*Pflicht und Ehre*

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  • Servus Jens,


    erstmal vorgweg: das letzt Kapitel hatte ich aus dem einfach Grund nicht kommentiert, dass mir nichts dazu eingefallen ist. Ich vermute auch mal, dass es auch eher als kleiner Spaßfaktor für zwischendurch gedacht war. Immerhin bestand das Kapi fast ausschließlich aus Sheinux´ "Aufklärungsunterricht" und es war ja auch ziemlich komisch. Aber mehr als ein das war ja ne lustige Szene ist auch jetzt nicht aus mir rauszuholen.
    Das aktuelle Kapitel ist zwar recht kurz, aber meiner Empfindung nach echt cool. Eagle is back, and he´s really pissed of. Du hast ihn bei dieser Begegnung wirklich prima in Szene gesetzt und er kommt noch genauso rüber, wie damals bei seinem letzten Auftritt. Dass Sheinux Stan mal wieder dazu nötigen muss, etwas zu tun oder überhaupt nur zu sagen, ist natürlich weniger überraschend und etwas schade ist es irgendwie auch. Wie geil wäre das ganze geworden mit einem Charakter, der etwas mehr Selbstvertrauen und Schlagfertigkeit besitzen würde. Aber wenns drauf ankommt, hat Stan ja schon das ein oder andere Mal etwas Rückrat bewiesen. Vielleicht schafft er es wieder, mal sehen.
    Auch sehr interessant finde ich, dass Stan durch seine Fehigkeit, mit Pokémon zu sprechen, jetzt langsam zu einem kleinen lebenden Mythos heranwächst. Eigentlich kann dabei ja nichts gutes herauskommen und das Aufschlagen von Eagle ist der direkte Beweis dafür. Ich bin jedenfalls sehr gespannt, was sich daraus entwickelt und vor allem, ob Stan sich dadurch endlich mal ein bisschen wandeln kann - und zwar dauerhaft oder ob das genaue Gegenteil eintritt. Ich halte irgendwie beides für möglich. Jetzt bin ich erstmal auf den Kampf gespannt, der sich angekündigt hat. Dass Stan sich aus dieser Situation herauswinden kann, kann ich mir nicht ganz vorstellen und das er dabei überaus glorreich von dannen ziehen wird auch nicht wirklich. Mal schauen ob ihm wenigstens ein glanzloser Sieg oder ein Unentschieden gelingt.
    Ich bleibe jedenfalls wie immer auf dem laufenden und lasse dir viele Grüße da.


    Pheno

  • Part 3: Von Jäger und Beute


    Dachte man nur ungefähr zehn Minuten zurück, als mein einziger Kummer darin bestanden hatte, dass Stan eine bedauernswerte Brutmutter abgegeben hätte, und betrachtete man nun das Hier und Jetzt, kam einem meine anfängliche Sorge richtig banal und unbedeutend vor. Die harte und unverblümte Wahrheit traf mich nun aber ebenso heftig wie es die stählernen, klingengleichen Schwingen meines Gegners waren. Sky war einmal mehr dazu auserkoren worden, als brechenschlagende Phalanx für Eagles Rachefeldzug zu dienen – eine undankbare Aufgabe. Mir war diese Gelegenheit beim letzten Mal verwehrt geblieben, doch hatte Stan ersatzweise für mich mit Sky den Boden aufgewischt. Nun war es an mir, es meinem Gefährten gleich zu tun und das Großmaul zu knusprigem Frikassee zu verarbeiten.


    Angetrieben von dem rapiden Herzschlag in meiner Brust und dem erquickenden Gefühl der Gefahr im Genick rollte ich mich zur Seite ab und entging so dem zermalmenden Hackangriff meines stählernen Widersachers. Sky schluckte eine großzügige Ladung des torfreichen Waldbodens, sein spitzer Schnabel spießte vereinzelte Birkenblätter auf. Nur kurz vernahm ich sein angeekeltes Spucken und Röcheln. Noch nicht richtig hatte ich nach meiner Ausweichrolle wieder festen Fuß gefasst, da blies die Luft mir eiskalt durch das Fell und trieb mir die Tränen in die Augen. Sky hatte es wieder in mehr oder weniger luftige Höhen verschlagen. Der Wald aber war auf meiner Seite: Das dichte Gehölz ließ nur reichlich spärlichen Spielraum für zirkusreife Luftakrobatik. Obwohl er seines wohl größten Vorteils beinahe gänzlich beraubt war, ging er dennoch mit gespreizten Schwingen und blitzenden Schnabel zum Sturzflug auf mich über. Eine instinktive Entladung knisternder Elektrizität zwang den Höhenflieger zum abrupten Abdrehen. Sein schriller, aufbrausender Schrei verfolgte mich, noch während er rasch höhegewinnend über mir hinwegbrauste.
    Dieses Gefühl von Zufriedenheit, nämlich meinem tollkühnen Gegner ein Schnippchen gewaltigen Ausmaßes geschlagen zu haben, war allerdings nicht einmal ansatzweise so prickelnd und belebend wie das Gefühl meiner wiedergeborenen Kräfte, von denen ich vor gar nicht allzu langer Zeit geglaubt hatte, sie verloren zu haben. Ich wusste schon fast nicht mehr um diesen Reiz - wenn sich jeder Faser und jeder Muskel des eigenen Leibs bis zum Zerreisen anspannte, sich jedes noch so kleine Härchen sträubte, das Verlangen den Angreifer erbarmungslos niederzustrecken einem unstillbaren Durst nach schier endloser Wanderung in sengend heißer Sonne glich, sich der verbliebende Geist mit rasender Geschwindigkeit leerte und nur noch ein Vakuum zurückblieb, das sich mit dem rettenden Atemzug danach wieder ebenso schnell verflüchtigte und nur noch ein anfängliches Gefühl leichter Benommenheit, Desorientierung und Entkräftigung daran vage erinnerte. Und doch, trotz all dieser mich in besagten Moment heimsuchenden Eindrücke und Empfindungen, war es einfach nicht dasselbe. Es fühle sich nicht richtig an, so wie damals. Es war schwach. Schwach und Leidenschaftslos. Zehrte die Vergangenheit noch immer an mir, meine Zeit als Mensch? Ich vermochte es mir selbst nicht zu erklären, und schon gar nicht, wenn mich meine Gegenwart so schnell einholte wie Skys silberne Schwingen ihren Besitzer trugen. Das unheilbringende Flügelschlagen und Gekreische kündigte bereits einen neuen Vernichtungsschlag gegen mich an. Skys stechender Blick war der Warnung genug für mich; seine gewetzten Krallen lechzten bereits aus der Ferne nach einem ordentlichen Haarbüchel von mir.


    Das Tempo nahm immer weiter zu. Seine glücklosen Manöver spornten Sky auf seinem unaufhaltsamen Vernichtungszug nur noch weiter an, anstatt ihn zu demotivieren. Sein gebleckter Schnabel dürstete nach dem Sieg und nur ich war die einzige Bastion, die dreisten Widerstand leistete. Auch nach drei weiteren missglückten Sturzflügen hatte sich unser kleines Fang-mich-doch-du-Eierkopf-Spiel kaum verändert. Sicher: Sky schnappte mittlerweile schwer nach Luft. Sein heißer Atem, den ich nach jedem weiteren vergeblichen Ausholen seines Schnabels immer wieder verlangend in meinem Genick spürte, war mittlerweile beinahe gefährlicher als Schnabel und Krallen gemeinsam. Doch auch ich rang schwer nach Luft. Meiner ersten wirklichen Gegenwehr war kein weiterer tatsächlicher Angriff gefolgt; die Zeit entrann meinen Krallen, so wie die Kraft langsam meinem Körper entschwand. Dafür hielt mit jedem meiner Ausweichmanöver der Rest der Welt den Atem an. Mehrere kleinere Schrammen zeichneten sich auf Schulterblättern und Rücken ab, Dreck, Nadeln und Buchenblätter mehrten sich mit jeder weiteren Ausweichrolle in meinem Fell. Mit grimmigem Lächeln schaute ich über die Schulter und somit Skys nächster von Misserfolg gekrönten Kehrtwende nach. Ein kurzes Schaudern machte sich kurz bemerkbar, bevor es gleich auch wieder verschwand: Weiteres loses Geäst hatte sich mir in die rechte Schulter gebohrt. Leicht strauchelte ich, als ich mich erhob. Die Zähne biss ich fest zusammen. Es war auszuhalten. Noch.
    „Geht deinem Flohfänger langsam die Puste aus? Wir sind noch nicht fertig!“
    Eagles Äußerung galt zweifelsohne mir. Stans zögerliches „D-dein Federvieh macht auch nicht mehr allzu viel her!“ verfehlte dummerweise völlig seinen Zweck. Weder flößte es uns besonderen Mut ein noch bekam es unser Gegenüber mit der Angst zu tun.
    Mit dem letzten waghalsigen, dafür aber nicht weniger erfolglosen Angriff schien er die berechenbaren Himmelfahrtskommandos allmählich leid zu sein. Schnurgerade, aber nicht weniger rasant hielt er stattdessen im Gleitflug auf mich zu; dabei keinen halben Meter vom Boden entfernt. Der eilige Sprung zur Seite, der mich beinahe an den Rand der Lichtung geführt hatte, rettete mir noch einmal den Pelz. Doch für wie lange noch? Meine Pfoten hatten noch nicht richtig wieder auf dem Boden aufgesetzt und Skys stürmischer Luftkanal war mir noch nicht gänzlich an mir vorbeigefegt, als zwei Reihen kleiner, geifernder Zähne bereits einen weiteren Versuch ankündigten, nach einem großzügigen Happen von mir und nach meiner Niederlage zu trachten. In Bedrängnis ließ ich einfach die Beine zusammenklappen, landete so - alle Viere voneinander ausgestreckt - bäuchlings im Dreck. Im Vorbeiflug stocherte Skys spitzer Schnabel nach mir. Nur haarscharf verfehlte er sein Ziel. Zu spät realisierte er, dass er einfach nur seine Krallen hätte nach unten ausschlagen und zupacken müssen, um meiner habselig zu werden. Zu spät auch das, was nach erschrecktes Augenaufreißen und einem winzigen Wimpernschlag auf den Himmelsstürmer lauerte: Wütendes Kreischen und das unaufhörliche Donnern eines schweren Objektes, das mit gewaltigem Schwung in das dichte Unterholz krachte, erschütterte das Kampffeld. Das Kratzen heimtückischer Hagebuttenstrauchdornen auf blankem Metall ließ mir die Haare steil zu Berge stehen. Ein unglücklich stehender Baumriese wurde von den Spitzen Skys weit gespreizten Schwingen massakriert - der Flügel zog eine zentimetertiefe Furche ins Holz, wie ein heißer Draht durch Butter glitt. Von den Ästen und Zweigen regneten die Tannenzapfen, Bucheckern, Eicheln und Hagebutten auf den Erdboden herab. Das laute Schlagen des Gehölzes kam einem schmerzhaften Wehklagen des Waldes gleich; nichts aber im Vergleich zu dem stocksauren Geschrei des Verursachers. Und doch hielt er sich, soweit man das beurteilen konnte, noch immer in der Luft, denn der Lärm löste sich zunehmend auf, bis der Wald ihn völlig in seinem unergründlichen Inneren verschluckte. Dann ... Stille. Eine unnatürliche, befremdende Stille, wie man sie nicht leiden mochte. Die Luft war aufgepeitscht, und doch war sie erdrückend, stickig und wallte vor Hitze.
    „Bist du in Ordnung? Alles okay bei dir?“
    Stumm gab ich meinem angespannten Kameraden zu verstehen, dass es mir der Umstände entsprechend gut ging, womit ich zumindest etwas seiner Sorge um mich nehmen zu nehmen vermochte. Nicht nehmen lassen ließ ich es mir, über das Kampffeld hinwegzuspähen, wie die werte Konkurrenz den Lauf des Schauspiels auffasste. Mit verdächtiger Ruhe und Gelassenheit begegnete Eagle meinem Blick. Der übliche siegessichere Glanz stand in seinen Augen gemeißelt, obwohl er doch hätte toben müssen. Woher nahm er es bloß, diese unglaubliche Selbstsicherheit? Es stank gewaltig. Gefallen mochte mir das überhaupt nicht.
    Die Sekunden verstrichen. Ein flüchtiges Säuseln in dem Geäst war bei genauem Hinhören zu vernehmen. Der unerwartet eingekehrte Frieden konfrontierte mich erstmalig mit dem ganzen Ausmaß der körperlichen Anstrengungen, die ich hatte erdulden müssen. Die vielen kleine Rissen und Flecken ziepten und brannten teuflisch. Wo dies nicht der Fall war, juckte es unangenehm. Ein metallischer Ton lag auf der gereizten Kehle. Eine willkommene, wenn auch in gewisser Hinsicht unangenehme Pause, die dezent zum vorsichtigen Aufatmen einlud. Nicht nur uns, auch dem unmittelbaren Umfeld war bei näherer Betrachtung ebenfalls einiges abverlangt worden. Die Spuren und Furchen auf dem lehmigen Boden der Lichtung, die als Austragungsort des Kräftemessens gezwungenermaßen herhalten musste, und der unordentlich aufgewirbelte Belag aus zerfetztem Blattwerk, krummen Tannennadeln und geknackten Waldfrüchten erzählten stumm die Geschichte zweier Kontrahenten, deren Auseinandersetzung noch lange nicht vorbei sein sollte.


    Jedes noch so kleine Geräusch, selbst das verschwörerische Flüstern der Zweige im sanften Wind, ließ mich wachsam aufhorchen. Doch immer wieder die gleiche Gewissheit, nachdem man sich zu der Geräuschquelle zugewandt hatte: Der Wald schien Sky samt seiner unberechenbaren Wut verschluckt zu haben. Mein Kopf ruderte hin und her, blieb stets an der Position hängen, wo das stählerne Ungeheuer eine Bresche in den Wald geschlagen hatte. Abseits dieser Bewegungen war mein restlicher Körper frei von jedwedem Rühren. Ich ließ die Deckung keinen Augenblick fallen, beschränkte das Luftholen auf ein Minimum, rührte keinen überflüssigen Muskel, wenn es nicht sein musste, schon gar nicht kam ich dem unangenehmen Jucken unter dem Fell nach, das zu einer verlockenden Spezialbehandlung aufforderte. In unkontrollierten Bahnen brummte eine dicke Schmeißfliege über meinen Kopf und dem restlichen Schauplatz hinweg und erlangte kurz die Gunst meiner Aufmerksamkeit.
    Mit nur einem Schlag entlud sich das Geschehen explosionsartig hinter meinem Rücken. Stan schrie aus Leibeskräften meinen Namen, jauchzende Anfeuerungsrufe dagegen aus Eagles Richtung; alles überschattet von dem Lärm eines einstürzenden Gebäudes. Gerade noch so viel Zeit, mich dem Geräuschpegel hinzuwenden, wurde mir gelassen. Was folgte, war noch schneller, als der Schauer, der mir eiskalt über den Rücken laufen wollte. Der Boden löste sich unter meinen Pfoten, erbarmungslos riss es mich von der Erde in die Luft. Schneller als der mir ins Gesicht peitschende Wind, war das feurige Glühen zweier zermalmenden Klauen, die sich mir ins Kreuz und in die Seite gebohrt hatten und zu einem ungewollten Flug über den Waldboden einluden. Auf Gedeih und Verderb war ich Sky ausgeliefert, hing wehrlos zappelnd in seinen mächtigen Fängen gefangen. Die höllischen Schmerzen fraßen sich binnen keiner Sekunde vom Rücken in meinen Kopf, der augenblicklich zu zerbersten drohte. Das von mir hinausgebrüllte Wehgeschrei erstickte in Skys aufgewühlten Luftstrom oder aber lösten sich in einer ganzen Flut aus Zweigen und Gestrüpp auf.
    Wir hatten die Lichtung in dieselbe Richtung verlassen wie es Sky bereits zuvor getan hatte. Dornige Sträucher schlossen uns mit stechenden Umarmungen in ihre Arme und durchdrangen mit willkommenem Gruß unsere Leiber. Einfach alles, was sich uns so töricht in den Weg stellte, fraß sich unter mein Fell, drückte mir gewaltsam seinen Stempel auf, schürfte sich in das verletzliche Fleisch und übersäte Lippen, Gesicht, Beine, einfach alles mit lodernden Schnittwunden. Heulende Böen klatschten mir wie mächtige Peitschenhiebe messerscharf ins Gesicht, pressten mir die Augen gewaltsam zu und dröhnten in den Ohren. Auch Sky musste gezwungenermaßen erneut mit den dornigen Greifarmen der Flora Bekanntschaft schließen. Verständlicherweise war sein robustes Federkleid deutlich widerstandsfähiger, beinahe sogar vor dem rauen Terrain gefeit. Gleichwohl dass die Furchen auf dem silbernen Stahl kurzzeitig in hellem Rot aufleuchteten, ließ er sich - abseits von frustriertem Aufstöhnen bei jedem schmetterndem Zweigenhieb und jeder stacheligen Distel - nichts anmerken. Auch lockerte sich der zermürbende Griff beider Klauen nicht - eher war sogar das Gegenteil der Fall. Das durchdringende Gefühl in Rücken und Hüfte verschlimmerte sich zunehmend. Wann immer etwas besonders Massives und Schmerzhaftes unseren Weg kreuzte, dass Augenblicke später gestreift oder gewaltsam niedergemacht wurde, bohrten sich die Krallen nur noch tiefer und festigten ihren erbarmungslosen Halt. Auf die vergeblich von mir mit ruckartigen Bewegungen gesäten Fluchtversuche keimte kein Erfolg. Ein schwacher Moment in Skys unermüdlichen Griff wurde mit kräftigen Stromschlägen beantwortet. Eine Lücke aber, die mir zu Flucht hätte verhelfen können, tat sich nicht auf.


    Die Sinne schwanden zunehmend dahin. Der Magen schlug Purzelbäume und wetteiferte mit meinem Kopf, wer wohl schneller zu rotieren vermochte. Das Umfeld nahm ich zwischenzeitlich nur noch als schnell an mir vorbeiziehender Schleier bunter Farben wahr, der von Tränenausbrüchen in meinen Augen nur noch weiter getrübt wurde. Erste Anzeichen eines Resultates auf meine klägliche Gegenwehr machten sich jedoch immer mehr bemerkbar. Bereits jetzt war Skys Manöver durch das Dickicht auch so schon alles andere als kontrolliert. Er vermochte den steifen Gleitflug irgendwann kaum noch aufrecht zu erhalten, war es nun auf die Strom-Therapie zurückzuführen oder auch nur auf die bremsende Pflanzenwelt. Die Chance - ich witterte sie. Als sich dann abermals ein spärlicher Spalt in Skys fast makelloser Defensive auftat, entsagte ich der Vernunft, kehrte jedweder aufrecht gehaltenen Vorsicht um mein verbliebenes Wohl den Rücken zu und empfing das Risiko wie einen guten Freund. Mit meinem letzten Aufschrei war es an mir, Sky zu entführen, nämlich in eine Welt, die nur aus der widerlichsten Folter bestand, die man sich vorstellen vermochte. Mein Geist entleerte sich gewaltsam. Jedes Quäntchen Gedankengut, das ich finden konnte, formte sich zu Wut und wurde pausenlos als elektronische Entladung gegen Skys Brustpanzer geschleudert. Das Gefühl von Selbstkontrolle und geistiger Präsenz wurde meinem Körper entzogen und stattdessen durch Taubheit und einem Vakuum in Kopf und Lungen ersetzt. Mit einem Schlag war es aus mit dem holprigen und turbulenzreichen Ritt. Der farbenbunte Kanal, durch den wir flogen, löste sich auf; so auch Skys Griff. Als meine Schulterblätter und Rücken auf den Boden aufschmetterten und ich mich noch einige Male überschlug, hatten wir - unbeabsichtigt oder auch nicht - wieder den Ausgangspunkt dieses Höllenritts erreicht: die Lichtung. Der Aufprall hatte auch die allerletzten meiner Reserven aufgezehrt. Kaum verwunderlich, dass ich daher Stans entsetzten Aufschrei nur noch wie einen schwammigen Laut wahrzunehmen vermochte. Die vielen kleinen Schürfwunden des Sturzes wie auch das ganze Ausmaß der Wunden auf Rücken und Hüfte flößten mir kurz und rasch das Bewusstsein zurück, worauf ich auch dankbar darauf verzichten hätte können. Stan empfing mich in seinen warmen Armen. Kaum schaffte ich es, sein von Besorgnis verunreinigtes Gesicht auch nur drei Sekunden scharf zu betrachten. Immer wieder verschwand die Lichtung und so auch Stan um mich herum. Zurück blieb ein trübes, blassblaues Meer, in dem ich alleine schwamm. Nur die Schmerzen des Diesseits, die wollten einfach nicht abflauen. Sie empfingen mich immer wieder erwartungsvoll und schienen mich nicht wieder aus dem Meer der Hoffnungslosigkeit hergeben zu wollen.


    In kurzen Intervallen kehrte ich wiederholt in die wirkliche Welt zurück und fand mich in Stans warmen und behaglichen Griff zurück. Die tristen Farben nahmen in Zeitlupe einen sättigenden, erfrischenden Ton an und das Rauschen der Wellen tauschte mit dem Säuseln eines frischen Waldlüftchens den Platz. Schließlich entsagte ich völlig dem traurigen Anblick des endlosen Ozeans und kehrte in die wirkliche Welt zurück. Stans blasses Antlitz war das erste, was meine müden Augen erblickten. Er bewegte die Lippen, seine Stimme aber vermochte ich noch nicht zu vernehmen. Wenn schon er einen derart besorgniserregenden Ausdruck auf dem Gesicht geschrieben hatte, wollte ich gar nicht wissen, welchen kümmerlichen Eindruck ich nach außen hin erweckte. Neben dem erfrischenden Waldaroma hatte sich der befremdende Geruch des roten Medizinflächens gezwängt, das er stets bei sich zu führen pflegte. Jede Behandlung und jeder Tupfer der kalten Flüssigkeit linderte den körperlichen Schmerz, auf dass ich irgendwann sogar der Illusion erlag, alles wäre wie vor einer guten Stunde gewesen, bevor mein Körper von zwei mächtigen Pranken zermalmt worden war, bis ich tatsächlich endlich wieder Teil dieser Welt war.
    Eagle stand die Niederlage mit seinem vor Wut verzerrten Gesicht deutlich schlecht, noch schlechter aber Sky, der durch seinen Absturz wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert war. Noch immer lag er bäuchlings auf dem Boden, schlug wild und unkontrolliert mit den Flügeln aus und krächzte aus ganzer Kehle. Seine Versuche, sich wieder aufzuraffen, scheiterten, doch ließ er sich nicht davon abbringen, es weiter zu versuchen. Mitleiderregend ... und für mich auch sehr bedenklich. In meinen Glanzzeiten hätte sich von diesem Schlag keiner so schnell wieder erholt, und war er auch noch so stur. Sky aber kämpfte noch. Sicherlich war es ein aussichtsloses Unterfangen, wenn gleich aber auch bemerkenswert ... und für mich auch von furchterregender Natur. Es waren nicht seine schier unerschöpflichen Kraftreserven, nicht seinem eisernen Willen, auch war es nicht seiner abschirmenden Rüstung zu verdanken, da war ich mir sicher. Es lag an mir, und nur an mir. Der Gedanke, den ich zu Beginn dieser Auseinandersetzung gehegt hatte, war nun bestätigt. Stan ahnte nichts von meinem inneren Zwist; wie auch? Viel zu sehr sorgte er sich zur aktuellen Stunde um mein körperliches Befinden, das auch nicht sonderlich viel hergab. Für mehr als diesen knappen Strohhalm des Sieges hatte es nicht gereicht. Und noch längst war die Gefahr nicht gebannt. War auch Skys Terrorregiment nicht mehr, befand sich Eagles Rachedurst durch diese Schlappe in schier unendlicher Ferne davon, jemals wieder gestillt zu werden.

  • Part 4: Tod und Wiedergeburt


    Es stand völlig außer Frage, dass für mich jemand in die Breche springen musste. Fiffyen blieb außen vor - da hätte man sie auch gleich zur Schlachtbank führen können, was weitaus weniger unproblematisch gewesen wäre, als sie Eagle und seiner Meute zum Fraß vorzuwerfen. Die Hoffnung ruhte auf Feurigel. Nach einer einfachen Faustregel konnte man Feurigels Motivation für ein derartiges Unterfangen herauslesen. Je größer und insbesondere schmackhafter die Belohnung war, desto höher war der Eifer, mit dem er sich der Sache annahm. Folglich musste Stan bei derartigen Wagnissen ordentlich auftischen, um die Gunst seines verfressenen Gefährten zu erwerben. Aber es lohnte sich. Ich hätte mir keinen mir würdigeren Vertreter vorstellen können. Gleich zu Beginn übertraf Feurigel jedwede Erwartung um Längen. Eagles Versuch, Skys stark beschränkte Bewegungsfreiheit durch Sora, einer wendigen, grazil gebauten, schwarzweisen bis grauengefiederten Vogeldame mit einem Blick, der ihren messerscharfen Krallen problemlos Konkurrenz machen konnte, zu kompensieren, war insoweit gescheitert, dass niemand - dem Augenschein nach am allerwenigsten Feurigel selbst - damit gerechnet hatte, Sora bei einem ihrer scharfen Wendemanöver aus der Luft zu fegen und aus knapp zehn Meter Höhe auf den knallharten Boden niederschmetternder Fakten zu befördern. Auch wenn Eagle noch so sehr auf einen Glückstreffer plädiert hatte, hatte sich nichts an der Tatsache geändert, dass Sora nach dieser halsbrecherischen Bruchlandung nicht mehr in der Lage gewesen war, den Kampf fortzusetzen geschweige denn Feurigel ernsthaft die Stirn bieten zu können. Auf Scorpio ruhten nun die Hoffnungen seines inzwischen fuchsteufelswilden Trainers, die drohende Niederlage noch einmal abzuwenden und mit seinen gefährlichen Scherenhänden und dem tückischen Giftschwanz für frischen Wind zu sorgen. Derweil war ich von Stan provisorisch zusammengeflickt worden. Erwähnenswerte Fortschritte waren seinen Heilkünsten zu verzeichnen. Die vor kurzem noch mürben Sinne standen mir wieder in vollem Umfang zur Verfügung, kein Detail des zur Stunde ausgetragenen Kampfes blieb mehr verborgen. Dafür aber besaß ich noch immer nicht die leiseste Ahnung, wo der Ursprung meines unerwarteten Kräfteschwundes lag. Während Feurigel vor unseren Augen mit athletischen Sprüngen wiederholt den zermalmenden Scherenhieben seines schwerfälligen Gegners parierte, redete ich mir selbst wiederholt ein, dass ich lediglich unter den Nachwirkungen meiner Rück-Transformierung litt. Wirklich überzeugt war ich insgeheim allerdings nicht. Waren zwar meine körperlichen Gebrechen größtenteils kuriert, fühlte sich mein Geist wie zu einer Niederlage nach einer jahrelangen Schlacht an.


    Aus Stans Richtung drang ein atemringendes Aufkeuchen an meine Ohren. Mühsam verscheuchte ich die Gedanken aus meinem Kopf und gab mich stattdessen ganz dem bislang abwechslungsreichen Kampf hin. Scorpio befand sich zum ersten Mal in dieser Auseinandersetzung in der Luft. Doch ritt er nicht lautlos auf den Winden, wie es sonst so seine Art war, sondern hatte sich zu ganzer Größe auf seinem langen Giftschweif zu einer imposanten Größe aufgerichtet. Mehr als zwei Meter ragte er über der Erdoberfläche und konnte problemlos das ganze Gelände überblicken. Beide, sowohl Scorpio als auch Feurigel, konnte man deutlichen nach Atem ringen hören. Wessen Kräfte aber näher daran waren, aufgezehrt zu sein, ließ sich mit dem Auge allein nicht feststellen. Feurigel übte sich mittlerweile auf großzügiger Distanz zu seinem zu stattlicher Größe aufgerichteten Gegner, ganz speziell zu dessen unberechenbaren Extremitäten. Sein Blick unablässig auf die monströse Gestalt ihm gegenüber gerichtet, trottete er fast schon auf der Stelle wachsam auf und ab. Der Frieden - er war nur von kurzer Dauer. Von seiner gehobenen Stellung aus schleuderte sich Scorpio selbst in die Luft. Noch im Auftrieb seines Sprungs riss er seine beiden Arme weit von sich und entblößte seine Brust. Die dünnen Hautfittiche fanden schnell ein verirrtes Lüftchen, auf das er aufsteigen konnte, um zum erhofften Sieg für seinen Trainer zu reiten. Doch auf Feurigel sattelte auf Stans Geheiß hin zur Gegenwehr und ging augenblicklich wieder in Offensivstellung über. Aus Eagles Richtung löste sich der anstachelnde, wutgespeiste Schrei, Scorpio solle die Niederlage seiner beiden Vorgänger gebührend rächen. Dieser Aufforderung scheiterte bereits zu Beginn der Ausführung an einem züngelnden Gegenargument aus Feurigels Richtung. Scorpio schoss in die Höhe. Wild um die eigene Achse rotierend stattete er schon fast den Wipfeln der kleinsten Bäume einen Besuch ab, als der bleckende, ihm nachjagende Feuerschwall an der Entfernung zum Ziel scheiterte. Auf dem Gipfel seiner halbsbrecherischen Vorführung rollte sich Scorpio noch einmal schräg zur Seite ab und ging in steilen Sinkflug über. Er war schneller als ein fallender Stein. Fast wirkte er, als ritt er einen Blitz. Nur der Luftwiderstand bremste ihn unmerkbar ab. Furcht sah man ihm nicht an. Feurigel begann dort, wo er aufgehört hatte. Ein züngelnder Feuerstrahl jagte Scorpio entgegen - und traf sein Ziel. Die Feuerbrunst schloss das herabstürzende Pokémon freudig und warm in seine Arme. Scorpio stand lichterloh in Flammen. So musste es aussehen, wenn ein Meteorit aus dem All auf die Erde hinabstürzte, so wie die Forscher und Wissenschaftler der Menschen damals im Raumfahrtzentrum von Moosbach City davon gesprochen hatten. Stan schrie voller Angst auf. Auch ich hatte es mittlerweile erkannt: Ungebremst, doch nicht unkontrolliert stürzte Scorpio dem Erdboden und seinem Feind entgegen. Die Luftströme, die er in seinem freien Fall vor sich her trieb, hatten um ihn herum eine Art schützenden Schild gebildet, das ihn wie eine Blase umgab. Die Flammen leckten gierig an der Luftkugel, vermochten sie aber nicht zu durchdringen, und stoben in alle Richtungen auseinander. Scorpio besaß die Kontrolle, die er allem Anschein nie verloren hatte. Die Luft zischte und knisterte und roch verbrannt wie Asche. Feurigel setzte nach. Sein bisheriges Feuer war willens, den Luftschild zu brechen, hatte aber nur müde daran kratzen können. Die Breite des Flammenstrahls reiften nun zu gewaltiger Größe heran, so auch die stetig wachsende Feuerbrunst, die die Anstrengung aus seinem Rücken trieb, während das Beben seines Beschwörers ebenfalls immer weiter zunahm. Die Flammen verleibten sich immer mehr der dem Erdboden zusteuernden Gestalt ein, bis sie ein jede freie Fläche der Luftblase mit glutroter Farbe bedeckten. Scorpio wurde in seinem freien Fall immer weiter gebremst. Sein Widerstand aber war ungebrochen. Stur und unbeeindruckt setzte er seinen unermüdlichen Angriff weiter fort. Nur noch wenige Meter trennten ihn von dem aufmüpfigen Feuerspeier.
    „Weg!“, stieß Stan hervor.


    Nur Sekundenbruchteile waren es, die Stans grellen Aufschrei von dem unausweichlichen Aufprall beider Urgewalten getrennt hatten. Zu spät für Scorpio, im letzten Moment vielleicht doch noch das Ruder herumzureißen und in die Höhen aufzusteigen, und auch zu spät für Feurigel, dem Kometen noch einmal geschwind auszuweichen. Der Boden erzitterte. Die Rufe beider Menschen, der meinige wie auch der der beiden Kampfteilnehmer gingen in einer ohrenbetäubenden Explosion unter. Der durch die gewaltige Wucht aufgewirbelte Dreck verschluckte das Kampffeld augenblicklich. Jeder suchte auf seine ganz eigene Art Schutz vor den ziellos umherirrenden Gesteinsfragmenten, Tannenzapfen und undefinierbaren Schrapnellen, die der gewaltige Sturm durch die Luft tanzen ließ. Für keinen von uns änderte sich jedoch etwas daran, dass wir kurze Zeit später von Kopf bis Fuß mit einer feinen Schmutzschicht bedeckt waren.


    Lange hatte ich den Atem aus Vorsicht vor dem widerlich im Halse kratzenden Staub angehalten. Als eines meiner fest zugekniffenen Augen die ersten behutsamen Schritte wagte, einen Spalt weit in den braunen Nebelschleier einzudringen, pumpte sich instinktiv wieder Luft in meine Lungen. Der aufgebaute Druck in Kopf und Schläfe nahm endlich wieder ab. Auch Stan regte sich wieder. Seine Hände fuhren über das Gesicht und schabten den dünnen Staubfilm von Wangen und Augenlidern. Hinter der undurchdringlichen Mauer ging Eagles Husten und Keuchen hervor. Wiederholt setzte er zu einem erbosten Fluch an, was aber stets in dem Röcheln seiner Stimme endete. Lebensanzeichen aber von dem, was sich im Inneren vor dem bloßen Auge verborgen hielt, gab es keine.
    Stans Gesicht zog Furchen. Neugierig reckte er sich vor, denn wagte er es nicht, die Schwelle hinüber zum Kampffeld zu überqueren.


