sie aber alle gleich: Von Gott und der Welt verlassen. Äußerlich von Rost zerfressen, innerlich leer. Doch woher kamen die Züge? Wie sind sie dahin gekommen? Warum waren sie hier? Und warum brannte in ihnen noch Licht, obwohl sie bereits seit Jahrzehnten hier vor sich hinsiechen mussten? Fragen, worauf keiner von uns eine Antwort wusste, gleichgültig ob man nun groß war, klein oder ganz klein. Die übrige Umgebung schloss darauf, dass es nicht weit von hier einst menschliche Zivilisation gegeben haben musste. Auf den leicht nach oben gewölbten, in die Jahre gekommenen Kopfsteinpflaster reckten sich in einem Abstand von etwa zwanzig Metern krumme, ebenso bejahrte Straßenlaternen in die Höhe. Einige der Leuchter gaben sogar noch etwas von ihrem künstlichen Licht ab, von sporadischen Aussetzern begleitet, das mit der Zeit Augenschmerzen bereitete. Zwischen den Gehwegen links und rechts - wir liefen auf dem linken - klaffte mittig ein sehr marode wirkendes, bronzefarbenes, vierspuriges Schienennetz mit einfachen Holzstegen darin; in keinem Verhältnis zu dem modernen Magnetgleisen, auf dem unsere Bahn fuhr. Wenn man es so betrachtete, verwunderte es, wie die Magnetbahn es auf diesen Straßen in einem Stück zum Ziel hätte schaffen sollen.
    „Was jetzt?“ Claire brachte das zum Aussprache, was niemand bislang anzusprechen gewagt hatte: wie es denn weitergehen sollte. Ihr negativ geprägter Tonfall kam jedoch überraschend. Gehörte sie doch dem Teil unserer Gemeinschaft an, der seinen Willen hatte durchsetzen können, weswegen sie im Grunde genommen eigentlich zufrieden hätte sein müssen. Dem noch nicht genug, hatte es sich für unsere bunt gemischte Gruppe als glücklicher Zufall herausgestellt, dass das, was erst als sinnflutartiger Niederschlag begonnen hatte, mittlerweile vom Sprühregen und schließlich zum leichtem Niesel übergegangen war, ansonsten hätte wohl weder Glumanda noch Igelavar freiwillig einen Fuß vor die Tür gesetzt. So gab ihr Feuer gerade dann besonders wüste Bemerkungen von sich, wenn es kurzzeitig von oben etwas mehr heruntermachte oder eine jähe Windböe an Fell und Mänteln rüttelte. Wie gerade jetzt.
    „Was hast du erwartet? Dass wir nach einer Minute laufen eine Frittenbude um die Ecke finden? Wir gehen weiter!“
    „Kannst du bitte endlich deinen Ton etwas anpassen? Das kann man auch anders sagen!“, blaffte Lindsay Eagle hinterrücks an. Jeden anderen hätte sie wohl mit diesem bitterbösen Blick sekundenschnell entwaffnet. Nicht aber den Angesprochenen. Reihum konnte man spüren, wie die Anbahnung eines neuen Konflikts seinen Kreis enger zog. Als Eagle, der nur hinter Kevin an erster Stelle den Weg vorgab, über die Schulter schaute und seine Hinterleute abwechselnd musterte, schmeichelte ein sichtbares Gefühl des Spotts seinen Gesichtsausdruck. Schon allein wegen ihrem quietschbunten Regenschirm tanzte Lindsay derartig aus der Reihe, dass man lieber freiwillig seine Augen dem flackernden Licht einer der Straßenlaternen aussetzte. Weiter entkräftet wurde ihre Position, dass sie mit Kelly an ihrer rechten Hand einen besonders verletzbaren Eindruck erweckte. Inwieweit ich zu diesem Bild indirekt einen Teil beitrug, in die Rolle des getreuen Maskottchen der Kleinen gezwängt, konnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht sagen. Dass sich der Regen plötzlich so seltsam heiß auf meinem Gesicht anfühlte, war zumindest ein deutliches Anzeichen dafür, dass ich mich keinesfalls wohl in meiner Position fühlte.
    „Und kannst du mal aufhören, mir auf die Nerven zu gehen, Spinatwachtel?“ Seinen Mangel an Respekt wurde nur von Eagles Unverfrorenheit übertroffen. Nur Lars’ gemütskühlende Hand auf Lindsays Schulter sowie ein verneinendes Kopfschütteln besaßen genug Einfühlungsvermögen, um die hitzigen Gemüter abzukühlen. Eine erneute Eskalation war somit erstickt. Vorerst. Vorher noch besorgt dreinschauende Gesichter entspannten sich zusehends. Ein nicht weniger unbeständiger Frieden als das Wetter sich unbeständig gab.
    „Linni, warum streitet sich der Junge so oft mit dir?“
    Mit Linni war natürlich Lindsay gemeint. Diese hatte Kelly zuvor der Einfachheit halber diese Verniedlichung angeboten. Etwas Reines, Unverfälschtes lag in der Frage des kleinen Mädchens. Eben die Unschuld eines Kindes. Dass sie von allen bislang am wenigsten gesprochen hatte, hob den Klang ihrer auch so schon sehr auffällig hohen Stimme noch weiter hervor.
    „Keinen Streit, Kelly. Wir streiten nicht. Wir sind nur nicht ganz einer Meinung, wie wir am schnellsten deine Mama und deinen Papa finden.“ Entweder konnte man mit Kinder umgehen oder eben nicht. Neben sehr viel Liebe gehören auch Diplomatie und Geduld seit jeher klar dazu. All diese Dinge hatte Lindsay bislang souverän unter Beweis gestellt, so auch jetzt, was man ihr und ihrer Art nicht wirklich zutraute.
    „Das ist immer noch doof. Könnt ihr nicht einfach Freunde sein? So wie ich und Sheinux.“
    „Wa-was?“
    Ich war so aus allen Wolken gefallen, dass mir gar nichts einfallen wollte. In dem Moment stand ich wohl Stan in nichts nach. Freunde? Seit wann das denn? Beim besten Willen konnte ich mich nicht erinnern, dem zugestimmt zu haben. Überhaupt war es das erste Mal, dass Kelly mich beim Namen genannt hatte, beziehungsweise zumindest indirekt angesprochen hatte. Wenn Freundschaft so viel bedeutete, wie ein-, zweimal grob am Nacken entlang gestreichelt zu werden und mir dabei versehentlich auch noch einige Haare auszurupfen, ja, dann waren wir wohl Freunde. Eine Frage der Definition.
    „Das wäre schön, ja“, schnitt Lindsay mir meine verstümmelten Worte ab. Lindsay wusste wohl sehr genau, warum sie sich gerade jetzt von ihrem Schützling abwandte. Mit Eagle Freundschaft schließen ... so weit wäre sie wohl nie gegangen, noch nicht einmal im Traum. Selbst nachdem sie sich weggedreht hatte, stand ihr die Lüge noch immer mitten ins Gesicht geschrieben und ließ nur sehr wenig Spielraum für Spekulationen. Für Kellys niedrige Erwartungen allerdings war diese Antwort mehr als nur zufriedenstellend.


    Auch die nächsten Inspektionen herumliegender Wracks hielten weder unseren Hoffnungen noch den Kontrollen allgemeiner Sicherheitsstandards stand. Immer nur wieder aufs Neuste enttäuscht zu werden, dämpfte die Stimmung unserer Gemeinschaft, bis man keinen wirklichen Unterschied mehr zwischen den entmutigten Gesichtern und den Trümmerhaufen um uns herum zu erkennen glaubte. Die unsichtbare Messlatte lag so verdammt niedrig, selbst geschälte Zwiebeln hätten zur allgemeinen Aufmunterung beigetragen. Die vorherige Frage nach dem Wohin hatte niemand mehr aufgegriffen. Vielleicht wollte man die Last darüber nachzudenken einfach auf einen anderen abwälzen. Doch keiner, so glaubte ich mittlerweile zu erkennen, wollte wirklich die Verantwortung oder das Denken übernehmen. Selbst Eagle ließ sich wiederholt etwas zurückfallen, damit Kevin die Führung übernehmen konnte. Ein sich stetig wiederholendes Wechselspiel. Alleine wäre es ihm wohl egal gewesen. Gehen, wohin er wollte, und machen, was er wollte. So wie er es stets zu tun pflegte. Aber nicht so. Nicht hier und nicht zu dieser dunklen Stunde. Nicht, nachdem es ihm wohl langsam gedämmert hatte, dass jede Entscheidung nun bittere Konsequenzen mit sich trug; die guten als auch die schlechten. Und in unserer undurchsichtigen Lage, in der eine Besserung einfach nicht in Sichtweite rücken wollte, konnte man dann ganz leicht an den Pranger gestellt und somit in die unbeliebte Rolle des Prügelknaben fallen, worauf verständlicherweise keiner wirklich großen Wert legte. Möglicherweise plagte ihn jetzt, wo wir durch den Regen tappten, sogar sein Gewissen. Etwaige Reue kam jedoch jetzt reichlich spät ...


    Der nasse Asphalt buckelte zunehmend, als ob er mit all seinem Trotz sich dagegen sträubte, weitere Passanten unbehindert das Überqueren zu ermöglichen. Erste kleinere Lücken taten sich zwischen den bislang undurchlässigen Zug-Leichen auf. Ein raues, unwirtliches Landschaftsbild ohne weitere Anzeichen menschlicher Zivilisation klaffte zwischen den Trümmerteilen, zumindest dort, wohin das schwache Licht der abnehmenden Waggons reichte. Seltsamerweise schien niemand das mögliche Ende des Eisenbahnfriedhofs als beruhigend aufzufassen. Wiederholt tauchte Simon zwischen den einzelnen Gruppenmitgliedern auf; gerade dort, wo er sich eben am sichersten fühlte. Einerseits fühlte er sich zur Spitze hingezogen, wo er in Eagles aufgeblasenen Ego wohl ein unüberwindbares Hindernis für mögliche Gefahren vermutete, hinter dem er sich nach Belieben verstecken konnte. Andererseits schenkte er einen nicht unerheblichen Teil seines Vertrauens auch in Lars’ Lebenserfahrung, mit welcher der erwachsene Mann diese Situation beherrscht schulterte. Und natürlich erschien Simon auch gerne in meiner und in der Nähe von Glumanda oder Igelavar, was keiner sonderlich großen Erklärung bedurfte.
    „Das ist ein ziemliches vorsintflutliches Stück Technik.“ Nahtlos gingen die letzten Pflastersteine in einen schlicht geschotterten Gehweg über, der ebenso seitlich der Schienen verlief wie es zuvor der asphaltierte Bodenbelag getan hatte. Wir hatten die Peripherie des Friedhofs erreicht. Die letzten Wracks lagen hinter uns und somit leeres Ödland vor uns. Das heißt, wir hatten sie fast erreicht. Denn noch ein letztes Flickwerk aus Metall und Bolzen hielt seinen ewigen Schlaf parallel zu unserer Linken. Selbst ich als völlig Unbeteiligter verstand recht schnell, was Lars mit seiner Äußerung gemeint hatte: Von allen Wracks, denen wir bislang begegnet waren, handelte es bei diesem um die augenscheinlich älteste und technologisch zurückgebliebenste Maschine. Kein Licht brannte darin. Nicht in dem Führerhaus, auch nicht in dem dahinter liegenden, in einem schrägen Winkel angekoppelten, blauen Waggon. Ohne einen direkten Hinweis hätte ich dem Zug wohl noch nicht einmal Beachtung geschenkt. Das rußschwarz bemalte Metall verschwamm beinahe restlos mit der Dunkelheit und hielt in mir sehr lange den Glauben aufrecht, der Zug musste innerlich wie auch äußerlich ausgebrannt sein. Die dunkle Lackierung zog sich von vorne bis nach ganz hinten durch, auch nach oben hin, wo ein aufgedunsener Schlot ein kleines Stück weit in die Höhe ragte. Nur die acht Räder auf jeder Seite, von denen es am Heck vier kleine, etwas weiter vorn drei besonders große und schließlich am Rumpf wieder ein sehr kleines gab, waren ursprünglich rot bemalt worden, wobei sich an mehreren Stellen der Lack bereits auflöste und dort kahle Stellen zurückblieben. Kolben, beinahe so lang wie ein erwachsener Mensch, verbanden die einzelnen Räder miteinander und dienten wohl - in einer mir unerklärlichen Weise - als Antrieb. Dort, wo bei einem Gesicht in etwa die Nase saß, war an der Zugspitze ein silbernes Emblem angebracht, in das die Zahlenfolge 27 - 7 - 79 eingraviert war. Trotz einigen Alterserscheinungen befand sich das Fahrzeug in einem erstaunlich gut erhaltenen Zustand, zumindest soweit man dem bloßen Auge trauen konnte.
    „So etwas findet man heutzutage nur noch in Büchern“, ergänzte Lars.
    „Oder in Technikmuseen. Das ist eine HTH No. 6 Glaube ich zumindest ... Nein, ich bin mir sicher. Ein ausgemustertes Modell habe ich mal gesehen. Die sind schon seit über einem Jahrhundert nicht mehr im Betrieb.“
    Überrascht schaute ich meinem Freund Stan nach, der mit seltener Interesse zu Lars aufschloss. Der Rest von uns zeigte sich weniger Neugierig als es die beiden waren und musterten die Maschine aus der Distanz. Kelly zupfte sogar nach nur kurzer Zeit gelangweilt an Lindsays Jeans - sie wollte weiter.
    „Warte mal, Stan, ich will mir das auch anschauen.“
    „Sheinux, wo willst du hin? Bleib hier. Komm.“
    Natürlich scherte ich mich in Wirklichkeit keinen Deut darum, doch war ich froh, endlich eine Ausrede gefunden zu haben, um mich kurzzeitig von dem Mädchen an meiner Seite loszureißen. Kelly sah es natürlich alles andere als gerne. Erst nachdem ich sie und ihren Kuschelfetisch mit dem Versprechen besänftigt hatte, gleich wieder zu ihr zurückzukehren, gab sie mir widerwillig ihren Segen.


    „Seit wann interessierst ausgerechnet du dich für Züge?“ Mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht empfing Stan mich. Er hatte sich von Lars entfernt und war gerade dabei, gemeinsam mit Igelevar den angekoppelten Waggon zu inspizieren, als ich bei ihm eintraf. Meine Schnurhaare vibrierten vor Freude, als sie inmitten des modrigen, nasskalten Regengeruchs seine vertraute Duftnote auffing. Ein gutes Gefühl.
    „Dasselbe könnte ich dich fragen.“ Ich schloss mich ihrer kleinen Runde an.
    „Eigentlich schon immer. Maschinen, Computer, Technikkram. Seit ich zurückdenken kann, steh ich auf so verrücktes Zeug. Die anderen Kinder haben mit ihren Spielzeugautos gespielt. Ich dagegen habe meinem Vater beim Reifenwechseln zugeschaut. Als ich neun war, habe ich den Computer meiner Eltern heimlich in seine Einzelteile zerlegt und wieder zusammengebaut - und er hat funktioniert. In meinem Leben wollte ich schon so viel werden: Pilot, Autoschlosser, Programmierer und bestimmt schon zweimal Zugführer.“
    „Während sich deine Freunde amüsiert haben, hattest du die ganze Zeit über Nase in deinem Technik-Hokuspokus. Und da wunderst du dich, dass sie mit dir nichts zu tun haben wollten? Selber Schuld, würde ich sagen.“
    Igelavar äußerte sich während der ganzen Zeit nicht ein einziges Mal. Insgesamt gab er sich so freudlos und desinteressiert, dass das Feuer auf seinem Rücken fast nicht mehr ausreichte, um uns den Weg zu erhellen.
    „Ich weiß ... Aber soll ich dir etwas sagen? Ich bereue es nicht. Kein Stück.“ So wie Stan seine Hand plötzlich auf die blaue Karosserie legte und sie mit sanften Bewegungen von überflüssigen Regentropfen befreite, mochte man meinen, er liebkoste gerade jemanden, der ihm ganz besonders am Herzen lag. So eindringlich, wie er mich daraufhin anschaute, wusste ich, dass er nicht nur so dahinredete. Es war ihm ernst.
    „Soll mir recht sein“, schulterzuckte ich. „Hauptsache, du bist glücklich. Aber ich habe ja noch genug Zeit, dich und deinen verqueren Kopf gerade zu biegen. Irgendwie ...“
    „Ich freue mich schon darauf“, antwortete Stan und grinste.


    Unser kleiner Rundgang zu dritt endete vorerst auf der gegenüberliegenden Seite des Waggons. Dann plötzlich machte Stan kehrt und setzte mit noch langsamerer Geschwindigkeit zu einer neuen Umrundung an. Es war wohl seinem kleinen Hobby geschuldet, dass der Reiz für ihn einfach nicht abnehmen wollte. Egal, wo er hinsah und wie viel Runden wir noch drehten, aus seiner Sicht gab es immer etwas Neues zu entdecken, und war es auch noch so klein. Was besaß ich für Alternativen, als mich gezwungenermaßen dem zu beugen? Entweder das oder zu Kelly zurückkehren.
    „Warum ist da eigentlich kein Licht drin?“, wollte ich wissen.
    Stans Zögern ging so weit, dass anhalten musste und dann nachdenklich antwortete: „Ich weiß ehrlich gesagt noch nicht einmal, warum in den anderen Zügen Licht brennt.“ Er schaute an dem blauen Metall hinauf, bis er an den Glasfenstern hängen blieb.“ Aber, bei dem Modell hier bin ich mir ziemlich sicher: Elektrisches Licht gab es zu der Zeit noch gar nicht, als diese Züge fuhren. Die wurden noch mit Dampfkraft betrieben. Nicht so wichtig“, ergänzte er rasch, als er bemerkte, wie ich bei dem Begriff Dampfkraft kritisch die Augen verdrehte. „Es gibt auch etwas neuere Loks mit Dampfturbinen als zusätzlicher Stromerzeuger für die Beleuchtung. Bei der HTH No. 6 wurden damals Öl- und Petroleumlampen eingesetzt und erst sehr viel später ist auf Strom umgestiegen worden. Wie Lars schon sagte: ganz schön rückständig.“ An dieser Stelle schmunzelte er etwas, begann sogar leise zu kichern.
    „Warum lachst du?“
    Er schüttelte den Kopf. „Rückständig ... Ich frage mich, wie die Leute in einhundert Jahren über unsere technologischen Möglichkeiten denken. Ob sie dann dasselbe über uns sagen? Gruselig.“
    „Sollen wir nicht langsam zurück?“ Gruseliger als Stans Vorstellung von einer fragwürdigen Zukunft, die er oder ich nie erleben würde, fand ich, dass mich die Langeweile langsam dahinzuraffen drohte. So sehr ich Stan auch mochte - lieber nahm ich Kellys Anwesenheit wieder in Kauf als mir die Beine weiter in den Bauch zu stehen.
    Wehmütig seufzte Stan auf, sein Blick ununterbrochen nach oben zu den Fenstern gerichtet. „Eine solche Gelegenheit kommt so schnell nicht wieder. Ich will noch einen Blick riskieren. Ganz schnell, okay?“
    Ein Augenrollen meinerseits genügte ihm als Einverständnis. Sogleich begann er, auf der Stelle nach oben zu hüpfen, um die höher gelegenen Fenster zu erreichen - ein ziemlich ulkiger Anblick. Viel weiter als zu den Fenstersims kam er jedoch nicht. Nicht nur, dass seine Plattfüße meine Ohren und Schwanz nur knapp verfehlten, seine Unachtsamkeit schleuderte gleichzeitig auch schmutziges Pfützenwasser durch die Luft und mir geradewegs ins Gesicht. Es bedeutete auch das Aus für Igelavars Desinteresse. Seit langer Zeit schlugen seine Flammen vor Panik aus, als auch ihm das Wasser geradewegs zwischen die Augen pfefferte, und er zurückschreckte.
    „Pass doch auf!“
    „Igitt! Eklig!“
    „Ich komm nicht rauf ...“ Resignierend schaute er mich an. Auf die Idee, sich bei mir oder Igelavar zu entschuldigen, kam er nicht. „Sheinux, schau du doch mal für mich. Du siehst im Dunkeln auch viel besser als ich. Bist du so nett, ja?“
    „Hör auf zu quengeln. Ich mach ja schon. Hilf mir hoch.“
    Wie bereits erwähnt, teilte ich Stans Interesse in keiner Weise. Die Gelegenheit, die Sache jetzt schnell hinter mich zu bringen, war jedoch so günstig, dass ich nicht lange fackelte und gleich zur Tat schritt. Ein hilfreicher Schubs meines Freundes - ich erreichte den zwei Meter vom Erdboden entfernten Fenstersims.
    „Und? Was siehst du?“
    Schwerfällig balancierte ich auf dem nur knapp oberschenkelbreiten Fenstersims um die eigene Achse. Auf der vergeblichen Suche nach etwas mehr Halt grollte das Metall entrüstet auf, während meine Krallen darüber schabten, ein Geräusch, bei dem sich mir die Nackenhaare aufrichteten. Der stählerne, feuchte Boden fühlte sich befremdend kalt an, kälter als der Asphalt am Boden. Wiederholt rutschte mein rechter Hinterlauf ins Nichts. Irgendwann, vielleicht nach dem dritten oder vierten Versuch, gab ich meine zum Scheitern verurteilten Versuche auf, besseren Halt zu finden. Mein rechter Hinterlauf hing in der Luft, die rechte Vorderpfote unbequem zur einen Hälfte auf dem ungewissen Untergrund und zur anderen Hälfte ebenfalls schwebend über der zwei Meter entfernten Erdoberfläche. Meine Knie zitterten. Doch für den Moment stand ich. Unbequem, aber ich stand. Erst nachdem ich mir diesbezüglich völlig sicher war, drehte ich meinen Kopf schräg dem Fenster zu; für einen geraden Blick fehlte einfach der Platz. Aus meinem Mund löste sich ein leiser Aufschrei. Mein rechter Vorderlauf rutschte gefährlich weit über die Kante hinaus. Ich schwankte. Meine Pfote zuckte in der Luft. Das Metall heulte unter dem Rest meiner malträtierenden Krallen wiederholt auf.
    „Alles klar?“, rief Stan mir zu.
    Es nahm einige Sekunden in Anspruch - ich hatte meine Balance wiederhergestellt. Wackeliger als zuvor. Doch für den Moment stabil. Wieder richtete ich mir dem Fenster zu. Diesmal war ich gefasst, was mich erwartete. Getränkt von dem dünnen Licht, welches von Igelavar ausging, warf das Fenster das Bild eines zähneknirschenden, angestrengt dreinblickenden Kerlchens zurück. Auf dem azurblauen Kopf-Fell perlten Schweiß- und Regentropfen in einem einzigen großen Fluss. In den gelben Augen spiegelte sich wieder und immer wieder dasselbe Bild, bis ins Unendliche. Das war ich. Mein Spiegelbild. Ich neigte meinen Kopf etwas zur Seite. Es tat es mir gleich. Ich kehrte zur Ausgangssituation zurück. Wieder folgte es mir gehorsam. Tief in den Augen bemerkte ich eine Furcht, die meine Gedanken ummantelte, seit wir hier angekommen waren. Ein Gefühl oder vielleicht auch eine Vorahnung. In beiden Fällen hatte ich es jedoch bislang nicht auszusprechen gewagt. Dahinter - ich schätzte die Scheibe auf einen knappen Zentimeter - herrschte tiefste Dunkelheit. Ich sah nichts. Nichts, was hinter dem Glas verborgen lag. Kein Gang. Keine Stühle, keine Tische oder Bänke. Keine Kerzen oder Lampen. Kein Ofen. Absolut nichts. Alle Nächte dieser Welt hatten den Waggon verschlungen.
    „Und?“, drängte Stan.
    Ich zögerte, schärfte meine Augen. Nichts.
    „Was ist?“
    „Nichts.“
    „Was, nichts?“
    „Da ist nichts. Ich sehe nichts. Kann ich jetzt runter? Bitte?“ Ich hatte genug, wollte es nicht mehr sehen. Mir wurde schlecht, warum auch immer. Meine Beine waren taub, die Zunge trocken, das Gesicht im Wechselbad heiß und kalt. Die Speiseröhre in einem endlosen Wirbel verknotet.
    „Streng dich an. Soll Igelavar etwas mehr Licht machen?“
    „Was meinst du, was ich hier mache, Kaffee trinken?“, platzte ich genervt heraus. Streng sah ich über die Schulter, hinab zu Stan, wie er auf dem sicheren Erdboden stand und dumme Sachen von mir forderte.
    Ich wollte hinunterspringen. Ich hob meinen Kopf zur Scheibe hin, wollte mich umdrehen. Aus einem fragilen, verwucherten Gesicht starrten mir zwei tiefe, leere Augenhöhlen entgegen. Durch den abgewinkelt hängenden, weit geöffneten Mund zogen sich oben und unten löchrige Zahnreihen. Das wenige Haar war dünn und verfilzt. Finger, wie Zweige - die knöchrige Hand lag weit ausgestreckt auf dem Glas, als ob sie nach draußen zu greifen versuchte. Die körperlichen Überreste einer mindestens zehn Jahre toten Frau.


    Ein heftiger Schlag. Pulsierender Schmerz. Alles um mich herum war dunkel. Mein Kopf schmerzte heftig, der restliche Leib wand sich, zappelte im Todeskampf. Schreie dröhnten in meinen Ohren. Meine eigenen. Aufgeregte Schritte um mich herum. Immer und immer wieder hörte ich Stan meinen Namen rufen. Weitere Stimmen reihten sich ein. Kelly weinte. Der Regen wurde stärker. Heißes Wasser lief über meine Wangen. Mein ununterbrochen schreiendes Gesicht rutschte auf dem nassen Asphalt zur Seite. Im selben Moment übergab ich mich. Auf offener Straße, wie mir langsam bewusst wurde. Ich war gestürzt. Abgerutscht. In eine Sekunden-Ohnmacht gefallen.
    „Was ist passiert?“
    „Was ist mit ihm?“
    „Er soll aufhören!“
    „Sheinux! Sheinux!“
    In Stans Armen kam ich langsam wieder zu mir. Es schien dunkler als zuvor zu sein. Die Umgebung, die Gesichter, alles. Mir war speiübel. Der Geschmack von Halbverdautem lag streng in meinem Hals und bedeckte meine Zunge von vorn bis hinten mit einem widerlichen Flaum. Tränen huschten mir immer noch über das Gesicht. Meinen Beinen fehlte das Gespür. Stans Gesicht war von Erleichterung und Sorge gespalten. Letzteres gewann dann rasch überhand, als ich den Mund öffnete und mit heißerer Stimme würgte: „Lei-Leiche ...“
    „Was?“
    „To-te ... Frau ... drin ...“
    Kellys Klagen wurde lauter, zeitgleich auch Lindsays tröstender Beistand. Der Schock veranlasste den Rest zum Schweigen. Sekunden, wie Stunden.
    „Nichts. Da ist nichts.“
    Stan drehte sich dem Waggon entgegen. Eine neue Welle der Übelkeit drohte mich hinfortzuspülen, als die blaue Karosserie in Sichtweite kam. Lars war emporgeklettert. Die kleine Flamme seines Sturmfeuerzeugs kämpfte um das Überleben, während er geradewegs durch das Fenster, durch das ich vorher hindurchgeblickt hatte.
    „Nichts wiederholte er.“ Lars’ Kopf drehte sich prüfend nach links und rechts. Dann sprang er hinab.
    „Ich habe sie gesehen!“
    Doch niemand glaubte mir. Stan tat so, aber er konnte mir nichts vormachen. Nicht einmal ich selbst glaubte mir. Halluzunierte ich? Verlor ich meinen Verstand? Wenn es nach Lindsay ging, dann ja. Sie verurteilte mich aufs Schärfste, gerade so, als ob es mir Spaß bereitet hätte, allen einen Mordsschreck einzujagen. Eagle stellte mich als totalen Verrückten hin, also keine sonderliche Veränderung unserer Beziehung.
    Die nächste halbe Stunde verbrachte ich in sicherem Gewahrsam von Stans Armen. Von meinem Umfeld bekam ich kaum noch etwas mit. Schabendes Schuhwerk und klatschender Regen zogen mich hypnotisch in ihren Bann. Ich fing einzelne Gesprächsfetzen auf. Simon beschwerte sich, er wolle nicht durch einen spinnenverseuchten Tunnel laufen. Er bekam Zustimmung von Lindsay. Eagle teilte weitere Beleidigungen aus. Kelly rief weinend nach ihrer Mutter. Igelavar erhob Einspruch dagegen, den Pfad auf den Hügel empor nicht antreten zu wollen. Stan keuchte schwer, alle anderen auch. Sein heißer Atem schlug mir im Zweisekundentakt ins Gesicht. Seine Atmung kehrte erst langsam zur Normalität zurück, als wir vor einem Anwesen standen.

  • Puh ... Ist schon einige Zeit ins Land gegangen, seitdem ich hier das letzte Mal ein Kommentar verfasst habe^^“


    Da es nun wirklich schon ein gutes halbes Jahr zurück liegt, dass ich das letzte Mal einen Part zu Pflicht und Ehre gelesen hab, musste ich etwas weiter vorher beim Lesen einsetzen, um wieder halbwegs hineinzukommen. An das Szenario hab ich mich doch noch gut erinnern können, nur die ganzen neuen Charaktere haben mich etwas überfordert. Aber letztendlich hab ich doch wieder den Faden in der Handlung gefunden^^
    Ich werde jetzt eher auf die letzten Parts eingehen, weil bei den anderen (die ich versäumt habe zu kommentieren *hust*) liegt das Lesen schon so weit zurück, dass ich mich nicht wirklich noch was dazu sagen kann.
    Also, zurück in dem nun unheimlichen Zug, zusammen mit Sheinux, Stan, Eagle und einem Haufen neuer Charaktere. Und einem Stromausfall, was für ein passender Auftakt. Hatte wie gesagt anfangs etwas Probleme mit den ganzen unterschiedlichen Namen, aber da du immer wieder besonders die Charaktereigenschaften der einzelnen Personen betont hast, war das gegen Ende auch kein Problem mehr.
    Tja und was macht man so gerne in Horrorfilmen? Aufteilen. Bei so etwas möchte ich mir am liebsten die Haare raufen möchte, da so etwas in derartigen Erzählungen nicht selten für alle Beteiligte tödlich endet xD Hier ist es zu mindestens nur ein Mädchen, dass sich von der Gruppe trennt aber warum bleiben möchte, ist mir ein Rätsel ... und ganz geheuer ist es mir auch nicht. Bin gespannt ob das noch irgendwelche Auswirkungen auf die folgende Handlung hat.


    Auf alle Fälle dürfen wir aber jetzt endlich auch die Welt außerhalb des unheimlichen Zuges sehen. Genau die richtige Stimmung für diese besinnliche Weihnachtszeit: Regnerisch, windig, dunkel, bedrohlich und überall alte Züge xD
    So wie du den Zugfriedhof beschreibst bekomme ich das Gefühl, dass sie nicht die ersten sind, die an diesem seltsamen Ort gestrandet sind. Erinnert mich irgendwie an diese Schiffsfriedhof, aus irgendeiner Geschichte, wo auch Schiffe aus allen Epochen gestrandet sind, aber ich weiß wirklich nicht mehr woher.
    Die Stimmung ist im Allgemeinen etwas düster, keiner will die Verantwortung übernehmen und nirgends ist ein Zeichen von richtiger „lebender“ Zivilisation zu sehen. Ich konnte mir beim Lesen sehr gut diesen seltsamen Ort vorstellen und auch die Atmosphäre baute sich rasch auf. Wo der Part wirklich nochmal eins auftrumpft, ist bei der Stelle, wo Sheinux einen Blick in die alte Dampflok werfen soll. Ganze Zeit über schwebte beim ohnehin diese unheimliche Stimmung über meinem Kopf und ich hab nur darauf gewartet, dass gleich irgendetwas passieren würde. Wie du (für mein Gefühl) quälend lang den einen Moment hinauszögerst, bevor Sheinux endlich einen Blick durch die Scheibe wirft ... In der Zeit hab ich mir bereits alle möglichen Spekulationen aufgestellt, was nun in dem inneren der Lok sein würde aber in guter Horrortradition, sieht er jedoch nichts Besonderes. Obwohl ich noch geahnt habe, dass das nicht das Ende sein würde, hat die ganze Anspannung merklich von mir abgelassen. Ich hab bereits vergessen, dass auch Worte derartige Spannung und „Angst“ aufbauen können. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich den Part Spätabends in einem Zugabteil gelesen hab, aber das ändert nichts daran, dass dir meiner Meinung die Stelle ungemein gut gelungen. Ich schätze mal, die vorbereitet uns bereits darauf vor, was bald noch folgen wird ... ein dunkles Anwesen verheißt wirklich nichts Gutes.
    Freu mich schon zu erfahren, ob Sheinux wirklich dabei ist den Verstand zu verlieren ... oder ob da noch mehr dahinter ist ...


    lg
    Toby

  • Kapitel 8: Die Villa




    Part 1: Kein Zurück


    Der Glanz makelloser Nacht verschmolz mit dem künstlichen, farblosen Licht hinter der vergitterten Verglasung des voluminösen Gebäudes. Über den zwei Stockwerken kalten, weißen Steins schälte sich ein flaches Dach, schwarz wie die Nacht selbst. Die Fassade wirkt schmutzig und sehr alt, längst allerdings nicht so verwahrlost wie die Gartenanlage. Ein endloses Geflecht von Unkraut und Dornengestrüpp - in lauen, trockenen Sommernächten wohl eine prächtige Bühne für jedes Grillen- oder Zikadenkonzert - wucherte nur so, wo man auch hinsah. Selbst das Gemäuer schien Jahr für Jahr immer mehr von der ungezähmten Vegetation verschlungen zu werden. Der wahre Umfang des Anwesens konnte man so nur erahnen. Zwischen der Heimtücke gefährlicher Dornen machten wir den holprigen Schotterweg aus, dem wir die ganze Zeit über leichtfertig gefolgt waren. Der Pfad mündete und endete an der robust wirkenden, zweiflügeligen Eichenpforte. Die Feuchtigkeit in Stans Turnschuhen mantschte, während er wiederholt unruhig das Gewicht von einem auf den anderen Knöchel verlagerte. Das Zwielicht tränkte sein Gesicht in einem Schwall kalten Misstrauens, dasselbe, das man ebenfalls bei allen anderen seiner Mitmenschen herauslesen vermochte.
    „Sollen wir mal anklopfen? Oder klingeln?“ Kevins Finger zwirbelten nervös an den herabbaumelnden Schnüren seiner Regenjacke. Dabei schaute er fragend in die Runde.
    „Hier sollten wir nicht bleiben. Außerdem wäre es ohne Sinn und Verstand, einfach so umzukehren“, antwortete Lars.
    „Wenn überhaupt jemand da ist ...“, murmelte Stan.
    „Es brennt Licht, natürlich ist einer da, du Depp!“ Eagle tat einen demonstrativen Schritt voraus, zögerte dann aber, ohne das gefügig folgende Anhängsel einen weiteren zu wagen.
    „Und? In den Zügen brannte kein Licht. Keine Menschenseele war da“, konterte Stan kühl. Angesichts seines sichtlich erschöpften Zustands gehörte es zu einer Meisterleistung, wie er sich gegen Eagle auflehnte. Ein rasches Aufblicken bestätigte mich nur einmal wieder: Mein Freund wirkte aufgebraucht und leer. Als ob man eine Batterie ausquetschte, bis man auch wirklich den letzten und kleinsten Funken gewaltsam ans Tageslicht beförderte.
    Eagle lachte humorlos auf. „Wenn man von den ganzen Leichen absieht.“
    „Klopf doch an die Tür und frag, ob sie dein Gehirn gefunden haben. Vielleicht haben sie ja Mitleid und machen wir auf.“ Blut und Schamesröte schossen mir in den Kopf und brachten die Regentropfen auf meinem Gesicht zum Kochen. Stan zischte mir mahnend zu, ein heftiger Ruck seiner Arme, in denen ich mich zu diesem Zeitpunkt noch befand, sollte mich letztendlich zum Schweigen bewegen. Ohne sonderlich großen Erfolg.
    „Noch ein falsches Shuw, und du endest als Jackenfütterung! Und außerdem: Wer von uns hat hier denn die Wahnvorstellungen? Du doch, du Töle!“
    „Wenigstens brauche ich keine Jacke, um etwas herzumachen! Was versteckst du denn unter deiner, außer einen Ego so groß wie ein Haufen Scheiße?!“
    „Linni, sag ihnen, sie sollen aufhören ...!“, bettelte Kelly unter einem neuen Anflug von Tränen in ihrem Gesicht.
    „Schluss jetzt! Das führt doch zu nichts.“ Es war nicht Lindsay, die sich einschärfend zwischen Eagle und mich stellte und unserem Eklat einen Riegel vor schob, sondern Lars nahm der Aufgeforderten diese Bürde ab. Eagle machte eine schnippische Kopfbewegung von meiner und Stans Richtung weg. Der angriffslustige Luftzug aus seiner Nase übertönte das Regenwetter und überdauerte noch eine ganze Weile in meinem Kopf.
    Stans Blick wanderte in Armhöhe hinab. „Er ist es nicht wert, und das weißt du“, mahnte er mich. „Lass dich doch nicht immer darauf ein.“
    „Ich weiß“, knurrte ich zwischen meinen zusammengebissenen Zähnen hervor, „aber weißt du eigentlich, wie verdammt schwer es ist, immer und immer wieder dem unwiderstehlichen Drang nicht nachzugeben, dem Großkotz ins Gesicht zu spucken?“
    Stans Lächeln war müde, aber von der ehrlichen Sorte. „Ich muss mir auch immer wieder einreden, dass es Zeitverschwendung wäre.“
    Von oben herab war einfach keine Besserung in Sicht. Neuer, kräftiger Wind fachte auf, schwere Wassertropfen lösten den bisher angehaltenen Sprühregen wieder ab, so auch unsere Entscheidung, wie wir weiter verfahren sollten. Niemand hegte sonderlich großes Interesse, länger als noch unbedingt nötig diesen feindlichen Wetterverhältnissen ausgesetzt zu sein. Igelavar kroch zwischenzeitlich nur noch auf dem Zahnfleisch, und als Glumanda auf den letzten Metern ihrer Erschöpfung erlag und in ihren Pokéball zurückkehrte, galt unser Vorhaben als endgültig besiegelt. Die letzten Bedenken waren buchstäblich baden gegangen.
    Im Fahrwasser des Gedankens, dass unsere Lage unmöglich misslicher werden konnte, rückten unsere durchweichten, halb erfrorenen Leiber allmählich in das dumpfe Licht der Villa. Wirklich warm wollte es mir irgendwie nicht werden, auch dann nicht, als ein direkter Blickkontakt mit einem der abgerundeten Fenster langsam die Augen zum Tränen brachte. Dem Pfad folgend, türmte sich das Gebäude weiter und weiter auf, bis die Fassade den Schein nicht mehr weiter wahren konnte, die aus der Ferne ursprünglich als weiß wahrgenommene Gemäuer ihren Glanz zusehends verlor und sich schließlich schmutzig grau in dem von Regen unterbrochenen Zwielicht hervorhob. Schlingpflanzen, noch keinen Fingerbreit, schlängelten sich einen knappen Meter an einer der beiden schorfigen Trägersäulen empor, die eine kleine Überdachung unterhalb der etwas wettergeschützten Eingangsbereich stützten. Die Dornen schleimig grün schillernder Disteln leckten an den zwei in Zement gemeißelten Treppenstufen direkt vor der Tür.
    Allen voran taxierte Lars sein näheres Umfeld als erstes, jedoch nicht länger als er es absolut für nötig hielt. Einer seiner schwarzen, schlammbeschmierten Schuhe streifte das Unkraut kurz, dann hatte er bereits die letzte der beiden Treppenstufen gemeistert, die runde Türklingel nur noch eine Handbewegung entfernt. In dem Schulterblick des Immobilienmaklers lag ein überraschendes Zögern, ein Zweifeln, die unausgesprochene Anfrage nach der obligatorischen Absegnung durch uns. Auch seinen Hintermännern und -frauen versagte die Stimme angesichts dieser doch plötzlich zum gleichen Teil fragwürdigen als auch schwerwiegenden Entscheidung. Der krankende Optimismus brachte ein stummes, bedenkliches Nicken unsererseits hervor. Das war dann aber auch schon alles. Kein zuversichtliches Daumenrecken. Kein halbwegs fröhliches Lächeln. Selbst die zwei kleinen Treppenstufen waren ein Berg, den niemand weiter zu überqueren wagte, so trocken und behaglich es dahinter auch sein mochte.


    Beim Klang der altmodischen Türklingel zuckte mein Freund Stan schreckhaft zusammen; eine Bewegung, die bei fast allen seiner Nachbarn Wiederholung fand. In einer beidseitigen Form der Gedankenübertragung trafen sich unsere Augen. Skepsis und Unbehagen las ich heraus, die gleichen Gefühle, die auch meine Gedanken längst infiziert hatten.
    Wieso überhaupt so pessimistisch? Willst du lieber noch stundenlang bei diesem Sauwetter durch die Gegend irren? Dagegen hat sogar ein Nadelkissen mehr Komfort. Außerdem bist du ganz schön fertig. Was meinst du, wie es wohl den anderen geht? Wie es Kelly geht, mit ihren fünf Jahren? Oder Stan?
    Das stimmte. Um Eagle scherte ich mich einen Dreck. Lindsay konnte mir mittlerweile auch gestohlen bleiben. Aber die anderen hatten ein solches Schicksal nicht verdient. Insbesondere Stan nicht. Er mochte sich standhaft präsentieren, aber ich wusste es besser. Sein schweres Atmen war verräterisch, das Trübe in seinen Augen eindeutig. Das alles zehrte ihn innerlich auf. Er war am Ende seiner Kräfte, mehr noch als wir alle zusammen. Wir mussten uns ausruhen. Stan musste sich ausruhen!
    Ich zählte die Sekunden, die seit dem Läuten verstrichen waren.
    Einundzwanzig, zweiundzwanzig, ...
    Was, wenn uns keiner aufmachte? Was, wenn niemand da war?
    Dreiundzwanzig, vierundzwanzig, ...
    Wohin sollten wir dann gehen? Wie lange noch, bis wir uns wieder gegenseitig an die Gurgel gingen?
    Fünfundzwanzig, sechsundzwanzig, ...
    Sollten wir einfach einbrechen? Uns gewaltsam Zutritt verschaffen?
    Die Anspannung kräuselte sich in einem endlosen Wirbel und hatte die feuchte Luft zum Knistern gebracht, als sie mit einem Mal explodierte. So glaubte ich zumindest. Ein dumpfer Knall ... nein, eher ein gutturales Ächzen; merkwürdig verzerrt, als ob aus einer trockenen, staubigen Kehle stammend. Ein Spalt hatte sich an einem Flügel der Tür gebildet - die eben noch verschlossene Tür! Aus dem kaum mehr als einen Zeigefinger langen Durchbruch zwängte sich das gleiche farblose Licht wie aus den Fenstern. Etwa auf Schulterhöhe verkeilte eine goldene, stramm angezogene Kette die wenig geöffnete Tür mit dem verschlossenen zweiten Flügel und verhinderte so, dass sie noch ein Stückchen mehr aufgeschoben werden konnte. Und darüber, in einem schrägen Winkel ... spähte ein Gesicht hinaus, das ich, nachdem der erste Schreck überwunden war, einem Menschen zuordnen konnte.
    In seinem Anflug jäher Panik war Stan instinktiv ein Stück zurückgewichen, und damit war er nicht allein. Auch Simon, Lindsay und Kelly hatten es ihm gleichgetan. Vor uns, schützend und unnachgiebig wie ein Bollwerk, hielt Lars die Stellung, wobei ich glaubte, dass auch er nicht mehr ganz dort stand, wo er sich zuvor befunden hatte, wenngleich es sich dabei auch nur um wenige Zentimeter handelte.
    „Die Herrschaften wünschen?“
    Die dunkle Männerstimme wurde über und über von einer öligen Korrektheit überlagert, etwas Erhabenem. Fleisch der Zuverlässigkeit ummantelt von den Knochen kriecherischer Unterwürdigkeit. Eine Personifizierung blinden Gehorsams. Manche mochten es vielleicht leiden, all ihre Lasten und die schier unmöglichen Aufgaben in diese überaus fähigen Hände zu legen, in der Gewissheit, dass beim nächsten Aufeinandertreffen die gewünschten Ergebnisse vorliegen, bis ins allerkleinste Detail ausgeführt. Mir für meinen Teil war ein solches Verhalten zuwider, und damit alles, was ich damit in Verbindung bringen konnte.
    „Ich bitte vielmals, die späte Störung zu entschuldigen. Lars Harvson aus Stratos City mein Name. Meine Kollegen und ich sind Fernreisende aus Graphitport City. Unser Zug nach Dukatia City ist unten am ausgedienten Güterbahnhof zum Stillstand gekommen. Ein Technikerteam ist wohl schon unterwegs. Besteht dennoch die Möglichkeit, dass wir für den Verlauf der Nacht Ihre Gastfreundschaft in Anspruch nehmen dürften, zumindest, bis sich die Wetterlage verbessert hat?“
    Mit seiner bewundernswerten Redegewandtheit, Sachlichkeit und Aufrichtigkeit hatten wir mit Lars an vorderster Front einen wahren Glückstreffer gelandet. Nicht ein einziges Mal verhaspelte er sich in seiner Sprache oder traf den Ton nicht oder wirkte in irgendeiner Weise aufdringlich. Überzeugungsarbeit vom Feinsten. Die Vermutung lag nahe, dass sicheres, überzeugendes Auftreten zu einem festen Bestandteil seines Berufsstands gehörte.
    Mit einer schweifenden Bewegung verschafften sich die Augen hinter der Tür Klarheit darüber, mit wem man es überhaupt zu tun hatte. Ein erwachsener Mann, eine junge Frau, die ein nicht einmal sechs Jahre altes Kind behütete, mehrere Teenager und zwei Pokémon, alle bis auf die Haut durchnässt. „Ich werde meinem Herrn Ihr Anliegen überbringen. Sir möchte bis dahin warten.“ Schwungvoll, aber keinen Millimeter zu weit federte die Tür zurück in die Verriegelung, wieder begleitet von dem müden Ächzen schweren Holzes.
    „Als ob wir groß eine andere Wahl hätten ...“ Mit einem kurzen Schulterzucken wandte sich Lars seinen Hinterleuten zu. Von uns erntete er respektvolle Blicke.
    Lindsay begann, leise auf ihren kleinen Schützling einzureden. Herauszuhören vermochte ich nicht, um was es ging, aber ich war mir sicher, Lindsay machte ihr Hoffnung, gleich ins Warme zu kommen. Auch ich nutzte diese Gelegenheit, einige Worte mit Stan zu wechseln.
    „Warum redet der Typ so komisch?“
    Stan sah mich nicht an. Seine Aufmerksamkeit ruhte sehnsüchtig auf der Tür, vor der man uns ausgesperrt hatte. „Geschwollen trifft es eher“, antwortete er schließlich. „Wir haben es wohl mit ein paar Etepetete-Leuten zu tun.“ Seine Mundwinkel strafften sich zu einer widerstrebenden Grimasse. „Wir können von Glück reden, wenn wir nur ein paar Brotkrümel bekommen, ganz zu schweigen davon, dass man sich herablässt, uns arme Proleten hereinzubitten.“
    „Und weil die nur Brotkrümel haben, müssen die so reden?“
    Stan gluckste. Dabei driftete seine Aufmerksamkeit auf mich über. Er wirkte sehr müde. „Quatsch, das verstehst du falsch. Also ... ähm ... der Mann an der Tür könnte so eine Art Hausangestellter sein, ein Butler oder so. Die werden auf Umgangsformen und Auftreten getrimmt, um den hohen Ansprüchen ihrer Familie, in deren Dienst sie stehen, gerecht zu werden.“
    „Dienst? Er ist eine Art Sklave?“
    „Mhm“, machte Stan nachdenklich und rang mit den Worten, „ja, doch, das trifft es eigentlich ziemlich gut. Ein Sklave mit ziemlich guten Manieren“, sagte er schließlich. „Aber egal, was für eine Position man in einer solch feinen Gesellschaft bestreitet, man glaubt insgeheim, etwas Besseres zu sein als alle anderen. Nur lassen sie es sich kaum anmerken. Aber deshalb reden die so. Klar?“
    „Und was haben die Brotkrümel damit zu tun?“
    Stan hielt es nicht nötig, noch länger auf meine ehrlich gemeinte Frage einzugehen. Er und ich reihten uns somit in das Schweigen der anderen ein, nur unterbrochen von dem unaufhörlichen Regenprasseln und das metallische Geräusch von Lars’ Sturmfeuerzeug, das er in seiner Manteltasche wiederholt nervös auf- und zuklappte. Wie man es auch nennen mochte: die Warterei begann aufs Neue. Nach etwas mehr als einer Minute gab ich das Zählen auf.
    Wenn die Leute hier wirklich so manierlich in ihren Umgangsformen waren, dann gehörte ein Nein hier sicherlich ebenso zum guten Ton wie es ein Ja tat. Dieser Gedanke zweckte Schuld daran, dass ich wohl zu einem der Letzten gehörte, der die Hoffnung auf eine Antwort schließlich aufgab. Mein grimmiger Gesichtsausdruck bohrte sich in das Holz der schweren Eichentür. Es war wohl doch genau so, wie Stan sagte: Die Leute hier glaubten, etwas Besseres zu sein. Weiteres Geschwätz betrachteten sie als so überflüssig wie wir es selbst waren. Wahrscheinlich amüsierten sie sich sogar hinter ihren warmen Mauern köstlich auf unsere Kosten; über unsere Hilflosigkeit und dem blinden Glauben an die Aufrichtigkeit. Doch dann ... ich wollte es nicht glauben: Der Angestellte öffnete die zweiflüglige Tür, diesmal vollständig und durch keine Kette unterbrochen. Stans und auch mein Misstrauen war unbegründet. Man bat uns herein.

  • So, dieses Mal in einem nicht so langem Abstand, bekommst du von mir ein Kommentar zum neuen Part^^
    Die Handlung selbst wird in diesem Part nicht wirklich vorangetrieben, alles was eigentlich in diesen paar Seiten passiert, ist lediglich das Annähern an die (unheimliche) Villa. Aber dir gelingt es trotzdem, diese Situation auf gut 2000 Wörter auszudehnen, ohne dass Langweile aufzieht.
    So, zuerst was am Rande: Ich würde das Bild etwas verkleinern, es wir d(zu mindestens bei mir) recht groß angezeigt und braucht lange zum Laden. Nur so ein Vorschlag.^^
    Also zum Part: Ich bin immer wieder beeindruckt, wie sehr es dir gelingt, die ganze Situationen und Umgebungen auf so vielfältige Art und Weise zu beschreiben (wie anfangs mit der Beschreibung der Villa in der Nacht)und mit Metaphern zu umschmücken. Ich glaub ich hab das bereits des Öfteren betont, aber bei diesem Part ist mir das nochmals besonders aufgefallen. Wenn ich deinen Wortschatz mit dem meinen vergleiche, sind da wirklich Meilen dazwischen. Dafür waren dieses Mal ein, zwei Wörter dabei, bei denen ich erst die Bedeutungen erst nachschlagen musste - wie etwa taxieren -, aber wie es so schön heißt, man lernt nie aus^^
    Nicht nur die Beschreiben trägt ihren Teil bei sondern auch das ausführlich geschilderte Verhalten der Gruppe. Ihre kollektive Unsicherheit und Zweifel wirkt recht glaubhaft und ich bezweifle, dass ich selbst so voreilig auf diese Villa zumarschiert wäre. Aber nach einer derartige Rätselhaften Zugfahrt und einem so unheimlichen Ort ... vielleicht wäre ich sogar freiwillig in Regen geblieben xD
    Jedenfalls fand ich besonders die kleine nette Streiterei zwischen Eagle und Sheinux wieder einmal sehr unterhaltsam, so sinnlos sie auch in Stans Augen zu sein schien. Ich weiß nicht, es hat immer so etwas Befriedigendes an sich, wenn jemand sich einer derartigen Person aufmüpfig gegenüber benimmt. Und dann haben wir da ja Stans Erklärung, was ein Butler ist und was die feine Gesellschaft von dem Gemeinen Pöbel hält. Ist eine Weile her, seit dem Sheinux so „naive“ die Eigenheiten der menschlichen Spezies hinterfragt hat, jedenfalls soweit ich mich erinnere. Das war ja besonders während er in Stans Körper herum spazieren hat müssen, eine nicht unbedingt seltene Situation gewesen. Die vereinfachte Beschreibung eines Butlers und besonders Sheinux Interesse an den erwähnten Brotkrümel hat in der Tat bei mir ein Schmunzeln hervorgebracht.


    Jetzt wo sie endlich in das Innere der von außen verwahrlost wirkenden Villa eintreten, bin ich sehr gespannt darauf, was sie erwartet. Zwar ist die Villa scheinbar bewohnt, aber womöglich ist auch das nur eine Illusion, so wie die tote Frau ... wenn das überhaupt eine war ...
    Bleib auf alle Fälle daran!^^


    lg
    Toby

  • Part 2: Die Grafschaft von Blakewater


    Unter das modrige Aroma antiker Möbel und endlosen, staubigen Korridoren mischte sich der scharfe Geruch nasser Kleidung sowie süßlichen Moschus’. Erleichtert darüber, endlich das Unwetter hinter den dicken Mauern ausgeschlossen zu haben, schälten sich die Menschen nach für nach aus ihren triefenden Regenmänteln; eine Erleichterung überschattet von der überwältigenden Imposanz unserer neuen Umgebung. Bereits der Eingangsbereich, eine zweistöckige, weitläufige Halle, groß genug, dass man sich leicht in ihr verlaufen konnte, spottete unseren kühnsten Vorstellungen. Jeder noch so kleine, sorgsam gesetzte Schritt über den weisen Marmorfußboden hallte mindestens fünffach verstärkt von den Wänden wider. Erst ein übergroßer, rubinroter, reich verzierter Perserteppich in der Mitte des Raums dämpfte die hellen Klänge zu einem verräterischen Flüstern. Der Läufer rollte sich über die zwanzig Stufen der gegenüber zur Eingangstür liegenden, mindestens drei Meter breiten Treppe hinauf ins zweite Stockwerk. Purpurrote Velours-Vorhänge verhüllten die eierförmigen Fenster, eine Erklärung dafür, warum nach draußen hin das Licht so fad und tonlos wirkte. Im Erdgeschoss gab es links und rechts je zwei Türen, jede breit genug, dass mindestens drei Personen gleichzeitig durch sie hindurch schreiten konnten; weitere Türen machte ich bei einem flüchtigen Blick hinauf ins zweite Stockwerk aus. In Gold und Silber aufgedonnert hing von der Decke die Luxusausführung eines protzigen, vielarmigen Kronleuchters. Trotz seiner imposanten Größe wirkte er in seiner Aufgabe, die ganze Halle zu beleuchten, schon fast überfordert. Die Landschaftsportraits jedenfalls, von denen je eins die kahlen Wände links und rechts im Zwischenraum der Treppe schmückte, waren leicht von Schatten umhangen. Der Hausherr musste diesbezüglich eine Leidenschaft besitzen, denn eine ganze Reihe weiterer Gemälde waren von unten schwach im oberen Stockwerk auszumachen. Neben der neu gewonnenen Vorstellung über das wahre Ausmaß dieses Anwesens präsentierte sich uns auch der Hausangestellte, der uns die Tür geöffnet hatte, in voller Lebensgröße. Zum gleichen Teil streng als auch reserviert betrachtete der Mann, wie wir, die Eindringlinge, uns von dem überflüssigen Nass befreiten. Kein Ton kam dem in einem dunklen Frack gekleideten Menschen über die dünnen, bleichen Lippen. Sein Anzug wirkte wie er: alt und aufgebraucht, und das, obwohl ich den Mann etwa auf Lars’ Alter schätzte. Das Schwarz seines Hemdes und seiner Hose hatte die Sättigung verloren und gingen an vielen Stellen in ein trübes Dunkelgrau über. Das weiße Hemd, das er darunter trug, mitsamt der weißen Fliege sowie den weißen Handschuhen erweckte denselben Zu-oft-gewaschen-Eindruck. Eine vornehme Blässe lag in dem - meinem Empfinden nach - zu schnell gealterten, schmalen Gesicht. Ganze Gräben zogen sich durch die dessen Miene, so tief, dass die hohen Wangenknochen erschreckend weit zum Vorschein kamen. Das dünne, graue Haar auf seiner Kopfhaut wirkte wie angekleistert, ein weiterer Kontrast zu meiner Vermutung, dass das halbe Leben eigentlich noch vor ihm liegen müsste.