    Die ersten dunklen Schemen nahmen in der trüben Nebelsuppe Gestalt an; die vagen Umrisse einer Gestalt. Deren Größe, die zwei mächtigen Scherenhände und der lange Schweif ließen keinen Zweifel offen, dass es sich hierbei niemals um Feurigel handeln konnte. Die Sekunden verstrichen. Scorpios ramponierter, völlig verdreckter Körper kam immer mehr zum Vorschein. Sein Chitin-Brustpanzer blähte sich bei jedem einzelnen Atemzug wie ein Blasebalg auf. Eine Schere hielt er defensiv in Brusthöhe, die andere, mit der er wohl den entscheidenden Schlag gegen seinen Feind ausgeführt hatte, war stark in Mitleidenschaft gezogen und hing an seinem Arm erschlafft herab. Eine zentimetertiefe und meterlange Furche klaffte nicht unweit seiner Position im Boden, die knisternde und knackende Glut darin so rotglänzend wie das Blut in einer frischen Wunde. Der aufgeschürfte Riss im vor wenigen Momenten noch feuchten Waldboden war gerade groß genug, dass sie von einem kleinen Geschöpf, das mit aller Gewalt ins Erdreich geschmettert worden war und wie ein lebender Ackerpflug in gerade Linie den Wald entzwei geschnitten hatte, verursacht worden war. Ein Knistern und Knacken ging von der rußgeschwärzten Spalte aus. Selbst wo der Boden nicht von dem bemitleidenswerten Wesen, das diese Bresche unfreiwillig geschlagen hatte, gepflügt worden war, hatte die intensive Hitze das Land nach seinem zerstörerischen Willen zu einem desolaten Ödland geformt. Fast parallel zu der Schneise der Verwüstung waren die vereinzelten Grashalme bis zur Wurzel niedergebrannt, ein weiter Strich Waldboden bis zur absoluten Unkenntlichkeit zu gräulicher Asche pervertiert. Und aus dieser Asche, diesem Schutt, diesen Trümmern stieg am Ende des qualmenden Abgrundes etwas langsam hervor. Mein Kopf drohte vor Aufregung zu explodieren. Es war ... Feurigel. Zumindest wollte ich das im ersten Moment glauben. Die Wahrheit aber war, dass die in blendend grellem Weiß gehüllte Kreatur mit Feurigel zwar unbestreitbare Ähnlichkeit besaß, sein Aussehen meinen guten alten Freund aber Lügen gestraft hätte. Wer oder was auch immer es war, musste sich in einem Zustand der körperlichen Metamorphose befinden, denn - sofern mir meine Augen keinen bösen Streich spielten - wuchs das Geschöpf mit rasanter Geschwindigkeit heran, bis es fast das doppelte Ausmaß seiner früheren Größe erreicht hatte.
    Die strahlende Aura, die die äußeren Konturen vor den Augen der Beobachter arglistig verfälschte, nahm langsam ab. Ein scharlachrotes Glühen ging von den beiden Augen der Kreatur aus, Flammen schlugen zwischen den beiden winzigen, dafür steil in die Höhe ragenden Ohren auf dem Kopf und dem länglich geformten Rücken.
    „Feurigel!“, beantwortete Stan mit einem grellen Aufschrei meine unausgesprochenen Gedanken.
    „Feurigel? Niemals!“
    „Er hat sich entwickelt!“
    „Entwickelt?“
    Mehr vor Wut als von dem Dreck auf seiner Haut angeekelt heulte Eagle auf der anderen Seite des Schlachtfeldes laut auf. Stans Finger dagegen vibrierten vor Erregung, mehr noch als sie es sonst taten. Er zückte seinen redseligen Almanach - den Pokédex. Er hielt ihn direkt auf das fremde, und doch mir merkwürdig vertraut vorkommende Pokémon.
    „Igelavar, das Vulkan-Pokémon“, hieß es aus dem Inneren des Pokédex. „Die Intensität der lodernden Flammen aus Kopf und Rücken geben Ausschluss über Igelavars Kampfwillen. Das seidenglatte Fell dieses Pokémons trotzt jeglichen Hitzeeinflüssen und gilt als nicht entflammbar, was es zu grauer Vorzeit zu einem begehrten Ziel für die Verarbeitung von Joppen und leichten Westen verurteilt hat. Der Gang auf allen Vieren macht Igelavar zu einem leichtfüßigen und wendigen Kämpfer, dem es weder an Kraft noch Geschwindigkeit mangelt.“
    „Er ist es!“, jubelte Stan, wenn auch etwas zögernd, nachdem er wiederholt seinen Blick von dem Bild im Pokédex hinüber zu dem voll ausgewachsenen Exemplar wandern ließ.
    Sein Jauchzen vermochte ich nicht zu teilen. Das sollte Feurigel sein? Eine gewisse Ähnlichkeit bestand sicherlich, doch waren die Veränderungen von dem einen auf den anderen Moment viel zu bizarr, als dass sich meine Augen auf die Schnelle einfach so ohne Weiteres an diesen Anblick gewöhnen mochten.
    „Entwicklung ...“
    Ich spürte Stans Blick im Nacken.
    „Du weißt darüber Bescheid, oder?“
    „M-hm“, machte ich leise, ohne seinen wissbegierigen Blick zu kreuzen. Für wen hielt er mich? War ich natürlich bestens informiert ... nämlich gar nicht. Gerüchte waren es, Märchen, die am späten Abend in meiner Lieblingsspelunke die Runde bei zu viel Pirsifsaft gemacht hatten und niemand bei klarem Verstand Glauben geschenkt hatte. Langsames Heranwachsen, okay, aber die Form verändern? Ein Hirngespinst, das Resultat einer zu spät abgebrochen Zechtour. Die Wahrheit aber, die unwiderlegliche Beweis, stand keine fünfzehn Meter vor mir aufgebaut. Stan musterte mich nach wie vor interessiert. Ich ahnte bereits, was ihm heiser auf der Seele brannte, als es Igelavars Feuer auf Kopf und Rücken war. Er öffnete vorsichtig den Mund, biss sich dann aber wiederum nachdenklich auf die Lippen und wandte sich von mir ab.
    „Ist das nicht geil?“
    „Ich könnte mich auch entwickeln, wenn ich es wollte ...“, grollte ich mit zusammengebissenen Zähnen. Stans Gehör erreichte ich mit dieser leicht durchschaubaren Notlüge glücklicherweise nicht.


    Igelavar hatte das aufgebäumte Erdinnere verlassen; der Ort, von dem man behaupten konnte, sein Geburtsort zu sein. So wie Menschenkinder in den Leibern ihrer Mütter heranwuchsen, so war auch er im Inneren zu dem herangereift, was er nun war. Genau diesen Eindruck erweckte er auch mit seinem ordentlichen Fell und dem strahlenden Glanz in seinen Augen, ganz im Gegensatz zu seinem angeschlagenen und arg ramponierten Gegner. Zischender Dampf stieg bei jedem Schritt seiner Vorder- und der kräftigen Hinterläufe über der pockenvernarbten Erde auf. Igelavar näherte sich seinem regungslos und ihm körperlich noch weit überragenden Gegner. Diese Auseinandersetzung hatte ihren Höhepunkt noch nicht erreicht.
    „Worauf wartest du?! Zermürb ihn!“
    Eagles Aufruf eröffnete die zweite Hälfte des Kampfes. Unfähig mit seinem verletzten Arm in die Luft zu steigen, stürmte Scorpio mit kurzen, dafür aber schnellen Schritten auf seinen Gegner zu. Die gesunde Schere hielt er dabei drohend erhoben, bereit, seinen Gegenüber mit einem mächtigen Schlag ungespitzt in den Boden zu rammen, aus dem er herkam.
    „Weich aus!“
    Igelavar tat, wie ihm geheißen wurde - und wie das das tat! Er sprang rückwärts in die Höhe und rollte sich noch mitten in der Luft ab. Leichtfüßig landete er einige Meter auf allen Vieren. Dort, wo er vor Sekunden noch gestanden hatte, hatte sich - ob gewollt oder nicht - eine Pfütze aus flüssigen glühenden Kohlen gebildet. Zu spät bemerkte Scorpio das tückische Gelände und stolperte blindlings über den Rand des Lavabeckens. Erfüllt von bitterer Reue für diesen übereilten Schritt sprang Scorpio, laut vor Schmerz heulend, zurück. Seine kurzen Füße schlugen augenblicklich schwere Brandblasen. Erregt hüpfte er mit tanzenden Bewegungen über die Oberfläche des kühlenden Waldbodens. Wie aus dem Nichts kam Igelavar angeschossen. Sein ganzer Leib stand lichterloh in Flammen. Er nutzte die Unachtsamkeit seines Gegners schamlos aus und rammte den eigenen Körper wie einen brennenden Pfeil gegen Scorpios entblößten Chitin-Brustpanzer. Hinter diesem Angriff steckte genug Wucht, um Scorpio buchstäblich von den Beinen zu reißen. Ächzend und stöhnend ging er rücklings zu Boden. Das Feuer, das Igelavar bei seinem halsbrecherischen Rammmanöver umgeben hatte, erlosch wieder. Scorpio krümmte sich vor Schmerzen. Das Trauerspiel war schnell beendet: Mit scharlachrotem Glühen in den Augen sprang Igelavar seinem Widersacher, den er wie einen maroden Baum gefällt hatte, auf die Brust, fuhr seine Krallen aus und versenkte sie in der stark gepanzerten Brust. Sein Gewicht presste die restliche Luft aus Scorpios Lungen. Kurz ächzte und stöhnte er noch auf und schlug wie wild mit seiner noch funktionstüchtigen Schere umher, bis Arme und Beine, Kopf und Schwanz erschlafften. Sein Kampfeswille war gebrochen.
    Der eigene Herzschlag pochte in meinen Ohren. Feurigel ... nein, Igelavar hatte es geschafft. Und auf welche Art noch dazu! Zum Fürchten ... Stan war ganz aus dem Häuschen. Er überwand seine Hemmschwelle, so auch die unsichtbare Grenze des Kampfplatzes und stürzte jubelnd seinem triumphalen Gefährten um den Hals. Das über den ganzen Kampf hinweg lodernde Feuer war mittlerweile wieder erloschen, sonst wäre Stan diese Berührung verwehrt geblieben. Zurück blieb ich. Fassungslos. Pflichtschuldig nickte ich Igelavar anerkennend zu. Wirklich wohl war mir bei dieser Geste aber nicht.
    „Glück!“ Eagle spuckte das Wort beinahe mit derselben Geringschätzung aus, wie er angewidert auf den Boden spuckte. Die hässliche, missgebildete Fratze auf seinem Gesicht zeugte davon, welche Gefühle unter seiner Haut wie ein am Rande des Ausbruchs stehender Vulkan brodelten. Es war wie zuvor, als Sora bereits das Kräftemessen verloren hatte und Eagle fast schon uneinholbar zurückgelegen hatte: Nichts vermochte etwas daran zu ändern. Er hatte verloren. Sky, Sora und Scorpio - seine drei stärksten Kämpfer waren geschlagen. Ihre regungslosen Körper hätten ein jämmerliches Zeugnis darüber abgeliefert, was geschehen war, hätte er sie nicht bereits einen nach dem anderen in ihre Pokébälle geschickt.
    Eagles Zähneknirschen war sogar auf der anderen Seite des Kampffeldes zu hören. Das Glühen seiner smaragdgrünen Augen hätte in diesem Moment auch die tiefste Finsternis durchbrochen. Er regte sich, doch bewegte er sich nicht vom Fleck. Er tat etwas, womit ich nicht rechnete: Ein weiterer Pokéball wurde von ihm zwischen Zeige- und Mittelfinger balanciert.
    „Wir sind noch nicht fertig ...!“

  • Tut mir Leid das mein Kommentar so spät kommt … Wollte dir eigentlich schon früher dein verdientes Kommi schreiben, aber ist irgendwie nichts daraus geworden. Aber das hole ich jetzt alles nach.


    Ich fang dann einfach am besten da an, wo ich aufgehört habe, nämlich bei Part 2 von dem jetzigen Kapitel:


    Also war dieser „Unbekannte“ doch Eagle, also lag ich mit meiner (zweiten)Vermutung gar nicht so falsch. War ja eine Frage der Zeit, dass du dem nach Rache dürstenden Trainer wieder seinen Auftritt gönnst, überheblich wie je und je. Ich muss aber dem guten Rivalen in einem Punkt recht geben: Es muss wirklich ziemlich witzig sein, Stan und Sheinux bei Streiten zuzuschauen, wenn man die eine Seite nicht verstehen kann. XD


    Und wie lange ist es schon her, dass wir bei Pflicht und Ehre einen Pokémonkampf aus der Perspektive eines Pokémon hatten? Phu, war das nicht der erste Kampf gegen Eagle gewesen? Also kein Wunder das sich Sheinux so schwach fühlt, liegen ja im RL fast zwei Jahre dazwischen xD
    Okay, Scherz beiseite …
    Dabei kannst du Pokémonkämpfe wirklich fantastisch und spannend schildern, besonders wenn du Sheinux in den Ring lässt. Das erschöpfende Ausweichen, bis zu dem kurzen Moment der Stille, bis einschließlich der unfreiwillige Trip durch das Gebüsch (Letzteres schien ja ein bisschen schmerzhafter zu sein … autsch)
    Kurz vor dem Moment, bevor Sky unter Sheinux hervor gebrochen war, ist die Spannungskurve steil nach oben geschnellt, auch wenn ich schon so die Vermutung hatte, dass dieser Metallvogel jederzeit hinten auftauchen wird, nur wie war die Frage.
    Auch konfrontierst du den Helden deiner Geschichte mit einem neuen Problem: Wohin ist sein „elektrisches“ Kampftalent hin verschwunden? Hat ihn etwa die Zeit als Mensch so sehr zu schaffen gemacht? Ich schätze mal, dieses Problem, wird Sheinux noch etwa durch das Buch 3 begleiten.
    Über den nächsten Auftritt hab ich auch etwas gefeiert, denn Feurigel hatten wir ja auch ein Weilchen nicht mehr in Aktion erlebt. Das verfressene Kerlchen war ja seit seinem ersten Auftritt einer meiner Lieblingscharakter in Pflicht und Ehre und das wird sich wohl auch nicht mit seiner Entwicklung ändern … solange er uns noch als das Freu … Igelavar, das ich kenne und liebe vorhanden bleibt, jetzt nur noch mit zusätzlicher Feuerpower! Wo wir schon bei der Entwicklung sind, ein Thema das wir eigentlich bis jetzt hier noch nicht hatten, schon seltsam eigentlich. Der Aspekt, dass Sheinux Entwicklung eigentlich als einen Mythos sieht, gefällt mir wirklich sehr gut. So etwas hab ich mich ja auch ehrlich gesagt nie gefragt: Wäre Entwicklung tatsächlich selbstverständlich für ein Pokémon? Jedenfalls finde ich es eine gute Idee, auf das näher einzugehen. Außerdem … rieche ich da nicht etwas Eiversucht? xD


    Am Ende des Kapitels hab ich eigentlich fix damit gerechnet, dass der Kampf zu Ende ist und Eagle entweder dampfend davon saust oder … es zu den angedeuteten Ereignissen kommt. Deswegen war ich doch überrascht, als du uns doch noch mit einem weiteren Pokéball auf die Folter spannst. Wenn ich mich recht erinnere, haben wir ja bereits alle Pokémon von Stans Rivalen bereits gesehen, also mit was wirst du uns überraschen? Etwa ein Wasserpokémon? Das bleibt wohl abzuwarten, ich bin jedenfalls schon sehr gespannt auf den Ausgang dieses Kampfes.


    Eine Kleinigkeit am Rande:

    Zitat

    Auch wenn Eagle noch so sehr auf einen Glückstreffer plädiert hatte, hatte sich nichts an der Tatsache geändert, dass Sonja nach dieser halsbrecherischen Bruchlandung nicht mehr …


    Eigentlich Sora, oder? Ist mir nur so nebenbei aufgefallen …



    So, dass war es auch wieder von mir, noch einmal Verzeihung für mein verspätetes Kommi. Ich bin schon wirklich neugierig, wie du diesen Kampf zu Ende bringen wirst … Aber das wird sich noch zeigen, vielleicht sogar noch vor dem 28.8 : P


    Auf baldiges wiederlesen,
    Toby

  • Part 5: Gegensätze ziehen sich an


    Der übliche Glanz und Anmut hatte die Bewegung des Pokéballs verlassen, mit der Eagle sonst bei Kampfbeginn für Aufsehen sorgte. Hier ging es nicht mehr um eine eindrucksvolle Show, sondern um die Art von Rache, die man bekanntlich kalt servierte. Und eben mit dieser Kälte fieberte er dem Moment entgegen, als sein Pokéball bereit war, seine dunkelsten Geheimnisse mit der Welt zu teilen.
    Unzählige Gedanken schossen mir in der nur kurzen Flugzeit der Kugel durch den Kopf. Die gewichtigsten von allen: Welches Geheimnis, ja, welch eine Gefahr schlummerte darin, die die unausweichliche Niederlage noch abwenden könnte? Über welch gewaltige Ausmaße musste die verborgene Kreatur verfügen, wie scharf mussten deren Krallen sein, wie gewetzt der Schnabel, als dass sie ihre Vorgänger in den Schatten zu stellen vermochten? Warum hatte Eagle niemals zuvor dieses Pokémon in den Kampf gerufen? Handelte es sich tatsächlich um seine Trumpfkarte? Stand die Stärke dieses Geschöpfs in keiner Konkurrenz zu Sky und seinen gefallenen Gefährten? Wir sollten es herausfinden ...


    In beträchtlichem Abstand zu Igelavar kam der Pokéball in einem Meter Höhe zum Stillstand. Die Sprachlosigkeit trieb mir die verbliebene Luft aus den Lungen. Was dort auf dem verwüsteten Schlachtfeld langsam Gestalt annahm, ließ sogar Scorpios breiten Körperbau weit hinter sich. Das Zittern des Bodens, bei dem sich mir die Nackenhaare erschrocken kräuselten und die Knochen vibrierten, ging den vier kurzen Beinen nach, als sie aus einem halben Meter Höhe mit gewaltiger Wucht auf den Boden aufsetzten. Der fast einen Meter lange, wie eine Schlange biegsame Hals mündete in einen monströsen Oberkörper, unter dessen gewaltiger Last die Beine ächzten. Die Haut glich einer Rinde und war wie aus copperfarbenem Holz geschnitzt. Sie übertünchten die Beine und zog sich bis zum schlanken Nacken hinauf. Moos und Schilf bedeckten den Brustkorb und kleine Teile des Rückens. Wo die stärksten Wirbelsäulenknochen sitzen mussten, wucherten vier gewaltige Tropenblätter von sättigender grüner Farbe empor; groß genug, dass man ein junges Menschenkind mehrmals bequem darin einwickeln und sanft zur Ruhe hätte betten können. Eine friedfertige Aura ging von dem Koloss aus. Man mochte sich am liebsten ganz dem aromatischen Duft hingeben, der dem Körper und insbesondere den fruchtähnlichen Wülsten am Hals des Wesens ausging, und an einem sonnenreichen Tag einfach in dem gigantischen Schatten, den dieses Pokémon warf, einschlafen.
    Der geschmeidige Hals schlängelte sich auf seiner kurzen Wanderschaft zu Eagle herüber. Mit einem selten zu beobachtenden bedächtigen Kopfbewegung nickte der Mensch dem Pokémon zu. Es waren sanfte Augen, die sich im Anschluss Igelavar zuwandten; kein Vergleich zu Skys boshaften, Soras verschlagenen und Scorpios zaghaften Blick. Mit einer solchen Wendung der Dinge hatte keiner auch nur um entferntesten Sinne gerechnet. Eagle, der flugverrückte Piepmatzfanatiker mit der Letztwortgarantie ... Bis zu diesem Punkt waren Stan und ich im unerschütterlichen Glauben gewesen, über das ganze Ausmaß von Eagles Waffenarsenal bestens informiert zu sein. Und selbst wenn: Die Überraschung, ein nicht lufthoheitliches Pokémon in seinen Reihen vorzufinden, suchte sich Seinesgleichen. Das wollte einfach nicht in das Bild des stolzen Einzelgängers passen, der eine ganze Region durchquert hatte, nur um sich Deoxys zu stellen, einem Reisenden, der seiner Auffassung der Dinge es nicht verdient hätte, das Himmelsreich zu stürmen und die Wolken gemeinsam mit den erhabenen Wesen der Luft zu teilen. Eagle erweckte nicht gerade den Eindruck, als wollte er gerade jetzt bereitwillig Rede und Antwort über seine Beweggründe stehen. Mochte sich zwar sein grimmiges Harren nicht auf seine Pokémon-Gefährin und somit die wahrscheinlich letzte Chance auf einen Sieg übertragen lassen, schien die sanfte Riesin dennoch bereit, jedwede Gefahr niederzuwalzen und unter ihren schweren Beinen zu begraben.


    Unter anhaltendem Zögern standen sich beide Parteien stillschweigend gegenüber. Von Stan ein altbekanntes Bild, fremd aber von Eagle. Letzterer war es auch, der das leise Glimmen der Glut mit seinem kampfesdurstigen Angriffsbefehl durchbrach.
    „Mach ihn nieder!“
    Gleichwohl der überreizte Glockenschlag, der die nächste Runde der Auseinandersetzung endgültig einleitete, nicht Igelavar gegolten hatte, war es dennoch er, der sich zunächst in Bewegung setzte, bevor das klobige Ungeheuer vor ihm auch nur einen Muskel bewegen konnte. Eine kerzengerade Flammenspur folge Igelavars rasanten und weiten Sprüngen. Dem Ersticken nah heulten die vom Gegenwind drangsalierte flackernde Feuersbrunst auf Schopf und Rücken auf, als klagten sie vor lauter Furcht um ihr Leben.
    Der größte Teil der die Beiden voneinander trennenden Distanz war rasch überwunden, und noch immer hatte sich unsere schweigsame Kontrahentin nicht gerührt. Igelavar tauchte unter ihrem besonnenen und sorgenfreien Blick hindurch. Seine kräftigen Beine sammelten kurz Kraft, bevor sich der restliche Körper in die Luft erhob. In seinen früheren Tagen hätte Igelavar die Entfernung niemals überbrücken können. Nun aber hielt der kurze Spurt so viel Schwung bereit, dass sein weiter Sprung bereits einem flügellosen Ritt durch die Luft ähnelte.
    So unerwartet die Reaktion der Gegenpartei war, so heftig war sie auch. Wie gegen eine massive Backsteinmauer pralle Igelavar gegen eine unsichtbare Wand in der Luft. Gleichzeitig fegte ein urplötzlich entfachter Windstoß von unglaublicher Natur über uns hinweg, schleuderte uns loses Gestein und Blattwerk entgegen, riss Stans Kappe vom Kopf, während ich mich mit Müh und Not auf den Beinen halten konnte. Igelavar bekam das volle Ausmaß zu spüren: Die wütende Böe erfasste ihn, warf ihn einige Meter in die Höhe und schmetterte ihn nach kurzem aber turbulenten Ritt erbarmungslos zu Boden, wo er sich noch einige Male überschlug, bevor er mit Schrammen übersäht bäuchlings zum Stillstand kam.


    Ruhe kehrte ein. Uns, Stan und mir, stockte der Atem. Igelavar war am Boden, das perfekte Pokerface unserer gerissenen Gegnerin gefallen, die Karten neu gemischt. Die unscheinbaren Tropenblätter an deren Leib straften Lügen: Nicht zur Zierde dienten sie - sie waren wie überproportionale Fächer, die die Macht des Windes heraufbeschworen vermochten.
    Zähnebleckend kämpfte sich Igelavar auf. Er war angeschlagen und arg ramponiert, das Kampffeuer in seinen Augen jedoch weit davon entfernt, erloschen zu sein. Doch hatte das zu Anfang noch unverwüstliche Raubtier seine Überlegenheit eingebüßt, das Gefühl der Unverwundbarkeit war nicht mehr. Dagegen war es die Wiedergeburt von Eagles üblicher selbstsicheren Grimasse. Über all dem aber - über Igelevars Elend, über Stans und mein Bangen und auch über Eagles selbstgefälliger Grimasse - ragte unsere Gegnerin. Stumm und ausdruckslos war sie. Gefallen schien sie an dem heillosen Durcheinander, das sie mit einem kurzen Wedeln ihrer Blätter verursacht hatte, nicht zu finden, anders als es wohl bei Sora oder Sky der Fall gewesen wäre. Das aber kratzte noch nicht einmal an der Oberfläche der Tatsache, dass sie zwischen Stan und seinem fast schon heimgeholten Sieg stand.
    „Das war erst der Anfang.“ Eagle hatte seine rechte Hand in die passende Hüfte gestemmt, die linke war aufgefahren und deutete zielgenau auf der andere Seite des Kampffeldes. Trotz beträchtlicher Distanz erweckte es den Anschein, als bohrte sich der Zeigefinger direkt in Stans Brust, denn hörte ich den Menschen gequält Aufstöhnen.
    Igelavar war mittlerweile wieder auf den Beinen. Kurz schwankte er, wandte sich dann aber wieder standfest seiner Gegnerin zu.
    „Du weißt nicht, auf was du dich einlässt“, kam es wieder von Eagle.
    „Unterlegen ...“, flüsterte Stan so leise, dass nur ich es kaum zu hören vermochte. „Du bist hoffnungslos unterlegen“, kam es dann ein gutes Stück lauter aus seinem Mund hervor. „Feuer gegen Pflanze - wir sind klar im Vorteil.“
    Eagles Schmunzeln wuchs weiter an. „Oh, ist das so?“, flötete er theatralisch. „Mittlerweile müsste es sogar ein Schmalhirn wie du wissen, wo man mit uns dran ist.“
    Ein unangenehmes Kribbeln durchzog mich. Das konnte nicht sein ... Meine Gedanken aber blieben unausgesprochen. „Absurd“, kam es mir dagegen leise über die Lefzen.
    „Je größer die Schar, desto größer die Beute. Wir fliegen stets gemeinsam, nie allein, alle zusammen. Keine Ausnahme.“
    „Ich versteh kein Wort ...“ Ratlos, wie er war, schaute Stan zu mir herab. „Du?“
    Leicht zögernd schüttelte ich den Kopf, weniger ratlos, mehr mit einer bösen Vorahnung behaftet. Das konnte nicht sein. Das musste ein schlechter Scherz sein ... Er versuchte Zeit zu schinden, warum auch immer. Zu imponieren. Uns Angst zu machen.
    „Der blufft!“
    „Igelavar, Angriff!“
    „In die Lüfte, Gaia!“
    Man merkte ein Stocken in Igelavars Bewegung. Zwar leistete er Stans Wunsch sofort Folge, doch sein Vorschnellen kam deutlich zaghafter als zuvor.


    Der Fluss der Zeit geriet ins Stocken, bis er schließlich ganz versiegte. Der säuselnde Wind in den Zweigen über uns verstummte, das Rascheln der neugierigen Schaulustigen im dichten Geäst rings um die Lichtung erstarb. Stan und mir stockte der Atem. Igelavar hatte von seinem zweiten Sturmangriff abgelassen und stand stocksteif und völlig fassungslos auf der Stelle. Nur unsere aller Köpfe wanderten mit hängenden Kiefern langsam nach oben. Kaum verwunderlich, geschah es schließlich nicht alle Tage, dass sich zwei Zentner Borke einfach so gen Himmel erhoben.
    Mächtige Windböen hatten den schweren Pflanzenkörper vom festen Boden abgestemmt, bis die vier Beine schließlich den Halt verloren und mitsamt dem restlichen Dazugehörigen abgehoben hatten. Eagle spielte seinen letzten, vielleicht allergrößten Trumpf aus: Gaia trotze der Schwerkraft. Die von dem unaufhörlichen Schlagen der breiten Pflanzenblätter aufgescheuchten Böen zerrten und rüttelten unaufhörlich an Igelavars Fell, während der klobige Körper ihrer Besitzerin immer höher stieg.
    „Das ist verrückt ... Total hirnsinnig ...“
    Treffender als Stan hätte ich meine intimsten Gedanken nicht zum Ausdruck bringen können. Mindestens zehn Meter waren es, bis Gaia endlich zum Stillstand gekommen war. Der steile Aufstieg war erst zum Ende gekommen, als der Schopf an dem langgezogenen die zartesten Sonnenstrahlen küsste, die sich ihren Weg durch die weiten Zweige der angrenzenden Bäume bahnten. Man misste den Anmut und die majestätische Grazie, Eigenschaften, die man gewöhnlich jedem Himmelsstürmer zuzuordnen vermochte. Und doch hatte es etwas Beeindruckendes, ein Gefühl, dass man alles erreichen vermochte, wenn man es sich erst in den Kopf gesetzt hatte. Eine lange, beschwerliche Reise mit stets nur einem Ziel vor Augen. Das alles für diesen Augenblick. Und Gaia hatte zweifelsohne noch längst nicht sämtliche ihrer Register gezogen. Im Grunde hatten wir noch nichts gesehen und nichts anderes zu spüren bekommen, als ein paar rüde Sturmböen und einen steifen Hals vom Hinaufschauen. Der Sieg aber, er war nun weiter entfernt als je zuvor.


    „Noch kannst du das Weite suchen.“
    Stans Aufschrecken zu urteilen, hatte er die letzte Minute im Geiste sehr weit von den aktuellen Geschehnissen verbracht, und nur zu ungern hatte er wohl Eagles Weckruf Folge geleistet und war wieder zu uns zurückgekehrt. Seine gewohnte Orientierungslosigkeit und geistige Absenz taten seinem stümperhaften Versuch, besonnen zu wirken, so als ob er ganz Herr der Lage wäre, nicht besonders gut.
    „Plusterst dich doch nur auf! Du hast verloren. Gib auf!“ Stans Stimme galt mehr Gaia als seinem Artgenossen, der er - mittlerweile wieder kreidebleich - wiederholt flüchtige Blicke zuwarf.
    Eagle lachte laut auf. Kurz hob er vielsagend den Kopf in Gaias Richtung, dann drehte er sich wieder uns zu; eine Geste, die weitaus mehr aussagte, als sämtliches von Stans überflüssigen Gebrabbels. Eben mein Freund zeigte sich jedoch selten stur.
    „Ich habe schon gewonnen. Zwing mich nicht dazu, es zu Ende zu bringen.“
    Die Gegenseite hielt an seinem kurzen Lachen fest. Es sollte das Ende des müßigen Geschwätz einläuten und somit ein für alle Mal beweisen, wer von den Beiden mit mehr Sinn für das Offensichtliche gesegnet war.
    „Hol sie vom Himmel, Igelavar! Flammenwurf!“
    „Armer Irrer! Solarstrahl!“


    Zwei Urgewalten prallten, ach, was sage ich da, sie krachten unter einem infernalen Getöse aufeinander. Auf der einen Seite Igelavar: Aus Kopf und Rücken brachen fast meterhoch die Flammen empor, kein Vergleich aber zu dem Vergeltungsschlag, der als Hölleninferno direkt aus seinem Rachen kam. Der Odem riss die Luft entzwei und brachte die beiden Hälften zum Kochen. Die Flammen schossen hoch hinaus, weiter als es Igelavar in seiner einstigen Form auch nur ansatzweise gelungen wäre. Dann war da Gaia: Wo sich noch Augenblicke zuvor Blätter stetig auf und ab bewegt hatten, um den Gesetzen der Schwerkraft zu trotzen, hielt nun eine unsichtbare Kraft den Koloss in der Luft. Steif und von gleißender Blässe war jedes einzelne der vier Pflanzenschwingen. Allesamt schienen sie die vom Sonnenlicht angereicherte Luft des Walddaches zu kanalisieren und sie zu einem einzigen überwältigenden Lichtstrahl zu bündeln.
    Die Wut beider Kontrahenten traf auf halbem Weg aufeinander. Igelavars Flammenausbruch stob bei erstem Kontakt sofort auseinander, knisternde Feuerpartikelchen prasselten wie glühend heiße Regentropfen auf den Erdboden herab und versengten den auch so schon zu genüge gepeinigten Boden. Gaias Strahlenattacke blieb vor der Hitze der Flammen unbeugsam und wich auch nur ansatzweise zurück; im Gegenteil: Sah es im ersten Moment einen Augenblick noch so aus, als wären beide Kontrahenten gleich stark, wich nicht nur Igelavars Feuersbrunst Millimeter um Millimeter zurück, sondern auch sein Beschwörer, und mit jedem Sekundenbruchteil pulsierte sein Körper immer heftiger. Igelavar war der unglaublichen Wucht, gegen die er sich so verbittert aufbäumte nicht gewachsen.
    Kalter Schweiß perlte mir in Strömen herab, als ich Stan eindringlich ansah. „Stan!“, brüllte ich mit meiner Piepsstimme gegen den Geräuschorkan und die wütenden Böen, die uns beide ins Gesicht schlugen, an. „Pfeif ihn zurück!“
    Stans Kopf blieb weiterhin auf den unheilvoll näher kommenden Lichtstrahl von Gaia verharren. Nur seine Finger rührten sich und gruben sich tiefer und tiefer in seine Handflächen hinein. „Stan!“
    Der Wind nahm zu und heulte immer lauter. Erschrocken musste ich feststellen, dass der ohnehin knappe Spielraum, den sich Igelavar bis zu diesem Zeitpunkt erbittert erkämpft hatte, noch weiter geschrumpft war. Die grelle Lichtsäule drängte sich immer weiter voran. Igelavars feuriger Sprühregen äscherte das letzte noch verbliebene Unkraut zu seinen Füßen ein, bevor die aufgewühlten Winde es in alle Himmelsrichtungen verstreuten. Ein ruckartiger Kraftschub aus Igelavars Richtung brachte noch nicht einmal die Ahnung einer Verschnaufpause. Der Strahl wich kaum zurück, schon erkämpfte er sich wieder einige kostbare Zentimeter. Ein weiteres Mal lehnte sich mein Pokémon-Kamerad verzweifelt auf und wurde augenblicklich erneut mit einem weiteren Stoß der treibenden Kraft bestraft.
    Kaum noch mehr als zwei mickrige Meter waren ihm seit diesen beiden Rückschlägen geblieben. Von meiner Seite löste sich endlich Stans rechter Arm, die in fiebriger Eile Igelavars einzige Fluchtmöglichkeit aus dieser aussichtslosen Situation war: sein Pokéball. Mittlerweile war sich mein menschlicher Gefährte wohl seines verhängnisvollen Fehlers bewusst geworden - leider zu spät.


    Der Knall, mit dem die Lichtsäule auf den Boden krachte, sich wie ein Keil mit schier unbegrenzter Macht senkrecht hineinbohrte und die folgende Druckwelle Igelavar wie ein Spielzeug durch die Luft schleuderte, ersetzte das anhaltende Getöse in den Ohren aller Beteiligten mit einem grellen, trommelfellzerreißenden Pfeifen. Torfiger Lehmboden und schon seit Urzeiten vergrabener Dreck ergoss sich über unseren Köpfen, während die braune Lehmbrühe die Lichtung und alle Anwesenden, ob nun direkt an dem Spektakel beteiligt oder aber als stummer Augenzeuge im Dickicht, einhüllte.
    Zum zweiten Mal in nur kurzer Folge hatten unsere Lungen mit kratzendem Staub zu kämpfen, als Folge dessen wir die nächste Minute in ein gemeinsames Hustorchester einstimmen mussten. Ein dumpfes Geräusch zu meiner Seite ließ darauf schließen, dass Stan mit den Knien voran und den Händen an der Kehle zu Boden gesunken war, wo er sich die Seele aus dem Leib röchelte.
    Als Stan - dicht von mir gefolgt - über das bis zur Unkenntlichkeit pervertierte Schlachtfeld stürmte, wollte ihn das schier bis zur Unendlichkeit reichende Loch nicht interessieren. Er ließ die Kluft hinter sich, sprang über die Brandschneide, die Igelavar kurz vor seiner Entwicklung hinterlassen hatte, bis er endlich seinen regungslosen Gefährten erreichte. Die zuvor noch lichterloh züngelnden Flammen auf Kopf und Rücken waren erloschen, die Augen geschlossen und der Atem ... flach und doch heiß zugleich - sicherlich ein gutes Zeichen. Allein schon, dass er atmete, grenzte an ein Wunder. Die Prellungen, tiefe Kratzer und sich rasch ausbreitenden blauen Flecken erzählten Bände darüber, wie sich Igelavar wohl fühlen musste, als Stan ihn in seine Arme schloss. Erst zu diesem Zeitpunkt realisierte ich - und so wohl auch Stan - zu welch stattlicher Größe unser einstig kleiner Freund herangewachsen war. Die Anstrengungen, Igelavar überhaupt sanft in die Arme zu schließen und anzuheben, trieb kleinere Äderchen an Stans Armen und Handgelenken hervor und löste einen erneuten Schweißausbruch auf seinem Gesicht aus. Schließlich aber war auch das geschafft und Igelavar lag sicher in den Armen seines Trainers gebettet. Seinen Kopf stützte Stan mit der linken Hand ab, die rechte hielt den langen Oberkörper an seine Brust gepresst.
    „Er scheint in Ordnung. Nur erschöpft“, atmete Stan erleichtert aus.
    Im gleichen Moment blinzelte Igelavar Stan entgegen. Es nahm einige Zeit, bis er wohl endlich realisierte, was geschehen war und wo er sich nun befand. Kaum merklich öffnete er den Mund, seine Stimme war weniger als ein Flüstern. „...nger.“
    Stan neigte den Kopf tiefer. Auch ich spitzte die Ohren „Was?“
    Igelavar stöhnte leise aus. Er kämpfte mit dem übermächtigen Drang, einfach in Stans warmen Griff einzuschlafen. Dann nuschelte er ein wenig lauter: „Hunger ... ich habe Hunger.“ Passend dazu protestierte sein Magen plötzlich laut auf, wie das Brüllen einer Bestie.
    Stan zwang sich zu einem glücklichen Lächeln. Er nickte ihm zu.
    „Überaus rührend ... Machen wir dann weiter?“
    Da war sie wieder: unsere unbeliebte Fahrkarte zurück in die Gegenwart. Mit Igelavars Niederlage waren unsere, insbesondere Stans, Sorgen natürlich nicht vorbei - im Gegenteil. Gerade jetzt sollten die Probleme erst richtig beginnen. Eagles Durst nach Vergeltung war längst noch nicht gestillt und Stans Möglichkeiten zur Gegenwehr dem Anschein nach ausgeschöpft.