    „Vertretend für meinen Herrn, seine Lordschaft, den ehrenwerten Grafen Aeaneas Blakewater, heiße ich Sie in der Grafschaft von Blakewater willkommen.“ Erst nachdem wirklich jeder Einzelne von uns seine nassen Kleidungsstücke abgestreift hatte, näherte sich der Bedienstete. Auch bei diesem Vorgang präsentierte er sich kühl, ja fast abgestumpft, als ob er Luft vor sich hätte. Im Gegensatz zu uns federten seine Schritte beinahe lautlos über die kalten Marmorplatten. Das gehörte wohl auch zu seinem Berufsstand: Die Arbeit verrichten und dabei so wenig wie möglich in Erscheinung treten. Und eben darin schien er sehr erprobt zu sein. In einer mehr als gebührenden Distanz baute er sich vor uns aus. Er stand kerzengerade. „Die Herrschaften gestatten, dass ich mich Ihnen kurz vorstelle: Edward Maolmuire, in der dritten Generation im Dienste der Familie Blakewater.“ Sah man von einem seltsamen erstickenden Laut aus Eagles Richtung ab, lauschten wir den Worten des Hausangestellten schweigsam. „Mein Herr bittet Sie, sich während Ihres Aufenthalts in seinem Haus als seine Gäste zu betrachten. Ihre Anliegen dürfen Sie in dieser Zeit an mich richten. Mit wem darf ich die weiteren Einzelheiten Ihres Verbleibs erörtern? Sie, Sir?“
    Bei jedem anderen hätte eine derart förmliche und höfliche Bitte auf ein Unverständnis beträchtlichen Ausmaßes gestoßen. Lars aber ließ sich nicht so schnell aus der Fassung bringen. Das Gespräch, in das die beiden Männer einander erwickelten, gab den übrigen von uns Gelegenheit, das Umfeld noch ein wenig genauer zu betrachten. Ich beschränkte mich hierbei auf Stans eher dürftig angesiedeltes Interesse.
    „Du fühlst dich hier nicht wohl?“ Mittlerweile stand ich wieder auf festem Boden; eine Entscheidung, die ich sehr schnell bereute. Unverkennbar laut gab der kalte, harte Marmor die Geräusche krallenbewehrter Pfoten wider. Schon mein erster unbedarft gesetzter Schritt schindete bei dem Rest meiner Kameraden deutlich mehr Aufmerksamkeit als mir eigentlich lieb war. Ein Augenblick der Folter, wenn auch nur von kurzer Dauer. Schnell schweifte das Interesse von Eagle und den anderen wieder um und ich hatte Stan für mich alleine.
    „Das kann man wohl sagen ...“, seufzte er.
    „Kann ich nachvollziehen. Wobei ... eigentlich nicht.“ Stirnrunzelnd wandte ich mich von den wenigen Kiefern des Portraits eines felsengeformten Hochlands ab, vor dem wir standen. „Du hast ein Dach über dem Kopf und keinen Trubel, den du so scheust. Müsste also genau dein Ding sein.“
    Stan verharrte schweigend auf dem Titel des Gemäldes: Argtho-Plateau.
    „Oder ist das wieder so eine Brotkrümel-Geschichte?“, hakte ich nach.
    Stans schwaches, nicht zufriedenstellendes Kopfschütteln ließ mich weiter in Unwissenheit. Sein schlaffer Atem prallte wirkungslos an dem kalten Grün der Kiefernnadeln ab. „Ich kann es irgendwie nicht erklären ... Mir ist einfach nicht wohl. Aber das geht schon ’ne ganze Weile so. - Was ist mit dir? Du hast doch eine Nase dafür, wenn was nicht stimmt.“
    „Ich rieche den bloßen Hintergedanken zehn Meilen gegen den Wind“, bestätigte ich ihm, wobei er das natürlich sehr genau wusste, schließlich hatte er eine Woche in meinem Fell gesteckt.
    „Also?“
    Jetzt ertappte er mich dabei, wie ich mit meinen kreisenden Gedanken zu kämpfen hatte. In einem seltsamen Zufall befand auch ich die Kiefern auf dem Gemälde plötzlich als sehr stimulierend; so musste Stan sich bis gerade eben gefühlt haben. „Als ob man mir ununterbrochen ein Messer an die Kehle hält, und das, seit dem Zwischenfall im Zug“, gestand ich ihm. Dass Stan bereits eine dumpfe Ahnung, die leise Vorahnung einer unmittelbaren Gefahr hegte, war mir Bestätigung genug und reichte völlig aus, meine geheimen Gedanken endlich mit ihm zu teilen.
    „Geht mir genauso. Um ehrlich zu sein, würde ich lieber mit der billigsten und runtergekommensten Absteige vorliebnehmen, als hier die Nacht verbringen zu müssen; sogar Mauzis Mülleimer. Ich bekomme richtig Bauchweh bei dem Gedanken.“
    „Bauchweh, weil du hier übernachten musst, oder wegen der exzentrischen Note von Mauzis Mülleimer?“, fragte ich süßlich grinsend.
    Stan erwiderte meine Grimasse nicht weniger keck. „Sowohl als auch.“
    „Meint ihr nicht eher, dass das Hunger ist?“ Es war ein Schleppen, mit dem Igelavar zu uns aufschloss. Sein Gesichtsausdruck dabei war so unverwechselbar wie der Klang seiner Stimme: brummig und gelangweilt. „Was ist mit der Abmachung, Stan? Du hast mir was zum Essen versprochen, schon vergessen? Mein Teil ist getan - jetzt bist du dran.“
    „So sorglos möchte ich auch mal sein ...“, sagte Stan mehr zu sich selbst als zu Igelavar.
    „Ihm scheinen die kalten Platten nicht zu schmecken“, meinte ich augenzwinkernd.
    „Mir sagt die schwere Kost auch nicht weiter zu“, ergänzte Stan und wandte sich nun endgültig von dem Landschaftsbild ab. „Wenn Lars fertig ist, gehen wir mal schauen, ob wir die Gastfreundschaft etwas missbrauchen können. Würde mich doch sehr wundern, wenn wir die Einzigen wären ...“


    Bei unserer Rückkehr zu den anderen nahmen wir uns überdurchschnittlich viel Zeit. Zusammen mit Claire, Kevin, Eagle, Simon, Stan und mir bildeten wir eine kleine Gemeinschaft für uns. Die beiden erwachsenen Männer palaverten noch - ein Ende war nicht abzusehen. Lindsay parkte derweil ihr Gesäß auf einer der ersten Stufen der großen Treppe. Kellys Kopf lag auf dem Schoß ihrer Ersatzmutter, die Augen geschlossen, die Atmung ruhig und regelmäßig - sie war eingenickt. Die Meinungen der anderen Jugendlichen gingen nicht weit von der unseren auseinander. Bevor Simon aber das Fundament für weitere Schauermärchen von Gruselhäusern und Poltergeistern setzen konnte, kündigten hallende Schritte Lars’ Rückkehr an. Er wirkte zufrieden.
    „Ich habe die Situation geklärt. Wir dürfen bleiben, die ganze Nacht.“ Der eisige Empfang brachte das Lächeln des Immobilienmaklers zum Gefrieren. Seine Stirn kräuselte sich. „Nicht gut?“
    Niemand wollte etwas sagen. In banalen Nebenbeschäftigungen, beispielsweise gerade jetzt seine Schnürsenkel neu auszurichten, suchte man eine Ausrede, die Antwort auf einen anderen abzuwälzen. „Jedenfalls besser als die Nacht im Freien zu verbringen“, brach Claire als Erstes das Schweigen. Eine Windböe schmetterte gegen die Fenster, schwere Regentropfen folgten, als ob das launenhafte Wetter ihr zustimmte und zugleich eine Drohung aussprach.
    Die nur spärliche Begeisterung seiner Mitleidensgenossen schien Lars zum ersten Mal etwas aus dem Konzept gebracht zu haben. Sein üblicher Elan wirkte aufgebraucht, als er uns mit den weiteren Einzelheiten vertraut machte. „Es muss sich wohl um eine etwas ältere Bahnstrecke handeln. Ähnliche Zwischenfälle gab es nicht gerade zuhauf, aber es gab sie ... vor Jahren. Es stehen genügend Gästezimmer bereit, die man uns zur 31Verfügung stellen möchte. Kostenlos.“
    „Gibt es ein Telefon?“ Das Klimpern von Lindsays Modeschmuck, den sie um den Hals trug und mit ihren falschen Fingernägeln nervös bearbeitete, war so verräterisch wie die Schritte, mit denen sie sich näherte. Vertretend für ihren Schoß ruhte Kellys Kopf nun auf Lindsays Handtasche. Von der Treppe aus blinzelte uns das kleine Mädchen übermüdet entgegen.
    „Leider nein. Und Empfang bekomme ich hier oben leider auch keinen. Schon getestet.“ Die Tasten und der Bildschirm von Lars’ Handy leuchteten in einem bleichen Gelb auf. Seine Finger bearbeiteten das Nummernfeld, jeder Druck einem Piepton begleitend. Ein leichtes Kopfschütteln bestätigte schließlich seine Aussage. „Nichts. Die haben hier oben nicht einmal Radio.“
    Aus Igelavars Richtung kamen dumpfe Klänge, die sich verräterisch nach „Etwas zu essen ...“ anhörten. Stan wimmelte ihn daraufhin mit einem in aller Stille ausgesprochenen, aber nachdrücklichen „Kscht!“ ab.
    Lindsays Stimme wurde lauter und aufgeregter. „Was ist mit Sharleen?“
    In jedem menschlichen Gesicht konnte man exakt den Augenblick bestimmen, als die verdrängten Erinnerungen an die zurückgelassene Jugendliche plötzlich gewaltsam wieder zum Vorschein brachen. Der von Lindsay geworfene Stein der Betroffenheit zertrümmerte ganze Nasenbeine, riss tiefe Fetzen aus der Haut, bis bei jedem nur noch schuldbewusste Mienen übrig blieben, selbst bei mir. Ich hatte sie völlig vergessen. Etwas mehr als eine Dreiviertelstunde schmachtete sie bereits in der finsteren Abgeschiedenheit des stehengebliebenen Zuges, und das völlig auf sich allein gestellt.
    „Wir müssen ihr Bescheid sagen. Oder sie holen. Jetzt!“ Noch wartete Lindsay auf unsere Zustimmung, aber es war deutlich, dass ihr Schulterblick der dicken Eichentür nach draußen gewidmet war. Aber auch, dass sie sich nicht abhalten würde, auf eigene Faust loszuziehen.
    „Ich gehe nirgendwo hin, für niemanden! Sie wollte ja unbedingt bleiben. Jetzt soll sie halt sehen, was sie von ihrem Dickkopf davon hat“, meldete sich Eagle zu Wort.
    „Ausgerechnet du willst uns was von Starrsinn erzählen? Fass dir gefälligst an die eigene Nase!“
    „Lindsay, jetzt lass mal ...“, versuchte Lars leise auf die fast schon hysterisch kreischende Frau einzureden. Erfolglos.
    Es war ein Peitschenschlag, wie Lindsays lange, rote Haare während ihres Kopfschüttelns durch die Luft pflügten, das Klappern ihrer Ohrringe wie ein Säbelrasseln. „Was muss ich mir eigentlich noch alles von diesem Früchtchen gefallen lassen?! Ich sage euch, ich vergesse mich gleich!“
    „Gut, niemand wird dich vermissen, am allerwenigsten du selbst“, konterte Eagle.
    „Jetzt langst! Ich ...“
    Mit einem überraschenden Ausfallschritt hatte Lindsay die Barriere überwunden, die Lars zwischen ihr und Eagle aufgebaut hatte. Ein Schreckensmoment. Zwar konnte ich nicht von mir behaupten, Eagle sonderlich gut zu kennen, doch hielt ich ihn nicht für die Sorte Typ, der sich mit dem anderen Geschlecht prügelte, selbst in einem Fall der Notwehr. Seine Interessen zu wahren, war eine Sache. Eine Schlägerei, von der er genau wusste, dass er sowohl körperlich als auch in seiner Meinung unterlegen war, war die andere. Sein rechtes Standbein verhärtete sich, enormes Gewicht lag darauf. Ob er nun ausweichen wollte, oder sogar die Angreiferin mit einem gezielten Tritt gegen das Schienbein ausbremsen wollte, sollten wir nie erfahren. Claires kräftiger Schultergriff traf Eagle völlig unvorbereitet. Er stolperte zur Seite, genau in ihre Blickrichtung, einen Fluch auf den Lippen, der seinen Mund nicht mehr verlassen konnte. Wie eine Gewehrkugel, die Eagles Stolz zum Fall brachte, hallte das Echo der Ohrfeige noch sekundenlang durch das kalte Foyer. Sah man von dem sich rasch ausbreitenden, roten Fleck auf seiner rechten Gesichtshälfte ab, war er kreidebleich. Was noch von seinem Hochmut übrig war, versteckte er eiligst unter seiner rechten Handfläche, eine verräterische Träne eingeschlossen. Zwischen seinen Zähnen brachte er ein kleinlautes Grollen hervor, jedoch selbst für meine Ohren zu unverständlich.
    Claires Reaktion hinterließ uns fassungslos, einschließlich sich selbst, vielleicht sogar bestürzt. Beide ihrer Hände zitterten, die Atmung war schwer wie nach einem Dauerlauf. Es gehörte sicherlich nicht zu dem Alltag der Jugendlichen, andere Leute zu ohrfeigen. Ein vernünftiges Wort wollte ihr für den Moment nicht über die Lippen kommen.
    „Das Wetter wird schlechter und es ist keine Besserung in Sicht. Außerdem gibt es keine vernünftige Straße. Ein Auto fällt somit auch flach. Wir haben kein Telefon und auch sonst sehe ich leider keine Alternative.“ Man bemerkte, wie sehr sich Lars bemühte, die wirre Ansammlung unserer Gedanken auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, was ihm auch gelang.
    Lindsay nagte an ihrer Unterlippe. Vergeblich rang sie nach einer Antwort, ein Ass, das sie noch aus dem Ärmel ziehen konnte.
    „Die Herrschaften wünschen eine Erfrischung?“ Fast so, als ob er nur darauf gewartet hatte, in das Geschehen einzugreifen, nutzte Mr. Maolmuire die kurze Zeit des Friedens. Das kleine Handgemenge hatte keine sichtbaren Spuren auf ihm hinterlassen. Neben mir spürte ich sogleich Igelavar aufglühen. Sein Herz - oder vielmehr sein Magen - machte einen Hüpfer hoch bis an die Decke.
    „Haben Sie zufälligerweise einen Scotch?“
    Ich hatte keinen blassen Schimmer, worum es sich bei der von Lindsay hastig angefragten Erfrischung handelte. Es musste etwas Extravagantes oder Besonderes sein, wenn ich die leicht bestürzten Reaktionen von Stan und den anderen richtige urteilte. Der Butler entgegnete die Frage nicht einmal mit einem Wimpernzucken und hakte konsequent nach.
    „Gewiss. Madam wünschen Eis?“
    „Pur, danke.“
    „Sehr wohl, Madam.“ Mit einer kleinen Verneigung erwies er seine Reverenzen. „Es steht sich doch recht unkomfortabel hier, nicht? Wenn die Herrschaften mir bitte folgen wollen. Ich führe Sie in den Salon.“

  • Sorry für die Verspätung, hat dieses Mal etwas länger gedauert, bis ich schließlich ein (leider etwas kurzen) Kommentar zusammen hatte^^“


    Nun gut ... Also in diesem Part passiert Handlungstechnisch abermals nicht allzu viel, was aber wohl daran liegt, dass du diesen vorzeitig abgekürzt hast. Ist aber ohnehin nicht schlimm, denn wie gesagt, selbst bei kurzen Zeitspannen gibt‘s bei dir immer mehr als genug zu Lesen. Dieses Mal haben wir die Ansprache des ominösen Butler mit seiner alten Kleidung, Sheinux und Stans Unterhaltung und die Diskussion der Anderen die mit einer Ohrfeige für Eagle endet.
    Es ist schon interessant, wie sehr sich Stan und Sheinux gut verstehen, liegt wahrscheinlich auch an den Ernst der Situation, aber wenn ich so an frühere, etwas „einseitige Gespräche“ denke ... war so ein Zwischengedanke von mir. Auf alle Fälle warte ich schon die ganze Zeit darauf, dass irgendetwas „übernatürliches“ passiert, aber bisher ist das Kapitel ja noch sehr ruhig verlaufen, wenn man von dieser allgegenwärtigen Spannung absieht. Ich meine es ist bereits genug Ungewöhnliches passiert, aber noch nichts, was die Gruppe endgültig davon überzeugt hätte, dass hier absolut etwas nicht stimmt. Ist wohl aber nur eine Frage der Zeit, bis der wirkliche Horror anfängt, denn die schon die letzten Parts langsam aufgebaut hast.


    Ebenso eine Frage der Zeit war es, bis die zurückgebliebene Sharleen wieder ein Thema werden würde, die ja nun wahrscheinlich noch allein im Zug sitzt – wie auch immer sie das auch aushalten mag. Ausnahmsweise konnte bei diesem Streit Eagles Meinung ansatzweise etwas nachvollziehen (wäre ja selbst nicht begeistert davon, wieder den ganzen Weg zurückzugehen, besonders nicht in der Nacht und Regen) aber die Ohrfeige hat er trotzdem verdient xD Frag mich, warum aber Clair diejenige war, die ihm geohrfeigt hat ... Ob Eagles Worte einen empfindlichen Nerv bei ihr getroffen haben oder ob sie einfach Lindsay Drang selbst erfüllen wollte?
    Die nächste Station ist also der Salon und ein Glas Scotch ... na mal sehen, was unsere Helden nun dort erwarten wird.


    lg
    Toby

  • Part 3: Zeit zum Aufatmen


    Unter der Führung von Mr. Maolmuire verließen wir die Halle über die rechte von beiden Türen des linken Flügels. Unsere neue Umgebung wirkte deutlich bescheidener: Ein nach links und rechts abknickender Gang mit einem dezenten Holzdielenfußboden und einer schlichten, terrakottafarbenen Tapete. Kein besonderer Schnickschnack, sah man von einigen Wandleuchtern und weiteren Wandgemälden ab, die das nicht vorhandene Tapetenmuster ersetzten. Oder vielleicht wollte der Hausherr auch nur die Schlichtheit dieses Raums kompensieren, bis er eine bessere Gelegenheit bekam, mit anderen Luxusartikeln kräftig protzen zu können. Hauptsächlich handelte es sich bei den Bildern um unberührte Landschaftsportraits. Nur ein einziges Bild portraitierte das finster dreinblickende Gesicht einer etwas schmuddelig wirkenden älteren Dame mit schulterlangen, schwarzen Locken und einer überspitzt wirkenden, goldenen Halskette.
    Verwandtschaft vielleicht.
    Lange hielt ich dem strengen Blick ihrer schmalen, grauen Augen nicht stand, beziehungsweise wollte und musste ich auch nicht. Bereits am Ende des Ganges angelangt, öffnete Mr. Maolmuire eine weitere Tür. Er trat an erster Stelle ein. An der Türschwelle wartend, bat er uns einen nach dem anderen herein, bevor er die Tür schloss. Ein Tapetenwechsel, wie er krasser nicht sein konnte.
    Der Salon, wie ihn Mr. Maolmuire nannte, unterstrich ein weiteres Mal den Luxus unseres Gastgebers: Unsere Füße badeten in der Eleganz eines grauweißen, reflektierenden Bodenbelags. Kacheln, so glaubte ich, doch schienen diese noch einmal unter einer mindestens fünf Millimeter dicken Barriere reinen Glases begraben zu sein, was bei einer falschen Besohlung zu einer peinlichen Rutschpartie führen konnte. Im hinteren linken Teil des Raumes hob sich auf einem beigefarbenen Teppich verschiedengroßes, pechschwarzes Sitzmobiliar hervor, darunter eine an der Wand abknickende Couch, auf der mindestens sechs Personen bequem Platz finden konnten. Verwerfungen prägten den schwarzen Stoff mit Schluchten, als ob man seinem Sitznachbar deutlich machen wollte, wo sein Hoheitsgebiet endete und das des anderen begann. Zusammen mit Sesseln, die von ähnlicher Beschaffenheit waren, bildeten die Sitzgelegenheiten eine Art Kreis um einen dreifüßigen, runden Mahagonitisch. Lindsay maß dem Raumabschnitt rechts daneben eine besondere Bedeutung zu. Fünf lehnenlose, hochgewachsene Hocker bildeten dort vor einem halbrunden, holzverschlagenen Tresen einen Halbkreis. Dahinter thronte ein Ungetüm von einem reich verzierten Schrank, mindestens zwei Meter hoch, linker Hand Schubladen in Knie- bis Hüfthöhe und rechter Hand eine große Dielentür, in der Mitte schließlich vier Etagen. Auf jedem Stockwerk thronten Glasflaschen verschiedener Größen, Kelche, Trinkgefäße sowie Gläser. Teilweise wirkten die Flaschen recht alt. Hier und da blätterten die Etiketten ab, manche Pullen hatten Staub angesetzt - ein völliger Widerspruch zu den blitzblank polierten Gläsern. Schon jetzt hatte Lindsay einen der Hocker in Beschlag genommen, Kelly dagegen fand sich in ihrer plötzlichen Belanglosigkeit auf der Couch wieder. Weiterhin sperrig fiel das schwarze, seidenglänzende Musikinstrument aus, das in der mittleren rechten Hälfe stand - ein Konzertflügel, wie mir Stan beiläufig erklärte. Wie ich nur beim Vorbeigehen feststellen musste, roch er sehr streng nach chemischen Reinigungsmitteln. Ich vermutete, dass das Instrument regelmäßiger Pflege bedurfte. Viele weitere kleine Details verliehen dem Raum seinen restlichen luxuriösen Charme. Es gab exotische Zimmerpflanzen in den passenden kostspielig wirkenden Töpfen, seltsamerweise aber auch verwaiste Vasen, die nicht den Eindruck erweckten, als ob sich jemals etwas Grünes darin befunden hatte. Offene Schränke in Wandnähe dienten als Stau- und Ausstellungsraum für kleinere und größere Artefakte sowie weitere Kunstgegenstände. In einem neonblau strahlenden Aquarium tummelten sich fremdländische, zum Teil sogar richtig skurril aussehende Fischarten. Und natürlich durften auch in diesem Raum keine Gemälde fehlen, von denen mehr als ein gutes Dutzend die holzvertäfelten Wände zupflasterten, beinahe erstickten. Im direkten Vergleich zu der Halle wirkte der viereckige Raum fast schon winzig. Ich schätzte ihn jedoch auf mindestens das Doppelte seiner Größe, hätte man mit dem Ambiente nicht so sehr geprasst.


    Noch während wir die neue Umgebung auf uns wirken ließen und dabei beiläufig dem Butler in aller Bescheidenheit unsere Wünsche äußerten, hatte Lindsay bereits einen festen Platz an der Bar beansprucht und befeuchtete dort ihre Lippen mit einer bernsteinfarbigen Flüssigkeit; Scotch, wie ich vermutete. Nach für nach schwärmten die restlichen Menschen aus. Jeder Einzelne erkundete für sich selbst die zahlreichen Sehenswürdigkeiten, die der Salon zu bieten hatte, mit Ausnahme von Kelly, die einen recht unbeholfenen Eindruck auf der viel zu großen Couch erweckte und beinahe flehend zu Lindsay schaute. Rasch verlagerte sich der Schwerpunkt aber auf die Sitzecke, denn vom Stehen hatte man nach diesem Höllenmarsch die Nase gestrichen voll. Abgesehen von Lindsay, die ihren Hintern auf dem unbequemen Hocker platt saß, mied nur Eagle als weitere Person die Sitzgelegenheiten und heuchelte dem Konzertflügel besonderes Interesse zu. Wahrscheinlich wollte er nach seiner Ohrfeige vorerst Abstand zu Claire wahren.
    „Und Sie, Sir? Nach was verlangt es Ihnen?“ Stan und ich hatten auf einem der Sessel einen Landeplatz gefunden - Igelavar lag ungeduldig wartend auf dem Teppich zu Stans Füßen -, als Mr. Maolmuire uns als letzte seiner Gäste einen Besuch abstattete. Wie es bei so ziemlich jedem von uns der Fall war, war auch Stan nicht gewohnt, derart zuvorkommend angesprochen zu werden. Dass er fast ohne ein bemerkbares Zittern in seiner Stimme seinen Wunsch nach einem Glas Mineralwasser und etwas Obst für Igelavar kundgeben konnte, verwunderte mich ausnahmsweise nur wenig. Die ganze Zeit über hatte er gelauscht, wie seine Kollegen auf die Frage nach Getränken reagiert hatten. Seine Bestellung hatte er im Kopf immer wieder geprobt, sogar leise zu einem fiktiven Kellner ausgesprochen. So lange hatte mein Freund gelauert, bis der Zeitpunkt absoluter Gelassenheit endlich gekommen war. Glücklicher konnte er kaum sein. Der Hausangestellte hatte die Bestellung ohne ein Murren akzeptiert und wollte seinem Gast beinahe schon den Rücken zukehren, als Stans Seifenblase von einem reibungslosen Ablauf platzte. Durch mich. Wenn auch nicht provoziert. Ausnahmsweise.
    „Sir wünschen ebenfalls etwas zu trinken oder essen? Früchte der Passion vielleicht?“ Mr. Maolmuire hatte sich direkt an mich gewandt. Stan fiel vor Schreck aus allen Wolken.
    „Ein Lachssandwich. Aber ja nicht mit der Mayonnaise geizen!“
    „Sheinux!“ Irgendwie hatte es Stan geschafft, aus seiner erstarrten Haltung heraus und zwischen seinen zusammengepressten Kiefern mir mahnend zuzuzischen. Nur meinen Namen - für mehr hatten seine Kräfte nicht mehr gereicht.
    „Was denn? Seine hochwohlgeborene Knickerigkeit wird wegen eines Löffels Majo mehr oder weniger sicher nicht an die Luft gehen. Außerdem gönnt man sich ja sonst nichts“, erwiderte ich forsch. „Und überhaupt: Warum sollte ich hier als Einziger leer ausgehen? Jetzt lass den Mann seine Arbeit tun!“
    Die rasch rot aufglühenden Wangen meines Freundes vermittelten einen guten Eindruck davon, wie sehr er mit der aufkommenden Scham rang. Die nächsten Worte blieben ihm im Halse stecken. Ein heißeres Gurgeln, wie ein Abflussrohr. Nach ein, zwei weiteren Anläufen löste die Vernunft seinen Mangel an Schneid wieder ab. Wahrscheinlich hatte der brave Mann ohnehin kein Wort von dem verstanden, was ich ihm so ungeniert an den Kopf geballert hatte.
    „Dürfen es Gurken zum Lachs sein?“
    Leicht stutzig darüber, ob der Mann abermals mich gesprochen hatte, zögerte ich meine Antwort noch einen Augenblick hinaus. Letzte Zweifel brachen - ich nahm das Interesse des Mannes völlig in Anspruch. „Zwei Stück. In Scheiben. Aber nicht zu dünn“, erweitere ich meinen Wunsch. Die Ruhe - oder war es das Verständnis - des Hausangestellten übte einen lähmenden Einfluss auf Stan aus. Die Sache konnte ihm eigentlich egal sein. War sie ihm aber offenbar nicht. Bedenklicher als meine Art, jemanden vor den Kopf zu stoßen, empfand er es aber, dass auch hier die Naturgesetze zwischen Mensch und Pokémon außer Kraft gesetzt zu sein schienen. Auch wer nicht an dem beteiligt war, was als einfache Bestellung begonnen hatte, lauschte interessiert auf, selbst Eagle.
    „Sie - sie können ihn verstehen?“, stotterte Stan.
    Keine Unsicherheit, nicht den Hauch eines Zweifels. Das Allernormalste der Welt, so glaubte man die Geste einer knappen Verbeugung des Butlers zu verstehen. „Gewiss, Sir“, antwortete er. Eine kurze Pause trat ein, gerade lange genug, um einen weiteren Wunsch zu äußern. Es blieb dabei. „Die Erfrischungen werden in Kürze serviert.“ Mit einer weiteren, nicht weniger formellen Verbeugung kehrte Mr. Maolmuire uns den Rücken zu. An der Bar angekommen, begannen sofort Gläser zu klirren, Flaschenköpfe wurden gewaltsam vom Torso getrennt, Flüssigkeit schäumte. Abgesehen davon gab es keine Geräusche mehr im Raum. Zu immens war die Faszination darüber, wie der Mann hinter der Theke arbeitete. Jede einzelne Bewegung, jeder Handgriff saß. Die Flaschen schienen die fähigen Hände des Mannes kaum zu berühren, sondern geradezu durch die Luft zu tanzen, und das in einer Geschwindigkeit, die die Grenzen des Begreifbaren zu überschreiten drohten. Kein Tropfen verfehlte sein Ziel. Kein Glas maß mehr oder weniger Flüssigkeit als das des Nachbars. Präzision nicht von dieser Welt war am Werk. Die Illusion des vielhändigen Butlers erhärtete sich noch, als Mr. Maolmuire während dieses bereits jetzt schon höchst komplizierten Vorgangs erkannte, dass Lindsays Glas bereits fast den Boden erreicht hatte, er sie daraufhin fragte, ob er ihr nachschenken dürfe, und wie aus dem Handgelenk den Rachenputzer schüttelte. Die Flasche, so meinte Lindsay selten fröhlich, solle er einfach bei ihr stehen lassen.
    Viele schnelle Handbewegungen später füllten die Hände der Durstigen die gewünschten Getränke, Igelavar - seit langer Zeit endlich zufrieden - hatte einen üppigen Früchteteller vor der Nase und ich das georderte Lachssandwich. Der Geruch von dem leicht muffigen Brot, dafür aber frischem Lachs mahnte mich nur zu begrenzter Vorsicht. Ich nahm einen Bissen, kaute sorgfältig - es war in Ordnung.
    Sein weiteres Tun beschränkte unser Gönner auf die Bar, wo er eben erst ans Tageslicht geförderte Flaschen wieder in die kalten Untiefen eines Kühlschranks beförderte.
    Wie schon zuvor wurde es sehr still. Nur das Werkeln hinter der Theke und ein hin und wieder verräterisch ächzendes Möbelstück machte die Anwesenheit mehrerer Personen bemerkbar. Es fühlte sich merkwürdig fremd an, alle so ruhig zu sehen, wie sie an ihren Gläsern nippten, sich zurücklehnten, das Vergangene Revue passieren ließen. Kein Schluchzen, kein Gezeter. Für einen Fremden musste die Stille vorkommen wie eine Trauerfeier im engsten Familienkreis, nur eine Stunde nach der Beisetzung. Es war unangenehm. Ich urteilte Stans jähen Blickwechsel mit mir, dass er ähnlich empfinden musste. Das Verhalten der restlichen Menschen zu interpretieren, war da schon schwerer. Gedankenverloren schwenkte Lars den Inhalt seines fast vollen Glases. Mit seiner freien Hand bearbeitete er die Tasten seines Handys. Sein plötzliches Stirnkräuseln war unergründlich. Claire taxierte den Raum von unten nach oben, von links nach rechts. Ich glaubte, ihr ein besonderes Interesse an den Bildern im Raum unterstellen zu können, ähnlich Eagles Verhalten am anderen Raum-Ende. Ansonsten waren beide mucksmäuschenstill. So wie Claires Couchnachbarin, Kelly, die beide Hände brauchte, um das verhältnismäßig große Glas Limonade fassen zu können. Kevins glasigem Blick ins Leere zu urteilen, hatte er sich in seiner eigenen, kleinen Wirklichkeit einzementiert. Abgeschottet von der restlichen Welt wusste nur er allein, was gerade in seinem Kopf vorging. Simon saß uns direkt gegenüber. Das runde Gesicht hinter seiner klobigen Brille war mit Misstrauen für jede noch so kleine Bewegung im Raum behaftet. Insbesondere aber gegen mich, wie ich feststellen musste. Ich erlag der Versuchung, mich seinem Argwohn zu stellen. Angestrengt erwiderte ich seinen Blick, bemüht darin, auch ja kein einziges Mal zu blinzeln. Nach nicht einmal fünf Sekunden hatte ich ihn geistig in die Knie gezwungen, besser gesagt, seinen Kopf in Richtung des langweiligsten Raumdetails zur Flucht bewegt: zur farblosen Zimmerdecke. An der Bar war es ebenfalls sehr ruhig geworden. Nachdem auch die letzte Flasche wieder verstaut war, polierte Mr. Maolmuire Gläser, dabei stets vorbereitet, auf einen jähen Wunsch eines Gasts prompt zu reagieren. Lindsays linke Hand musste mittlerweile zum Einsatz kommen, um das Gewicht ihres Kopfes oben zu halten. Sie verdeckte die rechte Gesichtshälfte, das Auge eingeschlossen. Die andere hielt das noch halb volle Glas Scotch in einem unnachgiebigen Griff gefangen. Obwohl meine Sicht zur Bar nur arg beschränkt war, wirkte die noch vorhin so quicklebendige Frau plötzlich wie ein ausgehöhlter Kokon auf mich. Eine unachtsame Berührung und das Chitin würde wie eine Eierschale zerplatzen, der Kopf mit einem dumpfen Knall auf dem Tresen landen. Sie musste sehr müde sein. Entweder das oder es bekam ihr nicht, was auch immer sie sich einflößte. Mit gereiztem Geheul, Regenprasseln und peitschenden Böen nutzte derweil der außerhalb wütende Sturm diese Gelegenheit der Stille, um sich uns noch einmal deutlich in Erinnerung zu rufen. Er war noch da. So übellaunig und nachtragend wie zu dem Zeitpunkt, als wir ihm hinter verschlossener Tür den Rücken zugekehrt hatten.