    Nachdenklich und als Folge dessen auch schweigsam kehrte Stan - zusammen mit mir - zu seinem Stammplatz am Rande des Kampffeldes zurück. Zwischenzeitlich hatte Gaia ihren Ausflug beendet und war auf den Erdboden zurückgekehrt. Keine Anzeichen von Erschöpfung machte sich bei ihr bemerkbar. Selbst irgendwelche Strapazen, die der kurze Ritt in die Lüfte mit sich gebracht hatte, waren zu erkennen.
    „Und jetzt?“, stellte ich die alles entscheidende Frage, die sich keiner von uns gewagt hatte, laut dem anderen vorzutragen.
    Stan antwortete nicht gleich, wie man es von ihm kannte. Was waren seine Möglichkeiten? Igelavar - mittlerweile wieder in seinem Pokéball - war außen vor, so viel war klar. Fiffyen? Dazu hatte ich mich vor Beginn des Kampfes, so glaube ich, bereits geäußert, oder? War der Zeitpunkt zum Kapitulieren gekommen, oder sollte ich meine zweite Chance erhalten, selbst wenn der Kampf gegen Sky bleibende Spuren an mir hinterlassen hatten. Bereit war ich, diese Bürde zu schultern, wenn ich auch das mulmige Gefühl in der Magengegend nicht ignorieren konnte.
    „Es muss wohl sein ...“, beendete Stan schließlich und nach Eagles Forderung nach der Fortsetzung des Gemetzels sein Schweigen. Wirklich überraschend war es für mich allerdings nicht, dass er sich gegen die Entscheidung stellte, mich erneut in den Kampf zu bitten. Dafür weitaus überraschender der unerwartete Gast, den wir plötzlich nach wenig spektakulären Pokéballflug auf dem Schlachtfeld begrüßen durften. Es war ...
    „Shaymin!“
    „Das ist doch ... Shaymin?! Ich fasse es nicht!“
    Gewollt oder nicht - mein und Eagles aufgeregter Ruf stimmten im Einklang Shaymins Namen ein.

  • Part 6: Shaymin


    Ich weiß, ihr brennt auf die Fortsetzung, doch an diese Stelle eine kurze Pause; Zeit für einen kleinen Zwischenkommentar meinerseits. Shaymin hatte also das Trümmerfeld betreten und Gaia hatte wieder festen Boden unter den Füßen. Vielleicht versteht ihr für den Augenblick noch nicht ganz, worauf ich eigentlich hinaus will, also lasst mich erklären: Ihr wisst von Gaias stattlicher Statur, vielleicht auch noch, dass Shaymin eher zierlicher Natur war und noch mir in Sachen Körpergröße klar unterlag. Und jetzt standen sich eben diese Beiden gegenüber: Hühne und Zwerg. Ein junger Trieb, der einen betagten Schössling um seinen Fortschritt abgöttisch bewunderte und zugleich zutiefst beneidete. Haltet euch dies nun einmal kurz geistig vor Augen, dann versteht ihr sicherlich, wie abstrus uns das alles vorkam. Dies nur einmal beiläufig am Rande - nun weiter im Text.


    Stan hatte sich also für Shaymin und somit gegen die Entscheidung, mich noch einmal zu entsenden, entschieden; ein Entschluss, der mir vor dessen Fällung aus Flüchtigkeitsgründen gar nicht in den Sinn gekommen war. Zumindest aber erschien diese Wahl nach kurzer Überlegung wesentlich klüger als es Fiffyen das Fell über die Ohren ziehen zu lassen war. Einer der seltenen Fälle, in denen Stan seine grauen Zellen sinnvoll eingesetzt hatte. Was er, ich und wohl auch niemand anderes wissen konnte, war, welch unvorhersehbare Wendung er mit dieser kleinen Entscheidung unbewusst einleiten würde.


    Eagle war außer sich. Sicherlich kein geschichtsträchtiges Ereignis. Konnte und durfte man schließlich reinen Gewissens von seinem Normalzustand sprechen. Doch war er nicht voller Zorn, vielmehr wirkte er bestürzt, fast fassungslos, wie es überhaupt nicht seine Art war. Ich glaubte mich nicht zu erinnern, ihn jemals in einem derartigen Zustand der Extase gesehen zu haben. In Zeitlupe schien sich sein Gesicht jedoch immer weiter zu verfinstern, ganz wie man es wieder von ihm kannte - nur noch schlimmer. Mein kräuselnder Schwanz sah einen Sturm ungeahnten Ausmaßes auf uns zukommen ...
    Abseits davon war dann noch Shaymin. Ihren anfänglich leicht trüben Blick zu urteilen, hatte Stan sie unwissentlich aus dem Schlaf gerissen. Das aber änderte sich schlagartig, als sie ihr näheres Umfeld in Augenschein nahm. Skys Bresche im Dickicht, die massakrierten Bäume, Igelevars Flammenspur, die vernarbte Erde, die zu Asche transformierten oder noch leise glimmende Holzscheite, Stecklinge, Moose und Pilze, und schließlich die metertiefe, rauchende Mulde, die einem Unbeteiligten vorkommen musste, als hätte ein gottesgleiches Wesen zum Spaß mit seinem kleinen Finger ein Loch in den Boden gebohrt. Wahrlich ein Bild des Jammers, ob nun Naturliebhaber oder nicht.
    Sehr geschickt stellte sich Stan bei seinem stümperhaften Versuch nicht an, sich Shaymins Blick zu entziehen. Vielleicht könnt ihr euch sogar ausmalen, wie sich mein Kamerad vor Shaymin, die ihr liebreizendes Äußeres gegen das einer fanatischen Umweltaktivistin getauscht hatte, zur Schnecke machen lassen durfte. Seine Ohren liefen nach nur kurzer Standpauke knallrot an, als wäre jedes einzelne der in blinder Wut ausgestoßenen Schimpfworte das reinste Feuer. Irgendwann zwischen dem Ende und dem Beginn der zweiten Hälfte von Shaymins verbalem Amoklauf schaltete sich Eagle , für den das alles natürlich nur Pokémon-Latein war und er folglich kein einziges Wort, geschweige denn die ganze Aufregung, verstand, recht rabiat in das Geschehen ein, womit der sehr ungleiche Dialog zwischen Pokémon und Mensch beendet war. Fast unbemerkt war er durch das heillose Durcheinander geschlüpft und ehe man es sich versehen hatte, war er Stan buchstäblich an den Kragen gegangen.


    Das Chaos war nun endgültig komplett: Eagle hatte meinen guten Freund am Schlafittchen gepackt und presste ihn - in dessen Fassungslosigkeit wie gelähmt - gegen den nächstbesten Baum. Nicht unweit davon heulte Shaymin im Angesicht der zerbrochenen Schönheit der Natur Rotz und Wasser. Gaia hatte sich ihrer winzigen Pokémon-Schwester zwischenzeitlich bis auf zwei Meter genähert, ihren langen Hals herabgesenkt und redete ihr mit ihrer sanften, wohltuenden Stimme leise zu. In unregelmäßigen Abständen wuselten einige der hiesigen Wald-Pokémon kreuz und quer über die Lichtung, sammelten in aller Hektik die essbaren Wurzeln, Knollen, Bucheckern und alles Sonstige ein, was nicht von den Flammen verschlungen worden war, und zankten sich dabei nicht nur einmal über das Vorrecht der ein oder anderen angesengte Eichel. Und ich mittendrin, sprachlos wie kein anderes Mal und unfähig in irgendeiner Weise zu reagieren.
    Zwischenzeitlich wiederholte Eagle in seinem blindwütigen Rausch nur noch die Worte „Warum du?! Warum du?! Warum du?!“ und untermauerte jeden einzelnen seiner Wutausbrüche damit, dass er den armen Stan wieder und immer wieder mit dem Rücken voran gegen den Baum hämmerte.
    Gleichgültig, wie lange ich darüber nachdachte, auf kurz oder lang kamen mir nur die folgenden Optionen in den Sinn: Mich ungeniert in die verzwackten Angelegenheiten der beiden Menschen einmischen; Shaymin den Beistand leisten, den ihr nur ein echtes Mannsbild geben konnte; oder aber meine ganz eigenen Ansprüche auf die Beute erheben, die überall auf dem Schlachtfeld verstreut lag und von der potenziellen Konkurrenz erbittert umkämpft wurde. Auch wenn die Verlockung groß war, widerstand ich ihr und traf die mit Abstand einzig richtige Entscheidung.


    Erst Eagle, dann Stan - sie beide stürzten wie zwei nasse Säcke zu Boden. Der anfängliche Schock allerdings, den ich mit meinen liebevollen Besänftigungsmethoden erreichen wollte, war nur kurz. Nach nur kurzem Aussetzen ging die einseitige Rangelei auf dem Boden unverhindert weiter. Ein weiteres Mal, dass ich auf solch niederschmetternde Weise desillusioniert wurde. Was es auch war, wieso auch immer - seit meiner Rücktransformierung hatte ich einen Teil meiner einstigen Kraft eingebüßt. Die Enttäuschung machte mir innerlich schwer zu schaffen und verdammte mich zu vorzeitiger Lethargie für alles, das nicht mit mir zu tun hatte. Stan hingegen konnte sich eine derartige Pause nicht erlauben, beziehungsweise bekam sie erst gar nicht zugestanden. Ersatzhalber für die raue Baumrinde musste nun der kalte, verstaubte Waldboden für seinen Rücken notgedrungen herhalten. Der erste Funke einer Gegenwehr erglimmte erst an dem Zeitpunkt, als die Kräfte seines Überwältigers bereits soweit geschwunden waren, dass ihm langsam die Stimme zu versagen drohte. Mit dem letzten heiseren „Warum du?!“ hatte sich der schwitzige Griff um Stans Kragen soweit gelockert, dass er Eagle mit etwas Kraftaufwand von sich herunterwerfen konnte. Er fasste wohl keinen besonderen Gedanken daran, wie bemitleidenswert es aussehen würde, sondern robbte sich eiligst von Ort und Stelle weg, bis er großzügigen Abstand gewonnen hatte.
    Zurecht rieb sich Stan im Anschluss dann, als wer sich endlich wieder erhoben hatte, seinen geschundenen und völlig verdreckten Rücken. Auch der Rest seiner Kleider sah mittlerweile wüst aus, was aber in keiner Konkurrenz zu seinem gequälten Gesichtsausdruck stand. Auch Eagle hatte sich mittlerweile wieder erhoben. Böse funkelte er in Stans Richtung, machte jedoch keine Anstalten, sich noch einmal auf seinen Mitmenschen zu stürzen. Ihre beiden Blicke kreuzten sich. Da sie beide um Atem rangen, dauerte die verbale Kontaktaufnahme ein Weilchen.
    „Was ... willst du eigentlich? Was ist mit dir los?“
    „Was mit mir los ist?! Was mit mir los ist?!“ Passend zu seinem knallrot angeschwollenen Gesicht hatte sich Eagles Stimme zu seinem hysterischen Kreischen verformt. Als er sich die schwarze Kappe mit der Brille vom Kopf riss, um sich ganz entsprechend seines Gemüts die paar Haare raufen zu können, riss er sich dabei nicht wenige aus. Mit aller Gewalt stülpte er sich im Anschluss seinen Deckel - mehr schlecht als recht - wieder über. Sein bebender Zeigefinger lag kerzengrade ausgestreckt, verfehlte aber Stan um Längen. „Shaymin! Das ist mit mir los!“


    Es war wie eine Explosion, das lang erwartete Lavaspeien eines bebenden Vulkans. Shaymins Name wurde mit solch unfassbar haarsträubender Wut ausgestoßen, dass ein jeder vor Entsetzen verstummte. Es war der Maulkorb für die schnatternden, schaulustigen Pokémon auf den Bäumen, der Platzverweis für die verbliebenen Sammler auf dem Trümmerfeld, das vorzeitige Ende säuselnder Winde, raschelnder Blätter und flüsternder Bäume, aber auch mein persönlicher Weckruf. Allen voran allerdings für die Angesprochene selbst. Ihren Namen in derartigem Zorn ausgesprochen zu hören, ließ Shaymins Tränenfluss auf Kommando versiegen. Nicht minder interessiert als es jeder andere Beobachter der kürzlichen Vorfälle war, drehte sie ihren Kopf mechanisch um und schaute sie mit ihren glänzenden blauen Augen zurück.
    „Verstehst du das?“ Wirklich wohl wollte ich mich in dem gewaltigen Schatten den Gaia warf, nicht fühlen. Dummerweise war mir gar keine andere Alternative geblieben, um mit Shaymin ein Wort wechseln zu können. Wie zu erwarten war, schüttelte sie ihren Kopf.
    „Echt nicht?“
    „Echt nicht.“
    Abermals überkam mich jenes Gefühl, wie es mich bei Shaymin nur schon zu oft heimsuchte und mich schon von Anbeginn unserer gemeinsamen Reise verfolgte: Die nicht unbegründete Vermutung, belogen zu werden. Sie wusste mehr, als sie uns eingestehen mochte, davon war ich felsenfest überzeugt. Durch Eagles Gefühlsausbruch war diese vage Mutmaßung nur noch weiter bestärkt worden. Shaymin ... verheimlichte uns etwas, und ich verwettete sämtliche Mülltonnen Hoenns, dass wir kurz davor waren, endlich den dunklen Raum voller Halbwahrheiten und Geheimnisse mit dem Licht der Wahrheit zu fluten.
    „Shaymin?“ Verständnislos schaute Stan zu uns herüber. Er entgegnete mein Stirnrunzeln mit einem stummen Schulterzucken. „Was ist mir ihr?“, hieß es dann von ihm weiter.
    Eagle tat einen gewaltigen, stampfenden Schritt auf Stan zu. Selbst aus dieser Entfernung konnte ich den Boden unheilvoll vibrieren spüren. Stan wirkte dieser Geste entgegen, indem er fast dieselbe Entfernung panisch zurückwich. „Willst du mich verarschen?!“ Unlängst war Eagles rechte Hand zur Faust geballt. Dass er vor solch rudimentärer Gewalt nicht zurückschreckte, das hatte ich selbst bereits am ... naja, eigenen Leib zu spüren bekommen. Auch Stan blieb nicht lange für die drohende Gefahr blind.
    „N-nein, wirklich!“, beteuerte er hastig. „Erklär’ es mir ... bitte.“
    Ein wütender Windstoß blies aus Eagles geblähten Nüstern; die krampfhaft geballte Faust aber lockerte sich, zumindest etwas. „Das mit dem Pokémon-Flüsterer will ich dir zwar noch nicht ganz abkaufen. Aber Shaymin da ...“, er sah an Stan vorbei und fixierte uns. „Dein impertinentes Glück lässt sich nur schwer leugnen .“
    Stan schwieg.
    „Der Fund des Lebens - und nicht die leiseste Ahnung haben. Du bist der lebende Beweis dafür, dass mit der Welt etwas nicht stimmt. Ein Kretin wie du, planlos, chaotisch, ein totaler Spinner mit völlig überschaubarem Horizont, der ...“
    „Was ist mit Shaymin?“ Stan hatte die Beleidigungen endgültig satt, das merkte man an seiner Stimme, die das gewohnte Zittern verlassen und einen gar ungewöhnlichen Klang angenommen hatte. Beide Menschen funkelten sich böse an.
    „Shaymin ist der Stoff, aus dem Träume sind“, knurrte Eagle, wobei er es allerdings nicht vermochte, tatsächlich den Hauch eines verträumten Seufzens zu unterdrücken. „Vom ersten Atemzug an mit einer überirdischen Sehnsucht innewohnend, irgendwann die Bande ihres niederen Seins zu sprengen. Aufzusteigen, in eine höhere Sphäre. Zurückzulassen, was einst war. Das Streben nach niemals enden wollender Freiheit. Das Erfüllen des Traums, der die Seifenblase der kümmerlichen Existenz zum Platzen bringt. All das, allein durch den zarten Kuss der Gracidea ...
    „Häh?“
    Besser als Stan hätte auch ich meine Gedanken nicht in Worte fassen können. Wen wollte er in die Luft sprengen? Seifenblasen? Und mit wem sollte Shaymin eine Affäre haben? Das war selbst mir zu hoch. Der Kerl hörte sich einfach nur gerne selbst reden. Obwohl ich mich in Gaias Schatten noch deutlich wohler als in Eagles Nähe fühlte, hatte ich meinen angestammten Platz an Stans Seite eingenommen. So vermochte ich auch besser, Stans ratlosen Gesichtsausdruck in meine Richtung zu beantworten.
    „Was schaust du mich an? Ihr beide sprecht dieselbe Sprache. Erwarte von mir also keine Übersetzung für das schmalzige Gesülze.“
    „Du peilst auch rein gar nichts!“, blaffte Eagle Stan an.
    „Drück dich eben verständlicher aus, dass es vielleicht auch ein normaler Mensch ...“
    „Oder Pokémon ...“, ergänzte ich.
    „... oder Pokémon versteht“, beendete Stan seinen Satz.
    Mehr als deutlich konnte man das Rot unter seinen Augen sehen, als sich Eagles Linke frustriert über die eine Gesichtshälfte fuhr. Sein gereiztes Schnauben ging in dieser Geste nur halb unter. „Wie verklickere ich das jetzt, damit sogar einer wie du es begreift ...?“ Er stockte kurz. Dann holte er tief Luft und setzte neu an. „Sicher dürftest du spätestens jetzt über Entwicklungen Bescheid wissen.“
    Stan antwortete nicht, nickte aber sacht, was Eagle wiederum veranlasste, ohne weitere Zwischenbemerkung fortzufahren.
    „Shaymin aber bleibt diese Erfahrung verwehrt.“
    „Warum weißt du das? Mein Pokédex konnte noch nicht einmal ...“
    „Unterbrich mich nicht, wenn ich rede!“, fauchte Eagle. Seine schwächlich geballte Faust bebte bedrohlich. „Allein schon dafür, dass du deinen beschränkten Horizont mit meinem auf eine Stufe stellen willst, müsste ich dir eine reinwürgen! - Habe es gelesen, klar? Da kann dein technischer Schnickschnack aus der Steinzeit - von wem du auch immer du ihn geklaut hast - eben nicht mithalten! Jedenfalls“, fuhr er fort, „ist Shaymin etwas ganz Besonderes.“
    Etwas ganz Besonderes? Natürlich war Shaymin sehr besonders. Ich meine, sind wir nicht alle auf unsere ganz eigene Art besonders? Sicherlich war Shaymin schon sehr speziell, und ich rede jetzt nicht davon, dass sie uns seit der kurzen Zeit, die sie uns nun begleitet hatte, mit allem, was sie tat, zum wiederholten Staunen gebracht hatte. Ihre ganze Art, ihre liebreizende Persönlichkeit, ihr selbstsicheres Auftreten, ihr manchmal bissiger Humor, die rätselhafte Aura, die sie umgab, all das machte sie einmalig. Aber Eagle meinte wohl kaum diese Eigenschaften. Überhaupt mochte ich es nicht, wie er über Shaymin redete; fast so, als wäre sie gar nicht anwesend. Mit jedem Wort wurde er mir noch unsympathischer, als er es mir ohnehin bereits war. Gleichgültig, wie sehr ich Shaymin doch misstraute oder welche Geheimnisse sie auch immer vor uns hütete - sie war noch immer eine von uns, und nichts würde daran etwas ändern.
    „Shaymins Gestalt ist eine Bürde. Wie eine verwunschenes Gewand trägt sie es bei Tage und bei Nacht in der unnachgiebigen Hoffnung, ihm eines Tages einfach zu entwachsen, es abzustreifen und der Welt in neuer Form gegenüberzutreten, sie in einem ganz neuem Licht zu sehen. Das ganze Leben lang sehnt sie sich nach der Berührung der Gracidea. Ihr unsichtbarer Duft ist wie ein Wahn, der sie auf ihrer unermüdlichen Wanderschaft stets antreibt.“
    Er tat es schon wieder. Abermals war Eagle in seine Schwärmereien verfallen. Spürbar hatte sich der Klang seiner Stimme verändert; fast so, als bereitete er seiner Angebeteten in einer lauen Vollmondnacht einen peinlich-romantischen Antrag. Anders aber als Stan, dessen Stirnrunzeln Bände sprach, geriet ich plötzlich in tiefe und gar unangenehme Nachdenklichkeit. Irgendwie ... kam mir das merkwürdig vertraut vor. Doch warum und woher? Wo und wann hatte man meinen Verstand bereits schon einmal mit derartigen Hirngespinsten vergiftet? Ich konnte mich nicht erinnern, und doch ...
    „Die Sehnsucht nach Erlösung, dem Ende ihrer auferlegten Pein, danach strebt sie ihr Leben lang. Kein noch so endloses Tal, kein noch so trockenes Ödland, keine noch so tiefe Schlucht, kein noch so reißender Fluss kann sich mit ihrem Willen messen. Ist der Körper auch noch so gebrechlich, das Herz auch noch so klein: Für den Moment, die vom Morgentau benetzten Blätter der Gracidea zu erblicken - dafür allein lebt sie. In ihrer gewonnenen Erhabenheit aufzusteigen, als vollkommenes Wesen die Welt mit ganz anderen Augen zu erblicken. Wiedergeboren. Frei wie ein Vogel im Wind. Das ist ihr Schicksal, ihre Bestimmung, ihr ...“
    „Komm auf den Punkt!“
    „Bist du taub?! Hab ich dir nicht gesagt, du sollst mich nicht unterbrechen!?“


    Für Stans seltenen verbalen Widerstand fand ich kaum Gehör, auch nicht für die nachfolgenden Beschimpfungen, die er über sich ergehen lassen musste. Eagles Gesülze war wie ein Sog, der meine Gedanken unfreiwillig mitriss; an einen Punkt in meinem Leben, gar nicht allzu lange fern. Es widerstrebte mir sehr, denn gehörten diese Erinnerungen zu den schlimmsten, die ich bislang hatte erdulden müssen. Ich hatte die Zeit einfach nur vergessen wollen, wie ein wertloses Blatt aus dem Buch meines Lebens reißen wollen: Die einwöchige Zeit meines Menschseins. Es war jener schicksalhafte Tag, an dem mich die erlittenen Rückschläge beinahe an den Rand des Wahnsinns getrieben hatten, ich Stan beinahe verstoßen hatte. Es war einem unschuldigen, blauäugigen Kind zu verdanken gewesen, dass die Dinge ... vorerst anders verlaufen waren. Miriam und ihre Geschichte über den Prinzen der Wüste. Es war der dünne Ast gewesen, an den Stan und ich uns verzweifelt geklammert hatten. Kummer und Verzweiflung hatten uns blind für die Gefahren gemacht. Die Aussicht auf Erfolg war nichts weiter als ein lächerliches Wunschdenken gewesen. Und doch waren wir der Legende nachgegangen. Der Preis, den wir dafür beinahe bezahlten mussten, war unser beider Leben gewesen. Doch eben dieses Ammenmärchen wies seltsame Parallelen zu Eagles Geschichte auf. Durch seine Adern floss eine nie zuvor verspürte Kraft, neuer Mut durchströmte ihn, er war wiedergeboren. Er streifte all das Leid, all den Schmerz und auch seine Hülle ab, die ihm arglistig auferlegt worden war, und nahm neue Form an. Er dankte und lobpreiste die kleinen Blumen, die ihm neues Leben geschenkt und Hoffnung dort gepflanzt hatten, wo einst nur die bittere Saat der Verzweiflung keimte. Und noch heute dankt er der Blume, die seit jenem Tage und noch bis zu diesem Tage als die ,Rose der Wüste’ bekannt ist. So hatte es in der Erzählung geheißen. Beängstigende Ähnlichkeiten. Was wenn Eagle mit seinem Gesülze tatsächlich recht hatte? Dass wir die Geschichte einfach nur falsch interpretiert hatten? Shaymin, der Prinz oder die Prinzessin der Wüste? Es war absurd. Und doch ... je länger ich darüber nachdachte und so hirnrissig es sich auch anhörte, ergab es irgendwie auch einen Sinn. Doch konnte ich es laut auszusprechen wagen? Die reichlich rabiate Unterhaltung beider Menschen schien längst noch nicht ausgestanden zu sein. Dennoch, ich musste es tun.
    „Wie schafft man es eigentlich, so schwer von Begriff zu sein?! Hast du eigentlich keinen Zwillingsbruder?! Einer allein kann doch eigentlich gar nicht so dämlich sein!“
    „Ach ja? Was heißt ihr überhaupt ,Schwer von Begriff’? Ich, äh ... Warum machst du auch alles nur so sau kompliziert?“
    „Hör mal, Stan ...“
    „Sau dumm trifft es eher! Ein Wunder, dass du und dein flohverseuchter Bettvorleger nicht schon längst verhungert seid!“
    „Im Geiste sind wir das längst, aber bloß, weil wir es immer nur mit Typen wie dir zu tun haben!“
    „Ha, als ob ihr da Gefahr leidet! Wo nichts ist, kann auch nichts absterben!“
    „Stan ...“
    „Wenn wir dir so verdammt egal sind, warum tust du es dann nicht deinen Pokémon gleich und zwitscherst ab?!“
    „Selten so gelacht! Tut es eigentlich weh, so hirnverblödet zu sein?!
    „Sagt gerade der ...“
    „Stan! Verdammt!“ Nur knapp verfehlte ein flüchtiger Funke Stans Nasenspitze, was zu einem vorzeitigen Ende ihres verbalen Schlagabtauschs führte. Natürlich ließ Eagle den Moment nicht ungenutzt, mir eine ganze Reihe seiner schönsten Komplimente zukommen zu lassen, doch das war mir egal. Ich hatte Stans Aufmerksamkeit und das war alles, was zählte.
    „Was ist los?“
    „Die Rose der Wüste.“


    Wie zu erwarten war, reagierte Stan anfangs gar nicht. Verständnislos blickte er zu mir herab; energisch schaute ich zurück. Eine ganze Zeit lang schwiegen wir uns gegenseitig an, und abseits Eagles unaufhörlich an mich gerichteten Verwünschungen war es mucksmäuschenstill. Dann - die Erleuchtung. In Zeitlupe lockerte sich Stans verkrampftes Stirnrunzeln, bis es schließlich vollständig von einem einsichtigen, doch vorsichtigen Nicken abgelöst wurde.
    „Du hast recht! Stimmt!“
    Erneut kehrte Ruhe zwischen uns beiden ein. Als ob wir genau wussten, was in dem anderen vorging, wanderten unsere beiden Köpfe mechanisch in Shaymins Richtung.
    Im ersten Moment wollte ich meinen eigenen Augen nicht glauben: Shaymin schaute weg. Sie mied unsere Blicke, und das mit Absicht.
    Während ich noch mit dem kalten Schauer auf meinem Rücken zu kämpfen hatte, sich meine Gedanken auf wilder Achterbahnfahrt im Kreis drehten und ich nur äußerst zögernd die nächsten Schritte in Betracht sah, hatte Stan längst bereits eine Entscheidung getroffen. Er entfernte sich kurz und nahm seinen Rucksack auf, den er nicht unweit vorübergehend abgestellt hatte. Der Reißverschluss ging auf, die Suche begann. Auch er fand kein Gehör mehr für Eagles vergebliche Versuche nach Aufmerksamkeit. Es war Colins seltsames Abschiedsgeschenk an uns, das Stan schließlich sehr vorsichtig hervorzog - die in ein schlichtes Tuch eingewickelte Blume, für die wir unser beider Leben riskiert hatten. Die Rose der Wüste oder wie Eagle sie nannte ...
    „Die Gracidea ...!“ Ein schon fast entsetztes Flüstern kam ihm heißer aus der Kehle hervor. Die Beschimpfungen gegen mich und Stans Ignoranz waren ihm im Halse stecken geblieben. Seine Lippen formten stumm das Wort „Woher?“, sein Blick hing dabei unaufhörlich an der in Pflanze in Stans Händen. Ihr betörender, aromatischer Duft war ihr geblieben, auch ihre sättigenden Farben. Sie war in erstaunlich gutem Zustand.
    Es war wieder einer der Momente, in denen man nur darauf spekulieren konnte, wie Eagle auf diese unerwartete Wendung der Dinge reagieren würde. Stan erneut an die Kehle zu springen, ihm die gebrechliche Blume einfach aus der Hand reißen und sie in Einzelteile zu zerfetzen - einfach alles war bei ihm möglich.
    „Mach es! Benutz’ sie!“
    Diese Reaktion war nun wirklich das allerletzte, von dem ich geglaubt hatte, dass es tatsächlich eintreten könnte. Eine gierige Versessenheit funkelte in seinen Augen. Er schien regelrecht davon besessen zu sein, es zu sehen, und auch Stan und ich wollten uns davon überzeugen.


    Still war es auf der Lichtung und um uns herum geworden - diesmal ausnahmslos. Selbst Stans Schritte federten auf dem zerrissenen Waldboden derart leise ab, dass sie für unser aller Ohren lautlos waren. Eagle und ich waren zurückgeblieben und nur unsere Augen begleiteten ihn, bis er schließlich den letzten Schritt auf Shaymin zutat. Sie standen sich einfach nur stillschweigend gegenüber. Selbst jetzt, wo Stan nur eine Handbewegung von ihr entfernt war, mied Shaymin noch immer direkten Augenkontakt mit dem Menschen vor ihr. Eagle neben mir scharrte nervös mit den Füßen im Dreck und auch ich schluckte schwer. Stan sagte etwas, doch war es zu leise, als dass ich etwas verstand. Es musste an Gaia gerichtet sein, denn sie wich ohne weiteren Kommentar mit langsamen Rückwärtsbewegungen von der Seite ihre Pokémon-Schwester. Nun waren sie allein, Shaymin und Stan, sie beide. Stan ging in die Knie. Seine Fingerspitzen fassten den Stängel der Blume. Nachdenklich betrachtete er sie, dann Shaymin, dann wieder die Blume. Ganz langsam schloss Shaymin ihre Lider, bis ihre blauen Augen völlig darunter verschwunden waren. Ihr ganzer Körper versteifte sich. Ich konnte schwören, dass sie zitterte. Und dennoch nicht der geringste Widerstand. Die rosaroten Blätter rückten unaufhörlich näher; gar schienen sie sich begierig in Shaymins Richtung zu strecken.

  • Kapitel 7: Eine Prinzessin packt aus


    Was auch immer meine schärfsten Kritiker und all die Ungläubigen da draußen nun davon halten mögen: Das Undenkbare war tatsächlich eingetreten. Stan war vor Schreck rücklings auf den Hosenboden gestürzt, die Rose der Wüste dabei aus seinen feuchten Fingern geglitten. Eagle und mir blieb mit Stans Rücken die direkte Sicht verwehrt, hingegen selbiger dem Schauspiel aus nächster Nähe beiwohnen durfte. Es ging mir eiskalt unter das Fell, gleichzeitig brachte die schwelende Luft mein Gesicht zum Glühen. Ganze Engelschöre besangen das strahlende goldene Licht, reiner als frisches Quellwasser oder Neuschnee, in das Shaymin getaucht war. Jeglicher Zweifel war endgültig gebrochen. Die Legende um die Rose der Wüste war kein einfaches Ammenmärchen - sie war wahr. Shaymin ... der Prinz? Ein vor Jahrhunderten verwunschener Mensch? Wie passte das zusammen? Und Miriam, die uns überhaupt mit der Geschichte vertraut gemacht hatte? Wie passte das verschollene Menschenmädchen mit ihrer ebenso vermissten Großmutter da hinein? Wo sich eine verschlossene Tür endlich geöffnet hatte, taten sich nur noch zwei weitere auf.
    Ich trotzte den heftigen Migräneanfällen in meinem Kopf und überwand das Taubheitsgefühl in meinen stocksteifen Beinen. Die Antwort, so hoffte ich, lag vor mir, inmitten des gleißenden Scheins.


    Als ich hinter meinem gestürzten Freund hervortrat, war das goldene Licht beinahe wieder verschwunden. Mein Gesicht glühte noch und wurde noch heißer, als ich endlich freie Sicht hatte. Shaymin, so wie wir sie gekannt hatten, war restlos verschwunden. Was langsam den goldenen Glanz von sich abschüttelte, besaß kaum noch Ähnlichkeit mit ihr. Angefangen mit vier langen und krafterprobten Beinen, die die einstigen Stummelbeine ersetzt hatten, über einen geschmeidig schlanken Oberkörper und zwei weiße Wülste, die ihr wie ein Geweih rechts und links aus den Schläfen ragten. Ohne ihre spitze Nase und dem wenigen zartgrünen Haar, das ihr geblieben war, hätte ich sie wohl nicht wiedererkannt. Shaymin war nun fast annähernd so groß wie ich. Ihre Augen öffneten sich langsam - sie waren blau wie der Ozean. Zweifelsohne: Dies war Shaymin, oder zumindest das, was von ihr übrig geblieben war, so sehr mir dieser Gedanken auch Unbehagen bereitete.
    „Sh-Shaymin?“ Stan hing der Kiefer herab, tiefer sogar als Igelavar jemals der Magen in den Kniekehlen gehangen hatte. Es war daher verwunderlich, dass er überhaupt einen verständlichen Ton, geschweige denn ein Wort herausbekam. Viel mehr als ihren Namen schaffte aber auch ich nicht hervorzuwürgen.
    „Ich bin es.“ Ihre Stimme hatte sich kaum verändert. Der sonst so allgegenwärtige heitere und quietschfidele Ausdruck auf ihrem Gesicht hingegen war verschwunden und verfremdete das auch so bereits völlig verzerrte Bild nur noch mehr. Stattdessen schaute sie uns mit einer grimmigen Peinlichkeit entgegen. Zweifelsohne war es ihr alles andere als Recht, dass man sie entlarvt hatte, und zumindest ich wagte es, diesen Gedanken laut auszusprechen.
    „So, und was verheimlichst du sonst noch vor uns?“ Ja, ich machte endgültig Schluss mit der Höflichkeit. Ich - und sicher auch Stan - hatte von Anfang an gewusst, dass Shaymin vor und etwas verbarg. Ein derartiges Geheimnis stieß dann aber doch an die Grenzen jeder Vernunft. Nun sollte endgültig Schluss damit sein. Die Wahrheit, die ganze Wahrheit. Keine weiteren Ausreden mehr. „Warum hast du nie etwas gesagt?“
    Shaymin schaute mich direkt an. Sie hob eine Augenbraue, schüttelte dann wiederum den Kopf. Wohl mehr an sich selbst gerichtet als an mich. Zweifelsohne wog sie ihre nächsten Worte sehr vorsichtig ab. „Was hätte ich sagen sollen?“, fragte sie schließlich und mimte dabei die Unschuldigkeit eines Kleinkindes.
    „Was du hättest sagen sollen?! Was du hättest sagen sollen?!“ Es war mir völlig egal, dass meine stetig ansteigende Stimme plötzlich verblüffende und gleichzeitig auch furchterregende Ähnlichkeit mit Eagles vorherigen Wutausbruch hatte. Es musste gesagt werden, und zwar jetzt! Der Zeitpunkt konnte kein besserer sein. Alles musste raus. Nur was? Shaymins Antwort auf meine Frage war derart infantil, dass mir zu Anfang nichts anderes darauf einfallen wollte als: „Du bist der Prinz der Wüste - das zum Beispiel!“
    Wieder schüttelte Shaymin den Kopf, diesmal allerdings gezielt in meine Richtung. „Ich bin nicht der Prinz“, sagte sie knapp.
    „Aha, sondern?“
    Shaymin lächelte verschmitzt. „Ist doch offensichtlich, oder? Eine seiner Nachfahrinnen.“
    „Oh! Das erklärt natürlich alles“, spottete ich buttrig. Auf meinem kochenden Gesicht hätte man sekundenschnell Eier rabenschwarz brutzeln können „Hast du gehört, Stan? Verstehst du jetzt? Alles ergibt nun einen Sinn!“ Der Moment, den ich Stan für einen Kommentar gab, blieb gänzlich ungenutzt. Er sagte nichts. Mehr Zeit also für mich. „Und sonst? Hast du uns sonst nichts zu sagen?“
    „Und was sollte das sein?“
    „Och“, flötete ich theatralisch, „nur mal zum Beispiel, warum du bereits von Anfang an genau gewusst hast, mit wem du es zu tun hast - und komm mir bloß nicht mit deiner ‚Ich-habe-euch-belauscht’-Geschichte, die habe ich dir nämlich noch nie abgekauft, und nach diesem Vorfall hier erst recht nicht mehr. Warum warst du so erpicht darauf, uns zu begleiten? Oder Miriam, was ist mit Miriam? Noch vor etwa einer Woche haben wir in ihrem Haus übernachtet. Dann diese Geschichte über dieses olle Unkraut. Plötzlich tauchst du aus dem Nichts auf und erzählst uns, dass sie vor zig Jahren das Land verlassen hat. Dann stellt sich plötzlich heraus, dass du der Prinz oder wasweißich bist. Es sind der Zufälle zu viele. Die Wahrheit, die ganze Wahrheit!“ Erregt schnappte ich nach Luft. Eine unglaubliche Wut pochte in meinem Kopf. Und obwohl ich mir endlich meinen ganzen Frust von der Seele geschrien hatte und von all dem endlich hätte befreit sein müssen, ging es mir nur noch schlechter, als zuvor. Auch gab mir Shaymins ruhiges Blinzeln nicht die Genugtuung, wie ich sie mir eigentlich erhofft hatte. Das einzige, was ich jetzt vorzuweisen hatte, waren Kopfschmerzen der übelsten Sorte.
    „Du warst es, habe ich recht? Du warst Miriam. Ich weiß nicht wie, aber ...“, schaltete Stan sich vorsichtig ein.
    „Was?“ Abwechselnd schwenkte ich zwischen Stan und Shaymin hin und her. Nicht nur, dass Stans Reaktion eine völlig andere war, als ich erwartet hatte, auch war sie völlig abstrus. Er musste den Verstand verloren haben.
    „Es ergibt alles einen Sinn. Naja ... irgendwie“, meinte Stan an mich gewandt. „Miriam hatte damals sofort gewusst, dass wir beide die Körper getauscht hatten. Sie war sich - wie auch immer - sofort über unsere Lage im Klaren. Auch Shaymin hat uns von Anfang dahingehend überrascht, dass sie sofort wusste, wer wir waren - ich habe es ihr nämlich auch nie wirklich geglaubt, dass sie uns bei unserer ersten Durchreise heimlich belauscht hatte, denn in diesem Fall hätte sie nämlich glauben müssen, du wärst ich gewesen und ich du. Dann das Haus, von dem plötzlich nur noch die Grundmauern geblieben waren. Die Vorliebe der beiden für Blumen. Und außerdem“, fügte Stan hinzu und lächelte Shaymin an, „haben dich deine blauen Augen verraten. Die vergisst man nicht so schnell.“
    Das war völlig absurd. Stan war völlig von der Rolle, total bekloppt. Auch wenn einige Dinge tatsächlich so manch etwas zu erklären vermochte, war es dennoch völlig unmöglich. Klarer Fall für die Irrenanstalt. Doch Stans Anklagerede war kaum beendet, da tat Shaymin etwas, womit ich niemals gerechnet hatte: sie lächelte. Das konnte nicht sein ...
    „Weißt du, Stan, du wirst deinem Ruf, eine ziemlich lange Leitung zu haben, wirklich nicht gerecht.“ Shaymin hatte kaum ihren Satz beendet, da schloss sie ihre Augen und senkte langsam den Kopf. Noch während sie das tat, atmete sie zweimal tief durch und antwortete: „Ja, ich war es.“
    „Ich habe es geahnt“, nickte Stan. „Was ich aber nicht verstehe, ist: die Blume. Warum?“


    Gelähmt vor Schock, kochend vor Wut. So sehr hatte ich einer Antwort entgegengefiebert. Nun bereute ich es. Shaymin hatte uns nach Strich und Faden hintergangen. Das einstige Bild von ihr lag zerbrochen in Trümmern. Nicht nur ihr Äußeres war falsch, auch ihr Charakter war bis in die kleinste Pore verdorben. Selbstsüchtig, verlogen und rücksichtslos - so war sie in Wirklichkeit. Wie sie nur so dastand, uns die pure Unschuld vorheuchelte, war blanker Hohn; eine Beleidigung und ein Schlag in die Magengegend für alles, was Stan und ich ihretwegen hatten erdulden müssen. Warum sie uns auf die Suche geschickt hatte? Einfach! Ich kannte die Antwort!
    „Du warst selbst nicht dazu in der Lage, hast uns verzweifelt und herumirrend getroffen und deine Chancen gewittert. Schicktest uns wortwörtlich in die Wüste, um für dich die Drecksarbeit machen zu lassen! Oder willst du das leugnen?!“
    Unlängst hatte sich mein Schwanz steil in die Höhe gerichtet. Die Krallen schlugen tiefe Furchen in das lockere Erdreich hinein. Blaue Blitzen lösten sich unkontrolliert und prasselten links und rechts auf die versengte Erde herab. Ich war bereit; bereit zum Sprung, ihr direkt an die Kehle. Für jeden Blutstropfen, den ich im Krankenhaus ihretwegen vergossen hatte, wollte ich zwei nehmen.
    „Jetzt sei nicht albern!“ Im Gegensatz zu mir hob Shaymin kaum ihre Stimme, dennoch schien ich auf einen wunden Punkt gestoßen zu sein, denn hinterließen meine Vorwürfe eine entrüstete Falte auf ihren Gesichtszügen. Ich fühlte mich gleich deutlich besser.
    „Ist das wahr?“ Auch bei Stan bestand ein bitterer Nachgeschmack in Gesicht und Stimme.
    „Die trostlose Landschaft begegnet mir nicht weniger feindlich, als sie es auch bei euch oder meinem Urahnen tat“, erklärte Shaymin.
    „Also ist die Geschichte tatsächlich wahr?“, fragte Stan interessiert.
    Shaymin nickte. „Jedes einzelne Wort. So auch die lange Wanderschaft, auf die er sich gegeben hatte, bis er schließlich die Blume fand. Er ließ auf den nahe gelegenen Grashügeln nieder. Seitdem ehren meine Ahnen dieses Land.“ Shaymin lächelte bitter. „Diese Form ist mir keinesfalls fremd. Auch ich habe die Reise durch die Wüste einige Male auf mich genommen. Meine Artverwandten und ich haben dieser Gefahr nie gescheut. Es wäre daher eine Beleidigung für all die Gefahren, die mein Urahne hatte trotzen müssen, und auch für meine gesamte Linie, hätte ich einen solch niederträchtigen Weg eingeschlagen und euch die Blume einfach vor der Nase wegstibitzt, was im Übrigen ein Leichtes gewesen wäre, meinst du nicht auch, Sheinux?“
    Ich knirschte verbittert mit den Zähnen. So sehr ich mich dagegen auch sträubte - in dieser Beziehung musste ich ihr recht geben. Sie hätte sich nicht uns anzuschließen brauchen, wenn sie von Anfang an nur auf die Blume versessen gewesen wäre. In der Nacht, als sie uns gefunden hatte, hätte sie lediglich Stans Rucksack durchstöbern zu brauchen. Niemals hätten wir gemerkt, dass sich jemand in jener Nacht an unserem Eigentum zu schaffen gemacht hatte. Was war es aber dann?
    „Warum dann diese Geheimniskrämerei? Warum hast du Miriam erfunden und uns erst auf die Suche geschickt? Wofür brauchtest du uns?“
    Shaymin schüttelte den Kopf. „Du täuschst dich. Miriam und ihre Großmutter sind keinesfalls eine Erfindung von mir. Seitdem ich zurückdenken kann, lebten sie hier; mehr sogar: sie und ihre ganze Familie. Miriam und ihre Geschwister, Eltern und Großeltern - drei Generationen unter einem Dach. Und sie wussten um die Legende, die sich um meinen Urahnen rankt. Wie auch ich es zuvor bei euch tat, luden sie verirrte Reisende in ihr Haus ein und boten ihnen selbstlos ein Obdach für die Nacht. Und wo immer sie unter ihnen Gehör fanden, teilten sie ihr Wissen.“
    „Sie erzählten ihnen von dem Prinzen der Wüste?“, fragte Stan.
    „Ja. Seine Legende durfte in ihrer Geschichte fortleben. Niemals geriet er in Vergessenheit. Eines Tages aber“, Shaymins Stimme verfinsterte sich zunehmend, „verschwanden sie. Von einem Tag auf den nächsten verloren die Stühle und Betten ihre Besitzer. Niemand verstand wieso, sie
    verschwanden einfach. Jeder von ihnen hätte der nächste sein können - und am Ende waren nur noch zwei geblieben.“
    „Miriam und ihre Großmutter“, flüsterte Stan.
    Shaymin nickte stumm. „Doch auch sie verschwanden mit der Zeit auf unerklärliche Weise. Das Haus stand leer, bis auch es einfach von der Erdoberfläche getilgt wurde. Die Geschichte meines Vorvaters drohte in Vergessenheit zu geraten, denn niemand war mehr da, der den verirrten Wanderern an einem kalten und verregneten Tag von dem verwunschenen Prinzen hätte erzählen können.“
    Das Monster unter meiner Brust hatte längst sein Brüllen eingestellt. Zwar zeigte ich es nicht, doch empfand ich bis zu einem bestimmten Punkt Mitleid. Es offenkundig zu zeigen, war ich allerdings außerstande.


    „Ihr seht also, ich habe euch nie belogen“, schloss Shaymin ab.
    „Traurig ...“, murmelte Stan, fasste sich aber recht schnell wieder. „Das erklärt aber immer noch nicht, warum wir die Blume hatten pflücken sollen. Wie steht es damit?“
    „Es lag an mir, die Legende fortleben zu lassen“, antwortete Shaymin traurig. Ihr Blick war steil gen Himmel gerichtet und die Stimme klang bereits erschöpft. „Wann immer ich umherirrende Reisende traf, schuf ich die Illusion, wie sie auch euch widerfahren ist. Mit mir in der Hauptrolle lud und müde Wanderer ein, bot ihnen eine Bleibe für die Nacht und machte sie mit der Legende vertraut, in der Hoffnung, dass sie meine Worte in die Welt hinaustragen würden.“
    „Das Andenken deiner Väter ehren ...“, murmelte ich leise.
    Shaymin erwiderte mit einem Nicken. „Ja. Dann aber ... traf ich euch.“ Sie geriet für einen Moment in Schweigen. „Ihr wart anders, ich habe es sofort gespürt.“
    „Sheinux und ich hatten Körper getauscht. Du wusstest das von Anfang an“, sagte Stan.
    „Ja, aber da war noch etwas“, antwortete Shaymin.
    „Noch etwas?“ Stan tauschte mit mir einen ratlosen Moment. „Was?“
    Dieses Mal schüttelte Shaymin den Kopf. „Tut mir leid, aber ich kann euch das nicht sagen. Auch nicht, warum es euch bestimmt war, die Blume zu finden. Noch nicht ...“
    „W-was? Warum?“
    Wieder schüttelte Shaymin ihren Kopf, diesmal noch heftiger. „Es geht nicht. Tut mir leid. Alles, was ich euch sagen kann, ist, dass ich euch brauche und ihr mich.“
    Es war zum Mäusemelken! Nun hatte sie endlich mit der Sprache rausgerückt, um uns kurz vor dem Ende mit noch weiteren Fragen stehen zu lassen?
    „Du machst Witze?“
    „Ich scherze keineswegs, Sheinux. Wollte ich einen Witz machen, würde es sich eher so anhören: Ein Mensch, ein Pokémon und ein Sandkorn gehen in eine Schenke. Da fragt das Sandkorn den Menschen ...“
    „Sollte mir jetzt etwa zum Lachen zumute sein oder was?“, brauste ich erregt auf.
    „Und jetzt? Was soll jetzt passieren?“, wollte Stan wissen.
    Zum ersten Mal seit langem schenkte Shaymin der Welt wieder ihr zartes Lächeln. „Nun, ich denke, die Reise kann weitergehen.“
    „Jetzt mal halblang!“, rief ich. „Nach all den Lügen sollen wir einfach so tun, als wäre nie etwas gewesen.“
    „Ich habe euch nie belogen. Die Wahrheit etwas gestreckt, vielleicht, aber euch nie belogen.“
    „Stan, das kannst du doch nicht ernsthaft in Erwägung ziehen?!“
    Stan grübelte laut. Dabei fixierte er Shaymin äußerst nachdenklich.
    „Bitte, Stan!“ Es lag derselbe flehentliche Unterton in Shaymins Stimme, wie man ihn von ihr bereits Tage zuvor vernommen hatte, als sie uns das erste Mal darum gebeten hatte, mit uns auf Reisen zu gehen. Ich ahnte bereits, dass Stan auch dieses Mal nachgeben würde - und ich behielt recht.
    „Na schön ...“, seufzte er. Gleichzeitig kam von mir ein resignierendes Schnauben.
    „Ihr werdet es nicht bereuen“, beteuerte Shaymin, während ihr Lächeln Stück für Stück in die Breite wuchs.
    Stan nickte bedächtig. Ich hingegeben flüsterte so leise, dass ich hätte schwören können, dass niemand es hörte: „Das werden wir sehen ...“ Shaymin aber zwinkerte mir zu, nicht böswillig, doch geheimnisvoll wie eh und je.
    „Erlaubst du mir noch eine Frage?“, fragte Stan.
    „Nur noch die eine, okay?“, sagte Shaymin erschöpft.
    „Du kannst wirklich fliegen?“
    Shaymin schüttelte sich mit einer raschen Kopfbewegung das überflüssige Haar aus dem Gesicht. Sie legte ihr verschmitztestes Grinsen auf. „Natürlich. Ist ganz leicht, schau!“


    Shaymins Art, durch die Lüfte zu reiten, war mit nichts, was ich bislang gesehen hatte, vergleichbar. Keinen Wimpernschlag hatte es gedauert, bis sie den festen Boden unter den Füßen verloren hatte. Erst überragte sie mich, schließlich auch Stan. Flügellos trug sie allein ihr bloßer Wille hinauf zu den höchsten Wipfeln der Bäume. Shaymin tanzte um die eigene Achse, bevor sie in den Sturzflug überging. Stan ließ sich eiligst auf den Baum fallen, ich duckte mich mit geschlossenen Augen, als sie einfach über unsere Köpfe hinwegrauschte und der aufgescheuchte Wind uns noch Sekunden danach durch das Haar fegte. Einer aber schmolz wie ein Stück Butter in der warmen Sonne dahin. Einer, den wir längst vergessen hatten. Umso größer war der Schreck, als er plötzlich hinter uns auftauchte.
    „Wie lange ich diesen Augenblick herbeigesehnt hatte ...“, seufzte Eagle. Nie zuvor hatten seine Augen diesen warmen Glanz besessen. Verträumt sah er Shaymin nach, wie sie weit über ihm ihre Kreise zog, ihre kunstvolle Pirouetten drehte und Vogel-Pokémon in den Baumkronen aufscheuchte. „Herlich ... Nun aber zu dir!“
    „Au! Las los! Was soll das?!“
    Dieser Geste der Menschen war ich in früheren Tagen einige Male Zeuge geworden. Wenn einer dem anderen an den Ohren zog, erkannte der Ziehende entweder die ruhmreiche Leistungen des Gezogenen an oder aber man hatte ein ziemlich ernstes Wort mit ihm zu wechseln. In diesem Augenblick war wohl letzteres der Fall.
    „Ich habe zwar nur ungefähr ein Drittel von eurem Geschwafel verstanden, aber das war bereits genug ... für den Anfang. Du stehst mir jetzt schön Rede und Antwort. Hast - du - mich - verstanden?“
    Mit zunehmend länger werdendem Ohrläppchen wurde Stans Gesicht immer röter.
    „Ist ja gut! Lass los!“
    Eagles unnachgiebiger Griff löste sich so augenblicklich, dass Stan das Gleichgewicht verlor und stürzte. Nicht aber Stans nervtötendes Gejammer hatte ihn dazu veranlasst oder gar ein plötzlicher Ausbruch von Mitleid, nein. Hinter ihrem Rücken zog Shaymin plötzlich einen goldenen Kometenschweif her, der als goldener Sprühregen auf den Boden hinabnieselte. Bei Kontakt meiner Nase verpuffte der Staub in der Luft und hinterließ ein angenehmes Kribbeln. Was auch immer aber seine heilende Berührung spürte, befand sich in einem Zustand der Veränderung. Die tiefen Schnitte auf dem Boden schlossen sich wie von Zauberhand, verbrannte Pflanzen keimten im Zeitraffer zu neuem Leben auf und auch der letzte Gestank von Tod und Zerstörung wurden der Luft entzogen, so wie man Gift aus einer Wunde zog. Der Wald erholte sich.

  • Part 8: Auf Tuchfühlung mit dem Feind


    Die Verderbnis war fortgespült. Shaymins Magie hatte geheilt, woran der Wald und seine Bewohner gekrankt hatten. Nichts erinnerte mehr daran, welch zerstörerische Mächte hier vor gar nicht allzu langer Zeit getobt hatten. Ein weiteres ihrer unerklärlichen Wunder. Zumindest für den Moment verspürten aber weder Stan noch ich irgendwelches Interesse, weitere Kraft oder Zeit darin zu investieren, Shaymins ganzes Wesen und ihre Fähigkeiten zu verstehen. Für einen Tag hatten wir genug, und eben dieser Tag war insbesondere für meinen guten Freund längst noch nicht vorbei. Stan hatte fürwahr ein sehr schweres Los gezogen. Nun war er es, der Rede und Antwort stehen durfte - nämlich vor Eagle. Wenn die lästige Nervensäge zu den richtigen Momenten auch nur ansatzweise die Ohren gespitzt hatte, war Stans, oder besser gesagt unser kleines Geheimnis keines mehr.


    „Was meinst du, wie viel hat er wohl gehört?“
    „Zu viel, fürchte ich ...“
    Äußerst nervös schaute Stan über die Schultern. Er hatte sich kurzzeitig von seinem Artgenossen losreisen können. Eagles bohrender Zeigefinger auf seiner Brust hatte ihm aber mehr als deutlich zu verstehen gegeben, dass er ihn nicht mehr aus den Augen lassen würde, bis die Sache geklärt wäre. Tatsächlich wirkte es so, als fixierte Eagle mit einem Auge unablässig unsere Position, während er Sky und die anderen versorgte.
    „Er wird mich leichter ausquetschen als matschiges Obst ...“
    „Du hast schon weitaus Schlimmeres überstanden“, bemerkte ich. „Erinnere dich daran, als du Sky sämtliche Schwanzfedern gerupft hast.“
    „Dagegen hätte ich jetzt ehrlich gesagt nichts einzuwenden. Wäre mir deutlich lieber als das hier ...“, murmelte Stan kleinlaut.
    „Was ist? Ich warte!“
    Ein letzter flehentlicher Blick blieb mir noch von Stan, als er mir auch schon den Rücken zukehrte.
    „Lass dich nicht zu sehr schröpfen! Nur Mut!“, rief ich Stan nach. Ob er in seinem Schweißausbruch überhaupt noch für irgendetwas anderes als seinen bangenden Gedanken Gehör fand, war fraglich. Sowieso war die Sache alles andere als ausgestanden, gleichgültig wie sehr Eagle meinen Freund ausquetschen würde. Tatsache war, dass auch ich mich gerade jetzt nicht in Stans Haut wissen wollte.


    Ein Schatten rückte an Stans leere Stelle, doch war er bedeutend kleiner. Auch wenn ich anfangs den Besitzer dieses Schattens misste, der oder die nicht in Sichtweite war, wusste ich sofort, wem er gehörte.
    „Na?“, machte Shaymin. Sie legte eine Punktlandung zu meiner Seite hin. „Glaubst du, Stan kommt noch einmal mit heiler Haut davon?“
    „Er wird es überleben“, brummte ich dunkel. Ich mied es, meine Gesprächspartnerin direkt anzusehen.
    Zwischenzeitlich hatte Stan seinen Bestimmungsort erreicht. Kurze Zeit später entfernten er und Eagle sich etwas, auch wenn Stan zu Beginn kurze Zeit gezögert und sich nicht vom Fleck gerührt hatte.
    „Sehr privat das Ganze“, meinte Shaymin.
    „Scheint so“, gab ich zurück.
    „Du, hör mal. Ich weiß, dass dir das etwas auf den Magen geschlagen ist. Eben diesen Ausgang hatte ich nie beabsichtigt, glaub mir.“
    „Gedankenlesen, wie? Gibt es eigentlich auch irgendetwas, was du nicht kannst?“
    Auch ohne direkten Blickkontakt hörte ich das Schmunzeln deutlich aus Shaymins Stimme heraus. „Dafür muss man keine Gedanken lesen können, sondern nur zwei gesunde Augen im Kopf haben. Ich will euch wirklich nichts Böses“, ergänzte sie. „Es liegt mir fern, euch in irgendeiner Hinsicht schaden zu wollen. Warum auch?“
    „Nachdem wir für dich Blümchen pflücken durften, fällt es mir irgendwie schwer, das zu glauben.“ An diesem Punkt unserer Unterhaltung drehte ich mich endlich Shaymin zu. Meine Wut auf sie war längst nicht mehr so intensiv wie zuvor, doch noch immer mindestens so heiß wie der Wüstensand, durch den wir uns ihretwegen gequält hatten. Unsere Reise endete zum damaligen Punkt im Krankenhaus für mich. Schreckliche Dinge hatte ich zu Stan gesagt, auf unsere gemeinsame Freundschaft gespuckt und ihn beinahe verstoßen. Allein bei dem bloßen Gedanke an diese Zeit sträubte sich mir das Fell.
    „Ich hatte meine Gründe. Wir alle mussten Opfer bringen“, antwortete Shaymin.
    „Was weißt du schon über Opfer?!“ Es bracht einfach so aus mir heraus. Zum zweiten Mal in nur so kurzer Zeit übermannte mich eine mörderische Wut. Shaymins Worte waren wie ein Gift, das meinen Gedanken injiziert wurde. Von dem einen auf den anderen Moment empfand ich nur noch Hass und Abscheu. Doch nur Worte waren zu schwach, um auszudrücken, was in mir vorging. Ich wollte Vergeltung.
    „Glaubst du etwa, mir ist es leicht gefallen, das Land meiner Väter zu verlassen? Meine Heimat? Gerade du müsstest das doch am besten verstehen.“
    „Was? Wo-woher?“ Ich erstarte und bemerkte zugleich, wie kurz ich eigentlich davor gewesen war, ihr meine Zähne in den Nacken zu schlagen. Das hatte ich gar nicht bedacht. Shaymin ... sie hatte ihr Heim verlassen um mit uns auf Reisen zu gehen. Gesegneter Boden, ihr Allerheiligstes. Über die Jahrhunderte hinweg von ihren Vorfahren geehrtes Land. Noch mehr sogar: Es war ihre Heimat. Wer wenn nicht ich wusste, wie sehr dieses Opfer doch schmerzte? Und dennoch hatte sie dies nun alles aufgegeben ... für uns.
    „Stan hat es mir neulich gesagt. Auch, dass ihr auf dem Weg zurück seid. Vielleicht weißt du es noch nicht, aber er tut sich unglaublich schwer, dich einfach gehen zu lassen. Er würde umkehren, wüsste er nicht, wie wichtig dir doch deine Heimat ist. Darum nimmt er es auf sich, auch wenn ihm mit jedem Schritt dem Abschied entgegen innerlich wohl das Herz mehr zerreist. Du hast wirklich einen bemerkenswerten Freund.“ Shaymin atmete schwer, während sie traurig dorthin schaute, wo Tagesmärsche entfernt ihre Heimat lag. „Vielleicht wiegt mein Opfer in deinen Augen nicht ganz so schwer, aber ...“
    „Nein ...“, unterbrach ich Shaymin. Mir war richtig Elend. In zwei Fällen hatte sie mir die Augen geöffnet und in beiden ging es tatsächlich um einen persönlichen Verlust: Stan und Shaymin - sie beide nahmen viel in Kauf. Shaymins wahre Absichten waren noch immer unergründlich, doch um bei uns zu bleiben, hatte sie das ihr vielleicht größte Opfer nicht gescheut. Und Stan ... Natürlich wusste ich im Ansatz um seine Bedenken. Auch mir war mittlerweile nicht mehr ganz wohl bei dem Gedanken, ihn nach allem, was wir gemeinsam durchgestanden hatten, einfach so den Rücken zuzukehren. Wie sehr er sich aber mit dieser Entscheidung tatsächlich quälte, war mir im gesamten Ausmaß jedoch nie klar gewesen; gerade wenn man bedachte, dass gerade dieser Entschluss aus seinem Mist gewachsen war. Er wusste, wie sehr mir meine Heimat bedeutete, und das war ihm diesen Verlust, seinen größten Verlust, wert. Doch wusste er auch, wie viel er mir inzwischen bedeutete? Ja, konnte ich ihn überhaupt einfach so loslassen? Und je weiter wir voranschritten, desto näher rückte der unvermeidliche Abschied. Etwas Ähnliches hatte mir auch Fukano neulich gesagt, nur war ich zu blind, einfach zu arrogant, dafür gewesen. War es daher ein Zufall, dass Stan von Tag zu Tag kränker und schwächlicher wirkte? Aber was war mit meinem Opfer? Meine Heimat? Je mehr ich darüber nachdachte, desto banaler kam es mir eigentlich vor. Das, was mir vor gar nicht allzu langer Zeit am wichtigsten auf der ganzen Welt gewesen war ... Konnte ein Haufen Dreck, so schön auch die Erinnerungen daran waren, eigentlich mit Stans Freundschaft ernsthaft konkurrieren? Bedeutete mir unsere gemeinsame Zeit mittlerweile nicht viel mehr? Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute, ja sogar bereits jede Sekunde? Unsere gemeinsame Zeit, jeder noch so kurze Augenblick war ein Geschenk. Doch meine Heimat ... Meine Vergangenheit konnte ich nicht einfach so leugnen. Einstige Gefühle von Freiheit und Unabhängigkeit, stärker als alles andere in dieser Welt. In dieser Beziehung konnte ich Shaymin sehr gut nachempfinden. Vielleicht war es nicht so heilig wie in Shaymins Erzählung, doch seit jeher war es immerhin ein Stück unserer Geschichte, auf das meine Familie mit Stolz zurückblickte. Mein Leben nicht im Geiste und dem Willen meiner Vorväter zu stellen, wäre mir vor einigen Wochen niemals in den Sinn gekommen. Es hatte nur mich gegeben; mich und das Gesetz der Straße, das kompromisslos befolgt werden musste, wollte ich nicht mich und meine Ahnen entehren. Wie aber sollten man eben diese Gefühle von Pflicht Stan gegenüber und Ehre meinem Heim, meiner Familie und dem Gesetz der Straße gegenüber im Einklang bringen? Wie nur konnte ich diesen beiden Aufgaben gerecht werden, ohne mich einem völlig zu unterwerfen und dem anderen den Rücken zuzukehren? Noch blieb mir Zeit. Ich musste darüber nachdenken und hoffentlich eine angemessene Lösung finden, die allen gerecht werden würde, Stan und dem Erbe meiner Väter. Für den Moment aber musste ich ein großes Unrecht reinwaschen, das duldete keinen Aufschub.
    „Ich war wirklich unfair dir gegenüber. Tut mir leid, echt ...“
    „Schwamm drüber! Auch wenn es dir schwer fällt, vertrau mir einfach und die Sache ist geritzt, okay?“
    „Okay ...“


    Peinliche Stille kehrte zwischen uns beide ein. Kaum vorstellbar, bedachte man den Umstand, dass ich nur ganz kurz davor gewesen war, Shaymin an den Hals zu gehen. Letztendlich war ich aber sehr froh darüber, es nicht getan zu haben. Nicht nur, dass ich sie trotz ihrer manchmal sehr verqueren Art im tiefsten Inneren sehr gut leiden mochte, auch waren wir uns insgeheim ähnlicher, als das bloße Auge zu erkennen gab.
    „Wollen wir zu den anderen gehen?“, schlug Shaymin vor und beendete so das bis dahin angehaltene Schweigen.
    „Sag mal“, begann ich ein wenig zögerlich, nachdem wir uns in Bewegung gesetzt hatten, „wie lange bleibst du jetzt eigentlich so?“
    „Ist nicht von Dauer“, antwortete Shaymin. „Bei Einbruch der Nacht ist der Zauber auch schon wieder vorbei.“ Plötzlich und völlig unerwartet zog sie einen Schmollmund und sah mich anklagend an. „Gefalle ich dir so etwa nicht? Sag die Wahrheit, los!“
    „Äh ...“
    Oh ja, das sie wie wieder. Genau so, wie ich sie kannte. Eine Shaymin, die nicht einmal davon zurückschreckte, selbst jemanden wie mir das letzte bisschen Selbstsicherheit einfach wegzufegen und mich vor lauter Verlegenheit in einen hirnlos stammelnden Idioten zu verwandeln. Glücklicherweise erreichten wir just in dem Moment, als ich langsam auf die Gefahr hinaus lief, dass mir meine „Ähm ...“’s und „Also ...“’s ausgingen, unsere beiden anderen Gefährten.
    Shaymins belebender Einfluss hatte auch auf Igelevar sichtliche Spuren hinterlassen. Sein Fell glänzte wieder mit derselben Pracht, wie zu dem Moment, als er aus der Asche auferstanden war. Nur sein Hunger, das verriet sein trüber, desinteressierter Blick, schien von diesem Wunder völlig unbeeinflusst zu sein. Da würde wohl nur eine ganz andere Kur helfen. Was Fiffyen betraf, so war mir nicht entgangen, dass sie während meiner und Shaymins Unterhaltung überdurchschnittlich oft zu uns herübergespäht hatte. Interesse, wo und warum sie sich hier befand, konnte man bei ihr nicht erkennen, was allerdings noch nie sonderlich der Fall gewesen war - solange ich in ihrer Nähe war.
    „Wer ist das? Möchtest du uns nicht bekannt machen?“ Diesen Ton in ihrer Stimme war mir nur allzu vertraut. Ironischerweise witterte Fiffyens sensible Nase einmal mehr in Shaymin, deren Maskerade sie zweifellos bislang nicht durchschaut hatte, eine Konkurrentin. Das weitere Vorgehen war von höchst diskreter Natur, wollte man nicht schon wieder ein Unglück heraufbeschwören. Und doch schwante mir bereits innerlich die unausweichliche Katastrophe.
    „Das - das ist ...“
    „Ich bin Miriam. Freut mich“, schnitt mir Shaymin das Wort ab.
    Fiffyen betrachtete Shaymin äußerst geringschätzig, wenn auch nicht mit der gleichen Abfälligkeit, wie sie es sonst bei ihr tat. „Miriam? So, so. Zwei Dinge solltest du wissen, und das sage ich dir jetzt in aller Freundlichkeit. Erstens: Sheinux gehört mir, klar? Und von dir will er nichts, auch klar? Wir sind nämlich ein Paar. Wenn du ein Auge auf ihn geworfen hast, dann vergiss es also gleich wieder.“
    Ohne es zu wollen, entwich mir ein erstickendes Geräusch. Fiffyen überhörte es und fuhr einfach fort.
    „Und zweitens: Du solltest dir ein Bad gönnen, Schätzchen. An dir hängt eine penetrante Duftnote, die mich an jemand äußerst Lästigen erinnert. - Übrigens, wo ist die hässliche Stachelvisage eigentlich?“
    Shaymin hob ihre linke Augenbraue. Ein böses Omen.
    „Bl- Blumen pflücken. Ist schon ’ne Weile weg“, schoss es aus mir heraus.
    Schrill und falsch lachte Fiffyen auf. „Blumen pflücken? Sucht wohl eher ihren Verstand. Na, da kann sie lange suchen.“
    „Sie bestellt dir übrigens beste Grüße“, sagte Shaymin. „Sie meinte, sie würde ja immer noch auf ein Bild von dir warten, wie du vor deinem Unfall ausgesehen hast.“
    Selbst unter ihrem aschegrauen Pelz konnte man deutlich erkennen, wie Fiffyens Gesicht langsam ein zartes Rosa annahm. „Clown gefrühstückt, wie? Dann bestell der kleinen Klugscheißerin mal, dass ...“
    „Sag mal, Igelevar, wie geht es dir eigentlich so, so kurz nach der Entwicklung? Irgendwelche Nebenwirkungen?“, fragte ich überdurchschnittlich laut.
    „Zumindest die Ohren funktionieren noch. Danke der Nachfrage“, antwortete Igelevar.
    Flehentlich sah ich ihm entgegen und gestikulierte mit meinem Kopf stumm in Richtung Fiffyen und Shaymin. Meinen Wink, das Gespräch zu vertiefen und so das unabwendbare Unheil noch etwas hinauszuzögern, stieß bei ihm aber auf taube Ohren. So viel zum Thema seiner Lauscher ...
    „Entschuldigt, störe ich?“
    Ein gewaltiger Schatten hatte sich aus dem Nichts über uns geschoben. Mit ihrer unerwarteten Ankunft und ihrer melodischen Stimme hatte Gaia für die Form von Ablenkung gesorgt, wie ich sie mir erhofft hatte.
    „Ganz im Gegenteil! Willst du dich nicht zu uns gesellen?“
    „Um ehrlich zu sein, wollte ich fragen, ob ihr zu uns rüberkommen wollt.“
    Das Schicksal verstand es wirklich, einen knallhart vor die Wahl zu stellen. Sollte ich nun an hier verweilen, auf den Dächern zweier brodelnder Vulkane, die nur kurz vor dem Ausbruch standen, oder aber mich zu einem sicherlich alles andere als netten Plausch mit unseren eingeschworenen Todfeinden einlassen, was sicherlich ebenso vergnüglich werden würde, wie einem ausgehungerten Drachen die Zähne zu ziehen, während man sich zuvor noch in Erdbeermarinade gewälzt hatte. Ach ja, Entscheidungen über Entscheidungen ...
    „Gibt es bei euch was zum Essen?“
    Igelavars ungenierte Art, seinen Bauch für sich sprechen zu lassen und uns so nebenbei diese verzwickte Angelegenheit abzunehmen, wie wieder einmal verblüffend. Selbst Gaia wirkte leicht fassungslos, wenn auch nur kurz. Sie lächelte zärtlich. „Natürlich.“ Gaia wies uns an, ihr zu folgen, und stapfte davon.
    „Essen, komm, Sheinux!“
    Was soll ich sagen - ich war völlig baff. Fast sogar noch mehr darüber, dass sich auch Shaymin nach kurzem Blickkontakt mit mir in Bewegung gesetzt hatte, und kurz nach mir sich auch Fiffyen unserer Prozession anschloss.
    Wie den anderen zumute war, konnte ich nur mutmaßen. Igelavar war natürlich alles egal, solange er am Ende etwas zwischen die Zähne bekommen würde; Shaymin und Fiffyen waren natürlich ein Thema für sich. Ich aber fühlte mich hierbei wie ein beeinflussbarer Welpe, dem eine zwielichtige Gestalt in dunkler Kutte in einer diesigen Vollmondnacht Milch und Kekse in ihrem gottverlassenen Häuschen versprochen hatte. So ungefähr konnte man meine Gedanken wohl am besten beschreiben, gleich Sky und den anderen einen Überraschungsbesuch abzustatten.


    „Riecht ihr das auch? Hier stinkt es plötzlich nach Versagern.“
    Mal ehrlich: Hattet ihr etwas anderes erwartet? Ich für meinen Teil jedenfalls nicht. Es war das erste Mal, dass wir die außerordentliche Ehre hatten, uns nicht auf dem Schlachtfeld zu begegnen. Doch was noch nicht war, konnte ja noch werden.
    Soras bissige Äußerung zur Begrüßung fand unter ihren Reisegefährten keinen großen Zuspruch, doch wirklich zu stören, schien sie das nicht. Sky hatte sein Lager ein wenig abseits aufgeschlagen, saß auf dem Boden und döste mit geschlossenen Augen vor sich hin; Scorpio hatte kaum unser Näherkommen gewittert, da war er bereits auf und davon; und Gaia, deren Einladung wir schließlich gefolgt waren, hegte natürlich nicht die Absicht, ihre Gäste zu vergraulen. Sora selbst thronte hoch oben auf einem Ast. In ihren Krallen hielt sie eine Kastanie gefangen, deren weiches Fleisch sie bis zu unserer Ankunft herausgepickt hatte.
    „Komisch, ich rieche nichts“, sagte Gaia freundlich.
    „Ich habe dich für wesentlich klüger gehalten“, gab Sora zurück.
    Soras schmähende Worte hinterließen keinen erkennbaren Einfluss auf Gaia; auch äußerte sich unsere Gastgeberin nicht mehr weiter zu dem Thema. „Also“, sagte Gaia lächelnd in die Runde. „Sora habt ihr ja bereits kennengelernt.“ Passend dazu plusterte sich Sora auf ihrem hohen Thron wichtigtuerisch auf. „Dann wären da noch Sky“, Gaias langer Hals machte einen Schlenker herüber, wo Sky just in dem Moment schläfrig gähnte und sein Gefieder im schüttelte, „und da drüben Scorpio“, Gaia wies in die entgegengesetzte Richtung, wo uns lediglich ein zugedrehter blauer Rücken begrüßte. Er zuckte bei dem Klang seines Namens merklich leicht auf. „Und mich“, schloss Gaia unverhindernd lächelnd ab, „nennt man Gaia, sehr erfreut.“
    „Undisziplinierter Haufen ...“, flüsterte ich so leise, dass es eigentlich niemand hätte hören dürfen. Lediglich Shaymin nickte stumm und Gaia lächelte matt.
    „Wir sind Weggefährten nicht gewohnt. Ein seltenes Glück“, meinte Gaia.
    „Wundert mich ehrlich gesagt gar nicht, bei so einem Kotzbrocken von Mensch.“
    Was raus musste, musste eben raus. Gleichgültig sogar, wie unhöflich ich unserer Gastgeberin gegenüber war oder ich ihr und ihren Begleitern damit vor den Kopf stieß.