    „Von Teilen hat niemand etwas gesagt!“
    „Leise! Jetzt mach keine Szene. Du kannst ruhig den anderen etwas abgeben. Ist doch genug für alle da.“
    In einem völlig unerwarteten Ausbruch von Gewissensbissen war Stan auf den dummen, wenn auch edelmütigen Gedanken gekommen, dass es wohl nur gerecht war, wenn Shaymin und Fiffyen auch etwas von dem Kuchen abbekommen sollten. Besser gesagt, von Igelavars Obstplatte. Kaum abgenommener Appetit und der gewaltige Schwund, der sich auf dem Teller abzeichnen ließ, stemmten sich verbittert gegen Stans Argumentation von gleichem Recht für alle.
    „Soll doch Sheinux etwas abdrücken!“, konterte Igelavar vorwurfsvoll.
    Stan verengte seine Mundwinkel auf eine Art und Weise, die seinen Konflikt nur unterzeichnete. Igelavar hatte damit irgendwie recht, und das wussten beide, er und Stan.
    Hastig nahm ich noch einen besonders großen Happen, der meine Mahlzeit auf weniger als die Hälfte der ursprünglichen Größe schrumpfen ließ. „Sschau misch blosch nischt scho an!“
    „Ist schon in Ordnung. Ich habe sowieso keinen Hunger. Lass mich zurück in den Ball, Stan“, meinte Shaymin und klang dabei sehr gleichgültig.
    „Meine Rettung. Mir war schon speiübel bei dem Gedanken, ich müsste mit diesem Brechmittel von einem Teller essen“, giftete Fiffyen in Shaymins Richtung, ignorierte dabei gezielt Igelavars Protest, als sie sich ungeniert über dessen Abendessen hermachte.
    Stan rührte sich nicht, fast so, als wollte er, ja, als wartete er nur darauf, dass Shaymin zurückschießen konnte. Doch nicht dergleichen geschah. Shaymin ... ließ die Beleidigung über sich ergehen, das zweite Mal in nur kurzer Folge.
    „Was ist? Spreche ich so undeutlich?“
    Shaymins rauer Ton schlug eisige Wellen. Zu gefährlich und unberechenbar, als dass sich Stan noch länger dagegen auflehnen wollte. Was von seiner restlichen Ehre nicht weggespült worden war, brachte er auf, um Shaymin den möglichst unspektakulären Abgang zu verschaffen.. „N-nein, schon gut. Ich mach ja.“ Mit diesen Worten und mit einem kurzen Aufleuchten von Shaymins Pokéball war unsere jüngste Begleitung wieder verschwunden. Stan verstaute den Ball wieder an seinem Gürtel. Sein abschließender Kommentar zu dieser Entscheidung klang - dank der Totenstille im Raum - lauter als es ihm wahrscheinlich lieb war. „Junge, ist die heute geladen. Frauen - die soll einer verstehen.“
    „Das habe ich gehört“, brummte Fiffyen, bemühte sich dabei aber weder weniger zu schmatzen noch Stan direkt anzusehen.
    „Schon gut ...“, winkte Stan ab. Er wollte das Thema rasch beenden.
    „Dass dir das so leicht von der Schulter geht ... Ist das wirklich so normal für dich? Mit Pokémon zu sprechen?“ Simon hatte sich vorgebeugt. Bereits im Zug hatte er deutliches Interesse an Stans Gabe gezeigt. Mehr noch als alle anderen. Wie schon zuvor, als er mit derartiger Hartnäckigkeit in direkter Konfrontation gestanden war, ätzte die Scham dunkelrote Flecken auf die bleichen Wangenknochen meines besten Freundes. Krampfhaft klammerten sich die Finger von Stans freier Hand in dem Stoff unseres gemeinsamen Sessels, als hoffte er, in seinem Stochern eine treffende Antwort zu finden. Bestenfalls eine, die das feurige Rot auf seinem Gesicht und zugleich die Unterhaltung rasch erstickte. „Ist doch nichts dabei ...“, meinte er kleinlaut. Eine bessere Antwort war ihm wohl auf die Schnelle nicht eingefallen.
    Simons Brillengläser blitzten auf. Die schwache Antwort seines Gegenübers gab ihm nur noch mehr Veranlassung, in dessen Privatsphäre zu wühlen. „Nichts dabei? Pillepalle ist etwas anderes, würde ich meinen. Wer kann schon behaupten, so etwas zu können? Oder überhaupt jemand derartigen zu kennen? Wie kommt es? Sag an.“
    „Keine Ahnung“, log Stan. Den Ahnungslosen zu mimen, war ihm bisher immer sehr gut gelungen. Nicht aber heute. Sein Verrat stand ihm in roter Farbe auf dem Gesicht geschrieben. Der enorme Druck des einseitigen Kreuzverhörs zwang ihn innerlich in die Knie und gleichzeitig tiefer und tiefer in das schwarze Kunstleder des Möbelbezugs hinein.
    Simon hatte Blut geleckt und wollte so schnell nicht locker lassen. „Das glaubst du doch selbst nicht!“, unterstellte er ihm trotzig. „Und was ist überhaupt mit Sheinux? Es kommt mir ein wenig zu menschlich vor für ein einfaches Pokémon.“
    „Und deinen Hintern kann man im Winter als Rodelbahn anmieten. Aber ich mache dir keine Vorwürfe - irgendwie musst du ja in der Zeit was verdienen, weil du bei dem Wetter als Hüpfburg nicht mehr gefragt bist.“ Gleich drei Gründe hatten mich veranlasst, meine Reserviertheit für diesen zynischen Kommentar aufzugeben: Missachtung meiner Männerehre, grobe Beleidigung sowie Verunglimpfung. Mehr als genug belastendes Material, was eine lebenslange Haftstrafe bei Spülwasser und Rosenkohl rechtfertigte. Und ich kann euch sagen, ich genoss diesen Augenblick, meinen Gegenüber so aus dem Gleichgewicht gebracht zu sehen. Eigentlich erwartete ich jeden Moment ein Wort des Tadels seitens Stan. Doch darauf konnte ich lange warten. Ein kurzes nach oben Schielen: die Dankbarkeit meines Freundes lächelte in seinem geheimen, kaum erkennbaren Nicken auf mich herab.
    Kevin weilte wieder voll unter uns und kicherte leise. Nicht boshaft, lediglich amüsiert.
    „Das war jetzt aber nicht sehr nett ...“, reihte sich dagegen Claire abwertend in die Unterhaltung ein, stellvertretend für Simon, noch immer völlig sprachlos.
    „Ich habe keine Vorurteile - ich kann überhaupt niemanden leiden. Aber eigentlich bin ich sehr gutmütig. Hätte ich Freunde, könnten die das bestätigen.“ Die Worte kaum beendet, versanken meine Zähne in einem Meer mayo-gebutterten Lachses.
    Selbst der an dieser Unterhaltung völlig unbeteiligte Lars konnte angesichts meiner forschen Antwort ein leises Glucksen nicht unterdrücken. Claire zeigte sich weiterhin nur mäßig beeindruckt. Auf ihren filigranen Zügen lag etwas Vorwurfsvolles. „Das ist trotzdem kein Grund, andere zu beleidigen.“
    „Aber ohrfeigen ist wieder okay?“, meinte Kevin verschlagen in Claires Richtung grinsend. Von Claires Kehlkopf löste sich ein Raunen. Ihre Lippen verschlangen einander. Keine Frage, wer diese Runde gewonnen hatte.
    „Ja ... das war nicht gerade die feine englische Art“, räumte Claire Ihr Fehlverhalten ein.
    „Die Herrschaften erlauben, dass ich Ihnen nachschenke?“ Die Gunst der kurzen Pause nutzend, die nach Claires einsichtiger Kapitulation eingetreten war, sah Mr. Maolmuire nach dem gastronomischen Rechten. Tatsächlich erhaschte er Lars dabei, wie dessen Glas bereits alarmierende Bestände angenommen hatte. Der wiederum sagte nicht Nein.
    „Sagen Sie“, begann Lars, während der Butler sein ausgestrecktes Glas elegant auffüllte, „ich nehme an, Ihre Familie nutzt diesen Raum traditionell für Feierlichkeiten. Empfangen Sie des Öfteren Gäste?“
    „Sie gehen in der richtigen Annahme, Sir. Der Salon dient seit jeher zum Empfang unserer Besucher. Sire pflegt überaus gute Beziehungen und besitzt den Freimut eines großzügigen Gastgebers.“
    „Werden wir Ihren Herrn heute noch sehen? Ich würde mich gerne für die zuvorkommende Behandlung bedanken; meine Begleiter sicherlich auch.“
    „Seine Durchlaucht zieht es vor, alleine zu dinieren, und nicht zu solch später Stunde, Sir.“
    „Lass uns mal ’ne Fliege machen“, zischte mir Stan ins Ohr. Ich verstand problemlos und nickte nur: er hatte das affektierte Geschwafel satt.


    In den Armen meines Freundes gebettet, nahmen wir großzügigen Abstand von der gemütlichen Sitzecke mit der plötzlich ungemütlichen Gesprächsatmosphäre. Weit weg konnten wir allerdings nicht. So sah sich Stan zwischen den schwadronierenden Erwachsenen und einigen wenigen Ausweichmöglichkeiten gefangen, die der Raum bot. Keine aber so bequem wie der Ort, von dem wir eben geflüchtet waren, und da konnte er mir noch so sehr etwas vorheucheln. Das Aquarium hatten wir beide schnell satt. Fische waren langweilig, wenn sie nicht gerade zwischen zwei Scheiben Brot gequetscht lagen. Die Bar: dort führte Lindsay kaum hörbare Selbstgespräche, wobei sie sicherlich nicht gestört werden wollte. Das Piano: die klangen immer noch am besten leise knisternd im Kamin. Außerdem hatten wir ohnehin keinen Notenschlüssel dabei, um es aufzudrehen. Also nahmen wir uns das einzig andere vor, mit dem wir uns die Zeit beschäftigen konnten: die Bildergalerie. Die holzvertäfelten Wände bestätigten nur das bisher in der Halle und im Flur Gesehene. Graf Blakewater besaß einen offenkundigen Gefallen an Landschaftsportraits. In einer beinahe fast tadellosen Illusion gaukelten die Bilder dem Betrachter einen Fensterblick in eine andere Wirklichkeit vor. Leicht konnte man sich in ihnen völlig verlieren, dabei auch die Besinnung. Verrückt bei dem Gedanken werden, nicht selbst ein Teil dieser Realität zu sein. Eines zeigte eine besinnliche Küste bei Sonnenuntergang unter der Verwendung weicher, warmer Farben. Ein anderes eine kleine Siedlung verschmolzen im saftigen Grün niedriger Bäume und anderer Pflanzen. Eine Klippe, schroff und unbeständig, ragte hinauf und trotzte den Gezeiten darunter. Fast schon fühlte man die Kälte eisigen Gebirgsquellwassers im nächsten Bild: Dort hatte der Künstler einen majestätischen, unkontrollierbaren Wasserfall gebändigt und auf Leinentuch eingefangen. So ging es noch eine ganze Weile weiter, bis es abrupt endete. Keine malerischen Sonnenuntergänge mehr, keine üppigen Graslandschaften. Schrille Farben wirbelten in einer endlosen, wilder Extase umher, verschwammen zu einem Gebilde mir unbekannter Art und Beschaffenheit. Weder Stan noch ich vermochte mit dieser realitätsfremden Form der Kunst etwas anzufangen. Besser wurde es jedoch nicht, wie sich nach einem kurzen Schritt zur Seite herausstellte, wo bereits das nächste Kunstwerk auf uns wartete.
    Das Versiegen der Zeit“, zitierte Stan den Titel des Bildes in leisen Worten.
    Zu einer gängigen Alltagserscheinung dieses Landschaftsbilds - wenn man sie überhaupt so nennen durfte - gehörte es, dass Uhren keine feste Form besaßen. Stattdessen waren Minuten- und Stundenzeiger, das Uhrengehäuse sowie die restliche Mechanik Opfer der geistigen Perversion des Künstlers. Grausam entstellt hingen sie von der Decke und den Wänden, geschmolzen, oder waren in ihrer zähflüssigen Form bereits Bestandteil von etwas, was im weitesten Sinne einem Teich ähnelte, der am unteren Rand des Bildes schwappte und dort den ganzen Bereich füllte. Obwohl die Zeichnung der Realität so fern wie nur irgendwie möglich war, wirkte sie gleichzeitig auch furchtbar real auf mich. Fast schon fühlte man sich in der Verantwortung, der notleidenden Zeit Beistand zu leisten. Bitterlich klagten, weinten und schrien die Uhren auf, ersuchten Hilfe, bettelten um Erbarmen, um ein Ende ihres Elends. Es war ein Beispiel abstrakter Kunst. Widerwärtig. Ekelhaft. Einfach nur ...
    „Scheußlich.“ Außerstande, das Gezeichnete irgendwie anders zu kommentieren, nannte ich das Kind beim Namen.
    „Hm.“ Erst nachdem er den Kopf ein- zweimal zur Seite und zurückgeneigt hatte, entledigte auch Stans Geist einen kurzen Gedanken. „Abstrakt.“
    „Bemerkenswert, dein Scharfsinn für das Offensichtliche. Hätte ich dir gar nicht zugetraut. Ehrlich.“ Auf den Lippen eine schadenfrohe Grimasse, trat Eagle an uns heran. Eher unbewusst erwiderte Stan die Grimasse mit einem Lächeln. Bis mein Freund auf den fahrenden Zug aufspringen und so die versteckte Beleidigung ausfindig machen konnte, zogen wertvolle Sekunden dahin. Die Gelegenheit zum schlagfertigen Kontern hatte er verspielt.
    „Natürlich ist es abstrakt. Jedes Kleinkind hätte das schneller bemerken können als du.“
    Mittlerweile waren wir schon gar nichts anderes als Beleidigungen und Sticheleien von unserem ungebetenen Reisekameraden gewohnt. Vielleicht ließ es Stan gerade aus diesem Grund bereits nahezu kalt. „Ist das alles? Bist du deswegen gekommen? Gut, dann kannst du ja wieder gehen.“
    Aus der Ferne hörte man eine Uhr - dem unverwechselbaren Klang nach eine hohe Standuhr - die Zeit ansagen. Nach dem elften Schlag war ihr schließlich die Lust vergangen. Das letzte Stündlein des sterbenden Tages war angebrochen.
    „Über was habt ihr euch vorhin unterhalten?“
    Stan zögerte zurecht. Was sollte die Frage? „Über was sollen wir uns großartig unterhalten haben?“ Seine Stirn kräuselte sich. So wie er es immer tat, wenn er sich überfordert fühlte. „Dies und das.“
    „Essen, Frauen“, zählte ich auf, „Pokémon, Simons dicker Hintern und nebenbei noch etwas eitles Geschwätz.“
    „Vergiss es!“ Abweisend schob Eagle seinen schlaksigen Körper an uns vorbei und nahm die Wandgemälde in umgekehrter Reihenfolge zu uns in Betracht, obwohl ich mir sicher war, dass er längst alle Bilder inspiziert hatte. Nicht nur das, er hatte es auch plötzlich sehr eilig. Wir sollten schnell herausfinden, warum.
    „Stan?“
    Ein wenig überrascht kehrte Stan der Bildergalerie an der Wand den Rücken zu. Es war Claire. Stan stieß einen grunzenden Ton aus, der entfernte Ähnlichkeit mit einem „Hm“ besaß. Entweder machte es Claire nichts aus oder ihr war es ohnehin egal. Jedenfalls merkte man ihr nichts dergleichen an.
    „Edward möchte uns auf die Zimmer bringen. Ist das okay?“
    „Klar. Natürlich“, nuschelte Stan schulterzuckend.
    Claire nickte dankbar. „Gut. Kelly ist nämlich ganz schön fertig. Das war ein harter Tag für uns alle.“
    „Ich wette, ein toughes Mädel wie du, könnte nicht einschlafen, bevor sie nicht ein, zwei Leute verdroschen hat.“ Irgendwie war mir einfach danach. Ein Zeichen meines Respekts für Claires Courage. Dafür, das getan zu haben, was wir sicherlich alle gerne getan hätten, mangels Schneid aber niemand getan hatte. Bis jetzt.
    Claires Zähne blitzten zu einem beschämten, siedend heißen Lächeln auf. „Öhm, danke ...“ Von der eben erwähnten Courage war plötzlich reichlich wenig übrig. Man las es ihr deutlich vom Gesicht ab, dass sie einen triftigen Anlass suchte, der einen Themenwechsel rechtfertigte. Das Bild hinter Stans Rücken weckte schließlich ihr Interesse. Sie trat zu Stans Seite. Ich bemerkte eine Gedankenfalte auf ihrer flachen Stirn. Doch gehörte es zu einer anderen Sorte als das übliche Stirnrunzeln meines Freundes. Weniger überfordert. Mehr Überlegung und Sachlichkeit lag darin. Dazu gesellte sich noch ein Lippenschürzen. „Ich glaube, Lindsay hat ganz schön einen sitzen. Haltet euch besser fern von ihr“, sagte sie, nachdem sie uns mit ihrer Meinung einige Zeit auf die Folter gespannt hatte, den Blick noch immer wie gebannt auf der Leinwand geheftet und mit einer Stimme, die meilenweit entfernt schien. Erst als Stan mit knapper Antwort einwilligte, war Claires Verlangen nach der versteckten Botschaft des Bildes gestillt. Gemeinsam hielten wir auf den bereits wartenden Rest zu. Eagle hatte entweder mitgehört oder verstand den plötzlichen Auflauf auch so - er gesellte sich notgedrungen zu uns.


    „Ich bin keine schlechte Mutter. Was kann ich dafür, wenn sich Peter einen Scheißdreck ... um das Haus schert? Hängt den ganzen Abend v-vor der Glotze, der faule Sack. Hat keine Zeit für mich. Immer muss ich hinter dem fetten Schwein herräumen. Er ist schuld, nicht ich! Ich bin keine schlechte Mutter! Wirklich!“
    „Nein, bist du nicht. Jetzt komm.“
    „Was ist? Lass mich! Kann ... alleine gehen!“ Gereizt riss sich Lindsay von Lars los, der sie sanft aber bestimmend am Oberarm gegriffen hatte. Jetzt stand sie aufrecht, zitterte am ganzen Leib, schwankte. Ihre geröteten Augen kullerten unkontrolliert in den Höhlen. Die darüber liegenden Brauen waren feucht. Warum auch immer - sie hatte geweint oder tat es immer noch. Es war nur schwer zu sagen, welche Gefühle sie hinter ihrer aufgewühlten Fassade versteckte.
    Die Hand, die nicht vollauf damit beschäftigt war, sich vom Tresen abzustützen, langte nach dem Glas. Es war leer. Dem zu Trotz leckte Lindsay in einer Art von Besessenheit am Glasrand. Der Versuch, das Glas wieder an vorheriger Stelle zu platzieren, missglückte. In einer Kreisbahn rollte das Trinkgefäß über das geschmeidige Holz des Tresens, wo es beinahe unbeachtet zum Stillstand kam. Die meisten von uns waren viel zu sehr mit dem Versuchen beschäftigt, die gereizte Frau irgendwie zu beruhigen. „Wir ... wir hätten sie niemals ... niemals alleine lassen sollen. Niemals allein ...“ Ihre vorerst letzten Worte, bevor sie zusammensackte.


    In ihrer Rolle als Lindsays linke Stütze schien Claire hoffnungslos überfordert. Neben Lars hatte sie sich allerdings als einzige weitere Person für diese undankbare Aufgabe breitschlagen lassen. Mr. Maolmuire dagegen entpuppte sich unerwartet als eine Memme. So hatte er sich dagegen ausgesprochen, eine ihm fremde Frau derart rüde anzufassen. Das gezieme sich nicht, eine Dame ohne deren ausdrückliche Einwilligung so unflätig zu berühren, so seine dezent zurückhaltende Meinung. Selbst in dem nur schwachen Licht sah ich deutlichen den Schweiß auf Claires Stirn glitzern. Und bald schon bemerkte man zwischen Claires heißen Atemzügen und denen Lindsays keinen Unterschied mehr. Sabber träufelte aus dem Mund der angeschlagenen Erwachsenen, Tränenflüssigkeit aus den Augen. Tiefes Schluchzen hatte den vorangegangenen Zorn abgelöst. Jetzt wiederholte sie immer und immer wieder dieselben Worte, während ihr der Kopf schlaff von den Schultern hing und bei den unkontrollierten Schritten hin und her schaukelte. Fehler, die sie abstritt. Sie keine schlechte Mutter sei. Dass es falsch war, eine bestimmte Person in ihrem Leben allein zu lassen. Ohne ihre Ersatzmutter fand Kelly sich derweil alleingelassen und nur noch von unheimlichen Fremden umringt. Unter diesen widrigen Umständen kam als einzig adäquater Bezugspartner dummerweise nur Stan infrage, der zwar nicht sonderlich einfühlsam wirkte, doch zumindest mit seiner eher ruhigen Art die beste Wahl schien; das Herz hatte er natürlich auch am rechten Fleck. So hielt er nun das kleine Kinderhändchen in der seinen und ich lief an deren Seite.
    Vom Salon aus ging es denselben Gang hinunter, den wir gekommen waren, zurück zur Halle. Durch den mir noch nicht ganz begreifbaren Zustand unserer lieben Freundin kamen wir nur sehr langsam voran, wobei die größte Hürde noch vor uns lag: die gewaltige Treppe im Eingangsbereich.
    Nach einer gefühlten Ewigkeit und drei Verschnaufpausen traten wir durch eine Tür im rechten Flügel des zweiten Stockwerks. Es war, als starrte man geradezu in das weit geöffnete Maul einer gierigen Bestie, dem eigenen Verderben entgegen. Zu einem dumpfen Flüstern gesenkt klopften unsere Füße auf den Stoff eines roten Teppichs. Der Korridor voraus lag in dunklen Schatten gehüllt. Dämmriges Licht, das von den Wandleuchtern abgeworfen wurde, ließ den Teppichboden im Halbdunkel blutrot aufleuchten. Restliches Licht schien wie von dem unergründlichen Rachen, den wir aus freien Stücken hinabrutschten, aufgesogen zu werden. Es war daher nicht abzuschätzen, wie lange der Korridor tatsächlich war. Die Luft wurde dicker und stickiger, je weiter wir ihn hinab stiegen. Weitere Bilder überlagerten die triste Einöde der grauen Tapete. Es gab ein flüchtiges Wiedersehen mit einigen bekannten Zeichnungen, darunter auch die gequälten Uhren. Eher achtlos aber liefen wir der Zeit davon. Türen in kleinen Abständen jeweils links und rechts formten sich aus der musterlosen Tapete. Sie waren alle von derselben Beschaffenheit, von derselben Größe, derselben bleichweißen Farbe, was das Trugbild von Zähnen nur noch festere Formen verlieh. Die Gästezimmer, wie sich herausstellte. Nach und nach bat uns Mr. Maolmuire einzeln in die Zimmer; mit zwei Ausnahmen: Stan und ich bestanden natürlich auf unser gemeinsames Zimmer. Allen gut gemeinten Einwänden zum Trotz setzte sich außerdem Kelly durch und bezog mit Lindsay ein Zimmer.


    „Ob das mit Lindsay und Kelly wirklich eine gute Entscheidung war? “ Das Knarren der Tür war verstummt, die restlichen Geräusche auf dem Flur ausgesperrt. Schlichtheit und Prunk lagen in unserer Übernachtungsmöglichkeit sehr dicht beisammen. Es gab nur wenige Möbelstücke, die allerdings ausreichten, um den geräumigen Raum beinahe völlig zu füllen: Ein mindestens zwei Meter hoher Schrank an der Wand, ein Tisch überzogen von feinstem Marmor zuzüglich Sitzmöglichkeit, ein kleiner Nachttisch und natürlich ein Bett. Aber was für eins! Es spottete jedem direkten Vergleich bisherig gemachter Erfahrungen. Das Bettgestell war mehrere Meter breit, die Matratze als Folge dessen überdimensional groß. Ein purpurrotes, verziertes Bettlacken spannte sich darüber. Kissen und Decke waren von ähnlicher Aufmachung. Die Kopfstütze war von kunstvoll geschlungenem Leder, mit goldenen Ornamenten geschmückt und ungefähr einen halben Meter hoch. Weiterhin suchte man Fenster vergeblich. Die einzige Lichtquelle bestand in einem Leuchter, an einer straffen Kette angeleint und von der Decke hängend, ähnlich dem im Foyer, wenn auch nicht ganz so überspitzt. Eigentlich hätten wir nur dieses eine Bett gebraucht, um alle unterzubekommen. Aber die Gesellschaft konnte lediglich mit Stan keine bessere sein. „Wird schon nichts schiefgehen“, meinte ich relativ gelassen.
    „Deinen Optimismus möchte ich haben ...“ Der Holzdielenfußboden knarrte, während Stan seine ersten Schritte in unserer neuen Umgebung machte. Dem Schrank schenkte er ein abwertendes Lächeln und auch für die Portraits an der Wand hatte er jetzt auch nichts mehr übrig, als er seinen Rucksack gleichgültig auf den Boden abwarf. Das knallige Rot des Bettes schürte Stans Glut der Abneigung gegen den pompösen, allgegenwärtigen Luxus nur noch weiter, übertünchte selbst seine Müdigkeit. Was aber blieben ihm für andere Möglichkeiten? Außerdem war es ja auch nur für eine Nacht, also was half es? Ähnlich musste er denken, denn saß er bereits auf dem Bettrand, von wo aus er achtlos Schuhe, Hemd und Hose auf den Boden feuerte.
    Man konnte sagen, denken oder davon halten, was man wollte: das Bett war so weich und angenehm warm, wie es einfach sein musste. Wir reden nicht sonderlich viel, obwohl die überschlagenen Ereignisse der letzten Stunden eigentlich mehr als genug Anlass dazu gegeben hatten. Im Vergleich zu der monotonen braunen Zimmerdecke jedenfalls, deren hypnotischen Einfluss Stan verfallen war, hätte es sicherlich das ein oder andere Thema gegeben.
    „Weißt du, irgendwie ... ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber ...“ Ich erwartete, dass Stan, nachdem wir uns so lange angeschwiegen hatten, seinen Kopf in meine Richtung drehen würde, er mich herzlich anlächeln würde. Nichts dergleichen geschah. Noch nicht einmal das Geräusch knitternden Stoffes war zu hören, das erahnen ließ, dass Stan einige Millimeter in meine Richtung schielte. „Ich hasse das alles hier. Diesen Luxus. Dieses affektierte Gehabe. Vielleicht weil ich vom Land komme. Ich mich, seit ich zurückdenken kann, damit abgefunden habe, niemals Teil von dieser Welt werden würde. Vielleicht ist es auch nur blanker Neid. Keine Ahnung. Man denkt eben immer, wo die doch so viel Geld haben, könnten die einem nicht etwas abgeben? Ja ich weiß, Kuchen, aber weißt du, ich ... ich ...“
    „Komm zum Punkt.“ Die Bettedecke fast bis über den Nacken gezogen, schaute ich nach rechts. Viel Überwindung schien ich zu erkennen, die Stan aufgebracht hatte, um auch seinen Kopf in meine Richtung zu wenden.
    „So sehr ich das alles hier auch hasse, so widrig die Umstände auch sind ... ich bin froh, dass wir noch einmal eine Nacht zusammen sein können, bevor ...“ Hier stoppte er. Die Raumdecke zog ihn wieder in seinen Bann.
    „Oh! Ja ...“ Ich brauchte einen Augenblick, um zu realisieren, auf was er hinaus wollte, und fühlte mich auf einen Schlag innerlich völlig ausgehöhlt. Unsere gemeinsame Reise, sie hatte fast ihr Ende erreicht. Nur noch diese unerwartet eingelegte Etappe lag dazwischen. Stans Gram, vor dem, was unmittelbar vor uns lag, obsiegte noch gegen die gewaltige Abneigung, die er gegenüber diesem Ort hegte. Dabei entzog es sich immer noch meinem Verständnis, warum ausgerechnet er dann überhaupt dieses Unterfangen eingeleitet hatte. Weil er ... mich so sehr mochte? Freunde das eben füreinander taten? War es das? „Stan?“
    Mein Freund antwortete nicht. Seine Augen waren geschlossen. Er konnte mich nicht täuschen. Er schlief nicht. Doch ... ich fürchtete die Konfrontation. Ich beließ es dabei.
    Nicht mehr heute. Morgen. Morgen werden wir darüber reden, es aus der Welt schaffen. Aber ... was will ich eigentlich? Was?


    Auch mich suchte die Dunkelheit schließlich heim. Lange noch hatte ich mich mit der Frage gequält, mit meinen inneren Gefühlen, mit meinem Zwiespalt. Wie lange, konnte ich nicht sagen. Auch nicht, wie lange ich geschlafen hatte, als plötzlich die Tür aufflog. Aus meinen geröteten Augen heraus erkannte ich Simons Konturen. Die Nachricht aus seiner heißeren Kehle: Kelly klagte. Lindsay war verschwunden.

  • So da, dann gibt’s von mir wieder ein kleines Kommentar zu deinem neuesten Part^^


    Also du hast mich ja vorgewarnt, dass der Part etwas langweilig sein sollte, was ich aber so nicht ganz bestätigen kann. Natürlich, es geht wie in den letzten zwei Parts nichts wirklich bei der Haupthandlung voran, aber es kann ja nicht immer Action oder offensichtlichen Fortschritt geben. Ich finde es eigentlich recht toll, wenn manche Stellen einfach den Charterern und das Rundherum gewidmet sind. So zeigst du jetzt auch andere oder erweiterte Fassette wie z.B. Lindsay als scheinbar frustrierte Mutter, die ihre Sorgen in Alkohol ertrinken lässt oder Clairs verlegene Seite.
    Bei dem Salon hatte ich irgendwie automatisch den Salon aus dem Film „The Shining“ im Kopf, den ich während dem Lesen auch nicht losgeworden bin. Die Beschreibung von dir fällt zwar anders aus, aber wenn man gewisse Vorstellungen im Kopf hat, sind die doch recht schwer wieder zu verändern. XD


    Auch wenn abermals nur „wenig“ passiert ist, zu einer richtigen Entspannung der Situation kommt es noch immer nicht. Obwohl die Gruppe sich scheinbar in Sicherheit befindet, es bleibt immer noch diese Gefühl, dass irgendetwas Unangenehmes in der Luft liegt, was du weiterhin sehr gut durch die unterschiedlichen Charaktere zeigst: Keiner von ihnen scheint sich besonders wohl zu fühlen und das merkt man beim Lesen deutlich. Zwar hatten wir ein paar ganz witzige Momentchen, wie Sheinux kleine verbale Offensive gegen Simon, aber ansonsten bleibt die Stimmung Gedämpft. Wie ich bereits einmal erwähnt habe, wie es dir gelingt, so sehr Atomsphäre aufzubauen, finde ich beeindruckend.
    Ich frag mich, ob diese Bilder noch einen tieferen Sinn in diesen ganzen Geschehnissen haben werden, besonders das Bild „Das Versiegen der Zeit“. Die letzten zwei Teile wurden diesen ja doch einiges an Aufmerksamkeit geschenkt und so weit ich mich entsinne, sind Gemälde in Grusel bzw. Horrorgeschichten meist nicht sehr geheuer. Weiteres frage ich mich, warum es keinen lang zu wundern scheint, dass der Butler Sheinux verstehen kann ... mehr suspekt kann die ganze Situation fast nicht mehr werden xD Allgemein wirst du paar Sachen in diesem Part auf, von denen ich mich frage, wie viel von diesen dann wirklich noch eine Bedeutung in den folgenden Parts spielen werden.
    Und du gibst sogar Shaymin und Fiffyen gibst du etwas Screen time, wobei die zwei jetzt gerade eine eher untergeordnete Rolle spielen und wahrscheinlich nur auftauchen, damit sie nicht irgendwie völlig in der Handlung vergessen werden xD


    Finde aber auch schön, dass du im letzten Abschnitt nochmals an den - etwas in den Hintergrund gerückten – Grund für ihre eigentliche Reise erinnerst, mit dem sie Richtung Johto aufgebrochen waren. Der vermeidliche Abschied der Zwei hat sich zwar jetzt ein bisschen in die Ferne verschoben, doch ich bin weiterhin gespannt, wie sich Stan und Sheinux letztendlich entscheiden werden.
    Tja und zum Schluss passiert dann eben doch noch etwas, womit wahrscheinlich die zweite Person aus dem Rennen ist ... wie man so schön sagt: Lasst die Spiele beginnen. Bin wirklich gespannt, was nun die Zurückgebliebenen erwarten wird.


    Lg
    Toby

  • Part 4: Aus dem Bett


    Eine kurze Nacht lag hinter uns, nur wenig Schlaf. Die Suche begann und endete in Lindsays und Kellys gemeinsamen Gästezimmers. Der Raum glich dem unseren in jeder erdenklichen Weise. Beschränkte Möglichkeiten zum Verstecken. Spuren des Verbleibs der vermissten Lindsay fanden wir keine. Auch keine Notiz oder ein sonstiges Indiz. Die Ideen gingen uns schnell aus. Übermüdung trübte unsere klaren Geister. Dazu kamen besorgniserregte, teils sogar verstörte Gesichter, wohin man schaute. Selbst Eagle verstrickte sich in wilde Ausflüchte, warum er den Weg aus dem Bett gemacht hatte. Verdrießlichkeit und Abneigung gegenüber der Vermissten maskierten die wahren Gefühle des Einzelgängers, doch schwor ich darauf, dass er insgeheim wohl die Besorgnis seiner Mitmenschen teilte. Er hatte nur eine sehr seltsame Art, eben das zu zeigen.
    „Glaubst du wirklich, sie versteckt sich in der Schublade? Oder suchst du dein Hirn?“, spottete Eagle.
    Schlimmer als Simons Zusammenzucken waren seine plumpen und sehr lauten Versuche, die Schublade des Nachttischschränkchens wieder zu schließen. Unter sein rundes Gesicht mischte sich ein zartes rosarot. „Ich meine ja nur ...“, nuschelte der Junge mit der Brille verlegen.
    Eagle zischte eine herablassende Anfeindung, doch Claire schob mit einem strengen Blick einen Riegel vor. Diese ließ sich dann auf die Bettkante nieder, wo Kelly mit angezogenen Knien und gesenktem Kopf saß.
    „Kelly, hat Lindsay irgendetwas zu dir gesagt? Hast du irgendetwas mitbekommen, warum sie gegangen sein könnte?“, fragte Claire freundlich.
    Das gramerfüllte Mädchen hickste als Zeichen, dass es verstanden hatte. Eine klare Antwort blieb sie aber schuldig.
    „Kelly?“, hakte Claire nicht weniger freundlich nach.
    Jetzt piepste die Kleine kopfschüttelnd: „N-nein. Linni hat nichts gesagt. Sie war einfach ... einfach w-weg.“
    „Wir hätten sie vorhin nicht so sehr über die Stränge schlagen lassen sollen“, meinte Lars verdrießlich. „Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, dass sie in ihrem Zustand durch ein wildfremdes Haus irrt.“
    „Sie suchen?“, führte Kevin den Gedanken des Immobilienmaklers zu Ende.
    Außer Kelly schaute ein jeder in das Gesicht eines anderen. Eine klare Mehrheit für diesen Vorschlag ließ sich nicht erkennen. Zu sehr verschleierte die Sorge um das persönliche Wohl die Mienen.
    „Wenn sie das Haus zu Klump schlägt, dürfen wir’s am Ende noch bezahlen. Kein Bock auf so was“, schnaubte Eagle.
    „Andere Sorgen hast du nicht?“, erwiderte Claire.
    „Jedenfalls keine, die dich was angehen!“
    „Ihr könnte echt was passiert sein, weißt du?!“
    „Und? Ich bin nicht ihr Anstandswauwau!“
    „Schluss jetzt!“
    Demonstrativ stellte sich Lars zwischen die beiden Streitenden und schaute tadelnd in die Runde. Dann, als er sicher war, dass endlich wieder Ruhe eingekehrt war (das Aufheulen des Windes draußen vor dem Fenster bestätigte das), nickte er.
    „In gewisser Weise habt ihr beide einen guten Punkt, wobei ich natürlich Leib und Leben vorrangig betrachten würde. Auch auf die Gefahr hin“, fügte er mit verdunkelter Miene hinzu, „dass wir vor unserem noblen Gönner in Ungnade fallen könnten, wenn das Mobiliar zu Schaden kommt. Ich werde sie jedenfalls suchen gehen. Es steht euch natürlich frei, mitzuhelfen.“
    „Ich komme mit“, sagten Kevin und Claire im Chor.
    Nur einen kleinen Tick später auch Stan.
    „Ich auch.“
    Anerkennend nickte ich meinem Freund zu.
    „Ich auch“, sagte ich.
    Nachdem er eine Weile lang hilflos in der Menge hin und her gesehen hatte, schloss auch Simon sich den Ja-Sagern an.
    Alle Augen richteten sich auf Eagle. Der drehte sich ab.
    „Meine Antwort kennt ihr. Gute Nacht!“
    Protestierend schnellte Claire so schnell in die Höhe, dass das Bett merkbar in die Luft federte. Mit beschwichtigenden Handbewegungen kühlte Lars die Gemüter und verhinderte das Schlimmste - vorläufig.
    „Dann könntest du, wenn du so nett wärst, bitte auf Kelly aufpassen“, sagte der Erwachsene.
    Jetzt war es Eagle, der protestierend dreinschaute. Bislang hatte er eine äußerst höfliche Distanz zu Lars gewahrt, und irgendwie schien er keine Lust zu haben, diesen Frieden zu brechen.
    „Ich will nicht mit dem Jungen allein sein!“, klagte Kelly unter einem Anflug bitterer Tränen.
    Dasselbe musste auch für Eagle gelten, vermutete ich. Auch hatte ich so eine Ahnung, dass Lars nie wirklich die Absicht besaß, Eagle auf die kleine Kelly loszulassen. Der Erwachsene pokerte mit hohem Einsatz.
    „Meinetwegen! Ich komme auch mit. Kindergarten!“
    „Sollen wir Gruppen bilden?“, schlug Kevin vor. „Wir sind“ - er zählte die Anwesenden ab - „zu siebt.“
    „Acht“, korrigierte ich.
    „Sollen wir zwei Gruppen bilden?“, ergänzte Kevin.
    Schon fing das Gezeter von vorne an.
    „Ich geh mit Lars!“, rief Simon.
    „Ich mit Sheinux!“, piepste Kelly.
    „Ich mit Stan!“, sagte ich.
    „Ich will nicht mit dem ...“, brummte Claire unter all den Stimmen leise und deutete Richtung Eagle.
    „Macht doch, was ihr wollt“, knurrte Eagle.
    „Um ehrlich zu sein“, sagte Lars und gestikulierte mit beiden Händen, die Lautstärke etwas zu senken, „finde ich, wir sollten zusammenbleiben. Die Situation ist auch so schon verworren genug, auch ohne dass wir in peinliche Erklärungsnot geraten, warum wir grüppchenweise im Haus umherstromern. Also, wenn es allen recht ist, bleiben wir zusammen.“
    Unter einigem Gemurmel war schließlich mehr Zuspruch als Ablehnung zu hören. Die Gesellschaft war vielleicht nicht die beste, aber selbst unter uns Pokémon war durchaus die Redewendung „Gemeinsam sind wir stark“ durchaus bekannt. Oder hieß es eher „Einigkeit macht stark“? Denn wenn Letzteres der Fall war, dann gute Nacht! Wie es auch sei: Auch ich fühlte mich in einer geschlossenen Gruppe deutlich weniger verwundbar. Aber da gab es noch etwas, was mich kümmerte. Etwas, das mich störte.
    „Stan? Stan?“ Ich gestikulierte Stan zu mir herunter. „Auf ein Wort“, sagte ich, als er mich bemerkte. „Allein.“
    Wir suchten uns die ruhigste Ecke im Raum. Stan ging runter auf den Hosenboden.
    „Was gibt’s?“
    Erst vergewisserte ich mich, dass uns niemand hören konnte. „Dieser Lars ... Kommt er dir nicht auch irgendwie zu ... ruhig vor? Zu unbekümmert? Der hat doch schon die ganze Zeit die Ruhe weg.“
    Stan legte seine bleiche Stirn in Falten. „Wie kommst du darauf?“ Mein Freund linste ein wenig in Lars’ Richtung. Dieser stand neben Claire und beäugte das gleiche Gemälde, wie wir es bereits zigmal im Anwesen gesehen hatten (die zähflüssig verlaufenden Uhren erinnerten mich immer mehr an mein allererstes Mülltonnen-Fondue). „Er scheint etwas abgebrühter zu sein als der Rest von uns, aber unbekümmert würde ich das jetzt nicht nennen. Wundert mich ehrlich gesagt nicht. Lars hat schon ein paar Jahre mehr auf den Buckel.“
    „Und das macht ihn abgebrühter? Ist man als Immobilienmakler, was auch immer man da macht, öfter in solchen Situationen?“
    „Äh, nee, ich glaube eher nicht. Also Immobilienmakler, na ja, die verticken normalerweise Häuser und handeln mit Grundstücken. Das ist eigentlich alles. Hör mal, Sheinux“ - Stan sah mich streng an - „du steigerst dich da in was rein, oder glaubst du ernsthaft, Lars hat es auf uns abgesehen? Das ergibt keinen Sinn. Er ergreift lediglich die Initiative. Einer muss es ja tun.“
    „Seit wir in diesen komischen Zug gestiegen sind, hat so ziemlich alles aufgehört, Sinn zu ergeben, meinst du nicht?“
    Mit seinem Zögern signalisierte Stan ungewollt innerliche Zerrissenheit. Es schien, als wollte er mir recht geben, gleichzeitig aber auch irgendwie Lars in Schutz nehmen. „Wir haben bereits Schlimmeres durchgestanden“, sagte Stan abschließend.
    „Stimmt“, nickte ich und täuschte ein unbekümmertes Strahlen. Denn mein Bauchgefühl war anderer Meinung. Aber warum Stan unnötig Kummer bereiten? Auch so war er schon mit den Nerven am Ende - wie wir alle. Nur die Sache mit Lars ließ mir trotzdem keine Ruhe. Ich wollte ihn im Auge behalten, unseren Immobilienmakler. Aber fürs Erste hatte Stan Priorität.
    „Du, Stan, willst du dich nicht lieber etwas hinlegen? Du siehst überhaupt nicht gut aus.“
    Jetzt mimte Stan den Sorglosen und setzte sein gezwungenstes Lächeln auf. „Geht schon. Ich krieg in dem Kasten ja doch kein Auge zu. Bin auch überhaupt nicht müde“, log er und unterdrückte ein Gähnen.
    „Dafür hast du, so zerknittert, wie du aussiehst, den ganzen Tag gute Entfaltungsmöglichkeiten“, versuchte ich ihn aufzumuntern. Sein Lachen hätte auch mir gut getan, dummerweise platzte zum selben Zeitpunkt Kevin mit Anweisungen in die Unterhaltung: Die Suche sollte beginnen.


    Blutrot träufelte das schummrige Dämmerlicht der Wandleuchter die verschlungenen Konturen des roten Teppichs auf die graue Tapete. Ungewöhnlich lang reckten unsere Schatten in die verworrenen Pfade des Anwesens hinein, verschwammen aber schlussendlich mit der tiefen, dunklen Leere, die dahinter lag. Links und rechts schien nichts weiter als der Korridor zu existieren. Eine Straße. Unendlich lang. Unergründlich. Gespenstisch. Niemand erhob Einspruch, denselben Weg zurückzugehen, von dem wir ursprünglich gekommen waren - zurück zur Halle. Allgemeines Unbehagen lag wie ein dunkler Fluch auf demjenigen, der die Gruppe anführte. Kaum an der Spitze angelangt, erlahmten die vorsichtigen Schritte immer mehr. Die Knie waren wie Gelee, der restliche Körper fühlte die Schwere dieser Bürde, packte die Mutlosigkeit und gefror zu Eis, obwohl Unbehagen und Sorge gleichzeitig die stickig-warme Luft zum Gären brachte.
    Sämtliche Türen, die wir öffneten, gehörten zu weiteren Gästezimmern. Eines wie das andere lagen sie da, in einem tiefen Schlummer gefangen. Sie waren größer als unsere, wirkten pompöser. Wahrscheinlich dienten sie als Übernachtungsmöglichkeit für mehrere Personen. Allmählich, nachdem ich die vielen verlassenen Zimmer schon gar nicht mehr zählen konnte, beschlich mich das unangenehme Gefühl, dass wir uns gar nicht vorwärts bewegten, wir im Kreis liefen. Doch die verschiedenen Gemälde an der Wand hielten diesen Verdacht unbestätigt. Und dann gab es auch noch in seltenen Abständen Vitrinen, die den Korridor mit ihren unterschiedlichen Inhalten schmückten. Meist war es Ramsch, etwas, das noch aus einem anderen Erdzeitalter zu stammen schien. Der erste Glasschrank, dem wir begegneten, beinhaltete ein kurzes Schwert mit einem auffällig reich verzierten Knauf, ein Helm mit buschigem, rotem Federschmuck und ein juwelenbesetztes Goldkettchen in Form eines Kreuzes. Ich konnte mir keinen Reim daraus machen, was die Menschen an solchen Dingen fanden. Es war nicht nützlich. Es lag einfach nur da, verstaubte zunehmend. Eine echte Trophäe stellte ich mir anders vor. Auch der Inhalt der nächsten Vitrine - Goldmünzen aus aller Herren Länder - wirkte in meinen Augen nur wenig beeindruckend. Dagegen hatten die fein aufgereihten Knochen und Totenschädel im dritten Glasschrank denselben makaberen und abstoßenden Eindruck wie bei den meisten anderen. „Barbarisch“, wie Claire leise kommentierte, hingegen Lars die Gebeine mit einem höflichen Interesse musterte.
    „Sind wir hier richtig? Ich könnte schwören, die waren vorher nicht hier“, murmelte Kevin.
    Eine Frage mit der Wirkung von Nadeln, die einem ein flüssiges Gefühl von Unwohlsein injizierten. Waren wir einfach nur so schläfrig daran vorbeigelaufen? Simon rückte instinktiv näher in die nur scheinbar schützende Mitte der Gruppe, denn genau dort drohte erneut ein Vulkan auszubrechen.
    „Bist du bescheuert? Klar sind wir vorhin daran vorbeigelaufen“, sagte Eagle.
    „Ganz ehrlich: Ich weiß es auch nicht mehr“, murmelte Stan und suchte meinen Blick.
    „Du kennst mich“, antwortete ich ihm leicht kopfschüttelnd, „auf solche Dinge gebe ich keine Acht.“
    Kelly umklammerte fester Claires Hand, die als Lindsays Ersatz herhalten musste. Selbst Lars wirkte verunsichert. Er schaute über die Schulter, aber ebenso gut konnte er nach vorne blicken - es machte keinen Unterschied.
    „Gehen wir weiter“, sagte Lars.
    „Ich bin da anderer Meinung“, meldete ich mich zu Wort. „Gehen wir zurück. Wir haben überhaupt keinen Anhaltspunkt, wohin wir müssen. Wir könnten die ganze Zeit völlig in die verkehrte Richtung laufen. Und schaut mich nicht so verdutzt an. Ich habe genau dasselbe Recht, mitzureden wie jeder von euch Zweibeinern!“
    „Tscht!“, zischte mir Stan zu, doch für Reue war es jetzt zu spät; jetzt, wo meine Worte ausgesprochen waren und mich alle mit gemischten Gefühlen betrachteten.
    „Die Töle hat einen Punkt“, sagte Eagle als Erster.
    Ich geb’ dir gleich ...!
    „Ist doch jedem klar, dass es aussichtslos ist. Wir finden sie ja doch nicht. Gehen wir zurück“, sagte Eagle.
    „Sheinux, du wolltest doch vorhin auch Lindsay suchen, oder nicht?“, fragte Lars freundlich.
    „Und wer hat dich gefälligst zum Graf Rotz gemacht?“
    Nein, nicht Eagle hatte seinen Unmut freien Lauf gelassen. Ich war es. Ich hatte die Worte ausgesprochen, die mir insgeheim auf der Seele gelegen hatten. Es war, als ob man mir das Anstandssiegel vor meinem Mund gewaltsam mit einer Brechstange geöffnet hatte. Was war bloß los? Wieso war ich plötzlich so aggressiv? Wegen Lars? Weil ich ihm misstraute? Weil ich mich um Stans Sicherheit sorgte? Oder ging es mir nur um meinen räudigen Pelz? Und warum tat es mir überhaupt nicht leid? Im Gegenteil. Ich war stolz darauf. Fühlte mich rebellisch. Irgendwie inspirierend. Stan, Lars - eigentlich alle schauten mich völlig fassungslos an. Und ich? Ich suhlte mich in ihrer Aufmerksamkeit. Das Gefühl blieb bestehen. Selbst dann noch, als die wackelige Stimmung kippe und die ersten wüsten Kommentare fielen, Kelly erneut zu weinen anfing, Eagle auf Simon rumhackte ...
    Was ist bloß los mit dir? Es ist ein denkbar schlechter Zeitpunkt, hier den Obermacker zu markieren, meinst du nicht? Oder hast du überhaupt mal an Stan gedacht? Er ist auch ohne deinen Ego-Trip bereits schlecht genug dran. Also reiß dich gefälligst zusammen!
    Ich stand völlig neben mir. Wie von einer heftigen Ohrfeige nach tiefem Schlaf geweckt und mit einem Schwall kalten Ekels in der Galle. Um mich herum streitende Menschen, Uneinigkeit und Missmut. Dass die Zerrissenheit in unserer Gruppe durch mich rührte, begriff ich erst jetzt. Erst dann setzte auch meine viel zu verspätete Einsicht ein.
    „Leute! Leute! Es tut mir leid! Hört ihr? Es tut mir leid!“
    Es klang mehr nach einem Flehen, obwohl mir die eigene Stimme lautstark und fremd in den Ohren echote. Stille kehrte ein. Unangenehme Stille. Die Aufmerksamkeit, die ich erregte, war Welten von dem zuvor verspürten Gefühl von Rebellion und Wohlgefühl entfernt. Ich fühlte mich allein, allein auf verlorenem Posten, mit nichts als Misstrauen um mich herum. Tief atmete ich durch.
    „Es tut mir leid“, wiederholte ich, diesmal erst direkt an Lars, dann an die ganze Gruppe gerichtet. „Ich bin ... ich denke, ich bin wohl nur etwas runter mit den Nerven.“
    Stan fand als Erster seine Stimme wieder. Auch er atmete tief aus. „Das sind wir alle“, stimmte er mir zu, „das sind wir alle.“
    „Macht doch, was ihr wollt - ich zieh Leine.“
    Eagle kehrte uns entschieden den Rücken zu. Auf irgendwelche Einwände wartete er gar nicht erst.
    „Alter, wo willst du hin?!“, rief ihm Kevin nach.
    „Die Olle suchen - allein. Und wenn ich sie finde, trete ich ihr ordentlich auf die Füße!“
    Er bog schon fast in den nächsten Korridor ein, als sich aus Claires verständnislosem Gesicht ein „Wir können ihn nicht einfach so gehen lassen“ löste.
    „Ich will auch nicht, dass er einfach so alleine rumstromert“, meinte Lars mit hörbar gebrochener Stimme.
    „Ich gehe ihm nach, okay?“ Kevin tänzelte hinterrücks dem Flüchtigen hinterher, das Gesicht noch uns zugewandt. Er wartete auf eine Erlaubnis.
    „Beeil dich!“, segnete Lars schließlich und endlich Kevins Wunsch ab. Man merkte ihm jedoch deutlich an, dass er ganz und gar nicht glücklich mit dieser Entscheidung war.
    „Bis später!“
    Der Teppich saugte noch das letzte sanfte Pochen von Kevins Turnschuhen auf, bevor der Junge aus unserem Blickfeld rückte. Ausgerechnet Kelly war es, die endlich das lang angehaltene Schweigen mit ihrer kindlichen Perspektive brach.
    „Ich bin froh, dass der andere Junge weg ist. Ich mag Linni viel lieber. Und Sheinux. Nur Mami mag ich noch viel lieber.“
    Mit ihrem Kommentar zauberte ein flüchtiges Lächeln auf das ein oder andere Gesicht. Nur nicht auf meins. Ich fühlte mich irgendwie schuldig. Gedanken machte ich mir keine um Eagle, dafür konnte ich ihn viel zu wenig leiden. Außerdem schätzte ich ihn als viel zu stur ein, als dass es irgendetwas auf dieser Welt gab, das seinen Willen brechen konnte. Was aber war mit den anderen? Waren wir wirklich besser ohne den unbeherrschten, aber auch unerschütterlichen Unruhestifter dran? Und was war mit Kevin? Kam er klar?
    „’tschuldigung“, entschuldigte ich mich erneut.
    Claire schüttelte ihren Kopf. „,Das nagt an allen. Jeder ist schon aus der Haut gefahren. Warum soll es dir anders ergehen? Und wie Stan schon gesagt hat: Wir sind alle ziemlich fertig.“ Sie schenkte mir ein Lächeln. Es war müde, doch aufrichtig. Ebenso aufrichtig erwiderte ich es.
    „Danke.“

  • Ist schon eine ganze Weile her, der letzte Part von Sheinux und Stans Geschichte online gestellt wurde … schon fast ein Jahr und ich dachte, ich bin der Einzige, der dazu fähig ist. xD
    Scherz beiseite, bin aber wirklich froh, nach all dieser Zeit doch noch etwas von der ganzen Bande zu lesen und – wie gesagt – dass du Sheinux Abenteuer noch weiterführst^^


    Unsere Helden stecken noch immer in einer verzwickten Situation, nicht mehr draußen im Dunkeln aber dafür in einer Villa, die ich mal als nicht besonders geheuer bezeichnen würde. Wenn das äußerliche Erscheinen des Gebäudes nicht gereicht hatte, dann sollte das Verschwinden eines Mädchens dafür sorgen, dass die Stimmung/Atmosphäre weiter in den finsteren Keller wandert.


    Nach dieser längeren Pause, hat es ein bisschen gedauert, bis ich bei dem größeren Cast an Charakteren, der sich seit Beginn dieses Arcs zusammengefunden hat, wieder halbwegs den Überblick hatte. Jeder (zu mindestens glaub ich das) aus der Gruppe hatte im Verlauf des Kapitel-Parts hat so viel „Screentime“ gehabt und so gehandelt, dass es für mich schnell nicht nur Namen in einer Ansammlung von Wörtern waren, sondern wirklich Charaktere. Finde ich beachtlich, ich selbst tendiere bei größeren Anzahl oft zu vergessen, die „unwichtigeren“ innerhalb einer Szene zu inkludieren.
    Natürlich hatte Sheinux wieder seine Momente, von seinen Kommentaren, Weltansichten und Beschreibungen, die uns schon die ganze Story über begleitet haben. Von kecken ermunternden Worten zu Stan bis zu seiner Schilderung des Fluch welchen diejenigen überkam, der an der Spitze der Gruppe ging.


    Lars ist offenbar der einzige in dieser Gruppe, der schon in seinem Leben einen klischeehaften Horrorfilm gesehen hat. Aufteilen ist ja generell bei so etwas immer eine gute Idee. Aber selbst mit einem Charakteren im Team, der über etwas Vernunft und „Anti Horrorfilm“ Taktiken im Gespräch hat, lässt sich trotzdem irgendwie ein Weg finden, wie man ein bisschen Wirbel reinbringt und für Gruppentrennungen sorgt … wie man hier gut sieht. Find jedenfalls super, dass du es auf die weise realisiert hast.


    Mit drei Personen, die sich insgesamt von der Gruppe getrennt haben, frage ich mich, wie lange es noch dauern wird, bis Sheinux und Stan auf sich alleine gestellt sind … oder vielleicht überhaupt Sheinux alleine.


    Worauf ich gespannt bin ist, wie sich das mit Sheinux Verdacht auf Lars entwickeln wird. Spürt er mehr als die anderen oder ist da etwas am Werk, das versucht, die Gruppe zu entzweien (bzw. entdreien oder entvieren). Oder beides? Von meinem Gefühl her tendiere ich grade auf „höhere Macht“, aber ich bin auch sehr naive und vertraue zu schnell Charakteren, die mir sympathisch sind, aber wer weiß. Immerhin schien doch sehr Sheinux altes Ich, das meist voll mit Stolz und dem fehlenden Rückgrat gegenüber Stan war, aus ihr rausgeplatzt zu sein.


    Alles in allem ein recht stimmungsvoller Part wie ich finde. Die unheimliche Stimmung lässt jedenfalls nicht locker und scheint auch so, dass dies noch ein Weilchen so bleiben wird. Wie du gesagt hast, man merkt, dass es den Höhepunkt entgegen geht. Stellt sich nur die Frage, was du für einen Höhepunkt geplant hast, auf welche diese Ereignisse nun zusteuern.
    Freu mich schon auf den nächsten Part sowie, dass endlich Sheinux Geschichte fortgesetzt wird^^


    Lg
    Toby

  • Part 5: Räume


    Hinter unserer Fassade von Unerschrockenheit siechte die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit der vermissten Lindsay so wie ein Schatten bei Nacht. Unsere Seelen krankten an einem Geschwür stiller Melancholie, gefangen in einer endlosen Abwärtsspirale.
    Mit dem letzten Gästezimmer wurden die Türen seltener. Ein höfliches Anfragen, daraufhin ein Blick hinter die Geheimnisse zweier weiterer Türen, die einander direkt gegenüberstanden. Es waren Badezimmer, je eines auf jeder Raumseite, wahrscheinlich gedacht für Männlein und für Weiblein. Doch diese Vermutung war eher nebensächlich. Selbst für jemanden wie mich, der eigentlich keinerlei Gespür für menschliche Ästhetik besaß, haute das komfortable und unglaublich protzige Ambiente aus den nicht vorhandenen Latschen; nicht anders erging es den Menschen um mich herum. Zwei breite Duschtrennwände aus schwarzem Marmor ragten steil aus dem ebenfalls marmorierten Fußboden bis an die Decke. Dazwischen, im Inneren der eigentlichen Kabine, wo fast eine halbe Fußballmannschaft hätte Platz finden können, funkelten auf Hochglanz polierte, goldene Duschbrausen und Armaturen. Im Kontrast zu dem schwarzen Bodenbelag: ein weißer Kronleuchter, der von der Decke hing, reiner und funkelnder als Neuschnee. Die Waschbecken bestanden wieder aus schwarzem Marmor, die Hähne und Wärmeregler aus Gold, ebenso Handtuchhalter und Seifenhalter. Unterhalb davon gab es Kommoden aus braunem Ebenholz; wahrscheinlich lagerten dort Handtücher, Cremes und Anderes. Selbst das stille Örtchen, wo Menschen ihre Notdurft verrichteten, wirkte kostspieliger als so manch eine Behausung, die ich auf der gemeinsamen Reise an Stans Seite gesehen hatte. Einzig der Spiegel über den Waschbecken hätte man als halbwegs normal und nicht überteuert bezeichnen können, hätte er nicht die fünffachen Ausmaße eines gewöhnlichen Badezimmerspiegels besessen. Etwas außergewöhnlich empfand ich, dass es das bislang erste Zimmer ohne ein einziges Gemälde war. Dies jedoch wurde jedoch ein riesiges Relief an der Rückwand der Badezimmer kompensiert, das einen hohen Turm auf einer Insel zeigte. Mehrmals verschränkte ich den Kopf, tauschte die Perspektive, doch am Ende war ich mir sogar ziemlich sicher, dass der Künstler das Meer um die Insel herum vergessen hatte, sodass die Illusion bestand, dass das Eiland in der Luft schwebte.
    „Sheinux, kommst du?“
    Noch einmal taxierte ich das unfertige Standbild an der Wand mit gefurchter Stirn, dann eilte ich Stan hinterher.