    Links und recht von mir stoben Shaymin und Fiffyen panisch auseinander. Ich selbst warf mich auf den Boden, kurz bevor wie aus dem Nichts ein Sturm Federn und blitzender Krallen über mich hinwegbrausten. Der grauweiße Schleier schoss wieder in die Höhe und wurde zunehmend langsamer. Am höchsten Punkt wirbelte Sora um die eigene Achse und sank lautlos dem Boden entgegen. Kein einziges Mal entblößte ein Blinzeln ihren starren und in allem Zorn unnachgiebig auf mir harrenden Blick.
    „Was maßt du dir an, schäbige, kleine Made?“ Schrill und aufgebracht klang Soras Stimme über uns hinweg. Keinen einzigen Schweifwedler hatte es gedauert, sie dermaßen aus der Reserve zu locken, dass sich selbst Fiffyens Stummelschwanz kräuselte. Doch wieder stand Sora völlig alleine da. Weder Gaia noch Scorpio fühlten sich berufen, ebenso für Eagle einzutreten, wie es ihre Kameradin tat. Ja, noch nicht einmal Sky, von dem ich eigentlich am ehesten mit einem ungeheuren Wutanfall gerechnet hatte.
    „Ooh“, höhnte ich bittersüß, „habe ich da etwa bei dem rauen Vögelchen einen weichen Punkt entdeckt?“
    Noch immer hatte Sora davon abgesehen, ihren rabenschwarzen Augen mit einem kurzen Lidschlag eine Pause zu gönnen. Mittlerweile aber waren sie derart verengt, dass sie dünn wie ein Blatt Papier zu mir hinaussahen - so dünn und ebenso scharf, wenn nicht sogar schärfer.
    „Hast du mir was zu sagen, Grundling?! Dann komm doch näher und sag es mir ins Gesicht!“, kreischte sie hysterisch. Mit ihren Krallen zog sie zentimetertiefe Furchen in den eben erst genesenen Waldboden. Es war mehr als offensichtlich, dass sie nur darauf wartete, um mir diese Demütigung mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln bis aufs Blut heimzuzahlen. Wir sahen einander an - sie voller Hass und Abscheu, ich mit zufriedener Belustigung.
    „Warum nicht?“, spottete ich herablassend und wollte gerade schon den ersten Schritt tun, als sich eines von Gaias großen, grünen Blättern vor mich schob und mir Weg wie auch Sicht versperrte.
    „Lass es!“ Es blieb kaum verborgen, dass Gaias warmherzige Stimme einen Teil ihres sanften Tons eingebüßt hatte. An ihren Augen las ich es ab; ich verstand jetzt, warum nur Sora für ihren Freund und Trainer einstand. Nicht, weil die anderen nichts als Abneigung gegenüber Eagle empfanden - im Gegenteil. Nur wagte es niemand, sich möglicherweise Sora in den Weg zu stellen. Wohl eine Frage des Respekts ... und wohl auch aus Furcht vor ihren Krallen.
    „Du ergreifst Partei?! Für diese Verschwendung von Fell?!“
    „Ich ergreife keine Partei“, erwiderte Gaia langsam, „auch heiße ich es nicht gut, dass er eine Beleidigung ausgesprochen hat, so wie ich auch damals nicht damit einverstanden war, als du deren Menschen gedemütigt hast, und das nicht zu knapp.“
    „Sie hat was?“ Langsam aber sicher musste das widerspenstige Blattwerk, das Gaia vor mich geschoben hatte, vor meinem Willen weichen. Das erste, was ich nach Erlang freier Sicht erblickte, war eine plötzlich über alle Federn boshaft grinsende Sora - und das wollte mir überhaupt nicht gefallen.
    „Ach ja, das hast du ja damals gar nicht mitbekommen“, gickelte Sora plötzlich äußerst schadenfroh. „Wir für unseren Teil haben uns köstlich amüsiert, nicht wahr, Sky?“
    Noch im Halbschlaf spähte eines von Skys kalten, gelben Augen aus den Höhlen. Kurz fixierte er uns, insbesondere mich. „Häh, häh!“, lachte er gehässig und verfiel daraufhin rasch wieder in seinen Schlafzustand.
    „Aber du warst ja damals gar nicht in der Verfassung. Eigentlich jammerschade“, erklärte Sora weiter.
    „Was laberst du da für einen Müll zusammen?“
    Es war nicht einfach, Soras Mimik einwandfrei zu deuten, doch glaubte ich, dass ihr schnabelreiches Grinsen in die Breite ging.
    „Erinnerst dich wohl nicht, oder willst es vielleicht auch gar nicht. Wundert mich ehrlich gesagt nicht. So schön habe ich mit dir den Boden aufgewischt - und im Anschluss hat dein jämmerlicher Versager von Mensch die Abreibung seines Lebens erhalten.“
    „Absoluter Quatsch! Ich habe nie ...“
    Wie ein Blitz traf es mich. Natürlich hatte ich Sora nie im Kampf gegenübergestanden, und doch irgendwie schon. Zumindest glaubte sie das. Nur war es zur damaligen Zeit Stan gewesen, der sich ihr hatte stellen müssen. Und vertretend für ihn hatte ich Eagles knallharte Faust spüren dürfen. Letztendlich hatten wir beide ein äußerst schlechtes Bild abgegeben. Zum Tatzeitpunkt war Sora die einzige Zeugin gewesen, und sie hatte es sich offenbar nicht nehmen lassen können, es ordentlich breitzutreten.
    „ Ihr habt ein schönes Bild abgegeben, wie ihr euch beide im Dreck gewälzt und wie zwei erbärmliche Würmer vor Schmerzen gekrümmt habt.“
    Als ob sie meine Reaktion bis auf die kleinste Millisekunde vorausgesehen hätte, schob Gaia erneut - sogar zwei - ihrer gewaltigen Blätter mir in den Weg; so viel war nötig, um mich zu bändigen. Mit Leibeskräften kämpfte ich gegen die Barriere an, brüllte mir die Kehle mit den verachtenswertesten und entwürdigendsten Beleidigungen heiser. Sora lachte nur.
    Rollentausch in unserer seltsam geformten Gruppe. Hatte ich noch vor wenigen Augenblicken mit spitzen Bemerkungen meine Gegnerin wie mit einem Speer durchbohrt, war nun ich es, den man in die Ecke getrieben hatte. Wie es schon zuvor bei ihr der Fall gewesen war, bekam auch ich keine Rückendeckung von den anderen; wohl auch aus demselben Grund. Sora hatte ihren Eagle, ich hatte meinen Stan, und niemand wagte es, sich da einzumischen. Wir waren uns gar nicht so unähnlich, sie und ich - und eben das widerte mich nur noch mehr an.
    „Wenn ich verspreche, ihr nicht alle Knochen zu brechen und vielleicht ein oder zwei Federn übrig zu lassen, lässt du mich dann zu ihr?“, knurrte ich mit gedämpften Zorn, während ich zu Gaia hinaufschaute.
    „Lass das Großmaul doch! Wenn ich mit ihm fertig bin, gibt es den nur noch scheibchenweise!“
    „Nichts dergleichen werde ich tun“, weigerte sich Gaia kopfschüttelnd. „Vielmehr solltet ihr euch ein Beispiel an euren Menschen nehmen.“ Gaias Blick schweifte um. „Sie scheinen ihre Differenzen überwunden zu haben. Vielleicht keimt da sogar eine Freundschaft heran, wer weiß?“
    Angewidert schaute auch ich herüber. „Eine Freundschaft anbahnen?“
    „Mit dem?“, ergänzte Sora - wohl aber nicht gewollt - passend meine Gedanken und klang dabei nicht weniger widerstrebt, das kampflos hinzunehmen, als ich es war. „Tss, sieht eher so aus, als bekäme der Schwächling gerade ordentlich auf den Zahn gefühlt.“
    In der Tat wirkte Gaias Auffassung von „Differenzen überwunden zu haben“ sehr weit hergeholt. So wild wie Stan mit seinen Armen verteidigend gestikulierte, konnte man meinen, sein Gesprächspartner stünde kurz vor einem erneuten Wutanfall. Von einem dauerhaften Frieden mochte zumindest ich nicht sprechen.
    „Ich finde, Gaia hat recht“, mischte sich Shaymin zum ersten Mal ein. „Vielleicht ist das schlechte Bild der Menschen nicht unbegründet - auf beiden Seiten“, ergänzte Shaymin mit heftigem Nachdruck in der Stimme und schaute energisch in die Reihen. „,Sie sind eben sehr unterschiedlich. Aber sind wir das nicht alle? Und trotzdem schaffen wir es irgendwie“, hier schaute Shaymin insbesondere mich an, „uns nicht gegenseitig an die Gurgel zu gehen. Es liegt an uns, dass das auch so bleibt. ,Die Zahl deiner Freunde reift und welkt mit deinem Tun’, wie man in meiner Familie zu sagen pflegt.“
    „Shaymin war dein Name, richtig? Da steckt sehr viel Weisheit in ...“
    „Shaymin?!“


    Ziemlich jeder, speziell jene, die das außerordentliche Pech besaßen, sich in unmittelbarer Nähe zu Fiffyen zu befinden, zuckten vor Schreck zusammen. Selbst Sky schenkte der explosionsartig aufgesprungenen, zähnefletschenden Fiffyen seine ganze wertvolle Aufmerksamkeit.
    „Das“, erklärte ich der verdutzt in unsere Reihe blickenden Gaia seufzend, „war ein Wort zu viel.“
    „Das ist Shaymin?!“, rief Fiffyen aufgebracht.
    „Und wenn so wäre?“, erwiderte Shaymin unbekümmert.
    Mir war bewusst, dass nur zwei Dinge in Fiffyens Kopf herumgehen konnten. Zum einen: Warum die beiden sich plötzlich in die mit gegenseitigem Abscheu erfüllten Augen schauen konnten, ohne dass Fiffyen ihren Kopf senken musste. Das aber war nur das kleinere Übel. Vielmehr ging es ihr wohl um den größten Fehler, den ein Mannsbild begehen konnte: Lass dich niemals dabei ertappen, wie du Zeit mit einer anderen Frau verbringst.
    „Ich hätte es wissen müssen! Dein Gestank hat dich verraten!“
    „Glückwunsch! Wenn du jetzt nur noch so viel Grips im Kopf wie in der Nase hättest, wärst du eine zumindest annähernd passable Gesprächspartnerin.“
    „Glaubst wohl, du könntest mit deinem neuen schäbigen Outfit Eindruck schinden? Dass ich nicht lache! Lass dir gesagt sein, Schätzchen, du stiehlst niemandem die Show, und da kannst du dich noch so rausputzen.“
    „Solltest vielleicht auch mal an Blumen schnüffeln. Schlechter kann es ja kaum noch werden Nur schade um die schönen Blumen. Selbst Unkraut wäre noch zu schade für dich ...“
    „Sheinux!“
    „Mist!“
    Auch so war die Situation schon peinlich genug, da brauchte es nicht noch, dass man mich in flagranti dabei erwischte, wie ich mich klammheimlich mit eingekniffenem Schwanz und angelegten Ohren aus dem Staub machen wollte. Jetzt, wo mein Name in die Runde geworfen worden war, hatte ich meine letzte Chance zur unbemerkten Flucht vertan.
    „Was habt ihr da drüben getan?“
    Ich legte mein diplomatischstes Lächeln auf, das mir in dem Moment zur Verfügung stand. „N-nichts“
    „Nichts? So, so.“ Fiffyen stampfte einen gewaltigen Schritt auf mich zu. Ich stolperte fast dieselbe Entfernung zurück.
    „Worüber habt ihr geredet? Über mich?“
    „Wie kommst du da drauf?“
    „Aha! Sondern?“
    „Können wir das nicht wann anders ...? Nicht vor dem Federvieh ...“
    „Nein! Nicht wann anders! Hier und jetzt, sofort!“
    Wie sie es schaffte, von dem einen auf den anderen Augenblick mir so nah zu kommen, dass mir ihr heißer Atem die Tränen in die Augen trieb und sich ein Erguss ihres Speichels über mir ergab, ist mir noch heute ein Rätsel. Ich stand mit dem Rücken an einem Dornengestrüpp am Rande der Lichtung - es gab kein Zurück mehr.
    „Ich bin es allmählich leid! Entscheide dich endlich! Willst du mich oder diese ... diese Mutantin da?“
    „Holla! Mutantin? Sagt gerade die, für die ,Wasser’ und ‚Waschen’ Fremdwörter sind?“, mischte sich Shaymin ein.
    „Flittchen! Jetzt reichts!“
    „Mir alles egal; ich habe Hunger! Du hast gesagt, es gäbe etwas zu essen!“



    Wildes Gekreische zweier sich im Dreck raufender Weibsbilder und Igelavars Hunger-Gejammer boten mir genügend Zeit, um - zwar mit kochendem Gesicht, dafür aber unbemerkt - aus der Gefahrenzone zu schlüpfen. Hinter Gaias klobigen Beinen, die so kräftig wie kleine Baumstämme waren, fand ich schließlich ein Versteck.
    „Sind sie nicht süß, unserer kleinen Wollmäuse?“ Soras schadenfrohes Gekrächze war so spitz wie vorhersehbar; leider irgendwie auch zurecht. Noch vor Augenblicken hatten wir noch auf Frieden und beidseitiges Verständnis appelliert, und wenig später flogen die Fetzen. Gekonnter hätten wir gar nicht mehr in Misskredit geraten können.
    Gaias langer Hals tauchte zu meiner Seite auf und schaute mich fragend an.
    „Trauriger Alltag ...“, seufzte ich.
    „Ich fühle mich hierfür verantwortlich. Tut mir leid.“
    „Du konntest ja nicht ahnen“, ich musste die Stimme heben, um Fiffyens Geschrei zu übertönen, die gerade von Shaymin - unter dem ständigen aufhetzerischen Gejohle von Sora - die Augen ausgekratzt bekam; Fiffyen bedankte sich mit einem äußerst schmerzhaft anzusehenden Biss in das Genick ihrer Rivalin“, dass es zu einer solchen Katastrophe ausarten würde.“
    „Was ist jetzt mit dem Essen? Ich warte!“
    Gaia atmete tief ein und seufzte schwer. „Wenigstens von einem Versprechen kann ich mich reinwaschen. Bitte, bedien dich.“
    „W-was?“
    Eine äußerst makabere Geste folgte Gaias Ankündigung: Sie hielt Igelavar das Ende ihres Halses - ihr Kinn, wenn man es so wollte - bedenkenlos hin. Sowohl Igelavar als auch ich wussten natürlich nichts mit diesem seltsamen Angebot anzufangen. Gaia hob ihren Kopf noch weiter an und entblößte ihren Hals so noch mehr; gar rückte sie noch ein Stückchen näher heran. Als noch weitere Sekunden ungeschehen verstrichen, sagte sie schließlich: „Die Früchte, Dummerchen. Du hast doch Hunger, sagtest du?“
    Selbst Igelavar, für den sein Magen bekanntlich über allem stand, stieß an diesem Punkt zweifellos an eine nie zu besitzen geglaubte Hemmschwelle. Zum ersten Mal seit ich ihn kannte, zögerte er, eine Mahlzeit anzunehmen - und das wollte etwas heißen.
    „Nur keine falsche Scheu. Sie sind nicht giftig. Du wirst feststellen, dass sie sehr nahrhaft und äußerst sättigend sind“, ermutigte Gaia ihren Gast, was vage an das Bild einer fürsorglichen Mutter erinnerte, die ihren Nachwuchs zu überreden versuchte, den unappetitlich anzuschauende Spinat zu kosten. Etwa genau so zögerlich pflückte sich Igelavar dann schließlich eine der gelben Früchte, die verwechselbare Ähnlichkeit mit überproportionalen Bananen besaßen, von dem Hals seiner Gastgeberin.
    „Ihr solltet euch geehrt fühlen, dass wir unsere eiserne Reserve mit euch teilen - nicht dass wir sie jemals nötig gehabt hätten ...“, sagte Sora wichtigtuerisch, die erstmalig ihren anfeuernden Schlachtgesang unterbrochen und sich von den beiden prügelnden Furien abgewendet hatte.
    „Tut dir das nicht weh?“, fragte ich, während ich zum gleichen Teil mit Faszination wie auch mit Abneigung kämpfte.
    „Wenn ich dir mal eine Frage stellen darf“, sagte Gaia. Sie streckte mir ihren Kopf zu. „Wenn du eine Frucht von einem Baum oder eine Beere von einem Strauch pflückst, stellst du dir dann diese Frage auch? Fragst du die Pflanze, ob sie ihre Gaben mit dir teilt? Ob sie Schmerz empfindet?“
    „Ich - also, ich habe mir darüber nie wirklich Gedanken ...“
    „Das sollte natürlich kein Vorwurf sein“, sagte Gaia und lächelte. „Vielmehr sollte es zum Nachdenken anregen, dass nicht alles so selbstverständlich ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Eine Pflanze will wie eine Freundschaft gehegt und gepflegt werden. Gebrechlich ist sie und gedeiht nur langsam. Liebe ist der fruchtbare Boden, in schweren Zeiten vergossener Schweiß das Wasser, Rücksicht und Achtung die Hoffnung auf einen neuen sonnigen Tag. Die Mühe soll belohnt werden, doch nicht allein des Gefühls von materiellen Besitzes am Tag der Ernte wegen. Auch eure gemeinsame Zeit miteinander, jeder noch so kleine Moment, ist kostbar. Verschwendet sie nicht und haltet sie in Ehren.“
    „Kann ich noch eine haben?“ War er vorhin noch unschlüssig darüber, ob er das freundlichen Angebot einfach annehmen könnte, verlangte Igelavar nun gewissenlos nach mehr. Gaia verdrehte sie Augen. Dass zumindest ich ihren Worten aufmerksam gelauscht hatte, stimmte Gaia milde und so gab sie noch eine ihrer Früchte zur Lese frei.
    Gaia war schlichtweg bemerkenswert. Nie hätte ich geglaubt, in Eagles Reihen, zwischen der arroganten Sora, dem einfach nur boshaften Sky und dem seltsam-schüchternen Scorpio, auch eine solch tiefsinnige, fast schon philosophische Person vorzufinden.


    Der entstellte Ausdruck auf Fiffyens Gesicht schwebte noch kurze Zeit über dem Boden, bis er sich gänzlich in dem rosaroten Strahl auflöste und verschwand. Mit einem gezielten Schuss hatte Stan der Reiberei ein Ende bereitet und Fiffyen wieder hinter das Schloss und Riegel ihres Pokéballs gesperrt, wo sie nun schmoren durfte.
    „Mit der hat man nichts als Scherereien. Was habe ich mir da nur angefangen ...?“, seufzte Stan, schenkte dem Ball in seiner Hand nur einen kurzen Moment seiner Aufmerksamkeit, bevor er ihn sich wieder an den Gürtel hing.
    „Was sehe ich denn da? Fraternisiert ihr etwa mit dem Pack?“ Nicht gerade wenig abfällig schaute Eagle zu Igelavar herab, der bereits seine zweite Mahlzeit fast abgeschlossen hatte. Stan und Eagle standen friedvoll Seite an Seite. Ein äußerst befremdeter Ablick.
    „Mit den Grundlingen? Niemals!“, verteidigte sich Sora empört.
    „N-nein“, murmelte der eben eingetroffene und sich noch immer dezent im Hintergrund haltende Scorpio.
    „Häh! Häh!“, lachte Sky leise und nickte wieder ein.
    „Nur ein Zeichen der Freundschaft“, sagte Gaia besonnen.
    „Sie sagen, also ...“
    Mit einer schnellen Handbewegung gebot Eagle Stans Erkärung Einhalt. „Spar dir die Übersetzung. Ich verstehe auch so.“ Er schaute in die Runde und nickte seinen Kameraden zu, wobei ich schwören konnte, dass er speziell mir besonders finstere Blicke zuwarf.


    „Nun, wie viel weiß er?“
    Stan hatte mich etwas zur Seite geschoben. Für den Moment waren wir ungestört. Mein Freund zögerte kurz, antwortete dann aber schließlich: „Alles.“
    „Alles?“
    „Alles.“
    Jetzt war ich es, der kurz überlegte. „Auch, dass ich es war, der ihm im Laubwechselfeld eine runtergehauen hat?“
    „Auch, dass du es warst, der ihm im Laubwechselfeld eine runtergehauen hat“, antwortete Stan. „Er war nicht sonderlich gut darauf zu sprechen.“
    „Wenn schon. Mir doch egal ...“
    „Und, wie hat er es aufgefasst?“, fragte ich nach lang angehaltenem Schweigen.
    Stan seufzte schwer. „Natürlich wollte er es mir nicht glauben. Und um ehrlich zu sein, wäre es mir sogar mehr als recht, wenn er es noch immer nicht täte.“
    „Ach, tut er das?“
    „Mhmm“, machte Stan nachdenklich. „Vielleicht. Früher oder später wohl auf jeden Fall.“
    „Wie meinst du das?“
    Stan lächelte gequält. „Also, äh ...“ Seit langer Zeit mied Stan direkten Augenkontakt mit mir. Gehemmt schabte er mit dem Fuß auf dem Boden, während seine verkeilten Finger eine nicht zu gewinnende Schlacht ausfochten. „Er wird uns wohl begleiten.“
    „Was? Wieso?“
    „Eben darum, das ist ja das Problem.“ Stan richtete sich gerade, stemmte seine Hände in die Hüfte und holte tief Luft. „Euch zwei Kanaillen lasse ich so schnell nicht mehr aus den Augen, nicht nach alledem“, ahmte er Eagles erboste Stimme unverkennbar nach. „Er wirkte zwar nicht allzu glücklich darüber, als ich ihm sagte, ich sei nach Johto unterwegs, das aber schien ihn nicht abzustrecken. Möglicherweise ist er auch hinter Shaymin her, keine Ahnung.“ Passend dazu warf Stan eiligst einen Blick über die Schulter zu den anderen und vergewisserte sich dabei, ob all seine Pokébälle noch ihrem richtigen Platz waren. Shaymin und Igelavar verweilten noch an Ort und Stelle. Beide unterhielten sich mit Gaia. Gefahr drohte aber scheinbar keinem von beiden, trotz ihrer unmittelbaren Nähe zu Eagle.
    „Besteht die Chance, dass wir ihn irgendwie abhängen können?“, brummte ich.
    „Er ist ziemlich stur“, antwortete Stan knapp.
    „Das habe ich bereits gemerkt.“
    „Er ist vielleicht kein Colin, aber vielleicht doch ein ... naja“, selbst Stan kämpfte mit seinen nächsten Worten, „netter Kerl.“. Bei diesen Worte schluckte er, als hätte er gerade äußerst zähflüssigen Teer zu trinken bekommen.
    „Hier kommt Stan, die Leichtgläubigkeit in Person“, spottete ich meinem Gefährten direkt ins Gesicht. „Der Typ wird nervtötender als ein ganzes Rudel Schwiegereltern sein, da kannst du drauf wetten!“
    „Was hast du denn mit Schwiegereltern zu schaffen?“, fragte Stan erstaunt.
    „Nichts, das ist es ja. Bislang habe ich mich stets rechtzeitig verdrücken können - und du weißt warum. Erinnere dich an unser Gespräch, ist nicht lange her.“
    Stan kratzte sich nachdenklich am Kopf. „Ach ja, da war was, richtig ...“
    „Soll ich hier Wurzeln schlagen?! Kommt du jetzt oder muss ich dir und deinem Flohzirkus erst Beine machen?!“
    Sowohl Stan als auch ich zuckten zusammen. Stan kratzte sich betroffen am Genick, ich rollte nur mit den Augen. „Siehst du? Ich habe es dir doch gesagt ...“

  • Kapitel 6: Gemeinsam einsam


    Part 1: Nostalgie


    Meine anfängliche Befürchtung blieb zum größten Teil unbegründet. Dass wir von diesem Moment an wieder zu dritt unterwegs waren, merkte man über die meiste Zeit kaum; lediglich an dem unbehaglichen Gefühl, nämlich auf Schritt und Tritt misstrauisch beäugt zu werden. Während Stan und ich immer weiter südliche Wege einschlugen, bewahrheitete Eagle seine Drohung und hielt stur an unserer Richtung fest; das aber stets auf Abstand. Groß genug, um nicht als möglicher Reisebegleiter angesehen zu werden, gleichzeitig allerdings noch so gering, dass er uns unmöglich aus den Augen verlieren konnte. An Spaß hatten die sonst so erfreulichen, unbeschwerlichen Rast-Pausen eingebüßt. Auch hier mied Eagle meist direkten Kontakt zu uns; Blickfang für seine Ungeduld waren wir dennoch. Gleichgültig was Stan auch anpackte, war es lediglich eine beiläufige Unterhaltung mit mir, die Absicht einer weiteren Unterbrechung der Reise oder eben sein Entschluss den Tag zu beenden - bei einfach allem fielen wir in Eagles Ungnade. Etwas Anderes war aber natürlich nicht zu erwarten gewesen. So kannten wir ihn nun einmal ...
    Ganz die Alte zeigte sich auch Shaymin. Mit dem Ablauf des Nachtzyklus präsentierte sie sich wieder in ihrer alten, uns gewohnten Pracht, so, wie sie es uns vorausgesagt hatte. Davon war zwar weder in der Legende von der Wüstenrose noch in Eagles Gehirnkapriole die Rede gewesen, doch wer wenn nicht Shaymin musste das am besten verstehen? Beinahe kommentarlos nahmen wir daher dieses Phänomen hin; nur beinahe, da es sich Fiffyen natürlich nicht nehmen lassen konnte, wiederholt mit einigen gezielten Bemerkungen ihrem aufgestauten Ärger Luft zu machen. So oder so aber musste die Reise weitergehen ...


    Es war der frühe Abend des dritten Tages nach den letzten Vorfällen. Außergewöhnlich viele von Stans Artgenossen hatten uns dieser Tage den Weg gekreuzt. Die Rede war von einer großen Veranstaltung, die wohl erst kürzlich zu Ende gegangen war. Wenn man die Altersklasse betrachtete, das schwere, auf dem Rücken der Passanten schaukelnde Gepäck und - nicht zu vergessen - die Pokébälle, die die meisten wie schillernde Orden an den Gürteln trugen, so konnte man recht schnell berechtigte Schlüsse über das Wesen dieses Zusammentreffens ziehen. Stan scherte sich nicht sonderlich darum, und so auch ich nicht. Wir beide hatten wenig für derartige Ansammlungen übrig. Das Motiv für dieses Verhalten rührte allerdings aus verschiedenen Quellen:. Stan war von Natur aus schüchtern und mied daher - wo er es auch konnte - größere Menschenanhäufungen. Ich hingegen mochte einfach von Grund auf nur die wenigsten Zweibeiner. Ausnahmen bildeten natürlich in erster Linie Stan, und zur damaligen Zeit außerdem jeder naive Tropf, der ahnungslos in mein Revier eingedrungen war, nur um von mir klammheimlich ausgenommen zu werden und am nächsten Morgen mit deutlich geschrumpften Vorräten aus dem Schlaf zu erwachen. Jedenfalls hatte Stan an seiner Einstellung bislang eisern festgehalten, auch wenn es hin und wieder einige Abstriche gegeben hatte und er nicht mehr ganz der scheue Mensch war, den ich vor Wochen aufgegabelt hatte.
    Eagle war da etwas anders. Zwar konnte man auch ihm unschwer nachsagen, dass er ein ziemlicher Eigenbrödler war, doch in einer Beziehung grenzte er sich deutlich von Stan ab: Wer auch immer das außerordentliche Pech besaß, mit ihm dieselbe Straße zu teilen, musste sich zwangsläufig ihm und seiner kreischenden Meute stellen. Einfach jeden nahm er ins Ziel. Kompromisslos. Ohne Erbarmen oder Ausnahme. Nichts und niemand war von einer Demonstration - wie er es auch jedem mehrfach auf die Nase binden musste - seines Könnens gefeit. Waren seine Gegner nun kaum dazu in der Lage, sich alleine die Schuhe zuzubinden, oder eben bereits in dem Alter selbst Mutter oder Vater zu sein.


    „Stehen bleiben - hinsetzen - Klappe halten!“
    Nach nunmehr fast drei Tagen der gemeinsamen Reise war Eagles Aufforderung an uns völlig überflüssig - zwischenzeitlich kannten wir die Zeremonie nur zu gut: Er profilierte sich einmal wieder vor der gesamten Welt, während wir, sein untertänigstes Gefolge, still und stumm seinem Triumph abwarten durften. Als obligatorisches Ziel musste in dieser späten Stunde eine junge Frau herhalten. Ihr noch fröhliches Lächeln, da war ich mir sicher, würde nicht mehr lange anhalten.
    „Weißt du“, begann ich langsam, während ich es mir neben Stan im weichen Gras bequem machte und sich beide Parteien in alter Manier gegenüber aufbauten, „ohne dir nahe treten zu wollen: Ich mochte ihn lieber, als er dir noch an die Gurgel gehen wollte.“
    Stan atmete tief die laue, aromatische Abendluft ein - ein wohlriechende Tinktur aus frischem Gras und unberührter Natur. „Ich weiß“, seufzte er schwer, sagte sonst aber nichts.
    „Und weiter?“, stocherte ich nach. „Hast du sonst nichts zu sagen?“
    „Und was sollte das sein?“ gab Stan zurück.
    „Was wohl?“ Ich machte eine unmissverständliche Kopfbewegung in Eagles Richtung. Auf seiner Kampffeldseite hatte sich in der Zwischenzeit Sora eingefunden und machte sich mit akrobatischen Luftkunststückchen wichtig. „Alte Angeberin“, murmelte ich bei diesem Anblick leise.
    „Das ist halt seine Masche, das mit den Muskeln Spielen. Er braucht das“, schulterzuckte Stan.
    „Wenn es nur das wäre ... Colin damals war eine Sache. Aber der hier ...“
    „Ich weiß ...“
    Mit einer fast schon unverfrorenen Hochmütigkeit schielte ich in Stans Richtung; die restliche Aufmerksamkeit lag auf der gegenüberliegenden Kampffeldseite, wo die Trainerin ihren kleinen, flaumigen, braunen Hasen, der vor ihr auf der Stelle kleine Luftsprünge machte, bejubelnd anhimmelte. „Das hast du schon einmal gesagt.“
    „Kann ich etwas dafür, dass er ist, wie er ist?“, seufzte Stan so schwer wie ein verbitterter Stein kurz vor dem Ende seiner Tage.
    „Zeig ihm halt Flagge! Werd ihn einfach los! Mir egal wie!“
    „Das sagst du so einfach ...“


    Auf dem Schlachtfeld krachte in diesem Augenblick Sora und ihre in jeglicher Hinsicht unterlegene Gegnerin zum ersten und damit auch zum letzten Mal zusammen. Die Häsin katapultierte es spektakulär durch die Luft; weniger spektakulär dagegen die äußerst unschön anzusehende Bruchlandung auf dem flachen Bauch. Der flauschige Körper musste robuster sein als es der bloße Eindruck Glauben schenken mochte, sonst hätte wohl Sora ihr Ziel einfach wie ein Speer durchbohr und aufgespießt. Das lange Wendemanöver der Angreiferin endete wieder am Ausgangspunkt ihres Überfalls, wo sie hochmütig auf der Stelle schwebte.
    „Vielleicht wird es bald Winter - Zugvögel fliegen ja bekanntlich nach Süden“, meinte ich beiläufig und gab mich beinahe schon für das Vorgefallene desinteressiert.
    „Er - ist - kein ...“
    „Er ist ein Vogel, und das weißt du! Ich wette, wenn du ihm nur eine Hand voll Körner anbieten würdest, würde er bestimmt ganz nach deiner Pfeife tanzen. Jeden Tag ein Ei zum Frühstück, könntest ihn in eine Uhr stecken, oder er könnte dir täglich deine Post ausliefern und zustellen. Und wenn du seine krätzigen Eier langsam satt hättest, dir sein stündliches Gestänker langsam auf den Zeiger gehen würde und du ihn postwendend loswerden willst, könntest du ihn immer noch rupfen und ein Kissen mit ihm füllen.“
    Zwischen Stans leisem Gefluche und wildem Gestikulieren konnte ich deutlich den kurzen Anflug eines verschmitzten Lächelns entdecken. Insofern hatte ich also alles richtig gemacht. Erschöpft atmete er am Ende aus.
    „Selbst wenn er dir ein Ei legen würde“, reflexartig zog Stan zwischenzeitlich den Kopf ein, als Sora nach einer scharfen Kehrtwende über unsere Köpfe hinwegschoss und sich mit ausgefahrenen Krallen auf ihren gerade erst eingetroffenen, stark beleibten Gegner stürzte, „wärst du sicherlich der Letzte, der es annehmen würde, habe ich Recht?“
    Keinen Augenblick musste ich mit dieser Entscheidungsfrage spielen. „Erraten!“
    „Dachte ich mir ...“, sagte Stan. „Igelavar ließe sich wohl nicht lange bitten. Was der in letzter Zeit alles weghaut ... Wundert mich ehrlich gesagt aber nicht, wenn man bedenkt, wie der seit seiner Entwicklung mit seinen Gegnern umspringt.“
    Stan konnte so viel er wollte unschuldig auf und ab wippen - ich bemerkte sein augenscheinliches Interesse an mir. Was ihm Kopf herumging, war offensichtlich. In mir löste nur allein darüber Nachdenken aber ein ganz und gar unbehagliches Gefühl aus.
    „Bin mal gespannt, was wir von unserem kleinen Fresser noch erwarten dürfen.“
    „So toll ist er jetzt auch nicht ...“, maulte ich. „Du hättest mal sehen sollen, was er letztens im Gebüsch gemacht hat ...“ Abfällig schüttelte ich den Kopf. „Ich sag es dir - das hätte ich zehn Mal besser und zehn Mal größer machen kö...“
    „Musst du eigentlich immer alles so plastisch ausdrücken?“
    Ein wenig zögerte ich die Antwort hinaus, indem ich dem kleinen, kränklich wirkenden Bär mit der langen Schnupfnase nachschaute, der vor Skys angsteinflößendes Gebrüll direkt in die Arme seiner Trainerin Reißaus nahm. „Ja!“, antwortete ich schließlich entschieden.
    Nach Stans anfänglichem Seufzen fing seine rechte Hand an, meinen Nacken mit zärtlichen Graulbewegungen zu liebkosen. Ich vermochte mich nicht an den letzten Moment zurückzuerinnern, an dem Stan dies zuletzt getan hatte. Gerade deshalb genoss ich es nur umso mehr. Jeden noch so kleinen Moment. Wollte er doch niemals damit enden. Die Zeit einfach stillstehen. Bis zum Ende aller Tage ...
    „Vielleicht hast du ja Recht. Vielleicht verwandelt sich unsere hässliche, gerupfte Ente ja tatsächlich irgendwann in einen schönen Vogel und zieht Richtung Süden.“
    „Mhmm ...“, meinte ich verträumt.
    „Wäre schön, wenn wir wieder für uns wären, meinst du nicht auch? So wie damals.“
    „Mhmm ...“
    Stan kicherte leise. Keinen Moment aber hörte er mit dem Graulen auf. All meine Sorgen, all mein Kummer, alles um mich herum war vergessen. Die Welt, sie hätte können um mich herum im Chaos versinken und untergehen können - es wäre mir egal gewesen. Selbst unser lästiges Anhängsel war vergessen. Was war wichtiger, als dass Stan und ich, wir beide, zusammen waren? Nichts ...
    „Aufwachen, ihr zwei Kanaillen! Wenn ihr nicht vorhabt, hinter mir den Dreck aufzuwischen, geht’s weiter!“
    „Bis dahin müssen wir aber mit ihm leben. Vielleicht aber ... irgendwie und irgendwann ...“
    Mit diesem letzten, sehr schweren Seufzen löste sich Stans inniger Griff um meinen Nacken. Als ich die Augen öffnete, beraubte mich die Sonne mich im ersten Moment meines Sehvermögens. So grell und durchbohrend fühle die sonst so warme und angenehme Sonne sich im ersten Augenblick an, als ob mir Sky unerbittlich die Augen aushackte. Stan erhob sich, ich schaute ihm traurig nach.
    „Irgendwann ...“, seufzte auch ich niedergeschlagen und tat es ihm gleich.