    Wir bogen in einen neuen Korridor ein. Hatten wir das auf unserem Hinweg auch getan? Ohne den ortskundigen Kammerdiener an unserer Seite vermochte niemand wirkliche Gewissheit darüber zu äußern. Es war Simon, der unerwartet eine leise Vermutung anstimmte, ihm käme ein Portrait an der Wand bekannt vor. Doch es war eine brüchige Hoffnung, die wir angesichts neuer, unvertrauter Türen rasch wieder fahren ließen. Lars schob sich nach vorne. Seine Hand berührte die Klinke, packte sie. Ganz kurz zögerte er, dann klopfte der Mann zweimal vorsichtig gegen die Tür, bevor er das Metall nach unten drückte.
    Das Licht war ein Messer, welches das Halbdunkel um uns herum durchtrennte. Unsere Augen hatten sich so sehr an die Verhältnisse des Korridors angepasst, dass die Berührung mit dem grellen Schein uns für den Augenblick blind machte. Doch das, was den Gang flutete, war nicht so erfrischend wie das ersehnte Himmelblau am Ende eines wolkenverhangenen, spätwinterlichen Tages. Es fühlte sich grausam kalt und steril an. Nicht echt. Berührte die Helligkeit zwar unsere Haut, verharrten unsere Gedanken darunter jedoch weiterhin in Dunkelheit.
    Der anfängliche Schreck war rasch ausgestanden, die Gewissheit, dass die vermisste Lindsay nicht hier war, schon mit einem Blick kurzen besiegelt. Dennoch zerrte uns die Neugierde hinein in den bizarrsten Ort, den ich jemals gesehen hatte. Beim Betreten stießen wir regelrecht mit einer Wand zusammen. Es war heiß, drückend heiß, und feucht. Anfänglich glaubte ich mich im Freien. Sonnenlicht. Blumen. Der Geruch von feuchter Erde und Mull. Schnell bestätigte sich aber meine Vermutung, dass die Umgebung künstlich war. Wände und Decke des kreisrunden Raumes, der deutlich kleiner als die Gästezimmer war, bestanden aus dickem Glas. Nur die Wand im Eingangsbereich bestand aus normalem Zement. Keine Tapete kleidete sie ein. Sie war porös und fleckig. An einigen Stellen blätterte der Estrich bereits ab, wahrscheinlich wegen der hohen Feuchtigkeit. Vielleicht hatte es der Graf Blakewater gerade deshalb als geradezu notwendig empfunden, über die Tür ein weiteres Uhrengemälde anzubringen - wer wusste das schon? Weiter im Text: Stahlträger verliefen horizontal und vertikal. Diese dienten zum gleichen Teil als Verstärkungskonstruktion für das Glas und als eine Befestigungsmöglichkeit für das Dutzend an grellen Neonlampen. Säcke mit Erde, Plastik- und Tontöpfe, Pflanzenschutzmitteln, Gieskannen und kleinerer Gartenwerkzeuge lagerten auf und unter einer eher schäbig wirkenden Anrichte im Zentrum des Raums. Eine einstöckige, fast brustwarzenhohe Regalkonstruktion aus perforiertem Metall umspannte die Wände. Auf der Oberfläche dieser Struktur lagerten aberdutzende Ton- und Plastiktöpfe, in denen man Pflanzen kultivierte; besser gesagt: Blumen. Stan erklärte mir nach anfänglichem Zögern, dass es sich bei dieser Einrichtung um eine Art von Gewächshaus handelte, in der man das ganze Jahr über - und unabhängig der Witterung - Pflanzen aufziehen konnte.
    „Und ... ist so etwas normal? Ein Gewächshaus?“, fragte ich in der Bemühung, die richtigen Worte zu finden.
    Stan schaute zwiegespalten. „Normal ...“ Er stieß einen kräftigen Atemzug in die schwüle Luft. „Also nicht jeder hat ein Gewächshaus“, sagte er und zuckte mit den Schultern. „Unsere Nachbarn haben einen Wintergarten. Das ist gewissermaßen ähnlich wie das hier“, erklärte er rasch weiter, als er meinen fragenden Blick auffing. „Ein Wintergarten ist aber eher dafür gedacht, Pflanzen im Winter zu lagern - sagt ja schon der Name.“
    „Aber hier wird aufgezogen“, stellte ich fest.
    „Ich kenne das ehrlich gesagt auch nur von Gärtnereien, die Obst und Gemüse im großen Rahmen anbauen. Und das findet man eigentlich nicht in irgendwelchen Häusern. Aber die Reichen sind in dieser Beziehung vielleicht etwas ... extravagant. Keine Ahnung.“
    „Was ist komisch daran, das ganze Jahr über Erdbeeren essen zu wollen, ohne irgendwo in die Pampa stiefeln zu müssen?
    Stan erwiderte mein angedeutetes Grinsen.
    Aber Erdbeeren suchte man hier vergeblich. Tatsächlich hatte der Hobby-Gärtner nur eine einzige Blumenart aufgezogen: kurze Stängel, violette Blätter und gelbe Blüte. Ich kannte sie, denn sie waren auch - vor allem im Frühling - im Nationalpark zu finden. Nur wir hatten eigentlich keinen wirklichen Namen dafür. Es waren ... Blumen eben. Schmeckten auch gut als Salat, wenn die Mühltonne mal nichts hergab.
    „Das sind Krokusse“, gab Claire bekannt. Die neue Umgebung streichelte ihre Seele, anders konnte man den Ausdruck auf dem Gesicht des Mädchens nicht beschreiben. Mit Kelly an der Hand lief sie eine Runde, vorbei an den Setzlingen und Knospen bis zu den ausgewachsenen Blumen. Bei den ausgewachsenen Exemplaren neigte sie den Kopf, bis ihre Nase beinahe die Blütenblätter berührte.
    „Ist doch langweilig“, maulte Simon. Mit seiner unmittelbaren Nähe zur Ausgangstür deutete er latent an, lieber wieder gehen zu wollen. Auch Lars’ Interesse ebbte schnell wieder ab, während Kellys Augen im Begriff waren zuzufallen. Ebenfalls eher gelangweilt inspizierten Stan und ich den nördlichen Teil des Raumes in der Nähe der Ausgangstür. Die ersten Blumen dort ließen erschöpft ihre farblosen Köpfe hängen, bereits die nächsten waren völlig verwelkt.
    „Hat sich jemand nicht gut darum gekümmert“, meinte Stan mit eher teilnahmsloser Stimme. Er schaute in Claires Richtung. „Du ... äh, stehst auf so etwas? Blumen und so?“
    Claire, ein wenig von uns entfernt, hob den Kopf. „Eigentlich nicht so wirklich, aber das sind die Lieblingsblumen von meiner Oma.“ Merklich nahm ihr Strahlen plötzlich ab, als ob sie mit einem Mal das Interesse plötzlich verloren hatte. Claire kam zu uns herüber. Auch sie musterte die kranken und abgestorbenen Blumen, doch im krassen Kontrast zu Stan und mir wirkte sie sehr betroffen. Ich maß ihrer Reaktion keine große Bedeutung bei. Eigentlich war es mir sogar ziemlich egal. Mir machte die hohe Luftfeuchtigkeit und Temperatur zu schaffen, das unangenehme Licht ganz zu schweigen. Mittlerweile fühlte ich mich außerdem bei der stickig warmen, modrigen Luft eher an ein Paar ungewaschene Füße als an die freie Natur erinnert. Ich wollte einfach nur noch hier raus, bevor man mich als Kompost verwenden konnte. Glücklicherweise realisierte Claire bald, dass der Rest von uns eigentlich nur noch auf sie wartete. Ich huschte an Simon, der die Tür öffnete, vorbei und verließ noch vor allen anderen den Raum.


    Wir erreichten die nächste Tür, nur unweit von dem Gewächshaus entfernt. Anders als zuvor lag der Raum im Dunkeln, sodass die einzige Lichtquelle aus dem Korridor stammte. Lars tastete solange an der Außenwand des Zimmers entlang, bis es „Klack!“ machte und helles Licht den Raum erfüllte.
    Keine Lindsay und auch keine besondere Überraschung. In Wahrheit war es sogar der erste Raum in dieser komischen Villa, den man eventuell in jedem x-beliebigen Haus hätte finden können. Er war hergerichtet wie ein Kinderzimmer: eine farbenfrohe Tapete, ein flauschiger Teppich und Spielgeräte - jede Menge Spielgeräte. Lars wollte bereits ein weiteres Mal resigniert den Lichtschalter betätigen und die Tür schließen, als Simon in heller Begeisterung aufquiekte und sich aufgeregt an dem Erwachsenen vorbeiquetschte.
    „Das gibt’s gar nicht! Ich krieg mich nicht mehr ein! Ist das geil! Ist das geil! Geil! Geil! Geil! Geil!“
    Der sonst so zurückhaltende Junge war nicht mehr zu bremsen. Grund für seine Hysterie: ein unscheinbares Menschen...dingens, vor dem Simon beinahe einen Freudentanz ausführte. Ich wusste einfach nicht, was es war. Und als ich so in die Runde schaute, stieß ich fast nur auf Verunsicherung, bis auch Stan sich löste. Mit ihm betraten auch wir schließlich den runden Raum.
    „Moment. Ist das die neue Gamestation?“, fragte Stan beim Nähertreten.
    Simon quiekte einen schrillen Laut. Er nickte so heftig, dass ihm beinahe die Brille von der Nase rutschte.
    „Die kommt doch erst in ein paar Wochen raus“, sagte Stan ungläubig.
    „In 23 Tagen. Ich habe mir vor einem halben Jahr eine bestellt. Boah, ist das hammergeil! Hier gibt’s sogar einen Fernseher. Ich werd...“
    „Simon, lass das bitte liegen! Wir sind hier nur zu Besuch“, mahnte Lars mit strenger Stimme. „Simon!
    Doch der Angesprochene reagierte nicht. Sichtlich frustriert und Haare raufend drehte sich Lars weg. Es war das erste Mal, dass ich den Erwachsenen fluchen hörte, wenn auch nur sehr, sehr leise. Auch Claire vermochte nicht, mit einfachen Worten das Feuer von Simons Leidenschaft zu löschen. Und Stan ... Der versuchte es erst gar nicht. Zwischen moralischem Anstand und Begeisterung hin- und hergerissen wartete er einfach nur ab, wie Simon Kabel zwischen Spielekonsole und Fernseher verlegte. Claire wurde daraufhin handgreiflich und packte Simons Handgelenk. Völlig unerwartet riss sich dieser aber von der Angreiferin so rabiat los, dass Claire anschließend mit dem Gleichgewicht kämpfte.
    „Hast du sie noch alle!?“, kreischte Claire.
    „Du hast vorhin deinen Spaß gehabt, und keiner hat was gesagt! Jetzt bin ich dran!“
    Es war schwer zu sagen, wer von beiden schneller rot im Gesicht wurde. Bedrohlicher wirkte jedoch immer noch Claire. Sie suchte Hilfe bei Lars. Der aber gab mit einem Kopfschütteln schließlich und endlich widerwillig sein Zugeständnis.
    Es gab eigentlich nur eine Sache, die man in diesem Raum mit seinen zig Beschäftigungsmöglichkeiten nicht finden konnte: nämlich Langeweile. Okay, zugegeben: Man konnte wahrscheinlich auch lange darüber spekulieren, welchem Zweck dieses Zimmer eigentlich diente. Der Hausbesitzer hatte eine seltsame Sammlung unterschiedlicher Spielsachen angehäuft. Da war zum einen die erwähnte Spielekonsole - ein Stück Technik, das eigentlich noch gar nicht auf dem Markt sein sollte. Auf der anderen Hand gab es alte, wirklich sehr alte Gerätschaften, geradezu vorsintflutlich: eine Puppe aus Terrakotta, Spielzeugfiguren aus Messing, ein Ball aus Wolle, irgendwann auch ein Schaukeltier aus Holz. Es gab Modeleisenbahnen, Bauklötze aus Holz (später auch aus Plastik), Brett- und Kartenspiele, Spielzeugautos, noch eine Modeleisenbahn (diesmal elektrisch), dazwischen lag Kelly Arm in Arm mit einem lebensgroßen Plüsch-Pokémon, eine weitere Spielzeugkonsole, für die sich aber niemand wirklich interessierte, Spielzeugroboter, die sich mit ein wenig Kraftaufwand in Autos verwandeln konnten, ein Sammelkartenspiel (natürlich „Pokémon“), noch eine Spielekonsole und dann irgendwann, zwischen etlichem Kleinkram und Ungenanntem, Simon mit seiner Gamestation.
    „Für jede Altersklasse etwas dabei, schätze ich“, murmelte ich.
    Claire inspizierte die älteren Spielzeuge mit nachdenklichem Gesichtausdruck.
    „Es gehört sich trotzdem nicht. - Bitte Claire, lass wenigstens du das liegen“, sagte Lars schon fast flehend.
    Claire erbebte. Die Puppe aus Stroh in ihrer Hand zitterte. Reflexartig legte sie das Spielzeug zurück. „Stimmt, ’tschuldigung, ’tschuldigung“, stotterte sie. Ihre Wangen färbten sich rosarot. Sie kehrte zu mir und Lars zurück. „Was jetzt? Weiter?“
    Lars atmete erschöpft aus. Er schaute zu Simon, dem Hobby-Weltraumpiloten, auf seiner ersten Mission gegen böse Aliens. Irgendwie ahnte ich, was der Immobilienmakler gerade dachte. „Den kriegen wir nicht mehr von der Glotze weg.“ So in etwa. Und was Stan betraf ... Es erinnerte mich vage daran, wie er unser Sauererspartes auf der Überfahrt nach Hoenn verspielt hatte. Schon damals hatte ich die Faszination nicht verstanden, und ich tat es noch immer nicht. Aber das hatte ich auch nicht nötig.
    „Stan, angetreten! Wird’s bald? Oder muss ich dir Beine machen?“
    Schon bei der Hälfte meines Satzes war er heftig zusammengezuckt. Und oh, dieser gebrandmarkte Blick! Wie Zahnarzt und Impfung am selben Tag. Unterwürfig schlurfte er heran. „Wollte nur gucken“, nuschelte er mit hängendem Blick.
    „Gucken, so, so. Wusstest du, dass bereits der kleinste kleiner Abstecher zu Gefängnis führen kann?“
    Claire lächelte mir zu. „Funktioniert deine kleine Motivationsansage vielleicht auch bei Simon?“
    Lässig zuckte ich die Schultern und schaute in die Richtung des Nerds; gerade noch rechtzeitig, um mitzubekommen, wie ein Raumschiff (ganz offensichtlich feindlich) in Fetzen flog. „Ich könnte ihm eine verpassen, wenn du willst.“
    „Ich überleg’s mir.“
    „Kelly?“, warf Stan unschuldig in den Raum.
    Wir sahen zu dem kleinen Mädchen. Noch in den Armen ihres neuen, plüschigen Freundes war sie friedlich eingeschlafen.
    Lars lächelte. „Man sagt, Kinder erhellen jedes Haus.“
    „Kein Wunder, lassen ja auch immer das Licht brennen“, entgegnete ich unbekümmert.
    „Ich weiß nicht, wie ihr das seht, aber ich mache mir mittlerweile wenig Hoffnung, dass wir Lindsay einfach so über den Weg laufen. Vielleicht war ich etwas zu ... optimistisch. Lindsay war nicht gerade in der besten Verfassung, und da dachte ich, sehr weit konnte sie ja nicht gekommen sein. Vielleicht ist es auch so, und wir laufen nur die ganze Zeit in die falsche Richtung. Jedenfalls ...“ - Lars fuhr selbstkritisch durch sein kurzes Haar - „vielleicht lassen wir es einfach dabei beruhen.“
    „Vorhin hast du etwas anderes gesagt.“
    „Ich weiß“, antwortete er mir, „aber um ehrlich zu sein, fühle ich mich inzwischen doch unwohler dabei, hier so unbekümmert durch ein fremdes Haus zu spazieren.“ Kaum merklich spähte der Mann über die Schulter in Simons Richtung.
    Stan und Claire schauten einander kritisch an, sagten aber nichts.
    „Bleibt nur zu hoffen, dass sich wenigstens die anderen zwei zu benehmen wissen“, meinte Claire.
    „Die habe ich ganz vergessen!“ Gestresst rieb sich Lars über seine rechte Gesichtshälfte. Er lächelte gequält. „Ihr seht, wir sind alle ziemlich fertig. Ich werfe noch einen ganz kurzen Blick ins nächste Zimmer, dann gehen wir zurück, wenn ihr einverstanden seid.“
    „Ich komme mit.“
    Stan fuhr mich mit einem strengen Blick an, was aber an meinem Entschluss nichts änderte. Ich war nach wie vor äußerst misstrauisch, was Lars, diesen Immobilienmakler, betraf.
    Für den Moment kehrte Ruhe ein. Aus dem Fernseher tönte Laserfeuer und Explosionen (zumindest besaß Simon soviel Anstand, dass er die Lautstärke an ein Zimmer mit einem schlafenden Mädchen angepasst hatte) und draußen begann der Wind wieder heftiger zu heulen.
    Lars zuckte die Schultern. „Ich habe nichts dagegen.“
    „Dann gehe ich auch mit“, sagte Stan.
    Claire stimmte ebenfalls zu, dem nächsten Raum einen Besuch abzustatten. Wir wechselten noch ein kurzes Wort mit Simon. Er willigte ein, solange auf Kelly ein Auge zu werfen, während wir weg waren. Ihm war wohl jedes Mittel recht, um seine Zeit an der Konsole auszukosten.


    Es war ein geheimes Verlangen, eine Stimme, die uns unterschwellig ins Ohr säuselte. Wir konnten die Versuchung nicht ignorieren, sie nicht überwinden. Am Ende siegte die Neugierde. Statt also einfach - wir ursprünglich geplant - nur einen Blick zu riskieren, betraten wir den nächsten Raum, einen kleinen Steinwurf von dem Spielzimmer entfernt. Im Bezug auf Größe war er übersichtlich, in etwa so groß wie das Zimmer zuvor und geometrisch auch so aufgebaut. Nur anstelle von Spielzeug stapelten sich auf den vielen hier stehenden Tischen ...
    „Zeitungsartikel?“
    Stan und ich waren ziemlich ratlos. Dasselbe traf auch auf Lars und Claire zu. Jetzt hatten wir luxuriöse Gäste- und Badezimmer, ein Gewächshaus, ein Spielzimmer und ein ... was auch immer das war. Ich meine: Wo in drei Teufels Namen lag da der Zusammenhang? Das war mehr als exzentrisch, absurd, einfach nur noch total dumm.
    „Stan? Kann das sein ... bist das du?“
    Claire winkte uns herbei. Sie hielt einen Ausschnitt in der Hand. Viel Buchstabensalat, den ich nicht zu dechiffrieren vermochte. Aber Bilder sagen ja bekanntlich mehr als tausend Worte. Der Großteil des Artikels lichtete einen alten Bekannten ab: Deoxys. Auf der Schwarzweiß-Photographie ebenfalls zu erkennen waren Stan, ich und zwei namenlose Museumsbesucher.
    „Ach, das ... Ja, das ... das bin ich.“
    „Ich hab es in den Nachrichten gesehen. Und du warst live vor Ort. Wow.“
    Stan wollte rasch das Thema wechseln, doch Claire war sehr interessiert. Wenigstens verschaffte es mir Gelegenheit, mich zu verdünnisieren und die neue Umgebung auszukundschaften. Aber im Grunde gab es nicht viel. Es waren einfach nur Tische mit Artikeln, die ich mangels Kenntnisse in die menschliche Orthographie nicht verstand. Was ich allerdings bemerkte: Die Artikel waren teilweise so betagt, dass nicht nur das Papier alt wirkte, sondern sogar die Form der Berichtserstattung. Besonders die ältesten Exemplare zeigten auf dem vergilbten, spröden Papier keine Bilder und die Buchstaben sahen deutlich anders aus, als was ich bislang gewohnt war. Aber je weiter ich so meine Runde lief, desto qualitativ hochwertiger schien es zu werden. Letztendlich konnte man es aber drehen und wenden, wie man wollte: Aus meiner Perspektive war es stinklangweilig. Selbst das wiederholt gesehene Uhren-Portrait, von dem es in diesem Raum auch eines gab, war interessanter. Ein Lichtblitz zuckte vor dem Fenster. Das Wetter verschlechterte sich.
    „Sorry ...“ Stan schlurfte zu mir herüber. Er war knallrot im Gesicht. Wahrscheinlich hatte nur Claire wegen dieses Umstandes endlich Milde gezeigt, oder sagen wir Mitleid gehabt.
    „Alles noch dran?“
    „Ja ...“
    Stan heuchelte Interesse an den Artikeln und wich so meinen Fragen aus, während draußen das Wetter schlechter wurde. Auch Claire vertiefte sich in den ein oder anderen Bericht, und so auch Lars.
    „Weißt du“, flüsterte Stan plötzlich über den Rand des Zeitungsartikels, den er zu lesen vorgab, „vielleicht lässt du das mit Lars endlich auf sich beruhen. Ich habe mich vorhin echt schon etwas geschämt.“
    Im Gegensatz zu meinem Freund bemühte ich mich nicht, die Stimme zu senken. „Das kannst du mir jetzt glauben oder nicht, Stan, aber ich habe ein sehr gutes Gespür für mein Umfeld. Das geht über ein bloßes Gefühl oder eine Ahnung hinaus.“
    „Du meinst Instinkt.“
    „Nenn es, wie du willst. Jedenfalls ...“
    „Ja, ich verstehe schon“, unterbrach Stan mich. „Ich hatte es bemerkt, als ich du war - das klingt immer noch ziemlich komisch. Es war ... ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll ... Es fühlte sich beinahe wie Gedankenlesen an. Als ob ich den Röntgenblick gehabt hätte.“
    „So weit würde ich jetzt nicht gehen“, sagte ich und fühlte mich dabei doch sehr geschmeichelt.
    „Aber, Sheinux ... Gott, ich weiß nicht, wie ich noch argumentieren soll ... Lass es doch einfach. Tu es mir zuliebe, ja?“
    Es war ein Gefallen, ein einfacher Gefallen. Und es schien ihm wichtig. Stan bat mich selten um etwas. In Fakt räumte er mir sogar die größten Freiheiten ein. Doch verstand er es nicht. Er verstand es nicht. Er verstand nicht, wie ich mich fühlte, was in mir vorging. Wobei ... Eigentlich fühlte ich mich schon seit einiger Zeit unwohl, nicht nur im Bezug auf Lars. Was den Immobilienmakler betraf, ging es über Instinkt hinaus. Oder war es gerade das, was Stan befürchtete? Dass es nicht meine innere Stimme war, die da sprach, sondern ich einfach nur voreingenommen war? Ich linste zu Lars gegenüber. Und da war es wieder! Das Gefühl, dass etwas nicht mit ihm stimmte, diesmal aber bestätigt! Auf seinem Gesicht lichtete sich deutlich Nervosität ab. Hatte er ... Nein, er hatte! Der Mann hatte gerade etwas in seine Hosentasche verschwinden lassen. Ich war mir absolut sicher, auch wenn es nur Bruchteile, wirkliche Sekundenbruchteile waren, wo ich ein Stück Papier gesehen hatte. Nur ein Satz und ich hätte ihn auffliegen lassen. Für was auch immer ... Aber als ich Stan betrachtete, das Flehen in seinen Augen, seine Erschöpfung ... Ich tat es nicht. Ihm zuliebe.
    „Also gut ...“, seufzte ich widerwillig.
    Stan lächelte dankbar.
    „Dann musst du aber auch mir einen Gefallen tun, ja?“
    „Öhm, klar, um was geht’s?“
    „Meinst du nicht, mein lieber Stan, dein Misstrauen in diese Butler-Type ist ungerechtfertigt?“
    Stan schaute bestürzt. „Wie kommst du darauf?“
    „Wieso sonst schleppst du deinen ganzen Kram mit dir herum?“ Ich machte eine vielsagende Kopfbewegung in Richtung seines Rucksackes. Hatte ich eigentlich erwähnt, dass er ihn die ganze Zeit mit sich herumschleppte? Hatte ich nicht, richtig. Mein Fehler. „Hast wohl Angst, dass man dich ausraubt.“
    Stan zog ein langes, peinliches „Mhm“ in den Raum. „Erwischt!“
    „Glaubst du ernsthaft, dieser Geldsack, dieser Graf, ist an deinen abgetragenen Socken interessiert? Also ernsthaft!“
    Stan lächelte gequält. „Klingt ziemlich komisch, stimmt schon ... Woher wusstest du das?“
    „Ich sagte doch, ich hab...“
    Ein Blitz. Es donnerte. Krachte. Eine weitere Warnung gab es nicht. Das Licht erlosch. Es war zappenduster. Ich spürte die Angst um mich herum. Schon beinahe roch ich den kalten Angstschweiß, der sich wie ein Vulkan aus den Poren entlud. Claire stieß vor Schreck einen spitzen Schrei aus, dass es mir die Haare aufrichtete. Stan rempelte gegen einen Tisch. Ein Papierregen ergoss sich über mir.
    „Taschenlampe! Taschenlampe!“, fluchte Stan.
    „Nicht dabei und Batterie leer“, erklärte sich Claires hysterische Stimme irgendwo in der Dunkelheit.
    „Wer ist das? Sheinux?“
    „Au!“
    „Sheinux?“
    „Wer sonst?!“
    „Ruhig, Leute“, mischte sich Lars’ Stimme ein. „Wo hab ich nur ...?“ Funken sprühten auf, deckten kurz das beunruhigte Gesicht des Immobilienmaklers auf. „Verdammt! Komm schon!“ Seinem Feuerzeug musste zwischenzeitlich die Puste ausgegangen sein - ausgerechnet jetzt. „Verdammt!“
    „Gibt es hier eine Kerze?“
    „Habe keine gesehen.“
    „Ohne Feuer eh nutzlos.“
    „Ist ja nicht so, dass ihr beide die ganze Zeit Feuer-Pokémon mit euch herumschleppt?!“
    „Herrschaften haben sich verlaufen?“
    Mein Gedankengut und Mageninhalt schmetterte gegen eine Wand auf der Fahrt in diesem außer Kontrolle geratenen Karussell. Die Stimme des Butlers zu hören, so unvermutet, so überraschend, riss mir regelrecht die Haut von den Knochen und ließ das Blut in meinen Adern gefrieren. Seit wann wer er da? Ich hatte nichts gehört - keine Geräusche von außerhalb, Schritte, das Drücken der Türklinke. Hatte unser Lärm sein Kommen maskiert? Anders konnte es ja nicht sein. Ja, so musste es sein! Und doch ... Es war unheimlich.
    „Mr. Maolmuire, ich ... das heißt, wir ... Es ... es tut mir leid.“ Lars’ Erklärungsnot schlitterte durch das kalte Dunkel wie auf Eis. Ich konnte ihm nachempfinden. Unpassender hätte unsere Begegnung mit dem musterhaften Dienstboten nicht ausfallen können. Wir, willkommen geheißen in einem fremden Haus, stolperten grüppchenweise durch fremde Zimmer, verwüsteten und missbrauchten die Einrichtung auf das Schändlichste und konnten uns nicht einmal erklären. Erstaunlicherweise bewies der Kammerdiener unglaubliches Verständnis und - ich nenne es mal so - eine seltsame Form Gutmütigkeit mit uns. Ein Donnerwetter blieb aus - zumindest im Haus. Außerhalb der Grafschaft Blakewater nahm das Unwetter neue Bahnen der Vernichtung an. Ein Blitz zuckte auf, erhellte kurzzeitig die unterschiedlichen Gesichter im Raum. Stan und Claire geschockt, Lars in enge Ketten der Peinlichkeit gelegt, Mr. Maolmuires hohe Wangenknochen unter der bleichen Haut ausdruckslos verharrend und schließlich ich misstrauisch über all das hier.
    Glumanda sorgte für Licht. Ein Moment der Stille. Unsere Gedanken kamen zur Ruhe, zur Besinnung.
    „Ich bitte um Verzeihung für die Umstände, Mr. Maolmuire, aber wir sind in einer misslichen Lage. Sehen Sie: Unser Gefährtin, Lindsay, sie hat sich wohl auf dem Gang zu den ... zu den Örtlichkeiten verlaufen.“
    „Mein untertänigstes Pardon, Sir, wenn ich ihm widerspreche. Madam Lindsay begegnete mir auf dem Weg nach draußen.“
    „Wie, draußen?“
    „Nun, Madam Lindsay fürchtete um die Sicherheit der Lady Sharleen, die, so ließ sie es mich wissen, noch immer in dem Zug verweilt.“
    „Und Sie haben sie gehen lassen? In ihrem Zustand?“
    „Ich erlaubte mir die Frage, ob Madam nicht besser den nächsten Tag abwarten oder zumindest einen Mantel anziehen möchte, doch Madam war sehr in Eile.“
    „Schon gut. Danke.“ Wie Lars es schaffte, unter seiner Hysterie eine bemerkenswerte Höflichkeit zu wahren, war mir ein Rätsel.
    „Wenn Herrschaften gestatten, dass ich mich empfehle. Ich muss für die Beleuchtung Sorge tragen.“
    „Ich nehme nicht zufällig an, Sie haben ein Stromaggregat oder etwas Ähnliches?“
    „Gewiss doch, Sir. Ich befand mich just auf dem Weg dorthin.“
    Lars stand nächst zu einem Tisch mit Zeitungsartikeln. Nachdenklich berührte er das Papier, ließ seine Hand darüber gleiten. Genauso nachdenklich wanderte sein Blick dann plötzlich in unsere Richtung. Das Grübeln wich, Entschlossenheit war das, was blieb.
    „Stan, Claire ... und Sheinux und Glumanda“, korrigierte er sich, „ich möchte, dass ihr bitte Simon und Kelly einsammelt und zurück in eure Zimmer geht. Keine Diskussion. Keine Umwege. Ich werde Mr. Maolmuire begleiten.“
    „Sir ist sehr großzügig, aber wenn er mir erlaubt, so möchte ich ihm empfehlen, ebenfalls zu nächtigen.“
    Doch Lars stellte sich stur. Unseren Widerstand erstickte er im Keim und dem braven Kammerdiener genügte bereits, dass seine Empfehlung dankend zurückgewiesen wurde. Beide machten sich auf den Weg. Ohne Licht. Ohne weitere Begleitung. Gemeinsam in die Dunkelheit.


    Mir gefiel es nicht. Ganz und gar nicht. Lars war mir immer noch verdächtig. Und dieser Kammerdiener ... Ich weiß, dass ich Stans Vorbehalte vorhin mit aller Kraft ausräumen wollte, aber ... diese unerwartete Begegnung steckte mir immer noch in den Knochen. Um ganz ehrlich zu sein: Ich sah Stans Misstrauen plötzlich in einem ganz anderen Licht. Was aber blieb uns anderes übrig, als umzukehren und auf das Beste zu hoffen? Doch nichts, nichts konnte uns auf das vorbereiten, was wir gleich im Begriff zu entdecken waren, vorbereiten. Das Nachbarzimmer, wo Simon und Kelly auf uns warten sollten, war leer.