  • Moment einmal ... Seit September gibt es schon einen neuen Part?! o.o
    Irgendwie bemerke ich das immer nur zufällig, wenn ich gerade selbst einen neues Kapitel veröffentliche, so selten bin ich scheinbar in diesem Bereich unterwegs. Und wie ich sehe hab ich die letzten zwei Monate nicht unbedingt wenig verpasst, also Word zählt auf Schriftgröße 11 knapp 30 Seiten. Ich bitte jedenfalls vielmals um Entschuldigung, mittlerweile wäre schon längst ein Kommentar meinerseits fällig gewesen ...


    Bin selbst nicht unbedingt der schnellste Leser, wie man vielleicht schon gemerkt hat, deswegen wollte ich die neuen Parts erst einmal stückweise durchlesen. Hab mich in meiner Mittagspause vor den PC gesetzt und dachte mir, dass ich kurz paar Seiten lese ... und wollte im Endeffekt bis zum Stundenanfang nicht mehr aufhören. Im Ernst, das Kapitel war so spannend, ich wollte wirklich nicht damit stoppen! Leider musste ich eine Unterbrechung vor dem „Eine Prinzessin packt aus“ Part einlegen, weil ich schwer neben dem Unterricht heimlich lesen konnte xD
    Hab formlich gezittert und mittgefiebert, und nebenbei immer wieder auf die Uhr geschaut, um zusehen, wie viel Zeit ich noch hatte. Kurz: Ich bereu nichts : D
    Anfangs dauerte es einige Zeilen, bis ich mich wieder in die Handlung wieder zurecht gefunden hatte. Zu Letzt waren wir (bzw. unsere Helden) mitten im Kampf gegen Rivalen Eagle stehen geblieben, der gerade seinen ultimativen Trump ausspielen wollte. Diesen einen Moment hast du fies hinausgezögert, um uns Leser auf die Folter zu spannen. Hab selbst zu spekulieren begonnen, welches Pokémon gegen Igelavar in den Ring geschickt werden würde, aber ganz ehrlich, ein Tropius war das letzte was ich erwartet hätte. Es ist zwar ein Flugpokemon aber eines von der sehr untypischen Sorte. Ich glaube, lediglich ein Papungha hätte ich mehr überrascht :‘D
    Tropius gehört eigentlich zu den Pokémon, die ich selbst leicht vergessen, wenn ich an ein „Flugpokemon“ denken. Konnte bisher ehrlichgesagt nicht viel mit der „fliegenden Bananenstaude“ anfangen, aber ich denke das dank dieses Kapitel mir das Pokémon eher im Gedächtnis bleiben wird. Gaias Beschreibung waren sehr treffend (trotzdem hab ich ein Weilchen gebraucht, um endlich zu erkennen, dass es sich um ein Tropius handelt xD ) und ihr ganzer Auftritt ... richtig majestätisch geschildert. So Ruhig, ganz anders als die vorherigen Gegner. Wie sie einfach gelassen gegen Ex-Feurigel antrat und später sich imposant hinauf in die Luft schwang, diese gesamte Szene konnte ich sehr gut vor meinem geistigen Auge vorstellen. Da ich die Anime nie wirklich gesehen hab, konnte ich mir nie wirklich vorstellen, wie dieses Pokémon eigentlich fliegen sollte und hab mir das etwas lächerlich vorgestellt ... Aber deine Art, wie du diese Szene geschildert hast, hat mich glaub ich umgestimmt.
    Aber genug zu Tropius, das Herz des Partes war ja der Kampf selbst und dieser war wirklich ungemein spannend. Bis zum Schluss war ich mir nicht sicher, ob Igelavar nun wirklich eine Niederlage einstecken musste oder ob er den Kampf doch noch für sich entscheiden konnte, wie zuvor. Selbst bei dem Aufprall der zwei Gewalten war ich mir noch nicht sicher, wer nun siegen würde, obwohl die Karten für unseren feurigen Freund immer schlechter wurden. Letztendlich musste sich dann doch der Typüberlegene geschlagen geben ... Auch wenn diesem lediglich der Magen Sorgen bereitete, als die Niederlage selbst. Damit sollte klar sein: Trotz Entwicklung bleibt uns der sympathische Vielfraß erhalten bleibt, freut mich wirklich^^


    Eigentlich hatte ich damit den Kampf als abgehackt gesehen, denn das Fiffyen nochmals in den Kampf geschickt werden würde, hielt ich für sehr unwahrscheinlich. Erst ein bisschen später kam mir Shaymin in den Sinn und tatsächlich, diese schickst du auch prompt aus hinaus. Was aber dann folgte, hab ich ehrlich gesagt nicht erwartet, ich selbst nicht sicher, ob das kleine Pflanzenpokémon den Kampf überstehen würde oder ob sie sich vielleicht am Ende doch als mächtige Kämpferin entpuppte aber ...
    Nun, die Reaktion bezüglich der zerstörten Natur hab ich geahnt aber Eagles ... Weder hab ich erwartet, dass ihn Shaymin so aus dem Konzept bringen würde, das er Stand sogar an den Kragen will, noch dass er so ein begeisterter Poet ist. Ganz Stan und Sheinux Meinung: Ich hatte keine Schimmer, von was er da gerade sprach xD


    Erst nach und nach ist mir dann auch wieder die Geschichte von der Großmutter eingefallen, die ja mittlerweile ein Weilchen zurückliegt, genauso wie die Rose der Wüste, die Colin ihnen zum Abschied mitgegeben hatte. Shaymins zweite Form hab ich bisher ebenfalls völlig außer Acht gelassen, aber wenn man die Situation jetzt betrachtet ... Shaymin erhält ebenfalls den Typ Flug bei der Verwandlung, passt also eigentlich ganz zu Eagles Vorlieben. Bei dem Part musste ich außerdem abermals über das Wortgefecht zwischen Stan und Eagle schmunzeln, solche verbale Streitereien scheinen dir ja recht Spaß zu machen.^^ Als Sheinux anfangs vergeblich versucht hat, seinen Trainer endlich auf diese Parallelen aufmerksam zu machen, hab ich mich selbst dabei erwischt, wie ich die Zeilen schneller überflog, nur weil ich endlich wissen wollte, in was das nun enden würde und ob nun endlich etwas mehr Transparenz in den Charakter des Pflanzeigels kommen würde. Blöd nur, dass an der Stelle mein Lehrer ins Klassenzimmer spaziert ist DX


    Nun, an der Stelle beende ich für jetzt das Kommentar. Zwar stehen mir mehr als 15 Seiten noch bevor, aber die werde ich schon nicht so lange warten lassen, jedenfalls nicht nachdem ich meine anderen schulischen Aufgaben erledigt habe ... die häufen sich leider im Moment an, da ich gerade in meinem Matura/Abitur- Jahr stecke, aber irgendwie quetsche ich das schon rein, immerhin will ja selbst wissen, wie es weiter geht^^
    Trotzdem hinterlasse ich dir den ersten Teil meines (pseudo) Feedback, denn ganz ehrlich, du und deine Story verdienen schon lang wieder ein Kommentar! Die Post hier werden ja sonst wirklich viel zu Monoton xD
    Also bleib weiterhin dran, immer nur weiter so!^^


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    So, hier ist Rest von meinem Kommentar^^


    Nach all der Action wird es auch mal wieder etwas ruhiger ... naja, wobei ruhig ist wohl doch sehr übertrieben ausgedrückt. Der Kampf ist zwar vorbei, aber mit Shaymins Verwandlung bringst du wieder ganz andere Sachen ein ...


    Ich glaub mich zu erinnern, dass du damals bereits angesprochen hast, dass du die Geschichte um die Rose der Wüste weiter ausbauen wolltest, was sich schon mit Shaymins Auftauchen und dem Verschwinden von Miriam und ihrer Großmutter bewahrheitet hat. Jetzt deckst du endlich einige der Geheimnisse auf ... Und lässt uns dafür mit ein paar weiteren Fragen zurück. Einen Teil davon hatte ich bereits vermutet, etwa das Miriam mehr oder weniger eine Illusion von Shaymin war, anderes aber wieder nicht. Sie ist also die Nachfahrin des Prinzen aus dem Märchen? Interessant, dann fragt sich, was denn ihre weiteren Pläne sind und warum sie dann ihren heiligen Ort verlassen hatte. Wenn sie lediglich die Blume haben wollte, könnte sie wieder einfach verschwinden, aber scheinbar ist es nicht ganz so simpel. Ich frag mich, wo du uns wohl weiter führen und wann du uns diese Geheimnisse offenbaren wirst^^
    Anfangs konnte ich Sheinux Wut nicht ganz nachvollziehen, auch wenn sie mehr oder weniger berechtig war, aber wenn man sich nochmal durch den Kopf gehen lässt, was für Probleme diese Blume ihnen am Ende beschert hatte ... Dann kann man doch Sheinux Zorn verstehen. Da zeigst du auch eine etwas andere Seite des Herrn Protagonisten, bisher hatten wir ja meistens nur seine eher hilflose Seite gegenüber dem weiblichen Geschlecht erlebt. Und jetzt ist er plötzlich sogar bereit, ihr an die Gurgel zu gehen und „Blutrache“ zu nehmen. Aber seine Wut ist bald wieder gestillt und Shaymin ist mehr oder weniger vergeben.
    Sehr gut, denn damit kann der Machtkampf zwischen Shaymin und Fiffyen in eine weitere Runde gehen, weiß nicht ob ich mich freuen, oder Mitleid für Sheinux empfinden soll xD
    Als Shaymin sich als Miriam vorgestellt hatte, hatte ich eigentlich fast erwartet, dass sich ihr Doppelleben vielleicht noch ein bisschen weiter ziehen würde, aber der „peinliche Moment der Erkenntnis“ ist früher gekommen als erwartet. Ich persönlich hätte es witzig gefunden, wenn das noch etwas weitergesponnen worden wäre, aber gut, dafür haben wir einen umso stärkeren Hass zwischen den Beiden, auch ein Kompromiss xD


    Du hast ebenfalls mal angedeutet und nun ist es wirklich soweit: Eagle begleitet die Truppe.
    Also ich für meinen Teil hätte es wahrscheinlich keine drei Tage mit ihm ausgehalten, bevor ich versucht hätte, wegzulaufen und ihn endlich abzuhängen, so wie du ihm beschreibst xD
    Wieso aber Eagle sie nun unbedingt im Auge behalten möchtest, lässt du noch Teilweise offen, denn noch wird noch nicht genau aufgeklärt, was er damit eigentlich bezwecken will. Hat das einen tieferen Grund oder will er einfach aus Zorn darüber, dass Shyamin Stan begleitet, ihnen die Reise so ungemütlich wie möglich machen? Ich sehe schon viele Möglichkeiten für Charakterentwicklung ... ob nun mehr bei Eagle oder bei Stan^^ Da hast du dir ja ein schönes Paar ausgedacht, der zurückhaltende und Menschen meidende Stan und der förmlich Menschen „attackierende“ Vogel aber auch nicht sonderlich soziale Eagle, also im Moment sieht das ja nicht so aus, als könnte das funktionieren, was das ganz nur noch interessanter macht!


    Eins ist sicher, mit diesem Weg denn die Geschichte jetzt einschlägt, können wir uns wahrscheinlich auf so einige Konflikte gefasst machen, nun wo die Truppe des Hauptrivalen ihnen an den Fersen klebt. Nicht nur dass, haben wir ja auch die „Streithennen“ Shaymin und Fiffyen, also kann man schon von einem wandelnden Krisenherd sprechen. Sehr gut, den Konflikte kann man (jedenfalls in Romanen und Geschichten) nie genug haben.
    Schmunzel musste ich über Sheinux Bemerkung, das Eagle hoffentlich bald nach Süden ziehen würde. Ich bezweifle zwar, dass so paar Körner den guten Rivalen so leicht umstimmen würden, aber die Vorstellung alleine bringt mich zum Grinsen : D


    Gut, so, dass war’s jetzt aber endgültig von mir zu den vorherigen Parts. Die Handlung scheint ja jetzt wieder mehr und mehr ins Rollen zu kommen, bin für meinen Teil schon sehr gespannt, in welche Richtung das alles genau lenken wirst.
    Also wie ich vorhin schon sagte: Nur weiter so!^^


    Auf Weiterlesen,
    Toby

  • Part 2: Ohne Wenn und Aber


    Das Schicksal verstand sich außerordentlich gut darin, uns auf die Probe zu stellen. Noch am selben Abend schlug binnen keiner Stunde das Wetter um. Wind kam auf, pechschwarze Wolken sperrten die verbliebene Restsonne aus und schoben sich vor den aufgehenden Mond, Regengeruch lag in der Luft, erste Blitze zuckten am Firmament. Nachdem ich Stans gut gemeintes Angebot, in meinen Pokéball zurückzukehren, dankend abgelehnt hatte, fand ich mich nur kurze Zeit später - fest in der Jacke meines Freundes eingewickelt - inmitten eines sinnflutartigen Gewittersturms wieder. Mächtige Unwetterböen stellten sich Stan entgegen, zerrten und rüttelten an seinen Kleidern und schlugen ihm unerbittlich ins Gesicht. Als dann noch kirschkerngroßer Hagel einsetzte, verlangsamten sich seine schwankenden Schritte immer mehr, bis sogar Eagle zu uns aufschloss. Er aber nicht allein: Die jüngsten Ereignisse hielten auf für Angie, das letzte von Eagles Opfern dieses Tages, eine unverhoffte Planänderung bereit: So hatte sie eigentlich noch am selben Abend ein kleines Dorf in entgegengesetzter Richtung erreichen wollen, musste nun aber mit dem Wohlergehen ihrer von Eagle gemeuchelten Pokémon-Freunde Vorlieb nehmen. Es stellte sich als unser Glück heraus, denn nur so erfuhren wir, dass nicht unweit unserer Position ein Pokémon-Center liegen musste. Die rettende Oase.
    „I-ist es noch w-weit?“ Stans Kleidung hatte unlängst ihren Schutz vor Nässe und Kälte verloren. Zu einem zerbrechlichen Eiszapfen war er geworden, kurz davor, dass er am Boden festfror.
    „Ich weiß nicht ...“ Angie strauchelte nur kurz hinter Stan. Von meiner Position konnte ich sie zwar nicht sehen, der Anflug von Panik aber war selbst durch das wütende Geheul des Sturms und das unaufhörliche Regenprasseln deutlich heraushören.
    „Wie, du weißt es nicht? Was soll das heißen?!“
    „Dass ich nicht sicher bin, verdammt! Glaubst du, ich kann mich an jeden Stein hier in der Pampa erinnern?“, fauchte Angie zurück. „Und außerdem wäre das alles nicht passiert, wenn du nicht so verdammt grob gewesen wärst, du herzloser, kleiner Bastard!“
    „Was kann ich dafür, dass du so eine lausige Trainerin bist? Eine Schande für unsere Zunft!“
    Angie fluchte wüst zurück. Ihre Worte wurden allerdings von dem Geheul des Sturms verschluckt.
    Das Herz blieb mir beinahe stehen. Stan stolperte versehentlich über ein Schlagloch und versank zentimetertief im Schlamm. Ich konnte spüren, wie die Kälte zu ihm hinaufkroch und die verbliebene Restwärme gewaltsam aus seinen Gliedern hinauspresste.
    „Wuäh!“, fluchte er leise. Es schüttelte ihm am ganzen Körper.
    „Ist nur Matsch, stell dich nicht so an, du Memme! Weiter!“, forderte Eagle.
    Etwas Schweres klatschte hinter unseren Rücken vernehmbar auf, dicht gefolgt von einem unverkennbaren Wutausbruch.
    „Bäh! Kannst du nicht aufpassen, du dämlicher Trampel?!“
    Stan drehte sich um, gerade noch rechtzeitig, um Eagle dabei zu beobachten, wie er sich die Schlacke, die wohl nach Angies Sprung über das Schlagloch unkontrolliert aufgespritzt war, aus dem Gesicht zu wischen. Es hinterließ einige hässliche Streifen auf Stirn und Wangen.
    „Was hast du?“, flötete Angie unschuldig. „Ist doch nur Matsch. Und es steht dir außerordentlich gut. Eine echte Verbesserung.“
    „Ich geb dir gleich ...!“
    Mit einem halbherzigen Kopfschütteln - vielleicht auch nur von einem weiteren Ausbruch der Kälte ausgelöst - drehte Stan den Beiden wieder den Rücken zu. Wirklich wohl war mir dabei nicht, meinen besten Freund durch Wind und Wetter stiefeln zu lassen, hingegen ich, in dem provisorischen und nur langsam feuchter werdenden Unterschlupf eingepackt, mit einem blauen Auge davon kam. Stan aber hatte darauf bestanden. Ebenso hätte er auch darauf bestehen können, dass ich ohne wenn und ohne aber in den Pokéball hätte verschwinden sollen. Darum mochte ich nicht weiter klagen. Umso glücklicher war ich, als ich mit meinem Freudenschrei das baldige Ende der Torturen einläuten konnte.
    „Da vorn!“
    Es war wie ein schwaches Licht am Ende eines endlos langen, schwarzen Tunnels. Vor uns, am Wegesrand, lag still und stumm das von Angie angekündigte Pokémon-Center. In dem entfernten Licht, das durch die Fenster gegen die unbezwingbare Schwärze der Nacht ankämpfte, erwachten meine Lebensgeister. Außer Stan hatte wohl niemand meinen Ruf vernommen - geschweige denn verstanden -, denn das Gezanke der zwei hinter unseren Rücken ging unverhindert weiter. Erst als Stan mit einem erschöpften „Endlich ...“ meinen Hinweis übersetzte, kehrte für den Moment Ruhe zwischen ihnen ein.
    Stans schnelle, durch zentimetertiefe Pfützen und Schlammsuhlen klatschende Schritte gaben Ton und Richtung an, gegen die zum ersten Mal niemand Widerspruch einlegte. Je weiter wir uns unserem Ziel näherten, desto schärfer wurden die Umrisse von weiteren in Mantel und Kapuzen gehüllten Schatten, die aus entgegengesetzter Richtung vor dem rauen Wetter flohen und nur Augenblicke vor uns das weiße Gebäude mit seinem in der Dunkelheit kaum erkennbaren roten Dach erreichten. Wir waren also nicht die einzigen, die vom plötzlichen Wetterumschwung überrascht worden waren.


    Stickig-warme, nach Feuchtigkeit und Arznei riechende Luft und das überladende Gesumme unerklärlich vieler Menschen schwemmte uns wie eine Flutwelle beim Betreten des Gebäudes entgegen. Eine letzte verirrte Windböe verfolgte uns noch ins Innere hinein, als Angie die Tür mit etwas Mühe hinter sich schloss und das Unwetter endgültig aussperrte. Von dem Eingangsbereich war aufgrund der Fülle der Anwesenden kaum etwas zu erkennen. Doch hatte sich eine gut zu erkennende Schlange gebildet; zweifelsohne hinter der Asylanmeldestelle, wo man darauf hoffte, mit etwas Glück und einem mitleiderregenden Gesichtsausdruck ein Obdach für die Nacht zu erhalten.
    „Das kommt mir irgendwie reichlich bekannt vor“, schmunzelte ich und schaute hoch. „Ziemlich ähnliche Situation, erinnerst du dich? Ist schon eine ganze Weile her. Wir hatten uns damals gerade kennengelernt.“
    Stan erwiderte mein Lächeln, wenn aber auch nicht ganz so feist wie das meine. „Wie könnte ich das vergessen? Hast mich ganz schön bloßgestellt an dem Tag.“
    „Und im Anschluss in die Wanne gesteckt“, scherzte ich.
    „Ja ...“
    Stan wendete seinen Blick wieder von mir ab und schaute ein wenig ratlos umher. Es dauerte nicht lange, bis er einen bestimmenden Schubs von hinten bekam und er unfreiwillig an das Ende der Schlange stolperte.
    „Jetzt mach schon!“, brummte Eagle ungeduldig. Er reihte sich hinter Stan ein, Angie bildete dahinter das Schlusslicht.
    Oh ja, auch wenn man nicht in dieselben Gesichter wie damals blickte, so war die Szenerie mit den triefend-nassen Trainern und dem modrigen Geruch, der in der Luft lag, dennoch zum Verwechseln ähnlich. Der zu diesem Zeitpunkt noch stets schuldbewusste Stan und ich hatten uns gerade erst kennengelernt und waren, so wie an diesem Tag, von einem Unwetter überrascht worden. Er hatte zu dem Zeitpunkt heftige Anstalten gemacht, auf die sichere Bleibe für die Nacht verzichten zu wollen, da er ein Problem darin gesehen hatte, sich mit fremden Menschen einzulassen. Diesen Zahn hatte ich ihm glücklicherweise ziehen können. Und so hatten wir nicht nur eine trockene, und warme Nacht verbringen können, sondern auch unsere erste gemeinsame Nacht.


    Nicht nur einmal ging die Eingangstür auf und zu, gefolgt von einer eisigen Windböe und weitere verirrte, vom Unwetter gebeutelte Reisende. Auch sie reihten sich nach kurzer Desorientierung hinter uns ein. Nach und nach lichtete sich der Menschenwald vor uns; Stück für Stück rückten wir vor, bis endlich die äußerst gestresst und müde aussehende Betreiberin des Pokémon-Centers und zwei weitere Personen hinter einem Tresen in Sichtweite kamen. Ihre roten, zu zwei Zöpfen geflochtenen Haare waren bereits arg zerzaust.
    „Zwei Personen ...“ Die Hausbetreiberin wendete sich unseren Vorgängern ab und inspizierte ein fast restlos leergefegtes Schlüsselbord. „Wie kriegen wir die unter ...? Zimmer 23 ... Jodd, haben wir sonst noch wo Platz?“
    Ein recht kleiner Mann - er mochte in etwa Mitte 40 sein - mit bemerkbar großen Ohren wuselte an ihr vorbei. Seine Hände füllten ein Stapel weißer Handtücher. „In Zimmer 5 sind noch zwei Betten frei, Gnädigste. Sofern natürlich niemand etwas gegen Zimmergemeinschaft einzuwenden hat, versteht sich.“
    „Für Fisimatenten ist heute Abend kein Platz!“ Die Pokémon-Krankenschwester wendete sich wieder der schlangestehenden Menschenmasse zu. „Zimmer 5.“ Ihr Daumen machte eine kurze Bewegung in Richtung eines am Tresen vorbeiführenden Korridors. „Jodd, für sie hin.“
    „Natürlich, Madame. Yulm, übernimm bitte.“ Der Mann namens Jodd drückte einer etwas jüngeren Frau den Stapel Handtücher in die mit - sofern mir meine Augen keinen Streich spielten - mit Schwielen und Brandblasen übersäten Hände.
    Dem grimmigen Blick, den Yulm auflegte, schien sie damit ganz und gar nicht einverstanden zu sein. „Wohin damit?“, fragte sie und klang dabei recht hochmütig.
    „Badezimmer 3 und 4, rechter Flügel.“
    Stumm bildete Yulms Lippen das Wort „Idiotisch“, doch tat sie, wie geheißen. Mit schnellen, aber kurzen Schritten entfernte sie sich. Unsere letzten Vorgänger folgten derweil Jodd. Nun war Stan an der Reihe.
    „Wie viele?“
    Stan wurde erst gar nicht zu Wort gelassen. Ein äußerst schlechter Start, insbesondere für Stan.
    „Ähh ...“
    Genau das hatte ich gemeint, als ich von einem „schlechten Start“ gesprochen hatte. Stan den Wind aus den Segeln zu nehmen, versprach nie ein vielversprechendes Ergebnis.
    Stan drehte sich um. Er schulterzuckte Eagle zu. Der wiederum warf ihm nur einen finsteren Blick zu. Stan schluckte schwer und drehte sich wieder um. „E-eine Person“, stammelte er.
    „Eine Person ...“ Die Hausbetreiberin wandte sich wieder ihrem Schlüsselboard zu. Zwei silbrige Schlüssel hingen da noch. „Zimmer 23 und Zimmer 2 ... Zwei-Mann und Ein-Mann ... Jodd, haben wir sonst noch wo Platz? Jodd ...? Jodd ...!“
    „Sie haben gebrüllt, Gnädigste?“ Jodd tauchte wieder hinter dem Tresen auf. Er hatte keine Zeit verschwendet. Yulm dagegen ließ mit ihrem kleinen Botendienst noch auf sich warten.
    „Können wir noch irgendwo jemanden reinquetschen?“ Sie wandte sich wieder von Jodd ab und lugte an Stan vorbei und fixierte kurz seinen Hintermann. Dann schaute sie Stan wieder an. „Ihr reißt zusammen?“
    „Äh ...“
    „Ich will ein Einzelzimmer!“, stellte Eagle hinter uns klar. Stan lächelte gequält, ob ihn das alles gar nichts anginge. Die Haus-Betreiberin fasste die indiskrete Bemerkung des Gastes allerdings etwas anders auf. Mit verengten Augen schaute sie an Stan vorbei.
    „Wer hier wie und wo untergebracht wird, entscheide ich!“, entgegnete sie scharf. „Also?“
    „Los, sag etwas, Stan“, fauchte ich.
    „Äh ...“
    Man musste mir meine Reaktion in diesem Moment verzeihen, aber meine günstige Position lud einfach nur dazu ein, Stan ein wenig Starthilfe zu geben. Ein kurzer Biss in Stans linkes Handgelenk brachte die nötige Motivation.
    „Jau!“, fluchte Stan.
    „Na also!“ Die Pokémon-Krankenschwester pflückte einen von den zwei noch verbliebenen Schlüsseln aus dem Kästchen an der Wand. „Ihr zwei, Zimmer 23.“
    „Ich will ein Einzelzimmer!“, wiederholte Eagle, nun mit noch bestimmender Stimme. „Zimmer 2!“
    „Schwester Joy! Schwester Joy!“ Angie stieß Eagle zur Seite und schob sich auch vor Stan und mich. „Meine Pokémon sind verletzt. Der da“, sie warf Eagle einen finsteren Blick zu“, hat sie massakriert!“
    „Jodd, ein Notfall. Übernimm das hier! Du, mitkommen! Behandlungszimmer. Zimmer 2 für die junge Dame hier.“ Schwester Joy kam hinter dem Tresen hervor. Sie und Angie verschwanden mit raschen Schritten hinter eine zweiflügligen Tür. Jodd nahm den Platz seiner Vorgängerin ein. Ein breites Lächeln umspielte seine Lippen. Er schien äußerst zufrieden mit seiner neuen Position. Statt sofort der Bitte von Schwester Joy nachzugehen, inspizierte er seine Arbeitsfläche und vertat wertvolle Zeit damit, kleinere Utensilien von der einen auf die andere Seite zu schieben. Erst als er diese Prozedur dreimal wiederholt hatte und er den toten Gegenständen zufrieden zunickte, wandte er sich wieder den Wartenden zu.
    „Zimmer 23“, sagte er kurz und bündig und pflückte einen Schlüssel vom Brett. „Yulm! Yulm!“ Er drehte den Kopf in alle Himmelsrichtungen. Aus dem rechten Flügel waren schnelle Schritte zu hören. „Ihr müsst entschuldigen“, sagte Jodd munter“, aber es ist heutzutage schwierig, eine wirklich effiziente Assistentin zu bekommen.“
    „Wenn du das Labor nicht in die Luft gejagt hättest, müssten wir uns hier nicht mit niederer Arbeit abgeben ...!“
    „Ah, Yulm, da bist du ja!“, sagte Jodd noch immer heiter, als hätte er den Kommentar seiner - wie er es nannte - Assistentin nicht gehört. „Bitte führe unsere beiden Gäste auf Zimmer 23, ja?“
    „Ich schlafe alleine!“, fauchte Eagle.
    „Und im Anschluss räumst du bitte die Tische im Speisesaal auf die Seite“, ergänzte Jodd, wieder einmal, als hätte er den Kommentar nicht vernommen. „Der Rest kann dort nächtigen. Schlafsäcke“, fügte er als Antwort auf Yulms teils fragenden, teils unzufriedenen Blick hinzu.


    So kam es, dass sich Stan, Eagle und meine Wenigkeit nach kurzem Fußmarsch in einem abgeschiedenen, kleinen Raum mit einem kleinen Tisch, zwei Stühlen und zwei gemütlichen Betten links und rechts an der Wand wiederfanden. Auf sein Einzelzelle hatte Eagle schließlich und endlich doch notgedrungen verzichtet. Die Alternative zu diesem Zimmer hatte ihm noch weniger gefallen: die Nacht auf dem kalten Fußboden mit zig anderen seiner Artgenossen zu verbringen. Endlich konnte ich Stans Arme mit einem gezielten Sprung auf das Kopfkissen verlassen. Nach mir ließ auch er sich dem Bett erschöpft nieder. Weich war es und es federte leicht auf, wie es sich gehörte. Es tat meinen Ansprüchen Genüge.
    „Musstest du mich eigentlich so doll beißen?“ Mitleidvoll rieb er sich sein leicht gerötetes Handgelenk.
    „Hätte ich es nicht getan, stünden wir wohl jetzt noch immer Schlange.“
    „Stimmt schon, aber ein bisschen sanfter hätte es auch getan.“
    „Du musst dir dein ewiges Weh und Ach endlich mal abgewöhnen. Wer soll dich so jemals ernst nehmen?“
    Im selben Moment, als Stan antworten wollte, ging Eagles Rucksack mit einem dumpfen Geräusch zu Boden. Für Stan war es das Signal, um unser kurzes Gespräch zu beenden. Zweifellos war es ihm nach wie vor unangenehm, sein angelerntes Talent vot anderen der Gattung Mensch zu präsentieren; selbst wenn der besagte Mensch alles in seiner Macht stehende tat, um uns wie Luft zu behandeln. Es musste etwas getan werden. An unserem unangenehmen Bettnachbarn gab es nichts mehr zu rütteln - das lag nicht einmal mehr in meiner Macht. Stan dagegen war pflegeleichter. Man musste ihn bloß vorsichtig an der Hand nehmen.
    „Diese zwei Typen vorhin, Yulm und Jodd - sind dir die versengten Hände von der einen aufgefallen? Glaubst du, die hat einen Witz gemacht, als sie meinte, der andere hätte ihr Labor in die Luft gejagt?“
    „Kann sein ... Vielleicht“, murmelte Stan kaum hörbar. Verbissen hakte ich nach.
    „Ist fast wie damals, meinst du nicht? Nur waren wir damals zu fünft. Erinnerst du dich noch an die anderen? Tom, Mike und ... Wie hieß er noch gleich ...? Du weißt schon. Der mit der Brille. Hatte die Nase immer in einem Schmöcker.“
    „Hält die kleine Quasselstrippe eigentlich auch mal ihren Rand?“
    Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich Eagle beim Entkleiden nicht von uns stören gelassen. Seine durchweichten Kleidungsstücke hatten Platz mit einer knielangen Hose und T-Shirt getauscht und hingen bereits fein säuberlich über einem der beiden Stühle. Er war bettfertig.
    „Dir auch eine angenehme Bettruhe, du arroganter Schmock!“, gab ich kühl zurück.
    Gut hörbar stieß Stan einen beklemmten Luftstoß aus dem Mund. Was aber störte es ihn? Schließlich war Eagle für die Bedeutung meiner Worte taub.
    „Mir ist fast so, als meinte dieser kleine Flohsack mich. Hey, du, zeig mal, was du kannst und übersetz dieses Gesülz mal!“
    Für die ersten Augenblicke wirkte Stan wie versteinert. „Ü-übersetzen?“
    „Willst du dir das etwa gefallen lassen, Stan, und dich nur noch mit ,Du da’ anreden lassen? Schieß zurück! Erzähl ihm doch, was ich von ihm halte!“
    Auf Stans anfängliches Schweigen hin verzog Eagle hämisch das Gesicht. „Was ist? Sprachlos oder was?“
    „Mach schon“, forderte ich nachdrücklich.
    Die Windböen rüttelten unterdessen nur noch kräftiger an den Fensterläden. Hilflos, wie er war, schwenkte Stans Kopf wild zwischen den beiden Fronten hin und her, in Mitten er gefangen war. Es dauerte eine ganze Weile, bis er sein ganzes bisschen Mut packte und antwortete. „Also ... er ist wohl nicht ganz damit einverstanden, wie du ihn ... na ja, behandelst.
    „Und wenn schon ...!“, gähnte Eagle gelangweilt. „Warum soll es mich kümmern, was das verlauste Fellknäuel über mich denkt? Schlimm genug, dass ich mit euch beiden ein Zimmer teilen muss, bei dem Gestank, den einer hier absondert.“
    „Halb so wild. Ich habe schon mit Leuten die Nacht verbracht, die fast so schlimm wie du gestunken haben. Das stehen wir schon irgendwie durch“, entgegnete ich kühl.
    „Übersetzung?“
    Diesmal überlegte Stan wesentlich kürzer. Ein leichtes Schmunzeln umspielte seine Lippen am Ende. „Er hat ,Gute Nacht!’ gesagt.


    Mit diesem kurzen Gespräch endete schließlich unser aller Abend. Bei näherer Betrachtung wirkte Stan recht glücklich; wohl darüber, dass er seinen Hals noch einmal so glimpflich aus der Schlinge hatte ziehen können. Eagle schluckte die kleine Notlüge, die wir ihm aufgetischt hatten, obgleich mit einem misstrauischen Schielen in meine Richtung. Und auch ich konnte an diesem Abend mit der wohltuenden Gewissheit, unserem launischen Bettnachbarn ein gewaltiges Schnippchen geschlagen zu haben, friedlich einschlafen. Lediglich die dumpfe Frage, warum Stan bloß schon wieder so rückfällig im Bezug auf seine schüchterne Ader geworden war, beschäftigte mich in stillen Gedanken. Das aber sollte mich nicht weiter stören. Zumindest nicht mehr an diesem Abend.

  • Part 3: Der Zweck heiligt die Mittel


    Mysteriös und undurchdringlich waberte der gräuliche Nebel am nächsten Morgen und maskierte das schmutzige, von den gestrigen Niederschlägen entstellte Landschaftsbild. Die Aussicht auf das verwaiste Bett neben uns schöpfte in Stan und mir eine schon mehr als löchrige Hoffnung, unseren lästigen Schatten endlich abgehängt zu haben - und das im Schlaf. Umso ernüchternder war daher das unwillkommene Wiedersehen in der recht spartanisch eingerichteten Waschküche des Hauses, wo eine ratternde Waschmaschine neben der anderen den sich darin befindenden Kleidungsstücken eine turbulente Achterbahnfahrt gewährte. Beim Verlassen des Raumes schenkte Eagle uns noch einen flüchtigen finsteren Blick, bevor er das Feld räumte.
    Einen Großteil des Morgens verbrachten wir in der überfüllten Mensa, darauf wartend, bis auch Stans Dreckwäsche ihren rasanten Schleudergang hinter sich hatte. Außer einem kargen Frühstück, bestehend aus kaltem Toast, Saft, Marmelade und einer Banane, bestand die einzige Beschäftigung darin, wilde Spekulationen über den geheimnisvollen Raum an der Stirnseite des Pokémon-Centers anzustellen, den wir beim Vorbeigehen passiert hatten und hinter dessen verschlossener Tür in unregelmäßigen Abständen explosionsartige Geräusche zu hören waren. „Unbefugten und Einzellern ist der Zugang ausdrücklich untersagt! Missachtung dieser Warnung kann zu abgetrennten Körperteilen, Verbrennungen und schwerem Durchfall führen“, hatte Stan auf dem augenfälligen Warnschild an der Tür gelesen, und da Durchfall wirklich das letzte war, was er gewollt hatte, hatte er den Warnhinweis auch seinen ganzen Respekt gezollt. Trotz des amüsanten Zeitvertreibs, über das geheimnisvolle Innere des Raums eine Vermutungen, eine haarsträubender als die nächste anzustellen, gehörte der Aufenthalt in diesem Pokémon-Center nicht gerade zu den lustigsten Etappen, die ich auch meiner gemeinsamen Reise mit Stan abgeschlossen hatte. Wir schätzten uns daher beide sehr glücklich, als wir endlich die Reise fortsetzen konnten.


    Der größte Teil des Nebels hatte sich verflüchtigt, eine von einzelnen grauen Wolken bedrängte Vormittagssonne lachte uns entgegen. Die meisten von Stans Artgenossen hatten bei unserem Aufbruch bereits unser gemeinsame Herberge verlassen, und wer uns nach draußen begleitet hatte, der schlug auf dem mit Pfützen gepflasterten, fühlbar weichen Trampelpfad meist die entgegengesetzte Richtung ein als wir taten. Stan wirkte wesentlich entspannter als er es die vergangenen Stunden über gewesen war, und das, obwohl uns Eagle wieder stur am Rockzipfel hing. Vielleicht lag es an den aufgestockten Reisevorräten, die mein Freund kiloschwer in seinem Rucksack trug, vielleicht war es das schöne Wetter, vielleicht aber auch nur das schlichte Gefühl, den Lärm und das Gedränge des überfüllten Pokémon-Centers mit all seinen Menschen und seinem Mief endlich hinter sich gelassen zu haben. Wer wusste das schon ...?
    „Er folgt uns immer noch ...“
    „Ich weiß ...“
    Natürlich wusste Stan von der Existenz unseres anhänglichen Verfolgers. Doch weder hatte ich daran nur eine einzige Sekunde lang gezweifelt noch war es meine Absicht gewesen, ihn einfach nur darauf aufmerksam zu machen. Es war vielmehr eine indirekte Aufforderung meinerseits, dass Stan endlich Tacheles mit unserem lästigen Anhängsel sprach. Wie aber schon zu oft verstand es nicht, meine Absicht richtig zu deuten. Den Blick schnurgeradeaus gerichtet hatte er nur Augen dafür, was vor ihm lag. Alles dahinter wollte ihm gestohlen bleiben. Krummnehmen konnte ich es ihm nicht; gleichzeitig aber die Wahrheit auch nicht schönreden, und schon gar nicht wegdenken.
    „Meinst du nicht, es wird langsam Zeit, dass du dir ihn mal zur Brust nimmst?“
    Sein abgestumpftes Schulterzucken und das Fehlen eines Schreckmoments zu urteilen, hatte Stan offenbar doch gleich von Anfang an meinen Deut verstanden. Er hatte es sich allerdings sicher zweifelsohne gewünscht, dieses leidige Thema einfach ruhen zu lassen. Doch ich hatte andere Pläne.
    „Wie lange soll das deiner Meinung nach noch so weitergehen? Wie viele seiner Strafpredigen willst du dir noch anhören? Ich für meinen Teil bin es allmählich leid, dauernd seinem stechenden Blick im Genick zu spüren, ohne zu wissen, wo wir bei dem Typen dran sind.“ Ohne zu zögern blieb ich stehen. Nur ein paar Schritte später auch Stan, wenn auch merkbar zögerlich. Das nächste, was er sah, war mein angriffslustiger Blick, der voll und ganz ihm gewidmet war.
    „Und was soll ich deiner Meinung nach tun?“, fragte er mich.
    „Frag ihn! Zumindest, warum er uns folgt und was er von uns will.“
    Wie ihr euch sicherlich vorstellen könnt, stieß meine Forderung nach etwas Aufklärung auf reichlichen Protest seitens Stan. Das zog sich so dermaßen in die Länge, dass unser kleiner Vorsprung auf unseren Verfolger Stück für Stück schmolz. Bis ...
    „Warum geht es hier nicht weiter?“
    „Stan will dich was fragen.“ Verschmitzt lächelte ich Eagle entgegen; selbst mit der Gewissheit, dass er keines meiner Worte verstand. Es genügte vollkommen, um Stans Nerven flattern zu lassen. Und auch wenn ihr mir nun nachsagt, ich wäre ein Kameradenschwein, in diesem Augenblick habe ich es einfach genossen, meinen Kumpel in der Luft zappeln zu sehen.
    „Gar nicht wahr! Ich will gar nicht ... Ich meine ... Ich ... Ich ...“
    Stans Nerven lagen blank. In der lauen Morgensonne konnte man den Schweiß auf der Stirn glitzern und die nackte Panik in seinen Augen sehen, die ihn von Innen ganz langsam aufzehrte. Jedes verbale Anstubsen von Eagle steigerte Stans Nervosität von der nun unausweichlichen Unterhaltung ins Unermessliche.
    „Ich rupf dir gleich jedes einzelne Augenbrauen-Härchen einzeln aus, wenn du nicht gleich auspackst oder weitergehst!“
    „Also gut ...“ Stan ballte die Faust fester als ich es je bei ihm beobachtet hatte. Auch war mir ein teils entschlossener, teils finsterer Blick gewidmet, bevor er sich Eagle zuwandte. Mit einem nicht ganz so schrecklichen Stammelorchester wie anfangs befürchtet forderte mein Kamerad endlich eine klarheitschaffende Antwort. Die Gegenpartei nahm die kleine Rebellion recht gefasst auf, wenn man es so nennen durfte. Zumindest blieb ein Wutanfall aus, und das spöttisch-amüsierte Lächeln war so ziemlich das beste, was uns hätte passieren können.
    „Warum wundert es mich eigentlich überhaupt nicht, dass die Frage jetzt erst kommt?“ Ohne die Lippen zu bewegen, lachte er kurz klanglos auf. „Es ist einem dummen Zufall geschuldet, einem Irrtum des Schicksals. Das ist der Grund, warum ich dir ... notgedrungen folge.“
    „Der da wäre?“ Stan bemühte einen gelangweilten Unterton, der ihm eigentlich auch erstaunlich gut gelang, wenn da nicht der Anflug von Neugierde gewesen wäre, der sich ihm verräterisch in die Stimme geschlichen war.
    „Ist nicht deiner Person zu verschulden, falls du dir da jetzt irgendwelche falsche Hoffnungen gemacht hast“, höhnte Eagle.
    Stan wirkte über diese Botschaft nicht sonderlich bestürzt. „Und weiter? Was hat das mit mir zu tun?“
    „Hast du mir nicht zugehört? Nichts! Es hat rein gar nichts mit dir zu tun, sondern ist ganz allein deinem impertinenten Glück zu verschulden.“
    „Also?“, bohrte Stan nach.
    Shaymin. Es geht einzig und allein um Shaymin.“
    Noch Sekunden nachdem die Worte verklungen waren, hallten sie mir noch unangenehm in den Ohren wider. Es stimmte also - er war tatsächlich hinter Shaymin her. Unsere schlimmste und damit auch die magenumstülpendste Befürchtung hatte sich damit bewahrheitet. Mit diesem Wissen sollten wir nun die Reise einfach so frei von irgendwelchen Bedenken fortsetzen? Beängstigend ...
    „Was willst du von ihr?“
    „Was wohl?“, sagte Eagle. „Was kann ein Pokémon-Trainer wohl von einem Pokémon schon wollen; gerade von einem Pokémon, wie man es kaum ein zweites Mal trifft?“
    Stan zögerte. So wie ich war auch er reichlich ratlos. Shaymin gut und schön, aber sie gehörte zu uns. Und das würde sich auch verdammt noch mal nicht ändern.
    „Ich weiß alles“, beantwortete Eagle unser beidseitiges Schweigen. „Ich weiß, dass du sie Heim bringst. Und wenn dieser Zeitpunkt gekommen ist, werde ich da sein.“
    „Häh?“
    „Tu nicht so blöd. Es abzustreiten hilft dir nicht. Ich sagte doch - ich weiß alles.“
    Stan hätte nun wirklich jede erdenkliche Frage stellen können oder aber ihm gleich die nackte Wahrheit, dass sein Mitmensch einem schrecklichen Irrtum unterlag, an den Kopf werfen können, oder ihm ebenso gut gleich eine scheuern können. Stattdessen aber legte er einen sehr besonneneren Pfad ein. „Woher willst du das wissen? Ich habe nichts dergleichen gesagt.“
    „Oh, natürlich hast du das nicht. Ist mir sehr wohl bekannt.“
    „Woher also ...?“
    Eagle legte sein feistestes und gleichzeitig auch boshaftestes Grinsen auf, was man bei ihm eigentlich nur beobachten konnte, wenn er glorreich aus einer Schlacht gezogen war. „Gaia. Sie hat das kleine Gespräch zwischen deiner Töle und Shaymin damals am Rande verfolgt. Und sie wäre mir eine schlechte Freundin, wenn sie mir derartige Informationen vorenthalten würde, meinst du nicht?“
    „Gaia hat dir ...?“
    Ja, da war auch ich baff. Ich meine, ja, Eagle hatte mal beiläufig erwähnt, dass er keine Kommunikationsschwierigkeiten mit Sora und den anderen hätte. Letztendlich war mir sein leeres Geschwätz aber stets gleich gewesen, weshalb ich mich auch nicht weiter darum gekümmert hatte. Bis zu diesem Tag. In meinem verständnislosen Blick suchte Stan nun zweifellos eine Antwort auf die nun alles entscheidende Frage: War es einem simplen Missverständnis zu verschulden, hatte sich Gaia einfach verhört? Oder hatte sie ihn wissentlich und mit voller Absicht belogen? Und wenn ja, warum? Auch ich musste reichlich überlegen, bevor ich Stan mit einem kategorischen Kopfschütteln still signalisierte, dieses mögliche Missverständnis vorzeitig aus der Welt zu schaffen. Nicht jetzt, nicht auf der Stelle. Nicht, bevor wir Gaia vernommen hatten.


    Es geschah noch am selben Abend. Die gewohnte Szenerie hatte sich gebildet: Etwas abseits unseres mit Müh und Not entzündeten Lagerfeuers (nachdem Stan dreimal in Folge sang- und klanglos bei dem Versuch untergegangen war, hatte Igelavar nachhelfen müssen) hatte auch Eagle sein ganz eigenes Lager aufgeschlagen. Wir hatten uns längst an die zwei Lichter in der Nacht gewöhnt und, so denke ich, misste keiner die Anwesenheit des anderen. Doch an diesem einen Abend war es etwas anders. Ja, an diesem Abend suchte ich die Gesellschaft der anderen - unter Vorwand versteht sich. Das befremdende Gefühl beim Zurücklassen meiner Kameraden, als ob man die Schwelle zu einer anderen Wirklichkeit überquerte und jeden Moment die feindlichen Linien betrat, begleitete mich, was es mir ungemein erschwerte, einen ungefährlichen, nein, freundlichen Eindruck zu erwecken. Das Knacken von Gras, Blattwerk unter meinen Pfoten wollte in meinen Ohren gleich zehnmal lauter und verräterischer widerhallen. Selbst das Musizieren der Grillen schien einen gar bedrohlichen Ton anzunehmen, je näher ich dem anderen Lager kam.
    Meine Augen mussten kaum die Dunkelheit durchdringen, auch das Gefühl der Wärme und Geborgenheit des eigenen Lagerfeuers brannte mir noch zart im Genick, als ich schließlich das erste Aufsehen erregte. Ein schwarzes, sich zunehmend zu bedrohliches Schlitzen verengendes Augenpaar starrte mir entgegen. Unter Soras wachsamen Augen und so fern meiner Freunde fühlte ich mich nackt und schutzlos wie noch nie zuvor in meinem Leben. Nach und nach schlossen sich weitere Augenpaare denen Soras an. Skys, Scorpios und auch Gaias. Sie alle bildeten einen Kreis um das Lagerfeuer. Vergeblich suchte ich hier die gleichen warmen und freundschaftlichen Gefühle, die man mir auf der anderen Seite der Schwelle gegenüber brachte. Hier traf ich nur auf blankes Misstrauen, sogar Feindseligkeit. In dieser Welt war ich nichts weiter als ein Störenfried, ein unerwünschtes Subjekt, für das keine Methode zu radikal erschien, um sich ihm schnellstmöglich zu entledigen. Als mich zu guter Letzt die einzig noch verbliebenen Augen vom Lagerfeuer her anstarrten, so giftig grün und angriffslustig, das sie selbst die Nacht das Fürchten hätten lehren können, sah ich die nahende Katastrophe bereits unaufhaltbar auf mich zurücken. Sie waren menschlich, voll von geringschätziger Abneigung. Im Vergleich zu diesen Augen wirkten die von Sora oder Sky fast schon gastfreundschaftlich auf mich. Mir war bewusst, dass ich jetzt, wo ich so weit ungeschoren in das Heiligtum eingedrungen war, weder einfach einen Rückzieher machen konnte, ebenfalls aber auch nicht auch nur einen einzigen weiteren Schritt machen konnte, war er auch noch so klein. Für gewöhnlich war es nicht meine Art, doch hielt ich an diesem Punkt für das beste, mich so klein und unterwürfig, wie es mir nur möglich war, zu geben. Man mochte vielleicht von Gedankenübertragung sprechen, jedenfalls probte Eagle bereits den Aufstand, als sich Gaia plötzlich erhob, ihm still zunickte und sich mir näherte. Uns wurden fünf Minuten gewährt, nicht mehr, wie es Eagle äußerst streng betonte. Erst als wir das Knistern und Knacken der Lagerfeuer beider Lager kaum noch zu hören vermochten, hob ich unser Schweigen auf. Viel Zeit vergeudete ich nicht, sondern nannte das Kind gleich beim Namen.
    „Du hast ihn wissentlich belogen?“
    Auch Gaia hatte nicht lange um den heißen Brei geredet. Niemals aber hätte ich erwartet, diese Wahrheit aus ihrem Munde zu hören.
    Wider Erwarten verkrampften sich Gaias leicht, als ich sie der Falschaussage bezichtigte. Nach einem kurzen Kopfschütteln war das gewohnte mitfühlende Lächeln, wenn man mit ihr sprach, wiederhergestellt.
    „Sagen wir es so: Ich habe mich wohl im Eifer des Gefechts etwas ... verhört.
    Sie betonte sich selbst äußerst stark. Zweifelsohne steckte noch mehr dahinter. Viel mehr.
    „Warum will ich das bloß nicht glauben? Was bezweckst du damit?“
    Gaia übte sich vorerst in Geduld. Sie streckte ihren langen Hals weit in die Höhe. Von dem fast wolkenlosen Himmel strahlten uns ein unendliches Sternenmeer und ein sichelförmiger Mond entgegen. „Von Anfang an sah ich fruchtbaren Boden für eine Freundschaft zwischen Eagle und Stan, das habe ich erwähnt.“
    Ich antwortete lediglich mit einem Nicken.
    „Als Eagle seine Entscheidung fällte, euch zu begleiten, ging es ihm dummerweise weniger um deinen Freund Stan, sondern einzig und allein um Shaymin, aber das weißt du ja bereits.“ Gaia senkte ihren Kopf. Ihrem geschmeidigen Hals bereitete es keinerlei Umstände, so tief zu gehen, dass sie mit mir plötzlich auf einer Augenhöhe war. Sehr viel Nachdruck lag in ihrem Blick, als sie ihre Rede fortsetzte. „Er mag vielleicht manchmal sehr schroff und griesgrämig wirken, doch kann ich dir versprechen, deine Freundin Shaymin hat nichts von ihm zu befürchten. Betrug und Hinterlist sind Eagle fremd und er würde es nicht wagen, sie unerlaubt anzurühren.“
    „Beruhigend ...“, antwortete ich mit einer nicht zu knappen Portion Spott in meiner Stimme.
    „Du musst wissen, ich kenne Eagle schon sehr lange. Länger sogar als das Band zwischen ihm und Sora besteht. Damals, bevor ich mich ihm auf seiner Reise anschloss, suchte er mich oft an der Grenze zu seinem Heimatort auf. Er schüttete mir sein Herz aus, teilte seinen Kummer mit mir, seine intimsten Ängste und Wünsche. Irgendwann, er musste etwa in dem Alter deines Freundes Stan gewesen sein, verließ er die Gegend und kehrte nach mehr als einem Jahr erst zurück. Reifer, selbstsicherer, doch innerlich auch gebrochen. Etwas war ihm in dieser Zeit widerfahren, etwas hatte ihn verändert. Etwas Schreckliches, was niemandes Herz allein ertragen kann. Das spürte ich. Schon vor seiner Reise war er bereits äußerst vorsichtig, was seine Freunde anbelangte, doch seit dieser Zeit vertraute er sich und seinen Gefühlen niemandem mehr an. Die Hoffnung, die ich über Umwege in deinem Freund Stan sah ...“
    „Mit ,Über Umwege’ meinst du Shaymin?“, unterbrach ich Gaia.
    Sie nickte und fuhr fort: „Während die Tage dahinzogen, merkte ich Eagles Interesse an Shaymin und somit auch an euch welken. Schließlich war sie ein fester Bestandteil eurer Gruppe und in diesem Zustand absolut unerreichbar. Und da ...“
    „Moment!“, unterbrach ich sie ein zweites Mal in Folge. Ungläubig verhärtete ich meinen Blick. „Du hast das fingiert? Du wolltest neues Interesse wecken und hast ihm deshalb falsche Informationen weitergegeben? Damit er uns weiter folgt?“


    „Ein abgekartetes Spiel. So ist das also ...“ Im Schatten der Nacht, abseits unseres Lagers, wo ich Stan mit jeder Einzelheit aus der Unterhaltung zwischen mir und Gaia vertraut machte, wirkten Stans die hohlen Wangenknochen in seinem ausgemerkelten Gesicht beinahe gespenstisch auf mich. Er schien müde, doch wollte ich ihm die eben gemachten Informationen nicht vorenthalten.
    „Und am Ende meinte sie, wenn dann schließlich der Tag käme, an dem die Wahrheit ans Tageslicht kommt, würde sie die Schuld für diesen Irrtum auf sich ziehen. Und ich glaube ihr sogar. Nur verstehe ich nicht“, fuhr ich fort, „was Gaia in einer Freundschaft zwischen dir und diesem Despoten sieht.“
    Ähnlich wie Gaia hob auch Stan seinen Kopf empor und schenkte den strahlenden Gestirnen am Firmament seine Bewunderung. Er seufzte, während er das tat. Eine tiefgründigere Antwort blieb vorerst aus.
    „Sie hofft jetzt wohl darauf, dass du in absehbarer Zeit etwas tun wirst, was ihr Vertrauen in dich gerechtfertigt.“
    Stan stieß einen sehr tiefen Seufzer aus.
    „Was wirst du also tun? Außer vielleicht die Sterne vollzuseufzen?“
    „Was soll ich denn deiner Meinung nach tun?“ Stan wandte sich vom Himmel ab und mir wieder zu. „Eigentlich geht mich die ganze Geschichte gar nichts an ...“
    „Hätte sie um Erlaubnis fragen sollen? Hey, Stan, lass uns Eagle hinter das Licht führen, damit ihr beide Freunde werdet“, scherzte ich und ahmte dabei Gaias freundliche Stimme überraschend gut nach.
    Stan zuckte die Schultern. „Egal, ist ja jetzt so oder so zu spät.“
    „Was also wirst du tun?“, hakte ich nach.
    „Ich überleg mir was, okay?“, antwortete Stan und klang allmählich etwas genervt. „Irgendwie muss ich ja sauber aus dieser Affäre wieder rauskommen. Aber nicht mehr heute ...“


    Stan hatte es sehr eilig, zu Igelavar, Shaymin und Fiffyen am Lagerfeuer zurückzukehren. Irgendwie mochte ich es sogar zu verstehen, warum er sich den Rest des Abends schweigsam übte. Sein einziges Handeln bestand nur noch darin, nachdenklich im Lagerfeuer zu stochern. Gaia hatte uns mit ihrer kleinen Finte reichlich Stoff zum Grübeln verabreicht. Alle Zeit dieser Welt schien immer noch zu kurz, um irgendwie zu begreifen, was an diesem einen Tag alles passiert war. Gaia mochte es mit ihrer Absicht gut meinen, das stand außer Frage, ihre Methoden aber waren schon sehr, sehr speziell. Als ich mich am späteren Abend schließlich an Stan geschmiegt in seinen Schlafsack einkuschelte, wiegte mich die Frage, wie die zwei jemals Freunde werden sollten, nur sehr schwer in den Schlaf. Es war unvorstellbar. Und mit dieser endgültigen Gewissheit in Gedanken schlief ich schließlich auch ein.

  • Part 4: Ausgeraubt!

    „Hoch mit dir!“
    „Wa-was iss ...?“
    „Aufstehen, du Penner!“
    Äußerst unsanft durch einen Mordsradau aus dem Schlaf gerissen schreckte ich auf. Es dauerte einige Momente, bis ich all meine Sinne fand, insbesondere, warum ich die Nacht auf dem kalten, harten und taufeuchten Erdboden verbracht hatte: Mit seiner ewigen Stramplerei, Rumgewälze und seinem Gestöhne hatte Stan mich einmal mehr nach kurzer Zeit von seiner Seite vergrault. Selbst aber nachdem mich meine umwölkten Erinnerungen eingeholt hatten, schien ich nicht bei klarem Verstand. Zu Beginn glaube ich, meine Sinne müssten mir einen Streich spielen, als ich mich mit trüben Augen dem Unruheherd zuwandte: Auch unser Sorgenkind musste eine äußerst schlechte Nacht hinter sich gebracht haben und mit dem falschen Fuß zuerst aufgestanden sein. Kurzum: er war völlig von der Rolle und nicht zu bändigen. Man konnte von Glück reden, dass Stan noch immer in seinem gepolsterten Schlafsack gesteckt hatte, als er die zwei Tritte in die Magengegend einstecken musste. Nach dieser mehr oder weniger erfolglosen Wecktherapie, hatte Eagle Stan an der Kragenhöhe des Schlafsacks gepackt und ihn gewaltsam aufgerichtet. Lange konnte sich Stan allerdings nicht in dieser äußerst peinlichen Situation halten und machte wie ein Sack Kartoffeln wieder mit dem Boden Bekanntschaft. Er hatte sich noch nicht richtig aus dem Schlafsack freigestrampelt, da packten ihn abermals die zwei wutentbrannten Hände, diesmal am Kragen seines T-Shirts.
    „Du beklaust mich?! Ich werd dir ...!“
    Da schoss ich bereits heran. So treffsicher wie kein zweites Mal rammte ich Eagle meine Schulter in die entblößte Hüfte. Der Griff um meinen Freund Stan löste sich. Eagle taumelte zurück, bis er über einen Randstein unseres Lagerfeuers stolperte und hinterrücks umkippte. Mein Einschreiten verschaffte Stan endlich die notwendige Zeit, um sich selbst und ohne fremde Hilfe hochzukämpfen. Am liebsten hätte ich laut losgelacht, als Eagle mich, seinen Überwältiger, zähnefletschend und mit aufgeschrammten Händen ansah; wenn die Situation bloß nicht so verdammt ernst gewesen wäre. Was hatte er gesagt? Beklaut? Da musste ein Irrtum vorliegen. Ein weiterer ...
    „Dreckiges ... dreckiges Miststück ...!“
    „Was ist bloß los mit dir?“ Stan nahm schützend Position vor mir ein.
    „Ich weiß nicht wie ... Vielleicht hast du ihn abgerichtet ... Ich krieg dich dran ... Das wird dir noch leid ...“
    „Was willst du eigentlich? Jetzt mal Klartext!“ Verständnislos schüttelte Stan den Kopf. Gleichzeitig sah er mich an. „Verstehst du das?“
    „Er meinte vorhin ...“, begann ich, kam an diesem Punkt aber schon nicht weiter.
    „Spiel hier nicht den Ahnungslosen! Beklaut hast du mich!“
    „Be-beklaut?“
    Totenstille. Man konnte durchaus verstehen, warum es Stan in diesem Fall die Sprache verschlug. Was uns vorgeworfen wurde, war zum gleichen Teil empörend wie auch absurd. Stan und stehlen? Nichts, aber auch rein gar nichts deutete darauf hin, dass er zu einer solchen Tat fähig gewesen wäre. Und überhaupt: Warum sollte Stan, ausgerechnet Stan, es freiwillig mit diesem unangenehmen Zeitgenossen verscherzen wollen? Das lag jenseits jedweder Vorstellungskraft. Und ich? Nun ja, nicht zu Unrecht trug ich den Titel des mit dem blechernen Bierdeckel ausgezeichneten Meisterlangfingers, doch seit Stan für mich sorgte, hatte ich diese Gewohnheit - bis auf den ein oder anderen Überfall auf eine unbeaufsichtigte Mülltonne - abgelegt. Auch wenn die Vorratshaltung meines Freundes manchmal etwas brenzlig erschien, hatten wir bislang nie am Hungertuch nagen müssen.
    Als Stan weiterhin - wie Eagle das so schön genannt hatte - den Ahnungslosen spielte, drohte die Angelegenheit ein weiteres Mal zu eskalieren und konnte nur mit einem weiteren Einschreiten von mir im letzten Moment abgewendet werden.
    „Also gut! Du wolltest es so ...!“
    „Ich hab echt nichts geklaut! Wie auch ... und warum?“
    Eagle wagte es kaum, mich, der sich ihm mit grimmiger Entschlossenheit und steil zu Berge stehenden, funkenschlagenden Fell entgegenstellt hatte, nur für den Hauch einer Sekunde aus den Augen zu verlieren. Es erweckte daher den Eindruck, als hätte er mir mit mir als mit seinem Mitmenschen gesprochen. „Was weiß ich, was in deinem kranken Hirn vorgeht?! Aber wenn du glaubst, du ...“
    „Sieht so aus als wäre er nicht der einzige, schau mal, Stan.“ Behaftet mit einer dunklen Vorahnung hatte ich mich etwas von dem unangenehmen und unberechenbaren Zeitgenossen vor mir abgewendet. Bis zu diesem Zeitpunkt war wohl niemandem aufgefallen, welch schreckliche Unordnung in unserem Lager herrschte. Stans Rucksack war aufgebrochen, das unmittelbare Umfeld säumte die Kleidungsstücke, die Stan zum Wechseln dabei hatte, Papierfetzen und kleinere Habseligkeiten ohne offensichtlichen Wert lagen achtlos verstreut, so auch die Rose der Wüste, deren grüner, dornenloser Stil leicht aus dem blauen Stofftuch hervorlugte.
    Mit einem wehmütigen „Ich-hab-es dir-doch-gesagt“-Blick verabschiedete sich Stan von dieser leidigen Unterhaltung und begann seine Habseligkeiten wieder Stück für Stück einzusammeln. Wer der Dieb auch war - er hatte kein spürbares Interesse an Kleidung gezeigt. Was also dann? Nachdem Stan auch die letzte Socke aufgelesen hatte, inspizierte er den restlichen Inhalt seines Rucksacks. Es folgten nicht jugendfreie Schimpfereien, wie man sie nur selten von ihm hörte.
    „Alles weg ...“ Noch immer trug Stan seine aufgelesenen Kleidungsstücke auf dem Arm. Statt sie aber wieder zu verstauen, gab er seinem- so wie sich nun herausstellte - fast restlos leeren Rucksack einen schwächlichen Tritt. „Igelavar bringt mich um ...“
    Lebensmittel, darauf hatte es der Dieb also abgesehen. Nicht wirklich anspruchsvoll, gerade das also, was man zum Leben brauchte.
    „Wie sieht es bei dir aus?“, richtete sich Stan an Eagle.
    „Ähnlich“, antwortete er.
    „Ähnlich?“, wiederholte Stan. „Was noch?“
    Eagle zögerte etwas, was sonst nicht seine Art war. „Ich vermisse außerdem ein Medaillon.“
    „Ein Medaillon?“
    „Spreche ich chinesisch oder was? Soll ich es dir auch noch buchstabieren?!“
    „Reg dich ab. - Also, wie du siehst ...“, Seufzend machte Stan eine weitreichende Handbewegung um sein näheres Umfeld. Seine Unschuld war bewiesen.
    „Andererseits aber könntest du das auch ebenso gut inszeniert haben, nur um auf den Verdacht auf dir abzulenken ...“
    „Nun hör aber auf!“ Im gleichen Moment stopfte Stan seine Habseligkeit grob in den Rucksack. „Ob du es hören willst oder nicht - wir sitzen im selben Boot.“
    „Pah!“
    Mit einer abweisenden Handbewegung kehrte uns Eagle den Rücken zu. Auf eine Entschuldigung für seine schonungslosen Anschuldigungen warteten wir schon gar nicht. Eigentlich, und das war das Traurige, hätte diese Unterhaltung gar nicht besser enden können. Zumindest der brüchige Frieden war wiederhergestellt. Vorerst.


    „Und jetzt?“, fragte ich.
    Stan hatte seine kleine Aufräumaktion beendet und war zwischenzeitlich in seine übliche Kluft geschlüpft. „Sogar die Zahnbürste ...“, schimpfte er leise, schnippte den letzten Dreck von den Borsten und ersetzte diesen mit seiner äußerst scharfen Zahncreme.
    „Weißt du, nur so ein Gedanke, aber das hier, das wäre eine gute Gelegenheit, du weißt schon ...“
    „Weisch nischt.“
    Stan hatte den Mund voll Schaum. Wenn ich ihn nicht besser gekannt hätte, hätte ich meinen müssen, er hätte seine Auffassungsgabe soeben darin ertränkt.
    „Sich bei ihm Lieb Kind zu machen“, beendete ich meine unausgesprochenen Gedanken. Passend dazu spuckte Stan aus. Er murmelte etwas, schob sich dann wieder die Zahnbürste in den Mund und schrubbte weiter, wenn auch etwas langsamer.
    „Überleg doch mal. Jetzt hättest du die Chance. Es ist geradezu ideal, dich bei ihm einzuschmeicheln ... auch wenn es mir nicht gefällt. Aber so eine Gelegenheit bekommst du vielleicht kein zweites Mal, und du würdest nicht einmal Verdacht schöpfen, weil du ebenso davon betroffen bist.“ Während ich ihm den Vorschlag unterbreitete, wurde das Schrubbgeräusch von Stans Bürste immer langsamer. „Du hast doch gemerkt, wie er erst mit dem Medaillon gezögert hat, und wie er dann der Haut gefahren ist. Ich sag es dir, schaff es ihm wieder bei und er frisst dir aus der Hand ... Naja, zumindest etwas Achtung dürftest du dir damit verdienen.“
    Zum zweiten Mal spuckte Stan aus. Kommentarlos, ganz offensichtlich aber tief in Gedanken versunken, packte er seine Zahnbürste wieder in den Rucksack.
    „Du bewegst dich nicht von der Stelle, bis ich zurück bin, klar?“ Eagle war zurückgekehrt. In seiner kurzen Abwesenheit hatte er keine besseren Manieren bekommen, dafür aber sich reisefertig gemacht. „Ich hab hier noch was zu erledigen.“
    „Du suchst nach dem Dieb?“ Stan stand mit dem Rücken zu mir und Eagle. Es war daher schwer zu deuten, was in ihm vorging.
    „Du merkst aber auch alles“, höhnte Eagle.
    „Ich - ich werde dir helfen.“
    „Kein Bedarf“, gab Eagle zurück.
    „Ich will ...“, Stan schien kurz zu überlegen. Dann, einige Sekunden später, wandte er sich endlich wieder uns zu. Er schmunzelte kaum erkennbar. „Ich will ihn seiner gerechten Strafe zuführen. Oder zumindest zusehen, wie du ihn alle machst.“
    „Tu, was du nicht lassen kannst“, schulterzuckte Eagle. „Komm mir aber ja nicht in die Quere.“ Hochmütig stolzierte er an uns vorbei. Der aufmerksame Beobachter erspähte allerdings bei näherem Hinsehen den Schatten eines flüchtigen Lächelns. Dank seiner Schmeicheleien war der sonst so verbohrte Stan endlich auf Öl im unkartieren Niemandsland gestoßen, und genauso ging es ihm auch runter.
    „Hast du gesehen?“, augenzwinkerte ich Stan verschwörerisch zu. Zufrieden lächelnd nickte er.
    Weiter geschah nichts mehr. Von beiden Seiten nicht. Man konnte in diesem Moment fast eine gewisse Ähnlichkeit in dem aufgekommenen Verhalten beider Menschen sehen. Jeder war auf seine ganz eigene Art in Gedanken versunken. Eagle stand regungslos auf der Stelle und suchte mit starrem Blick den unendlichen Horizont ab. Gott allein wusste, nach was er Ausschau hielt. Stan dagegen spielte unzweifelhaft mit dem Gedanken, ob er sich kameradschaftlich neben Eagle stellen durfte, um es ihm gleichzutun. Immer wieder setzte er zum letzten befreienden Schritt an, fiel dann aber wieder in seine alten Gewohnheiten zurück und zögerte so sehr, dass ihm sein rechtes Bein verkrampfte.
    „Also“, begann Stan schließlich, nachdem sich dieser peinliche Vorgang dreimal wiederholt hatte, „wie geht es weiter?“
    Sky, Sora und Scorpio - die Antwort auf die Frage, die wir nicht gestellt hatten. Alle drei erschienen augenblicklich auf der Bildfläche, jeder für sich mit seiner ganz eigenen Vorstellung. Während es Sky atemberaubend in die weitesten Höhen trieb und er dort weite Bahnen kreiste, zog Sora eine gewisse Nähe zu der Erdoberfläche und somit zu Eagle vor. Flügelschlagend schwebte sie einen knappen Meter über dem Boden, stets mit einem Auge mich und Stan fest im Blick. Nur Scorpio hielt es direkt am Boden, genau genommen sogar sehr eng an Eagles Seite. Im Gegensatz zu Sora bemühte er es nicht, mit uns einen direkten Blickkontakt herzustellen.
    „Also, hört zu. Ich suche jemanden. Er besitzt die unverfrorene Dreistigkeit, etwas von meinem Besitz entwendet zu haben: ein Medaillon. Ihr kennt es. Dreht jeden Stein um, hackt notfalls jedem Verdächtigen die Augen aus, wenn er nicht reden will. Tut, was immer notwendig ist, nur schafft es wieder bei, egal wie.“ Bei seiner beeindruckenden Rede bemühte Eagle einen besonders beschwörenden Ton, was ihm auch ausgesprochen gut gelang. Der Klang seiner Stimme erreichte selbst Sky, der noch immer weit abgeschlagen über unseren Köpfen kreiste und plötzlich deutlich engere Bahnen zog. Scorpio war die Ruhe selbst. Er nickte still, das war auch schon alles. Sora dagegen hatte man nie außerhalb eines Kampfes derart beharrlich erlebt. Gierig zog sie jedes einzelne Wort mit grimmiger Entschlossenheit ein. Die armen Seelen konnten einem leid tun, die Soras Weg kreuzten. Eagle befürwortete die Gewalt, und sie würde davor sicherlich nicht zurückschrecken. „Sora in einem Radius von fünf Kilometer in südliche Richtung, Sky nach Westen, Scorpio nach Osten, ich nehme den Weg nach Norden, den wir gekommen sind. Treffen uns wieder genau hier in zwei Stunden. Ausschwärmen!“
    Man konnte über Eagle denken, was man wollte, aber die Art und Weise, wie er die Dinge durchdachte, und auch, wie er handelte, war bemerkenswert. Sein impulsives und aggressives Handeln konnte durchaus Tatendurstig machen, was wohl auch erklärte, warum Sora, Sky und auch Scorpio ohne weiteres Zögern seine Worte in die Tag umsetzten. Wenige Augenblicke später waren sie auch schon in alle Himmelsrichtungen verstreut.
    „Drei Stunden.“ Die letzten seiner ausgesprochenen Worte galten uns. Zusätzlich deutete er noch auf den Boden. „Hier.“ Dann kehrte auch er uns den Rücken zu und tat es den anderen gleich. Seine weiten Schritte führten ins fort von uns, den Trampelfeld zurück, den wir gestern gekommen waren.