  • Part 6: Auf der Suche nach der Wahrheit



    Wir waren verängstigt, die Schritte verkrampft, die Augenlider bebend. Glumandas fahles Licht war eine Kerze im Sturm - kurzlebig und die einzige schützende Barriere vor dem Horror, durch den wir uns blind tasteten. Angst, Zweifel und Ungewissheit lauerten mit geifernden Reißzähnen hinter jedem Korridor, jeder mit einem anderen Ziel. Uns niederzustrecken, zerreisen, in den Wahnsinn treiben. Der Horror nahm unbegreifbare Formen an. Das Knacken der Dielen unter unseren Füßen. Das Ächzen der Balken über unseren Köpfen. Ein Geräusch hinter unseren Rücken, verborgen in den Schatten endloser Korridore. Gewitterblitze, deren gleißendes Inferno von den gläsernen Vitrinen echote. Das Donnern, das die verschlungenen Pfade der Grafschaft kurzzeitig zum Erbeben brachte - ein Stakkato, in dessen unheilvollen Takt wir vibrierten. Der Gang war so dunkel, streckte man einen Arm zu weit aus, schien sich die Hand vor den eigenen Augen in der Dunkelheit aufzulösen. Wir konnten nicht umkehren. Lars hatte uns aufgefordert, zurück in unsere Zimmer zu gehen. Doch obwohl bis dahin noch keine Viertelstunde vergangen war, schien es Tage zurückzuliegen. Alles hatte sich verändert, seit wir unseren Freund verabschiedet hatten. Simon: verschwunden. Kelly: verschwunden. Wir: auf uns allein gestellt. Mittlerweile war uns klar, dass es kein Zufall sein konnte, was hier passierte. Sharleen, Lindsay, Eagle, Kevin, Simon, Kelly und Lars. Einer nach dem anderen verschlungen von dem Mysterium, das da irgendwo auf uns im Hintergrund lauerte und alle Fäden spann. Wurden wir vielleicht die ganze Zeit über beobachtet? Und wen traf es als Nächsten? Die Auswahl war gering. Nur unser Zusammenhalt wog uns in trügerischer Sicherheit. Stan hielt Claires Hand und Claire die von Stan. Ich deckte Glumandas Rücken, die uns mit dem schwach leuchtenden Feuer auf der Schwanzspitze in den Händen den Weg leuchtete. Eine weitere Absicherung existierte nicht. Stan schaute über die Schulter, vernahm er auch nur das verdächtigste Flüstern eines Windhauchs. Von den Wänden schielten die unterschiedlichen Gemälde auf uns herab, die Claire beim Vorbeigehen voller Misstrauen abschätzte, als erwartete sie jeden Moment ein mörderisches Eigenleben auf den Leinwänden. Türen links und rechts ließen wir liegen. Keine weiteren Räume sollten uns mehr ablenken. Wir mussten uns neu orientieren, uns absichern, einen Punkt erreichen, von wo aus wir das weitere Vorgehen planen konnten. Niemand durfte uns in den Rücken fallen. Und nur ein Ort kam uns in den Sinn. Am Ende des endlosen Korridors ergriff Claire die Türklinke. Das kalte Metall ließ sie erbeben. Nicht mehr fähig, selbständig einen eigenen Entschluss zu fassen, schaute sie Stan an, dieser nickte unsicher. Die Tür öffnete sich, gefühlt dreifach lauter als gewohnt.


    Die große Eingangshalle lag in tiefem Schlummer. Nichts rührte sich in den Schatten, kein Geräusch außer dem Wetter vor verschlossenen Fenstern drang an unser Ohr. Ein Blitz züngelte vom Himmel herab und tauchte das übergroße Foyer kurzzeitig in gleißenden Schein. Der vielarmige Kronleuchter schillerte in seiner ganzen luxuriösen Pracht, solange das vergängliche Licht andauerte. Über den roten Läufer, der uns hergeführt hatte, ging es an der kleinen Bildergalerie im zweiten Stockwerk vorbei und die Treppe hinunter. Wir waren am Startpunkt angekommen. Nur zuvor war unsere kleine Truppe noch deutlich größer gewesen. Wahrscheinlich waren wir die letzten Figuren auf dem Feld in diesem furchterregenden Spiel des Terrors und - das wahrhaft erschreckende an unserer Situation - mit unserem Latein keinen Schritt weiter als zu Beginn. Türen - überall gab es sie. Eine, nämlich die größte, führte nach draußen - hinaus in den Sturm. Im linken Flügel gab es zumindest eine Tür, von der wir wussten, dass sie uns in den Salon führte. Doch was den Rest betraf, die Tür neben der zum Salon, die im rechten Flügel, zwei weitere oben ...
    Ein Geräusch. Claire keuchte. Stan wirbelte herum, die Todesbleiche im Gesicht. Ich fühlte plötzlich Kälte, unglaubliche Kälte, die sekundenschnell mein Bein entlangkroch. Mein Herz raste, nur noch von meinem Blick hinunter überholt. Die Erleichterung holte mich ein, doch der Puls hämmerte mir noch krampfhaft durch die Venen. In Gedanken verloren hatte ich den Teppich verlassen, woraufhin unter meiner krallenbewehrten Vorderpfote der kalte, blanke Marmorboden gerasselt hatte. Keine Frage, auf diesem Belag wurde wirklich jedes Infiltrationskommando zum Himmelfahrtskommando. Mein Gesicht brannte siedend heiß, so sehr schämte ich mich für die Aufregung, die ich versehentlich ausgelöst hatte.
    „Entschuldigung ...“
    Stan ließ sich auf einem der unteren Treppenabsätze nieder und rieb sich erschöpft die Augen. Mit halboffenem Mund saß er da, unruhig atmend, mit verschwommenem Blick für die zermürbende Surrealität um uns herum. Er lehnte sich etwas zurück, streckte die Beine lang und legte den Kopf in den Nacken. Seine Augen waren geschlossen, die Atmung wurde ruhiger. Fast schon konnte man meinen, es war nichts weiter als eine kurze Rast auf unserer gemeinsamen Reise. Doch wenn man ihm in das ausgezehrte Gesicht schaute, wurde man dieser Illusion schnell beraubt. Die letzten Stunden waren nicht spurlos an ihm vorbeigegangen, an keinem von uns. Wir mussten hier raus.
    „Und jetzt?“ Claire stellte die alles entscheidende Frage. Keiner uns wollte gerne darüber nachdenken. Doch begehrten wir insgeheim nichts anderes mehr als eine Antwort auf diese Frage.
    Stan stemmte sich wieder in eine aufrechte Position, während er saß. Unruhig wippte er leicht vor und zurück und tauchte stillschweigend in Gedanken ein.
    „Welche Möglichkeiten haben wir?“, fragte ich, die Antwort insgeheim kennend.
    Claire schaute nachdenklich zur hohen Zimmerdecke hinauf, die weit hinter Glumandas spärlichem Licht verborgen lag. „Entweder wir bleiben hier oder ... wir suchen weiter.“
    „So oder so werde ich irgendwann umkippen“, murmelte Stan gut hörbar.
    „Wir können hier bleiben, wenn du das willst“, sagte Claire, ihre Augen jetzt auf Stan gerichtet, „den Morgen abwarten oder zumindest besseres Wetter.“
    Glumanda zupfte an dem Hosenbein ihrer Trainerin und fragte mit schläfriger, piepsiger Stimme: „Claire, ich bin müde. Kann ich nicht schlafen gehen?“
    Claire setzte ein verständnisvolles, jedoch gezwungenes Lächeln auf, während sie einen Blickkontakt mit Glumanda herstellte. „Nur noch ein bisschen, ja?“
    „Ich kann Igelavar vielleicht überreden, Glumanda abzulösen. Wie lange, kann ich nicht sagen. Er ist seit seiner Entwicklung ziemlich launig“, meinte Stan.
    „Wenn wir hier bleiben wollen“, sagte ich tonlos, „wird das auf nichts anderes hinauslaufen. Aber wollt ihr das wirklich? Hier übernachten?“
    „Hast du einen anderen Vorschlag? Dann raus damit.“
    Ich kannte die Alternative - und sie gefiel mir ganz und gar nicht. „Nein“, antwortete ich Claire. „Aber ich denk darüber nach.“
    Das Mädchen nickte. „Wenn du willst, Stan, kannst du dich weiter ausruhen. Ich bleibe so lange ...“
    Es polterte, krachte. Über uns. Eine Tür wurde mit Gewalt aufgestoßen. Stan schreckte von seiner Sitzposition hoch und stolperte fast über Glumanda. Jemand fluchte. Ich kannte die Stimme. Ein Schemen, der sich über das Treppengeländer beugte, zeichnete sich außerhalb der einzigen Lichtquelle in der großen Halle ab.
    „Ihr seid’s!“
    Eagle flanierte gemächlich die Treppe herab. Er machte auf cool, ich aber durchschaute seine Masche, noch bevor er vollständig ins Licht trat. Seine Augenlider flatterten. Er stank förmlich nach kaltem Schweiß, als ob er darin gebadet hätte. Die nach wie vor präsente Anspannung drohte die Muskeln unter seiner Schläfe zu sprengen. Das kürzlich Durchlebte war nicht spurlos an ihm vorbeigegangen, so viel stand fest.
    „Was geht?“
    Was geht?! Was geht?! - Wo warst du!?“ Claires Stimme schwoll zusammen mit ihrem Brustkorb zu einem zerstörerischen Wirbelsturm an. Sie baute sich vor Eagle auf und rammte ihm ihre flache Hand gegen die Schulter. Eagle taumelte zurück und schaffte gerade noch so den rettenden Griff an das Treppengeländer. Er öffnete den Mund, schien aber nicht die richtigen Worte zu finden. Ganz offensichtlich hatte er sich einen anderen Empfang ausgemalt. Eagle spreizte seine Hände diagonal vom Körper weg und zeigte seine offenen Handflächen; eine Geste, die wohl so viel zu bedeuten hatte wie „Was willst du eigentlich von mir?“, was er mit seinem Kommentar dann auch gleich untermauerte.
    „Ich kann auch wieder gehen, Giftspritze!“
    Claire bleckte die Zähne. „Na, mach doch!“, schien sie zu sagen wollen, es aber nicht tat. Fehlte ihr der Schneid? Oder war ihr insgeheim einfach klar, dass unsere Chancen hier heil rauszukommen mit Eagle einfach besser standen? Wir sollten es nicht erfahren, denn Stan trat an Claires Seite.
    „Wo warst du“, fragte er ruhiger, „und wo du Kevin gelassen?“
    Eagle kreuzte die Arme und mimte den Gelangweilten. Bei näherem Hinsehen präsentierte er mit dieser Geste dummerweise ungewollt ganze Tümpel kalten Schweißes auf den Armen. „Hab’ ein paar Räume abgeklappert und die Nervensäge irgendwann abgeschüttelt.“
    Neben Stan blähten sich Claires Nasenlöcher abermals gefährlich. Ihre Lippen zuckten. „Abgeschüttelt?“
    „Die Nervensäge ging mir auf die Eier, klar?! Und warum ist der Strom weg?“
    „Stromausfall“, antwortete Stan knapp.
    „Ach, was! Gar nicht gemerkt!“
    Claire machte einen Schritt nach vorne, ihr Blick bohrte sich in das Gesicht vor ihr. „Alle sind weg, ist dir das klar? Alle.“
    „Wie weg?“
    „Weg. Einfach weg. Puff!“, machte ich.
    Eagle setzte eine Grimasse auf und lachte kurz auf. „Wahrscheinlich sitzt die besoffene Schreckschraube die ganze Zeit im Salon und plündert den Alk. Ist jemand schon mal auf die Idee gekommen? Ne, natürlich nicht.“ Er stolzierte an uns vorbei und peilte die rechte Tür im linken Flügel an. Claire rief ihm noch nach, dass es stockdunkel war und er hier warten sollte, aber Eagle ignorierte es gekonnt.


    Die Dinge überschlugen sich: Verständnislos sahen wir dem eigensinnigen Einzelgänger nach. Die Tür zum Salon ging auf. Alarmiert von einem Geräusch hinter unseren Rücken fuhren wir erschrocken herum. Eine Tür in die Halle war aufgegangen. Unter ansteigendem Puls schärften wir unseren Blick, stellten ihn auf das ein, was hinter dem Dunkel die Halle betreten wollte. Es war ... Eagle?
    Claire war die Erste, die so verblüfft wie rasch über die Schultern schaute. Und da war auch Eagle. Oder besser gesagt: sein Rücken. Und noch einmal war er hier, auf der anderen Seite der Halle, uns mit dem plötzlich zu Tode geängstigten Gesicht uns zugewandt. Er warf einen Blick zurück, zurück in die Halle, wo er uns und sich selbst sah, wie er gerade denselbigen Ort verlassen wollte. Er packte die Türklinke und hämmerte die Tür so stark zurück in die Angeln, dass das gewaltige Echo den Kronleuchter zum Vibrieren brachte. Stolpernd hechtete er rücklings in die Mitte des Raums zurück.
    Was geht hier ab?! Alter! Was ist hier los!? Was ist hier ... hier ...
    Ich war zum Eiszapfen erstarrt. Alle Haare standen mir zu Berge. Vor meinem Geist tat sich ein tiefer Abgrund mit scharfen Reißzähnen auf, der mich zu verschlingen drohte. In einem Lichtblitz spiegelte sich die Todesangst in unseren Gesichtern. Claire bedeckte ihres mit den Händen. Sie schluchzte, während sie immer wieder ungläubig den Kopf schüttelte. Glumanda presste ihren warmen Körper an den ihrer Trainerin. Die Flamme auf ihrer Schwanzspitze war nach diesem Erlebnis um ein Vielfaches kleiner geworden, sodass die Schatten ihren Kreis um uns enger zogen. Stan zitterte am ganzen Leib. Erst nach links, dann nach rechts, seine Augen kamen nicht mehr zur Ruhe.
    „Wir müssen hier raus! Ich meine es ernst! Wir müssen hier raus“, übertönte ich das Grollen des Unwetters, Claires Schluchzen und Eagles schwere Atemzüge.
    Eagle schaute mich an. Zum ersten Mal spürte ich keine Feindseligkeit in dieser Geste. Es hatte etwas Überlegtes, gepaart mit Zustimmung. Er warf noch einmal einen sehr nachdenklichen Blick zur Seite. Seine Hand fuhr zum Mund, wo sie den heraustretenden Speichel wegwusch. „Ich zerleg den Laden“, sagte er plötzlich mit leiser Stimme. „Ich zerleg ihn“, jetzt lauter. Er zupfte einen Pokéball vom Gürtel. In seinen vor Angst bebenden Augen spiegelte sich plötzlich der Wahnsinn, auf seinen Lippen formte sich schon fast ein höllisches Grinsen.
    „Lass das!“ Stan trat ihm entgegen.
    „Geh mir aus dem Weg!“
    „Lass das!“
    „Ich zieh dir eine rein! Ich schwöre!“
    „Du sollst das lassen, hab’ ich gesagt!“
    Wenn ich es nicht mache, tut keiner was!“, schrie er Stan an. „Es wird Zeit, dass wenigstens einer von uns was macht!
    „Du machst es nur noch schlimmer!“
    „Was weißt du schon?!“
    Zeit“, hauchte Claire plötzlich. Trauer und Furcht verzerrten ihre bebende Stimme, doch in ihrem von Tränen feuchten Gesicht spiegelte sich ein Gefühl von Klarheit wie frischer Morgentau. „Zeit“, sagte sie erneut. „Zeit.“
    Wir anderen schauten verständnislos. Sie wusch sich die Feuchtigkeit vom Gesicht und schaute gedankenversunken ins Leere.
    „Es ... ist nur so ein Gedanke. Lasst mich ... lasst mich mal was probieren.“
    Mit Glumanda an ihrer Seite nahm sie die ersten Treppenstufen. Die Dunkelheit kam näher. Wir hechteten ihr nach, bis sie an einer Bildergalerie im zweiten Stockwerk zum Stehen kam und dort wartete. In geringem Abstand kamen wir zum Stillstand, und auch wenn Eagle leise Verwünschungen murmelte, hielt er sich zurück.
    „Was ist? Was macht sie?“, flüsterte Stan.
    „Dumm glotzen“, antwortete Eagle. In seiner Hand hielt er noch immer den Pokéball.
    Ich bemerkte Claires ungeteiltes Interesse an einem ganz besonderen Bild. Sie hatte das Umfeld völlig ausgeblendet, sich von allen äußeren Einflüssen abgeschottet, als sie einen Schritt nach vorne machte. Nun stand sie direkt davor.
    Das Versiegen der Zeit“, hatte Stan den Titel auf dem Rahmen vor einigen Stunden zitiert. In diesem Sammelbecken krankhafter Perversion gab es nichts, was wir bereits bis zum Erbrechen kannten. Öfter als jedem anderen Bild im Haus waren wir an diesem Bild mit seinen schmelzenden Uhren vorbeigegangen. Anfangs noch skeptisch darüber hatte ich diesen Überfluss an Kunst zwischenzeitlich als reinen Zufall abgetan. In diesem Haus geschahen weitaus verrücktere Dinge, als dass ich diesem Sammelfetisch eine größere Bedeutung zuordnen wollte. Claire aber schien da anderer Meinung. Ihr Zeigefinger machte eine Bewegung zu der größten Uhr auf der Leinwand, die einen Großteil des zähflüssigen Sees ausmachte. Claire schreckte zurück, und so auch wir. Das Innenleben oszillierte. Der See schlug kleine, runde Wellen, als ob man soeben einen Stein versenkt hätte. Claire suchte ihren Finger nach irgendwelchen Anzeichen von Schaden ab. Als sie dann aber keinen fand, wiederholte sie den Vorgang, diesmal vorsichtiger. Wieder erbebte die Oberfläche mit der Ausnahme, dass das Mädchen diesmal nicht zurückwich. Sie peilte den großen Zeiger an, der einige Minutenzähler von dem kleinen und der Zahl 12 entfernt war.
    Claire machte einen Satz zurück. Der Rahmen, die Leinwand, die Farben - alles entwickelte ein mörderisches Eigenleben. Das Holz des Rahmens prasselte in einer Art Besessenheit im Takt des Regenschauers gegen die Rückwand. Das Bild flatterte wie eine Fahne, die vom Wind erfasst wurde, aber zuvor an einen Gegenstand festgenagelt worden war. Aus der Wand schälten sich dunkle Konturen. Ehe wir es uns versahen, war der Rahmen eines schwarz-glänzenden Portals aus der Wand gewachsen; keine Tür, nur ein offener Eingang. Wir alle wichen seitlich zurück. Niemand wollte der schrecklichen Bestie, die sich plötzlich vor uns aufgetan hatte, in ihr zahnloses, unergründliches Maul schauen.
    „Was ... was ist das? Woher wusstest du das?“, hauchte Eagle, ohne auf eine Antwort auf die erste Frage zu warten.
    „Wusste ich nicht, ehrlich nicht. Es war nur so ein Gedanke.“
    „Ein Gedanke?“ Äußerst skeptisch huschten meine Augen kurz zu Claire. In ihrem Gesichtsausdruck spiegelte sich dieselbe Überwältigung wie in unseren. „Ich bin hier seit Anfang an dabei und ich sehe keine Türen in der Wand.“ Ich unternahm einen vergeblichen Versuch, mich der offenen Pforte zu nähern. Doch noch aus dem bloßen Ansatz der ersten Bewegung erlahmten meine Beine.
    „Es ergibt alles Sinn - irgendwie.“
    „Also ...?“, fragte Stan.
    „Wo fange ich an ...?“ Sie überlegte leise. „Der Zugfriedhof! Genau! Wenn ich jetzt so darüber nachdenke: Kam euch die Anordnung der Züge nicht komisch vor? Je weiter wir uns entfernten, desto älter wurden die Leichen.“
    „Natürlich! Das erklärt alles!“
    „Dann die Räume“, führte Claire ihre Ausfertigungen fort und ignorierte damit Eagles vor Spott triefenden Kommentar. „Du warst nicht dabei, also kannst du das nicht wissen, aber alle Zimmer, in denen wir waren, waren wie Uhren aufgebaut. Das Gewächshaus zum Beispiel: Am Anfang standen nur Blumentöpfe, aber je weiter man die Runde lief, desto weiter waren die Pflanzen ausgewachsen. Und dann am Ende war der Zyklus abgeschlossen - die Blumen starben und es ging neu los. Erst konnte ich keinen Zusammenhang feststellen Zufall eben, aber dann im nächsten Zimmer wieder: Simon hat die Gamestation an dem Punkt gefunden, wo, ein Zimmer zuvor, die Pflanzen abgestorben waren. Die Konsole sollte noch gar nicht auf dem Markt sein! Dann kamen die alten Spielsachen, dann immer neuere.“ Claire schaute plötzlich mich an. „Meine ersten Zweifel, dass das kein Zufall sein konnte, wurden erst mit deinem Kommentar geweckt, Sheinux. Erinnerst du dich? ,Für jede Altersklasse was dabei.’ Es stimmte aber nicht ganz. Es war nicht für jede Altersklasse, sondern praktisch aus fast jedem Zeitalter. Im nächsten Zimmer genauso. Stan, stell dir eine Uhr vor. Wo fanden wir den Artikel mit dir im Museum? Etwa auf 11:00 Uhr, weil das erst vor Kurzem passiert ist.“
    „Wenn ich so darüber nachdenke, habe ich etwas Ähnliches gesehen“, murmelte Eagle.
    „Aber die Badezimmer waren normal“, warf Stan ein“, und die Gästezimmer auch.“
    „Stimmt“, antwortete Claire. Der triumphale Unterton hatte ihre Stimme verlassen.
    „Und was ist mit der Tür dort unten? Dem Salon? Und warum kann die Töle plötzlich sprechen? Wie kannst du das erklären?“
    Claire schüttelte den Kopf. „Gar nicht.“
    Eagle atmete schwer aus. „Na, super!“
    „Jedenfalls kam mir dann so plötzlich der Gedanke. Das Wesentliche hängt mit Zeit in Verbindung. Warum, weiß ich nicht. Aber der Graf - sollte er wirklich existieren - hat das mit seinen Bildern mehrfach zum Ausdruck gebracht, insbesondere mit diesem Bild.“ Claire zeigte mit bebendem Zeigefinger auf die Stelle, wo zuvor eine Wand mit Gemälden gestanden hatte. „Es hing fast in jedem Raum, sogar in dem botanischen Zimmer. Warum hängt man ein Gemälde in einem solchen Raum auf? Das ergibt keinen Sinn.“ Claire legte eine kurze Pause ein. „Habt ihr die Wand gesehen? Sie war von der hohen Temperatur und Feuchtigkeit total mitgenommen. Aber das Uhren-Gemälde, das einzige Gemälde im ganzen Raum, war tipptopp in Ordnung. Eigentlich hätte es auch irgendwie Verschleißspuren aufweisen müssen. Pustekuchen! Mit dem Uhren-Bild stimmte etwas nicht.“
    „Und wie kamst du auf die Idee, dass ausgerechnet 12:00 Uhr so was auslösen würde?“ Diesmal war es Eagles bebender Finger, der Richtung des Portals deutete. Mittlerweile stellte ich einen fühlbaren Temperatursturz fest. Kalte Luft entstieg dem Portal, das fühlte ich.
    „Eigentlich“ - Claire lächelte gequält - „war das auch nur Glück. Wobei, wenn ich so darüber nachdenke, habe ich mal gelesen, die 12 steht für Vollkommenheit und Vollständigkeit. Würde doch Sinn ergeben. Oder? Oder?“ Es war das Flehen nach Zustimmung, mit dem Claire abschloss.
    Ich wusste nicht, was in den anderen vorging, aber mir bereitete es Kopfschmerzen, nur darüber nachzudenken. Unsere Freundin hatte in vielem vielleicht Recht, aber der Zusammenhang blieb weiterhin in schweigsamen Nebeln gehüllt. Warum all die Mühe? Was sollte das alles? Wo war der Rest unserer Gruppe? Und was war mit Eagles Einwurf? Es gab wohl nur einen Ort, der eine Antwort bereithielt; der letzte Ort auf der Welt, an dem ich gerade sein wollte. So ungleich wir auch waren, in diesem beunruhigenden Gedanken waren wir wohl in diesem Moment alle vereint. Wir hätten zurück in die erste Etage gehen können, um dort auf den ersten Sonnenstrahl zu warten, oder auf die erste Lücke an dem stürmischen Himmel; fliehen, keinen Blick zurückwerfen, das Erlebte verdrängen. Warum wir es nicht taten, ist mir bis heute ein Rätsel. Wir schauten uns einander an und wussten, dass es keinen Weg zurück gab. Keinen Weg.


    Glumanda war am Ende ihrer Kräfte angelangt. Claire willigte ein, dass Igelavar Glumandas Platz übernahm. Sein Licht und die Wärme, die er absonderte, gaben uns den Mut, den ersten Schritt zu wagen.
    „Stan, weißt du noch, als ich gesagt habe, ich würde mich, seit wir den Zug verlassen haben, fühlen, als ob man mir ein Messer an die Kehle halten würde?“ Ich warf Stan einen flüchtigen Blick zu, während wir vor dem tiefen Schwarz des Portals standen.
    „Geht mit nicht anders“, antwortete Stan mit einem gedämpften Flüstern.
    Ich sagte daraufhin nichts mehr. Ich konnte es nicht; ihm nicht von dem schrecklichen Gefühl berichten, das in mir vorging. Wir rannten der Klinge gerade direkt in ihr tödliches Ende.

  • Kapitel 9: Der Hort der Angst


    Part 1: Ränkeschmied



    Das Ende ist erreicht,
    die letzten Schritte getan,
    todesmutig,
    im Würgegriff der Angst,


    Existieren, um zu sterben,
    ein Leben lang,
    die eigene Vergänglichkeit verneinen.


    Ich bringe Heilung,
    ich bringe Erlösung,
    ich bin die Furcht,
    ich bin das Ende.




    „Sieh an, sieh an, sieh an. Welch unerwartete und doch erfreuliche Überraschung. Wie sagt man doch gleich: Je später der Abend ist, desto schöner werden die Gäste. Und ich muss zugeben, dass ich mir keine schöneren Gäste vorstellen könnte.“
    Sharleen?“, hauchte Claire.
    Sharleen lachte. Es war ein kaltes, gefühlloses Lachen mit einer verfälschten Stimme. Das konnte nicht die Sharleen sein, die wir im Zug kennengelernt hatten, das ängstliche, panische Mädchen. Unmöglich!
    Unser Gleichgewichtssinn kämpfte gegen unser Vermögen, das Gesehene zu verarbeiten. Wir waren am absoluten Nullpunkt angekommen. Es gab keinen sichtbaren Boden, keine Wände, keine Decke. Auch gab es keine Anzeichen einer Lichtquelle. Nur tiefes, dunkles Schwarz in einer sternenlosen Nacht. Dennoch waren alle Anwesenden in vollen Farben sichtbar. Stan, Eagle, Claire, Igelavar und ich. Sharleen saß auf einem mächtigen Stuhl, der aus dem gleichen Material schien wie das Portal, das wir zuvor passiert hatten. Es war ein Thron. Außer ihr war noch jemand anwesend: Mr. Maolmuire. So ausdruckslos, wie wir ihn in Erinnerung hatten, stand er nächst zu dem Thron.
    „Ich bin untröstlich, aber es sieht so aus, als würden Ihre Dienste nicht mehr gebraucht, mein lieber Freund. Aber bleiben Sie doch. Bleiben Sie“, sagte Sharleen an den Kammerdiener gewandt, als dieser sich bereits mit einer leichten Verbeugung verabschieden wollte.
    „Sehr wohl.“
    Das konnte nicht sein. Ich wollte es nicht glauben. Sharleen war dieser Graf Aeaneas Blakewater? Sie war für all das verantwortlich? Sharleen?
    „Du warst mit uns im Zug! Du bist mit uns hier gestrandet!“, verlieh Eagle meinen gedachten Worten mit wütender Stimme Ausdruck.
    Sharleen lächelte süffisant. In ihren Augen spiegelte sich kalter Glanz. „Mit euch im Zug war ich, aber mit keiner Silbe habe ich erwähnt, hier gestrandet zu sein. Oder hat euch mein Schauspiel von dem schlotternden, verängstigten Mädchen so sehr gefallen? ,Ich h-h-habe solche Angst! Lasst m-m-mich nicht allein!’ War ich glaubhaft, ja?“ Wieder lachte sie. Es war ein Lachen, bei dem sich mir die Haare aufrichteten und es mich mit Ekel erfüllte. „Ich habe es sehr genossen, jede Sekunde, in der ich von eurer Angst kosten durfte.“
    „Hat hoffentlich Spaß gemacht, ja? Weil hier hat der Spaß jetzt ein Ende!“ Eagle stürmte los. Das getrübte Gleichgewicht brachte ihn anfänglich zum Schwanken, doch seine Schritte beschleunigten sich rasch. Er hob seine Faust. Claire und Stan schrien seinen Namen. Mr. Maolmuire verzog keine Miene. Ein Geräusch wie ein zerberstender Eiszapfen. Violettes Licht flimmerte halbkreisförmig vor Eagle auf und schleuderte den Jungen zurück. Er prallte auf den Boden und schlitterte auf dem Bauch fast den ganzen zurückgelegten Weg zurück. Mit entsetzten Mienen eilten wir heran. Eagle atmete schwer, schien aber unverletzt. Stan wollte ihm auf die Beine helfen, doch Eagle riss sich los. Taumelnd fand der Niedergestreckte schließlich sein Gleichgewicht.
    „F-feiges Miststück!“
    „Na, na, na, wer wird den wohl“, tadelte Sharleen amüsiert.
    „Was willst du?“
    Sharleens Grimasse verschwand langsam, als ob Stans Frage etwas ausgelöst hätte. „Was ich will? Mein lieber Stan, ich will nur das, was wir alle wollen. Leben. Ist denn daran etwas verwerflich? Die Antwort lautet nein. Und darum seid ihr hier. Ihr seid hier, damit ich leben kann.“
    „Ach, bist du jetzt ein Zombie oder was? Saugst uns das Blut aus und frisst uns das Fleisch von den Knochen?“
    „Alter, halt’s Maul, nur einmal!“, zischte Stan.
    Wieder setzte Sharleen ein mitleiderregendes Lächeln auf. „Du enttäuschst mich, Eagle. Ich hätte etwas Kreativeres von dir erwartet, nichts so Triviales.“
    „Komm zum Punkt!“, knurrte Eagle.
    „Ich sagte doch, ihr seid hier, damit ich leben kann. Doch birgt das eine unangenehme Nebensächlichkeit - unangenehm für euch. Es hat nämlich zur Folge, dass ihr diesen Ort nicht mehr verlassen werdet. Niemals mehr. Schade.“ Sharleen sprach mit fast schon kindlicher Stimme und zog eine bedauernswerte Schnute.
    Ich wusste, was in Stan, Claire Eagle und Igelavar vorging, nämlich dasselbe wie in mir. Kampflos würden wir uns nicht ergeben.
    Ich habe dir die Hand gehalten! Dich getröstet! Mit dir geweint!“, schrie Claire mit tiefem Abscheu.
    Und dafür sollst du jetzt belohnt werden, teuerste Freundin!
    Sharleen hob ihre rechte Hand und machte eine abnorme Bewegung. Die Realität krümmte sich in wellenförmigen Bewegungen. Alles um uns herum verschwamm in einem Spektrum wirbelnder Farben. Meine Augen rotierten. Neben mir verlor Stan das Gleichgewicht und ging in die Knie. Er musste sich mit beiden Händen abstützen, die plötzlich keine endlose, schwarze Leere anfassten, sondern weiße Kacheln. Ohne es zu wollen, hatten wir den Thronsaal verlassen. Sharleen und Mr. Maolmuire waren verschwunden. Der Rest von uns war noch da: Stan, Claire, Eagle ich und Igelavar. Und noch jemand war hier in diesem Raum, der mich merkwürdig an meine Zeit als Mensch erinnerte. Es war ein Krankenzimmer. Ich erkannte den typischen Aufbau und die Geräusche von Messgeräten und litt zugleich unter der Atmosphäre, die dieser Ort verströmte. Sogar der Geruch von starken Betäubungs- und Desinfektionsmitteln brannte mir in der Nase. Eine Person saß auf einem Stuhl an einem Krankenbett und weinte bitterlich. Ihr Kopf lag fast auf dem Kopfkissen der hier liegenden Patientin. Mit ihrer rechten Hand hielt sie die Hand eines anderen in einem zittrigen Griff. Der Arm der Person war abgemagert, skelettartig und wies an vielen Stellen bräunliche Altersflecken auf. Schläuche verliefen fast in und aus allen Körperöffnungen. Auf dem Tisch neben der Patientin lagen private Dinge. Lesebrille, ein Stift, Zeitungen, außerdem eine Vase mit violetten Blumen darin. Es waren Krokusse.
    Claire machte einen Schritt nach hinten. Sie schüttelte den Kopf. „Das kann nicht ... Nein!“
    Die weinende Person hob den Kopf etwas - es war Claire.
    Nein! Bitte! Nein!
    Claire, die echte Claire, sackte neben uns zusammen. Sie weinte und schluchzte, wie es ihre Doppelgängerin tat.
    Meine Augen wurden allmählich klar für das, was hier vorging. Das musste eine Phantasie sein, eine Einbildung. Die Blumen, diese Frau im Krankenbett. Dabei musste es sich um Claires Oma handeln. Hatte sie deshalb so seltsam reagiert, als sie die abgestorbenen Blumen gesehen hatte? Nicht, weil sie mit ihnen Mitleid hatte, wie ich ursprünglich angenommen hatte, sondern weil es sie an die Vergänglichkeit erinnerte; gerade wenn man den Zusammenhang herstellte, wie sehr diese Frau offenbar Claire bedeutete. War es das?
    Stan kniete neben Claire. Er nannte sie beim Namen, legte ihr mitfühlend die Hand auf die Schulter, doch die Angesprochene weinte nur weiter. Sie weinte sich all den Kummer vom Herz und wusch ihre Seele mit ihren Tränen rein. Doch dann geschah etwas Merkwürdiges. So schnell wie sie zu trauern begonnen hatte, hörte sie auf einmal wieder auf. Abermals verschwamm der Raum und wir kehrten in die weite, endlose Leere im Herzen der Grafschaft zurück. Sharleen war noch da und auch Mr. Maolmuire, genau dort, wo wir sie zuletzt gesehen hatten. Mit ausdrucksloser Miene erhob sich Claire plötzlich. Ihr Gesicht war von Tränen durchnässt, ihr Blick glasig und leer.
    „Claire? Claire!“
    Das Mädchen schaute nicht zurück. Mit langsamen Schritten und hängendem Gesicht entfernte sie sich von uns. Eagle und Stan wollten sie festhalten, ihre ausgestreckten Hände aber prallten an einer unsichtbaren Barriere ab, ähnlich wie Eagles Versuch, sich Sharleen zu nähern. Claire durchschritt diese Hürde problemlos. Einige Meter rechts von dem Thron entfernt kam sie schließlich zum Stillstand, wo sie Platz nahm, den Kopf versteckt zwischen ihren Beinen hängend. Und da waren auch die anderen! Erst jetzt sah ich sie. Simon, Kelly, Lindsay, Kevin und auch Lars. Sie alle waren dort. Ihr Zustand glich dem von Claire bis ins kleinste Detail.
    „Ach, Claire, ich habe deine Freundschaft wirklich genossen. Wirklich.“ Sharleen schnalzte glücklich mit der Zunge. „Schmerz, ach du süßer Schmerz, bis man sich endlich der Agonie unterwirft. Wie befreiend es ist, all das Leid, all den Kummer, all die Trauer hinter sich zu lassen und die Erlösung zu finden.“
    „Was hast du mit ihr gemacht?! Was ist das für ein krankes Spiel?!“, schoss es mir wie die Funken, die ich unkontrolliert sprühte, von der Seele.
    „Sie erlöst, Sheinux, sie erlöst“, antwortete Sharleen. „Denn dafür, mein kleiner, pelziger Freund seid ihr alle hier im Limbus.“

  • Part 2: Der Limbus


    „Der Limbus ist ein ganz besonderer Ort auf der Welt, eine Schwelle zur nächsten Ebene. Er ist nicht wirklich echt, und doch seid ihr hier. Eure unreinen Seelen sind es. Bis in alle Ewigkeiten gefangen. Der Limbus ist ein Vorhof, in dem die Herumirrenden auf Erlösung warten. Ich bin diese Erlösung. Ich wasche die Seelen rein und schenke endlich den ersehnten Frieden.“
    „Kein Bedarf“, knurrte ich. Mein Zorn überwältigte mich fast. Ich wusste nicht, wie lange ich mich noch zurückhalten konnte.
    Sharleen lächelte subtil. „Du scheinst nicht zu verstehen, Sheinux. Du hast keine Wahl, du hattest nie eine. Ihr seid hier und bleibt hier, bis ihr die Erlösung erfahrt.“
    „Und was ist das, diese Erlösung. Kranke Psychotricks? Da habe ich bereits Besseres in der Glotze gesehen. Lass dir doch endlich dein selbstgefälliges Grinsen rauspolieren - das wäre ein Zaubertrick!“, provozierte Eagle.
    „Ach, Eagle, dein Mangel an Respekt wird nur von deinem Mangel an Verständnis übertroffen. Keine Psychotricks“, antwortete sie kopfschüttelnd. „Ich konfrontiere die Unreinen mit ihren latenten Ängsten und befreie sie von ihrem Schmerz.“
    „Das, was Claire gesehen hat, war ihr Schmerz? Sie hat ein geliebtes Familienmitglied verloren?“, fragte ich.
    „Du siehst klarer als dein rüder Gefährte, Sheinux, aber du siehst immer noch nicht das große Ganze. Die Frau im Krankenbett ist nicht tot, nein, nur sehr schwer krank. Wusstet ihr, warum Claire diese Reise angetreten hat? Um diese Angst, diese Vorstellung, zu verdrängen. Statt sich ihr zu stellen, rennt sie vor ihr weg, nur um mit neuen schlechten Erfahrungen konfrontiert zu werden, vor denen sie dann wieder flüchten wird. Das ganze Leben birgt Angst. Schon von Geburt an ist die Angst, hilflos zu sein, allgegenwärtig. Sie begleitet euch tagtäglich, bis der Lebensabend erreicht ist, wo man sich gegen die Angst vor dem, was einen im Tod erwartet, stemmt. In ihrem Alltag versuchen alle Geschöpfe, ihre Ängste zu verbergen. Sie klammern sich an das Schöne im Leben und leugnen, was tief in ihrem Inneren vorgeht. Bis die Nacht hereinbricht und der Spiegel zur Seele all das manifestiert, was am Tage verdrängt wird. In den Träumen, dem Unterbewusstsein, wo Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einer einzigen Blase konzentriert werden. Das alles hier“ - Sharleen spreizte die Hände -, „der Limbus - oder sollte ich besser sagen - dieser Limbus wurde von eurem Unterbewusstsein geschaffen. Und mit jeder reingewaschenen Seele löst er sich mehr und mehr auf. Schaut.“
    Über unseren Köpfen entbrannte plötzlich ein Feuerwerk aus Licht und Schatten. Weiße Fenster flackerten auf. Sie waren überall, schwebten schwerelos durch den Raum. Bei näherem Hinsehen erkannte ich, dass sie Teile des Hauses zeigten. Die große Halle, die verschlungenen Korridore, die Gästezimmer und andere Räume, die ich nicht kannte. Andere waren so leer und ähnelten einem eisigen Ödland. Das Fenster zum Gewächshaus flimmerte. Das Innenleben darin schien sich allmählich aufzulösen.
    „So wie Claires Unterbewusstsein dazu beigetragen hat, dieses Zimmer zu schaffen, hat auch der Rest von euch seinen eigenen Beitrag geleistet. Ein Teil deines Unterbewusstseins, Stan, ist dafür verantwortlich, warum alle Menschen plötzlich in der Lage sind, die Sprache der Pokémon zu verstehen. Versteht ihr?“
    Tatsächlich begriff ich allmählich, zumindest teilweise. Die Blumen, die Spielsachen, der Salon. Wir haben diesen Ort geschaffen. Und nach Lindsays Verschwinden war der Salon kein Teil mehr dieser Welt. Deshalb hatte ihn Eagle nicht betreten können. Weil er nicht mehr existierte.
    „Ich muss zugeben, ich war noch nie an einem schöneren Limbus als in diesem. Er besitzt so etwas Erhabenes, so viel Kreativität. Doch leider besitzt auch der Limbus eine begrenzte Lebensdauer. Diese jedoch richtet sich nicht nach den Naturgesetzen wie Zeit und Raum. Es stimmt mich fast schon traurig, mich von ihm zu trennen, ist erst die letzte Seele geerntet.
    „G-gerntet?“
    „Oh, ja, Stan. Ich sagte doch: Ihr seid hier, damit ich leben kann. Ich zerschlage den Spiegel eurer Seele und nehme so den Schmerz, der euch plagt. Im Austausch hierfür erlaube ich mir lediglich, von diesen bösen Träumen zu zehren.“
    „Ich habe keine bösen Träume. Du wirst also hungern müssen“, warf ich ihr entgegen.
    Zum ersten Mal seit unserer Ankunft erhob sich Sharleen. Sie schritt die zwei kleinen Treppenstufen auf dem Podest ihres Throns hinab, ihre kalten Augen stets auf uns gerichtet. „Wie kannst du leugnen, was du in jeder Nacht siehst, Sheinux? Jedes Lebewesen träumt. Pokémon, Menschen, sogar Pflanzen. Ob es nun ein guter oder schlechter Traum ist, hängt von dem Individuum ab. Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Es sind die Grundfragen, die ein jedes Lebewesen beschäftigt.“ Sharleen lächelte herablassend. „Aber ich muss zugeben, Sheinux, nicht jeder träumt von so etwas Banalem wie Rosenkohl, wobei ich deinen Traum von Gefangenschaft in einem Pokéball doch sehr genossen habe. Was sagt uns das über dich aus, mein freiheitsliebender Sheinux? Ach, jetzt habe ich mich aber verplappert!“ Sharleen lachte. „Jämmerlich.“
    „Halt’s Maul!“
    Uneingeschüchtert peilte Sharleen die - wie er sie genannt hatte - geernteten Seelen an. „Sie alle haben ganz persönliche Ängste. Eine schlechte Erfahrung, ein unverarbeitetes Erlebnis, Angst vor dem, was kommen wird oder noch kommen könnte. Ich habe dich beobachtet, Sheinux, die ganze Zeit. Ich sah dein Misstrauen gegenüber Lars. Vielleicht stimmt es dich froh zu hören, dass deine Skepsis tatsächlich gerechtfertigt war.“ Sharleen trat an die Stelle des Immobilienmaklers. Lars machte keine Bewegung, selbst dann nicht, als Sharleen die Hosentasche des Mannes absuchte und einen Zettel an das Tageslicht förderte. Sie entfaltete das Papier, welches ich als den Zeitungsartikel wiedererkannte, den Lars kurz vor dem Stromausfall eingesteckt hatte. Sharleen schüttelte missbilligend den Kopf, während sie den Artikel betrachtete. „Na, ist es denn wahr? Junges Eheglück samt Nachwuchs tot aufgefunden. Das Haus hatten sie gerade erst bezogen. Eine Tragödie ... Ich schätze, unser lieber Lars konnte sich niemals mehr davon erholen, dass er ihnen das Haus aufgeschwatzt hatte. Wie hätte er auch nur ahnen können, dass es ein paar Tage später Schauplatz einer Geiselnahme würde? - Schauen wir mal weiter. Eure liebe Lindsay, oder sollte ich besser Rebecca sagen?“ Sharleen trat an Lindsays heran. Wie schon bei Lars zuvor reagierte die Frau mit dem hängenden Kopf nicht. „Rebecca Stirling, zweifache Mutter, Alkoholikerin, auf der Flucht vor dem Gesetz. Eines Tages hatte sie sich wieder einmal dem Suff ergeben und daraufhin das Sorgerecht für ihre Kinder verloren. Es kam zum Streit mit ihrem Mann - er überlebte den Streit nicht. Schade, schade. Aber so spielt nun mal das Leben“ Sharleen bleckte ihre Zähne. Triumphierend sah sie uns an. „Soll ich weitermachen?“
    „Bist du endlich fertig, ja?“
    Sharleen nahm wieder auf ihrem Thron Platz. Ihrem Gesichtsausdruck zu urteilen, amüsierte sie sich trotz Eagles ungehobelten Kommentar königlich. Ihre Lippen wuchsen allmählich zu einem hungrigen Zerrbild eines Lächelns heran. „Fertig? Wir fangen gerade erst an.“
    Eagle wagte einen beherzten Schritt nach vorne. Seine beiden Hände waren zu festen Fäusten verkeilt. „Mir bluten bereits die Ohren, also spar es dir! Ich kann mir dein scheiß selbstgefälliges Gelaber echt nicht mehr anhören. Jetzt wirst du mir mal zuhören. Du sülzt hier rum, wie edel und gottesgleich du doch bist. Du rennst durch die Welt, spielst Richter und Henker und stempelst den Leuten deine Sicht auf. In deinem kranken Hirn kannst du dir ja einbilden, dass deine Fürze nach Rosen riechen, aber in meinen Augen bist du nichts anderes als ein narzisstischer, kranker Faschist. Das bist du! Und wenn uns die Vergangenheit eines lehrt, dann, dass in unserer Welt kein Platz für Faschismus ist!“ Eagles Hand schnellte an seinen Gürtel. Er wählte nicht, sondern packte alle Pokébälle, die er finden konnte. „In meiner Geschichte wirst du nur als eine unbedeutende Fußnote enden.“
    Eagle fuhr sein ganzes Arsenal auf. Sky: die fliegende Inselfestung. Sora: das streitsüchtige Ebenbild ihres Trainers. Skorpio: der mächtige, zurückhaltende Flugskorpion. Gaia: der sanfte, mitfühlende Kontrast. Sie alle waren hier, um für die Überzeugung ihres Trainers einzutreten. Wenn nötig, mit Gewalt.
    „Zeigt ihr, wer wir sind!“
    Die kampfeslüsterne Kriegsmaschinerie setzte sich in Bewegung. Schwere Windböen kamen auf. Mächtige Flügelschläge brachten Sora in die Luft. Sky folgte ihr im steilen Senkrechtstart. Skorpio und Gaia begannen die Bodenoffensive. Soras flackernden Schwingen entstieg ein Schauer halbmondförmiger Sichel-Projektile. Unten am Boden rasten derweil vergiftete Geschosse und gezahnte, rasiermesserscharfe Blätter heran, nur von Skys kompromissloser Angriffsflug auf den Gegner überholt. Die Gegenseite wirkte hilflos gegen diese Übermacht. Ein bloßes Händeheben, als Geste des guten Willens aus Angst vor der drohenden Vernichtung.
    Sharleen stieß die offenen Handflächen nach vorne. Ein glühender Impuls ging von dieser Bewegung aus, der auf die Angreifer zuraste. Sky traf es zuerst. Wie von einer Windböe getroffen, schleuderte es die Himmelsfestung weit über unsere Köpfe in die Leere. Sora erging es nicht besser. Der leichtere von beiden Vögeln katapultierte es noch weiter. Unten raffte es Skorpio und Gaia zeitgleich hin. Jaulend gingen sie zu Boden. Die Druckwelle fegte die beiden regelrecht hinfort. Wir, hinter den Reihen der Kämpfer, spürten nur den schwachen Hauch eines Luftzugs. Doch was Eagle betraf ... Es war so, als ob sein Gedankengut gerade eben an vorderster Front gestanden und als Erstes den tödlichen Schlag erlitten hatte. Seine Revolte war vernichtet. Das Gefühl von Überlegenheit war vernichtet. Er war vernichtet.
    Sharleen senkte die Hände, deren Konturen noch von einer merkwürdig glühenden Aura umgeben waren. Sie lächelte nicht mehr. „Armes, fehlgeleitetes Kind. Du gibst dich so stark, so selbstsicher, nur um von deinen eigenen Schwächen abzulenken. Ich kenne dich besser, als du dich selbst, Malcolm Granger. Ich kenne deinen Schmerz, deine Sorgen, deinen Kummer, deine Ängste.“
    „Hör auf!“, brüllte Stan.
    Doch es war zu spät. Zum zweiten Mal verschwamm die Wirklichkeit um uns herum. Der Thronsaal löste sich um uns auf.
    Wir waren in einem Stadion, ähnlich dem bei unserer Überfahrt nach Hoenn, nur deutlich größer. Unmengen von Zuschauern saßen auf der Tribüne und jubelten frenetisch. Eagle stand unten im Stadion. Sein Pokémon, Sora, scheinbar noch in einer jungen Entwicklung, war geschlagen. Der Gewinner auf der gegenüberliegenden Seite reckte lässig, als ob es ihm fast schon egal wäre, die Faust in die Luft. Einige der Zuschauer begannen schadenfroh zu lachen und richteten ihre Finger auf den Verlierer. Das Geschehen entglitt unserem Blick. Augenblicke später beherrschte strahlendes Sonnenlicht den Tag. Wir waren in einem Park. Kinder jagten jubelnd einem Ball hinterher. Am Spielfeldrand wurde Eagle in einem Rollstuhl vorbeigeschoben. Jetzt waren wir in einer felsigen Landschaft. Überall um uns herum kämpften Menschen und Pokémon. An einer Klippe hing ein Mädchen. Eagle rannte, den entsetzten Blick auf die Hängende gerichtet. Es war das Mädchen, das wir in dem Medallion gesehen hatten, das er bei sich trug. Sie stürzte in die Tiefe. Eagle schrie verzweifelt ihren Namen: „Sora!“
    Neben uns sackte der echte Eagle zu Boden. Heiße Tränen rannen über den Arm, mit dem er sein Gesicht abstützte. Sein Wehklagen hallte laut durch das Nichts, in dem wir uns plötzlich wieder befanden. Mit versteinertem Gesichtsausdruck schaute ich den weinenden Jungen an. Ich wusste nicht, was unheimlicher war: das eben Gesehene oder Eagle, den starken, unbeugsamen Eagle weinen zu sehen.
    „Eagle! Malcolm! Du packst das! Komm schon! Lass mich jetzt nicht hängen! Hörst du? Hörst du?!“ Verzweifelt rüttelte Stan an dem seinem gebrochenen Freund. Es war umsonst. Vergeblich.
    „Je härter die Schale, desto weicher und verletzlicher der Kern.“ Sharleens grausige Stimme versetzte dem traurigen Bild einen tödlichen Schlag. Eagle erhob sich. Er war ausgezehrt, ein Schatten seiner selbst, eine leere Hülle. Stan konnte ihn nicht aufhalten. Es war vorbei.
    Igelavar und ich warfen uns kurz quälerische Blicke zu. Ich wollte etwas sagen, doch die Todesangst hatte meine Stimme vergiftet. Mit zitternden Knien und brüchigem Willen konnte ich nur noch zuschauen, wie sich Eagle den Reihen der Geernteten anschloss.
    „Stan, mein lieber Stan!“ Sharleen spreizte glücklich die Hände in einer herzlichen Willkommens-Geste.
    Ich musste mich bewegen. Ich musste Stan helfen, ihm Zeit verschaffen. Irgendetwas. Aber ich konnte es nicht. Ich war wie versteinert. Gebrochen. Igelavar schaute mich an. Verunsichert. Hilflos. Oben an der Decke verblassten weitere Fenster. Der Limbus war fast zerstört. Und auch Mr. Maolmuire verbleichte. Er sagte nichts, schien nichts zu fühlen, während sich sich im Nichts verlor.
    „Ach, mein lieber Maolmuire, ich werde dich wirklich vermissen. Solch eine treue Seele.“
    „Maolmuire ... warum?“, stammelte Stan. Auch ich verstand den Zusammenhang nicht.
    „Der liebe Edward Maolmuire entstammte ganz dem Unterbewusstsein eures Freundes Malcolm. Doch da wir uns dem Ende dieses Limbus zuwenden, bedeutetet es bedauerlicheweise auch, uns von dem unermüdlichen Maomuire zu verabschieden.“ Sharleen stoppte kurz. Leicht fragend verschränkte sie den Kopf. „Ich sehe, euer Freund Malcolm hat euch nie über seine Wurzeln erzählt. Wusstet ihr, dass seine Familie sogar Dienstpersonal in ihrem Haus hat, sogar einen eigenen Buttler? Edward Maolmuire entstammt nahezu vollständig Malcolms Erinnerung.“
    „Er ... er wusste es und hat nie etwas gesagt?“, stammelte Stan.
    „Oh, ja, wusste er es. In Wahrheit, Stan, hat nur dein guter Freund größeres Misstrauen in diese brave Seele gehegt, obwohl es eigentlich nie einen wirlichen Grund gab. Aber der gute Malcolm wollte das Rätsel um den ominösen Buttler scheinbar auf die eigene Faust lösen, um dann am Ende als großer Held dazustehen. - Doch genug jetzt davon“, sagte Sharleen kopfschütelnd und sanft lächelnd. „Endlich sind wir ganz ungestört. Bist du bereit, die Erlösung zu erfahren?“
    Es gab keine Warnung. Es traf uns völlig unvorbereitet. Ich dachte, es wäre aus. Dann plötzlich: Einer von Stans Pokébällen öffnete sich. Die Konturen eines kleinen Pokémons schälten sich aus dem Licht. Shaymin hob etwas den Kopf.
    „Hallo, Darkrai“, grüßte sie mit ernster Stimme.

  • Kapitel 3: Darkrai


    „Shaymin!“, stieß Sharleen hervor. Sie lehnte nicht mehr entspannt auf ihrem bequemen Thron. Shaymins Erscheinen hatte die hässliche Grimasse aus ihrem Gesicht getilgt und dort blankes Entsetzen zurückgelassen.
    „Sieht so aus, als konntest du mich nicht länger zurückhalten.“
    Sharleen fletschte die Zähne. „Sieht so aus.“
    „Shaymin, was zum ...“, stammelte Stan verständnislos.
    Shaymin begegnete uns mit einem scharfen seitlichen Blick. „Stan, Sheinux, Igelavar, hört mir zu! Hört mir gut zu! Ihr dürft auf Darkrais Lügen nicht hereinfallen! Wir sind alle noch im Zug. Wir alle. Auch der Rest. Wir schlafen und träumen. Das hier ist alles nur ein Traum. Alle, die auf der Fahrt im Zug eingeschlafen sind, hat es in diesen Limbus verschlagen. Versteht ihr? Es - ist - nicht - real. Versteht ihr mich? “
    „Nicht ... real?“
    Shaymin!“ Sharleen war auf den bebenden Beinen. Ein schwarzes Glühen erfüllte das Mädchen, dem plötzlich alle Haare zu Berge standen und regelrecht in dunklen Flammen gehüllt war. Voller Hass und Abscheu starrte sie das kleine Pokémon mit den Blumen an den Schultern an.
    „Wer ist Darkai?“, fragte ich und machte eine Kopfbewegung in Sharleens Richtung. Shaymin nickte knapp.
    Sharleen oder Darkrai, wie Shaymin sie nannte, riss die Hände nach vorne. Eine Pulswelle des Hasses schwappte uns entgegen. Der stechende Schmerz explodierte. Unsere Körper drohte es zu zerreisen. Ich wollte schreien, doch mir blieb die Luft zum Atmen weg. Shaymin begann zu leuchten. Eine blassgrüne, kuppelförmige Aura entstieg ihrem Körper. Darkrais weiterer zerstörerischer Einfluss brandete gegen Shaymins Schild und zerschellte. Der Schmerz verschwand, die Atemlosigkeit blieb noch wenige Sekunden. Stan presste sich die Hand gegen die Rippen. Igelavar und ich stemmten uns mühsam wieder auf die Beine.
    „Ich hätte dich vernichten sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte.“ Darkrai kehrte uns kurzzeitig den Rücken zu und nahm wieder Platz auf dem Thron.
    „In einem Punkt hat unser Freund Eagle auf jeden Fall recht: Darkrai ist alles, aber nicht uneigennützig. Seine Erlösung ist keine Befreiung, sondern lediglich ein Vorwand, seine Selbstsucht zu befrieden. Darkrai ist die Reinkarnation der Niedertracht. Er sucht sich seine Opfer nicht aus, wie er vorhin gesagt hat. Es ist ihm gleich, wer auf seiner Speisekarte landet. Wobei es da eine Ausnahme gibt, nicht wahr, Darkrai?“ Shaymins letzter Satz triefte vor Selbstgefälligkeit und Provokation und hinterließ auf Darkrai giftig dreinblickenden Antlitz eine Spur des Erstaunens.
    „Was meinst du damit?“ Ein bedrohlicher Unterton verbarg sich unter Darkrais Flüstern.
    „Willst du es ihnen nicht endlich sagen? Die Wahrheit?“, rief Shaymin. „Und uns endlich dein wahres Gesicht zeigen?“
    „Welche Wahrheit?!“
    „Zeig dein Gesicht!“
    Was ging hier vor? War ich der Einzige, der den Anschluss verloren hatte? Wieso kannte Sharleen ... nein, Darkrai unsere Shaymin, von welchem Geheimnis war die Rede und welches wahre Gesicht? Ich spähte in Stans und Igelavars Richtung, die aber schienen nicht weniger überfordert als ich, bis ihnen plötzlich der Schreck brutal in die Gesichter eingehämmert wurde. Ich drehte mich zurück.
    Ein spitzer, ungehörter Schrei entstieg meiner Seele. Sharleen war verschwunden. An ihrer Stelle saß oder vielmehr schwebte eine abnorme Kreatur, die nicht mal mehr im Entferntesten einem Menschen ähnelte. Mit einem Gefühl der Übelkeit schlussfolgerte ich, dass es sich hierbei, bei dieser schattenähnlichen Kreatur, um Darkrais tatsächliche Form handelte. Sein Körperbau erinnerte an eine grausam pervertierte, schwarze Gewitterwolke. Die monströsen Schulterblätter und langen Arme waberten im windstillen Raum, als wären sie gasförmig, ebenso die lange, weiße Haarpracht, die zum Teil die rechte Gesichtshälfte bedeckte und in hypnotischen Bewegungen schräg über dem Kopf schwebte. Die unteren Extremitäten fehlten ihm, auch der Mund. Über der roten Krause, die ihm um den Hals gewachsen war, hielt das einzig sichtbare petrolfarbene Auge uns erfasst. Stans Lippen formten einen ungesprochenen Satz. Auch ich hatte in diesem einen Punkt verstanden. Darkrai war kein Mensch. Darkrai war ein Pokémon. Es war unmöglich, ihm irgendwelche Mimik abzulesen. So etwas hatte ich noch nie gesehen.
    Shaymin nickte. „Besser.“
    „Welche Wahrheit?“, wiederholte Darkrai nun mit echter Stimme, die tief und melancholisch in meinem Brustkorb und Trommelfell vibrierte.
    „Die ganze Wahrheit“, antwortete Shaymin knapp.
    „Die einzige Wahrheit“, flüsterte Darkrai“, ist, dass du mir schon viel zu lange ein Dorn im Auge bist, Shaymin.“
    Seine Drohung kam zu vorbereitet. Diesmal erhob Shaymin ihr blassgrünes Schild, bevor Darkrais dunkle Energie uns erreichen konnte. Der Angreifer senke seine Arme, als er die Sinnlosigkeit seines Unterfangens begriff, und auch Shaymin ließ ihr Schild fallen.
    „Dann will ich dir auf die Sprünge helfen“, sagte Shaymin, als ob gerade nichts gewesen wäre. Sie richtete ihre Stimme an uns, ihren Blick fixierte sie jedoch weiterhin auf Darkrai. „Erinnert ihr euch an die Geschichte, die ich euch erzählt hatte? Der verwunschene Prinz, der von seinem Vater und dem gesamten Hofstaat verstoßen wurde und sich auf der Suche nach einem Heilmittel aufmachte. Ihr wisst: Dieser verwandelte Mensch, der in dem schonungslosen Ödland die Rose der Wüste fand und daraufhin sein neues Ich akzeptierte, ist einer meiner Ahnen. Was ich euch aber bislang verschwiegen habe: Die Frau, die dem Glück des Königs getrachtet hatte und aus Hass den Fluch ausgerufen hatte, dem der Prinz schließlich anheimfiel ... Ihr Name lautete Luscinia Blakewater.“