    „Eigentlich gar keine so schlechte Idee ...“ Erst eine geschlagene Minute, nachdem der kleine silberne Fleck, der Sky sein musste, schon fast nicht mehr am Horizont zu sehen war, kam Stan endlich wieder Besinnung. Er entschloss sich dazu, es Eagle gleichzutun, und rief im selben Moment seine kunterbunte, durchgeknallte Truppe auf den Plan: Igelavar, Shaymin, Fiffyen und natürlich auch mich.
    „Also, Igelvarar, du gehst ...“
    „Was ist mit Frühstück?“
    „Kannst du vergessen. Bei dem Anblick von Kohlkopf ist mir der Appetit längst vergangen. Da stülpst sich einem der Magen von Innen nach Außen.“
    „Äh, Leute ...“
    „Prächtig. Fang doch schon mal damit an - kann ja nur Verbesserungen mit sich bringen.“
    „Ich kannte mal jemanden, der hatte so einen ähnlichen Trick drauf. Bis zu diesem einen Tag ... Seitdem nannten wir Kopfüberjohnny nur noch Schluckswiederunterjohnny.
    „Den Magen von Innen nach außen, echt, Sheinux? Kaum vorstellbar ... Wer würde denn freiwillig so wie Fiffyen aussehen wollen?“
    „Hunger!“
    Fiffyen fletschte gefährlich die Zähne und spähte bereits gierig in Shaymins Richtung.
    „Schluss jetzt! Fiffyen du gehst da lang, und Igelavar, du ...“
    „Stan ...“, räusperte ich mich vernehmbar. „Vielleicht solltest du erst einmal aufklären, worum es geht.“
    Stans Gesicht lief sekundenschnell rot an. „Ach ja, stimmt ...“, murmelte er. „Also, die Sache ist die ...“
    „Ich weiß schon, habe alles mitgehört“, flötete Shaymin fröhlich.
    „Ui, willst du jetzt etwa einen Orden?“, höhnte Fiffyen.
    Shaymin überhörte die schmähenden Worte ihrer Pokémon-Schwester und fuhr unbeeindruckt fort. „Wir sind heute Nacht überfallen worden. Ein Medaillon wird vermisst und unsere Vorräte. Keine Spur von dem Täter. Und jetzt sollen wir ...“
    „Kein Essen?!“, heulte Igelavar laut auf. Kleinere Funken sprühten ihm aus den frustriert geblähten Nüstern. Fiffyen versengte es die Spitzen ihrer Frisur. Wehklagend und fluchend sprang sie zur Seite. Shaymin giggelte bei diesem Anblick leise vor sich hin.
    „Ihr habt es gehört ...“, seufzte Stan. „Wir suchen ein Medaillon und die sprichwörtliche Nadel im Heuhafen. Wir wissen absolut nichts über den Dieb, nur dass er oder sie sich irgendwo in der Nähe aufhalten muss. Eagle ist bereits los, Sora und die anderen suchen die Luft ab.“
    „Ohne was im Magen bin ich zu nichts Nutze ...“, jammerte Igelavar. Wer ihn kannte, wusste, dass er für derartige Spielereien nichts übrig hatte. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte sein Leben für ihn einzig und allein aus essen und schlafen bestanden.
    „Noch nie etwas von einer Schnitzeljagd gehört? Also los, Großer“, spornte ich Igelavar an.
    „Genau“, strahlte Stan über meine Rückendeckung.
    „Gut, von mir aus ...“, brummte Igelavar müde.
    „Also, mir wäre es sehr recht, wenn du, Shaymin, und du, Igelavar, gemeinsam auszieht. In Ordnung?“ Stan schielte geheimnistuerisch zu mir herüber. Nachdem was Gaia uns über Eagles Absichten erzählt hatte, und auch, wenn sie uns hoch und heilig versprochen hatte, dass Shaymin kein Haar gekrümmt würde, war es mehr als verständlich, dass Stan Shaymin nicht ohne sicheres Geleit auf die Suche schicken würde. Und auch wenn Igelavar mehr mit dem Magen als mit dem Kopf dachte, hatte man sich bislang bei ihm immer verlassen können.
    „Soll mir recht sein“, meinte Shaymin.
    „Fiffyen, du ...“
    „Vergiss es!“, unterbrach sie Stans Ausführungen. Ein seltener Anblick, dass sie Stan unverblümt ins Gesicht schaute. „Mich kannst du nicht so hirnlos herumscheuchen wie Brokkolifresse, klar? Ich gehe dahin, wohin Sheinux geht, und damit basta!“
    Als ob es Stan geahnt hatte, zuckte er die Schultern. „Also gut, dann nur zwei Gruppen. Fiffyen, Sheinux und ich bilden die andere Gruppe.“ Er überhörte Fiffyens Gemurre, sie wolle aber mit mir allein sein, und fuhr fort. „Wir treffen uns in zwei Stunden wieder hier. Nun denn!“
    Wie auf Geheiß reckte Shaymin ihre spitze Nase in die Luft, schnüffelte munter, überlegte kurz und schlug dann mit ihren winzigen aber raschen Schritten östliche Richtung ein. Igelavar folgte ihr mit den Worten: „Jetzt erzähl: Wie war das mit den Schnitzeln?“
    „Endlich allein!“
    „Weißt du“, sagte ich zu Stan, während Fiffyen der Redewendung „Einem an der Backe kleben“ eine ganz neue Bedeutung verlieh, „wir sind schon ein durchgeknallter Haufen - aber ich könnte mir keinen schöneren vorstellen.“

  • So, dann will ich mal nicht lange um den heißen Brei reden und komme gleich zu deinem Kommentar:
    Kaum fängt der neue Part an, stecken unsere Helden schon in einem schlimmen Gewitter, was für ein netter Anfang xD
    Hab mich erst einmal drüber gewundert, wer überhaupt die plötzliche aufgetauchte Angie war, bis mir wieder einfiel das ja Eagle vorhin gegen eine andere Trainerin gekämpft hatte. Auch mal eine Abwechslung jemanden zu sehen, die sich Eagles Worte nicht so sehr gefallen lässt, Stan bevorzugt es ja lieber den Kopf einzuziehen und Ärger zu vermeiden.


    Bei einem ihrer ersten Pokecenter Besuche hat es auch so geschüttet? Das hab ich bereits glatt vergesse, kein Wunder, liegt ja schon eine ganze Weile zurück … Außerdem hast und uns ja schon in ziemlich viel verschiedenen Pokémon center geführt. War aber – jedenfalls glaub ich mich zu erinnern – das erste Mal, dass du die Bediensteten des Centers mehr zu Wort gelassen und ihnen etwas Charakter verliehen hast. Bisher hatten die ja noch nicht kaum Screen time, wenn man von dem Herrn Müllmann absieht xD Aber hat mir eigentlich recht gefallen, solltest du öfter machen, ob nun mit Gulid Wars 2 Anspielungen oder nicht^^
    Das Warnschild auf der Türe zum Labor fand ich auf jedenfalls sehr kreativ und auf die Anmerkung „ … und da Durchfall wirklich das letzte war, was er gewollt hatte…“ musste ich regelrecht grinsen.


    Kaum das Center verlassen, kommt es endlich zur der Frage, die eigentlich schon längst von Stan gestellt werden hätte soll: Wieso folgt ihnen Eagle die ganze Zeit schon.
    Die Antwort, dass er hinter Shyamin war, ist nicht weiter erstaunlich, ich glaub das war seit seinem ersten Treffen mit dem grünen Igel (Der Eagle will den Igel … mieser Witz, ich weiß xD ) klar. Verwunderlich war nur, dass er irgendwie die Fakten über Stan und Sheinux Reise ein bisschen verwechselt hatte. Also sein ganzes Vorhaben beruht auf einer Lüge die ihn Gaia aufgetischt hatte, damit Stan und Eagle und Freundschaft schließen … Na das kann ja noch sehr interessant werden.
    Das heißt also der werte Rivale war nicht immer schon so ein grimmiger Geselle … ehrlich gesagt hatte ich bisher noch gar nicht so an Eagles Vergangenheit gedacht (Vielleicht weil wir von Stan bisher auch eher weniger erfahren haben xD ), aber ich werde jetzt doch recht neugierig was du da geplant hast. Frag mich ob dieses Medaillon und seine großes Interesse an Shaymin ebenfalls etwas damit zu tun hat …
    Nun gut, mal sehen was du weiter mit dem ungewollten Mitreisenden vor hast, bisher hast du es ja erfolgreich geschafft mir ihn recht unsympathisch zu machen, aber es steht ja noch in den Sternen wie sich die Freundschaft zwischen Eagle und Stan entwickelt. Außerdem … wie sieht es dann zwischen den Pokémon der beiden Partien aus, wird es da wohl auch Annäherungen geben? Bin schon sehr gepannt darauf, wie ihre Charakterentwicklungen treiben wirst … aber die erste Frage die es jetzt zu klären gilt: Wer ist dieser Dieb und was macht der mit so viel Lebensmitteln und einem einzigen Medaillon?
    Hm … Naja, mal sehen wie sich der gute Chaoten Haufen gegenüber Eagles organisierten Sucharmee schlägt, es bleibt spannend (und Humorvoll)^^
    Immer weiter so!


    Auf Weiterlesen,
    Toby

  • Part 5: Die Katze und das Miststück




    Die von Stan spontan festgelegte Marschrichtung führte uns nicht nur völlig entgegengesetzt zu Eagle, sondern auch den Feldweg entlang, den wir ohnehin hätten bestreiten müssen, wären die Ereignisse der vergangenen Nacht niemals eingetreten. Dass wir uns trotz der richtigen Reiseroute nicht mehr auf der ursprünglichen Mission befanden, war irgendwie so fremd wie spürbar. Kein nerviger Eagle weit und breit, dafür aber eine selten quietschfidele Fiffyen. Und dann war da natürlich noch das flaue Gefühl in der Magengegend, dass sich seit unserem Aufbruch unaufhaltsam ausgebreitet hatte und sich immer wieder mit schmerzhaften Hieben in Erinnerung rief: War es falsch gewesen, Shaymin auf die Suche zu schicken? Vielleicht sogar riskant? Je mehr ich darüber nachdachte desto leichtsinniger kam es mir im Endeffekt vor. Selbst Igelavar als persönliche Leibgarde wollte mir nicht wirklich die Gewissheit um beider Sicherheit geben, was Stan ursprünglich zweifellos für sich hatte bezwecken wollen.
    „Was schaust du so nachdenklich, Schatz? Geht es dir nicht gut, willst du dich etwas hinlegen?“
    Fiffyens Anwesenheit machte es einem nicht gerade leicht, sich neben der ohnehin erdrückenden Sorge um Shaymins Wohlergehen auch noch auf die eigentliche Aufgabe zu konzentrieren: die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen zu finden. Ein gewaltiges Problem tat sich nämlich bei näherer Betrachtung der Dinge auf: Wer auch immer für den nächtlichen Raubzug die Verantwortung trug, konnte überall sein. Auch, und das kam erschwerend hinzu, wussten wir nichts über dessen Identität. Aussehen, Namen Alter, Adresse, Blutgruppe , noch nicht einmal die Ohrläppchengröße. Nun ja, einen dürftigen Anhaltspunkt hatten wir: Es lag recht nahe, dass es kein Mensch sein konnte. Welcher Dieb begnügte sich schon mit etwas Obst und belegten Broten und lässt die Barschaft - Stans letzte Silbermünzen, sicher in seinem Portmonee verstaut, das er stets in der Hosentasche aufbewahrte - völlig einfach außer Acht? Es lag nah, dass es sich hierbei um ein ausgehungertes Mitpokémon handelte; möglicherweise waren wir uns gar nicht so unähnlich, wer konnte das schon sagen?
    Bislang war unsere Suche nicht von sonderlichem Erfolg gekrönt gewesen. Das Gebiet mit seiner flachen, grünen Landschaftsidylle war sehr weitläufig. Weit in östlicher Richtung konnte man eine Ansammlung von Bäumen ausmachen - ein Wald. Dahin war Scorpio gerade unterwegs. Im Westen erwartete einem ein vertrautes Landschaftsbild wie er es auch hier bekam: Endlose grüne Wiesen und brachliegende Äcker. Langeweile pur. Seit unserem Aufbruch vor einer knappen halben Stunde waren wir keiner Menschenseele begegnet. Lediglich um ein Rezept für Madeneintopf waren wir reicher geworden, das uns eine freundliche Untergrundbewohnerin auf ihrem Morgenspaziergang an der Erdoberfläche überlassen hatte. Von einem gemeinen Dieb wollte sie aber nichts wissen. Aber das war nichts Neues für mich. Erfahrungsgemäß zogen wildlebende Pokémon es in der Regel vor, nur ihren eigenen Dingen nachzugehen. Man hatte es auch so schon schwer genug. Da brauchte es nicht noch die Probleme anderer, die einen belasteten.
    „Alles okay, Sheinux? Du bist so schweigsam.“
    „Was? Oh, ich ...“
    „Natürlich ist er das“, fauchte Fiffyen Stan an. „Er ist vom Marsch erschöpft, und gegessen hat er heute auch noch nichts, du Sklaventreiber.
    „Huh?“, machte Stan.
    „Lass gut sein, Fiffyen“, murmelte ich.
    „Nichts da! Das musste jetzt mal gesagt werden!“ Hochmütig wandte sie sich wieder von Stan ab. „Das ist alles so unromantisch hier ...“ Sie schenkte der Umgebung eine kaltschnäuzigen Blick. „Ist doch so, oder, Sheinux?“
    „Ja, ja, was auch immer ...“, schwindelte ich tonlos.
    Stan warf die Arme an den Hinterkopf. „Was hast du erwartet? Wir sind ja auch nicht zum Urlaub hier.“
    „Nein, natürlich nicht!“ spottete Fiffyen theatralisch. „Stattdessen laufen wir uns Blasen und jagen wir irgendwelchem Schnickschnack hinterher. Das nenne ich Spaß! Was geht uns bitteschön der Krempel von diesem Mensch an?“
    Stan und ich tauschten stille Blicke. Natürlich kannte Fiffyen nicht die ganzen Hintergründe. Das war auch wesentlich besser so. Fehlte gerade noch, dass sie herausfand, wie tief Shaymin in dieser Situation verstrickt war und dass ihre ärgste Rivalin - ohne es natürlich zu wollen - Schuld an Fiffyens Blasen zweckte.
    „Ohnehin kann ich nicht verstehen, wie du dich mit solchen Leuten abgeben kannst, Sheinux. Ich habe immer geglaubt, dass du mehr Stil hättest, ... ganz im Gegensatz zu anderen Anwesenden.“ Auch ohne dass sie in Stans Richtung schielte, stand außer Frage, auf wen sie mit dieser spitzen Bemerkung zielte. Und doch ärgerte es mich. So wie sie mich hinstellte, musste man fast glauben, ich hätte Sympathie für Eagle.
    „Aber ich verzeihe dir.“ Stummelschwanzwedelnd schloss Fiffyen wieder näher zu mir auf. „Dir kann man einfach nicht böse sein.“
    Aus Stans Richtung drangen erstickende Geräusche an mein Ohr. Er lachte sich halb tot.


    Über die nächsten zwanzig Minuten hinaus formte sich das Landschaftsbild erkennbar. Weniger wild und ungebändigt; schon bald machte sich ein Anstrich von landwirtschaftlicher Kultur bemerkbar. Das Kopfsteinpflaster, auf dem wir plötzlich wandelten und auf dem wohl viele Generationen lang die ansässigen Bauern entlang fuhren, um ihre Felder zu bestellen, war alt und verwittert. Man hatte es wohl bereits vor langer Zeit aufgegeben, die Straße zu erneuern. Zu unserer Rechten standen die oberirdischen, zartvioletten Kartoffelpflanzen in voller Blüte, ein Feld weiter schlief Mais in den bis zu zwei Meter hohen Stauden und verschiedenes Getreide gab es in Hülle und Fülle. Ergänzend dazu begegneten uns seit langer Zeit wieder menschliche Lebewesen: Ein alter Landwirt, der hier die genannten Feldfrüchte zog, schenkte uns und sich zufälligerweise just in diesem Augenblick nähernden Trainer-Pärchen ein zahnloses Grinsen.
    Die reisenden Trainer gaben sich ratlos, was die Existenz des ominösen Diebes anbelangte, und erst recht wussten sie nichts mit dem verschwundenen Medaillon anzufangen. Sie waren nicht aus der Gegend, im Gegensatz zu dem alten Farmer. Er besaß soweit Kenntnis über die Existenz eines in dieser Region sein Unwesen treibenden Wilderers, dass er uns zumindest bestätigen konnte, dass wir nicht die einzigen waren, die einem seiner Raubzüge zum Opfer gefallen waren. Doch auch er konnte uns keinen weiteren Anhaltspunkt geben. Nur, dass der Wegelagerer bereits seit Jahren hier zugegen war, und das unentdeckt.


    Als sich Stan auf eine nahegelegene Sitzbank am Wegesrand niederließ, befand er sich jenseits jeder Hoffnung. Kein Dieb, kein Medaillon. Er stand mit leeren Händen da, die einen neuen Ausbruch ungeahnter Stimmungstiefen bei Eagle auslösen würden, ganz zu schweigen von dem ersten guten Eindruck, der jetzt wieder auf Messers Schneide stand.
    „Hey, Sheinux, sieh mal, eine Mülltonne. Was meinst du, hast du Lust? Der Sklaventreiber bläst gerade Trübsal, wie du siehst.“
    Fiffyen stellte einmal mehr ihr nicht vorhandenes Taktgefühl schonungslos unter Beweis. Sie scherte sich keinen Deut um Stan, schon gar nicht teilte sie seine Sorgen oder Gefühle. Noch nicht einmal ihre Stimme hatte sie anstandshalber etwas gesenkt. Eine von der Zeit dahingeraffte, verrottete und von Wind und Wetter gebeutelte Mülltonne, die da etwas abseits des Weges die Zeit überdauerte, war alles, was sie brauchte, um Stan getrost allein in seinem Elend zu lassen. Zögernd schaute ich in seine Richtung, doch noch bevor ich irgendetwas sagen konnte, ja, vielleicht sogar wütend ablehnen und Fiffyen faustdick ins Gesicht sagen konnte, was sie für eine unsensible Zimtzicke war, winkte er schon ab.
    „Geht schon, ihr zwei. Ihr habt es euch verdient ...“
    „Siehst du? Also los, komm schon!“
    „He-ey!“
    Fiffyen strahlte über beide Ohren, während sie ihren bulligen Körper gegen den meinen presste und mich so unfreiwillig in die gewünschte Richtung dirigierte. Skrupel, ob ich nun wollte oder nicht, schien sie dabei nicht zu kennen. Vielleicht wollte es in ihr verqueres Oberstübchen aber auch gar nicht reingehen. Und je mehr ich mich in ihrem kranken Spiel widersetzte desto mehr Ehrgeiz schien sie zu entwickeln. Welche Optionen hatte ich aber? Klar mochte ich sie ... aber nicht auf die Art und Weise, wie sie offenbar unsere Beziehung sah. Freunde, Kumpel, Kameraden, ja, vielleicht. Aber nicht mehr. Doch ... es gab da noch mehr ... viel mehr sogar. So gesehen war ich für sie verantwortlich, schließlich hatte ich ihr räudiges Fell gerettet, auch wenn jener schicksalhafte Tag bereits Jahre zurückzuliegen schien. Und da sie das Gesetz so sehr wie ich achtete, wusste sie, dass mein Wille und meine Entscheidungen an das ihre Leben geknüpft war - bis die Schuld abgeglichen war. Ein Instrument, das sie schamlos ausnutzen konnte, und diese rein rechtliche Beziehung - wenn es nach ihr gegangen wäre - bis zum Amtsgericht gestreckt hätte. Überhaupt sah ich nur wenige Möglichkeiten, dieses Spiel zu beenden, wobei eine unwahrscheinlicher als die andere war. In Gedanken zählte ich sie eine nach dem anderen auf: Zum einen konnte sie natürlich einfach das Interesse an mir verlieren; als zweite Alternative konnte sie mir das Leben retten, um die ausstehende Schuld zu tilgen, womit sie - und in diesem Fall auch ich, nämlich von ihr - befreit wäre; dann war dar da natürlich noch die unehrenhafte Entlassung von Stan. Die letzte noch verbliebene Eventualität wagte ich kaum einmal in Gedanken auszusprechen: Ich konnte ihr die Freundschaft kündigen, den Laufpass geben sozusagen, und in die Wüste schicken. Im schlimmsten Fall hätte ihr dies das Herz gebrochen und sie hätte das Weite gesucht, doch da wir beide nach dem Gesetz der Straße lebten, konnte dieser Umstand wirklich niemals eintreten. Und selbst dann war sie noch immer an Stans Pokéball gebunden. Stan und mir hätte also in diesem Fall immer noch eine äußerst zermürbende, disharmonische Reise bevorgestanden. Doch wie gesagt: Diese Möglichkeit zog ich noch nicht einmal im Entferntesten in Betracht. Ebensowenig wollte ich Stan ausgerechnet jetzt mit meinen kümmerlichen Problemen zusätzlich belasten, noch die Verantwortung für zukünftigen Kummer tragen. Die Sache durchstehen, hieß die Devise. Ganz nebenbei musste ich Fiffyen aber in einem kleinen Punkt auch irgendwie Recht geben, auch wenn ich in dieser Beziehung nur von den ältesten und niedrigsten Instinkten angetrieben wurde: Das Geräusch meines rebellierenden Magens konnte ich einfach nicht leugnen ...
    Das von Fiffyen ausgewählte Bankett war schon lange für die wohlverdiente Pension überfällig: Rost fraß sich wahllos an der Außenhülle des kindshohen Blecheimers satt. Das unmittelbare Umfeld, auf dem er stand, war in einem kreisförmigen Ring abgestorben und das angrenzende Grün wirkte blass und kränklich. Ein übelriechender Sud trat aus einem unförmigen, fingerdicken Spalt an der Hülle heraus, was für eine sich am Fuße der Mülltonne tummelnde Madenkolonie als das Paradies auf Erden erwies. Und es stank. Es stank widerlich. Für gewöhnlich betrachtete ich mich selber als sehr hartgesotten und keineswegs zimperlich. Der faulige Geruch aber schlug dem Fass beinahe den Boden aus. Jetzt, wo ich es kaum noch mehr durch die Nase einzuatmen wagte, rächte sich mein einwilligendes Lächeln, das ich Fiffyen kurz vorher gegeben hatte.
    „Hm“, machte Fiffyen nachdenklich. Inspizierend stierte sie die Mülltonne hoch. „Ein Blickfang ist sie nicht, das stimmt.“ Jetzt schaute sie mich an. „Aber davon wollen wir uns nicht den Appetit verderben lassen, stimmts?“
    „Keineswegs“, spottete ich, ohne aber die beabsichtigte Wirkung zu erzielen. Entweder roch nur ich das oder Fiffyen war härter im Nehmen als ich ihr zugetraut hatte.
    „Was dagegen, wenn ich ...?“
    „Ladys first“, gab ich ihr mit einer einverstandenen Kopfbewegung nach. Schon im gleichen Moment strahlte mich Fiffyen mit schnell rötenden Wangen an als hätte ich ihr gerade das schönste Geschenk ihres Lebens gemacht.
    Nach einem gewaltigen Satz krallten sich Fiffyens Vorderpfoten bereits an der Öffnung fest, der restliche Körper baumelte noch schwerfällig in der Luft. Mir blieb die nicht ganz so verlockende Aussicht auf Fiffyens dicken Hintern. Die Mülltonne geriet zunehmend gefährlich ins Schwanken. Das dauernde Klong Klong verfolgte Fiffyens Bemühungen, während sie mit den Hinterläufen strampelnd versuchte, ihren restlichen Körper mit aller Gewalt hochzuzerren.
    „Weg! Ihr kriegt nix! Alles meins!“


    Die scharfe Stimme gepaart mit dem plötzlichen, völlig unerwarteten Auftauchen eines verstrubbelten, äußerst grimmig dreinblickenden Katzenkopfs aus der Deckelöffung war der Schreck zuviel für die arme Fiffyen. Hysterisch kreischend löste sich ihr Halt, es folgte eine unspektakuläre und unsanfte Punktlandung auf ihrem Hinterteil; einen Moment später und ich wäre unter ihr begraben worden.
    „Au ...!“, jammerte sie.
    Noch bevor sie sich richtig gesammelt und überhaupt realisiert hatte, was soeben passiert war, hieß es von dem Katzenkopf: „Geschieht dir Recht! Oh ja! Mein Zeug!“
    Die Fremde sprach unglaublich schnell und besaß eine hohe, schneidende, forsche Stimme. Obwohl kaum mehr als der runde Kopf mit den steil zu Berge stehenden Ohren und den spitzen Barthaaren zu sehen war, konnte man ungefähr abschätzen, dass sie ungefähr dieselbe Größe wie ich besaß. In Natur musste das strubbelige, ungepflegte Fell in etwa beigefarben sein; verrottete Essensreste und eine undefinierbare Anzahl an abgestandenen Flüssigkeiten tönte es aber in ein schmutziges Grau. Nur das ovalrunde, zart-orangefarbene Amulett auf ihrer Stirn schimmerte blitzblank wie tagelang poliert, was in direkter Konkurrenz zu dem beißenden Geruch stand, der an ihrem Leib haftete. Mit einem Auge hielt sie uns unentwegt im Visier, das andere war sehr beschäftigt dabei zuzusehen, wie sie sich den Rücken ihrer rechten Vorderpfote leckte.
    Da der kurze Fall noch bleibende Wirkungen auf Fiffyens Reaktionen hatte, war ich es, der die am nahestehende Frage in dem Raum warf.
    „Und du bist?“
    „Mauzi. Was wollt ihr? Lange Nacht. Jaja. Habt mich geweckt.“
    Wie schon zuvor, legte Mauzi beim Reden eine unglaubliche Geschwindigkeit an den Tag. Groß darüber nachdenken, was sie eigentlich vor sich hin quasselte, schien sie dabei nicht.
    Endlich hatte sich Fiffyen aufgerappelt. Zerknirscht schaute sie erst mich und dann die Ursache für ihren Fall hoch oben über ihr an. Wenn man genau hinsah, konnte man den Zeitpunkt exakt ablesen, als Leid und Elend völlig von der aufkommenden Wut abgelöst worden waren.
    „Wer ist das?“ Fiffyens Frage klang schneidend und anklagend zu mir herüber. Die Gelegenheit zu antworten, bekam ich erst gar nicht.
    „Mauzi. Hast du nicht gehört? Nein? Oder bist du dumm? Ja, Dummkopf!“
    „Wer ist hier dumm?! - Lass mich los, Sheinux! Die mach ich fertig!“
    Nur mein reflexartiges Eingreifen verhinderte im letzten Augenblick, dass Fiffyen erneut den Aufstieg wagte und sich im Anschluss wohl gleich auf Mauzi gestürzt hätte. Im Ausgleich dafür hatte ich jetzt nicht nur Fiffyens Fellgeschmack im Mund, sondern auch noch ihren finstersten Blick am Hals, den sie mir seit meiner Zeit als Mensch zugeworfen hatte. Es einzugestehen, fiel mir zwar schwer, aber in diesem Moment vermisste ich irgendwie die menschlichen Hände. Fiffyens Wucht, als sie hatte losstürmen wollen, hatte mir fast den Kiefer ausgerenkt. Außerdem wären im Anschluss ein paar Finger echt praktisch gewesen, um die Haare auf der Zunge gezielt herauszupulen. Wie lange musste ich mir jetzt wohl den eigenen Hintern lecken, um Fiffyens Fellgeschmack wieder aus dem Mund zu bekommen ...?
    „Du stellst dich auf ihre Seite?! Wie kannst du nur?!“
    „Stuss!“, zischte ich giftig zur Seite, redete dann gedämpft weiter. „Du merkst doch, dass die nicht ganz richtig tickt.“
    Die erhoffte Reaktion bei Fiffyen blieb leider aus. Grimmig schaute sie über die Schulter und visierte Mauzi an. „Mir egal. Das Gör fischt in meinen Gewässern - sie macht dir schöne Augen!“
    „Das ist doch Qu...“
    „Ihr habt Fisch? Habt ihr Fisch für mich? Ist selten hier. Oh ja. Selten. Gibt es nur an bösem Ort. Menschen leben dort. Viele Menschen. Und stinkige Blechmonster. Sehr gefährlich. Ich war schon dort. War Essen holen. Gemeine Menschen haben mich getreten und haben Zeug nach mir geworfen. Au! Au! Wehgetan hat. Sie gesagt haben, Mauzi Stinker ist, aber Mauzi kein Stinker ist. Seitdem ich lebe hier. Guter Ort zum Leben. Jaja. Guter Ort.“
    Fast schon mechanisch wandte ich mich Fiffyen und sie sich mir zu. Spöttisch verdrehte sie die Augen.
    „Siehst du?“, schulterzuckte ich leise zurück. „Die ist nicht ganz richtig im Kopf.“
    „Mir doch egal! Sie ...!“
    „Ach, lass es doch endlich mal gut sein!“, erstickte ich ihre erneute Neidattacke noch im Keim. Mich von der schmollenden Fiffyen abzuwenden, fiel mir nicht sonderlich schwer. Problematischer dagegen war, wie ich mein Anliegen am besten vermitteln konnte, damit einerseits Mauzi es nicht missverstand und andererseits es Fiffyen nicht in den falschen Hals bekam.
    „Hör mal zu, Mauzi, du könntest uns vielleicht helfen. Wir suchen ...“
    „Was bekomme ich, wenn ich helfe? Habt ihr Funkel-Funkel oder Glänzi-Glänzi?“
    „Sheinux, was machst du da?!“
    „Ich habe da so eine Ahnung ...“, flüsterte ich Fiffyen verschwörerisch zu. „Warte es ab.“ Ich wandte mich von Fiffyen ab und mit meinem charmantesten Lächeln wieder Mauzi zu. „Was möchtest du denn haben? Vielleicht haben wir ja was.“
    „Alles, was glänzig ist. Funkel-Funkel. Gliter-Glitzer. Jaja.“ Mauzis Augen leuchteten hell auf. In Erwartung, ein Objekt der Begierde hinter unseren Rücken zu erspähen, beugte sie sich ein Stück weit über den Deckelrand hinaus. Dass sie nicht fündig wurde, tat ihrer Begeisterung kaum einen Abstrich. Ich für meinen Teil fühlte mich nur in meiner vagen Vermutung bestätigt: Mauzi war diejenige, nach der wir die ganze Zeit gesucht hatten. Definitiv. „Menschen lassen manchmal welches fallen. Oder werfen es sogar weg. Essen und Glitzerzeug. Ich finds, ich behalts. Darum leb ich hier. Viel Essen. Viel Menschenkram. Viel Gliter-Gliter. Guter Ort zum Leben.“
    Ich ignorierte Fiffyens „Ich kann der bald nicht mehr zuhören ...!“ und hakte interessiert nach. „Und du bist bestimmt geschickt darin, Sachen zu finden“, schmeichelte ich weiter.
    „Sogar sehr gut. Finde viel. Menschen mit viel Zeug oft vorbeigekommen sind. Viele Menschen. Jaja. Viele. Ich bin gefolgt. Dann ich gegangen bin zurück. Mit ganz viel Kram. Alles hier. Alles meins. Habt ihr was für mich?“
    „Ich könnte dir ein drittes Nasenloch bohren ...“, murmelte Fiffyen so laut, dass man es unschwer hätte überhören können.
    „Glänzt nicht, will ich nicht“, antwortete Mauzi prompt.
    Fiffyen verdutzt dreinblicken zu sehen, war eigentlich der Müh, nämlich Mauzis verquerem Gerede aufmerksam zu folgen, Belohnung genug. Jetzt, wo wir sie aber soweit hatten, wollte ich aber nicht mehr locker lassen. Unter dem Vorwand, ihr ein schönes, funkelndes Geschenk machen zu wollen, bat ich sie darum, mir einige ihrer schönsten Fundstücke zu zeigen. Gierig wie sie war, willigte sie ohne weitere Bedenken ein.


    Der optische Geschmack unserer neuen Freundin spiegelte ganz und gar ihre Vorliebe über funkelnde und glänzende Dinge zu reden wider. Kurz nachdem Mauzi in die Tiefen ihres Zuhauses abgetaucht war, begann sie - unter unaufhörlichem Kratzen und Aufeinanderschaben metallischer Gegenstände - die unterschiedlichsten ihrer angehäuften Schätze ans Tageslicht fördern. All ihre Habseligkeiten reihte sie nach und nach vor unseren Augen auf. Das Meiste davon stellte sich bei nur kurzer Betrachtung als nutzloser Krempel heraus: Allen voran aufgebrauchte Lebensmittelkonserven, ein kaputtes Brillengestell, ein weggeworfenes Mobiltelefon mit aufgesprungenem Bildschirm, Batterien unterschiedlicher Größe, verbogene Heringe ohne das dazugehörige Zelt, silberne Bonboneinwickelpapierchen und unendlich viele Knäuel Alufolie.
    „Hab ich nicht ganz toll viel Glänzi-Glänzi? Doch doch! Ich hab!“ So wie sich Mauzi elegant um ihre Besitztümer schlängelte, musste sich ein Menschenkind an Weihnachten fühlen, nur mit dem kleinen aber feinen Unterschied, dass unter dem prächtig geschmückten Christbaum für gewöhnlich kein wertloser Plunder lag.
    „Schrott ... Schrott ... noch mehr Schrott ...“ Unter Mauzis entrüsteten „Aufpassen! Mein Zeug!“-Rufen bahnte sich Fiffyens Nase wenig interessiert ihren Weg durch das sorgfältig aufgehäufte Eigentum, bevor sie es achtlos wegkickte. Im Anschluss sah sie mich wütend an. „Toll, echt toll! Wir bekommen nichts zu essen, aber hey! Dafür Blasen an den Pfoten - das ist doch was! Und habe ich überhaupt schon die Mittelohrvergiftung erwähnt, unter der ich jetzt leide, weil ich diesem ... diesem ...“, nicht weniger schäumend vor Wut und unter stetig schriller werdender Stimme funkelte Fiffyen nun Mauzi an, „strohdummen Dämlack mit mehr Krautsalat als Hirn im Kopf zuhören musste?!“
    „Ja. ... Nein. ... Was ...? Salat? Kein Salat. Nur Funkel-Funkel.“
    „Ach, vergiss es!“
    Auch wenn ich mich eigentlich gar nicht satt genug daran sehen konnte, wie uns nur noch Sekunden vor dem Vulkanausbruch in Fiffyens rapide rot werdenden Gesicht trennten, wollte mich der fesselnde Anblick eines kleinen Objekts gar nicht mehr loslassen: Ein kreisrundes, mit bernsteinfarbenen Juwelen besetztes Schmuckstück, verbunden durch eine silbrige Kette. Allein sie zwischen all dem Ramsch zu entdecken, brachte alles Weltliche - einschließlich Fiffyens Gezeter - zum Verstummen. Bemüht, nicht zu viel Aufmerksamkeit zu erregen, näherte ich mich etwas. Sämtliche von Mauzis Fundsachen hatten längst ihre beste Tage hinter sich; nicht aber dieser Menschenschmuck. Gehegt und gepflegt sah sie aus. Kein hässlicher Rost und kein Kratzer. Die alles entscheidende Frage aber war: Konnte es sich dabei tatsächlich um das Diebesgut handeln?
    „Wo hast du die Kette her?“
    „Wieso?“
    Seit Mauzi ihre angehäuften Schätze vor uns aufgebaut hatte, hatte sie kaum geblinzelt, und uns schon gar nicht mehr aus den Augen gelassen. Jede unserer Bewegungen, und war sie auch nur so klein, war mit einen sprunghaften Anstieg ihrer Wachsamkeit verbunden gewesen. Jetzt aber konnte ich erstmalig ein wachsendes Misstrauen in Mauzis stets aufmerksamen Blick spüren. Die Finderin erinnerte dabei sehr stark an eine Mutter, die sich um das Wohlergehen ihrer Brut kümmerte. Die Frage, ob ich dieselbe Reaktion auch damit provoziert hätte, wenn ich nach der Herkunft einer Cola-Büchse gefragt hätte, blieb offen. Fakt war einfach, dass sich Mauzi noch merkwürdiger verhielt, was - so hätte ich nur vor einer Minute schwören können - kaum möglich war.
    „Och“, schulterzuckte ich unschuldig, „sieht nur sehr schön aus. Hätte auch gern so etwas.“
    „Sehr schön und sehr glänzig. Meins.“
    „Das sieht wirklich sehr extravagant aus ...“
    Fiffyens plötzliches Auftauchen an meiner unmittelbaren Seite und ihr ausnahmsweise mal nicht geheucheltes Interesse an dem Schmuckstück brachte uns beide auf die exakte Wellenlänge des anderen. Auch ihr musste mittlerweile klar gewesen sein, dass dies das Ding war, nach dem wir gesucht hatten. So stand es auch in dem kurzen Blick geschrieben, den wir austauschten und bei dem es mal ausnahmsweise nicht um mich ging.
    „Ihr habt mein Funkel-Funkel gesehen. Jetzt ich will euer Funkel-Funkel sehen.“
    Einer war hier zu viel. Die Frage, um wen es sich hierbei handelte, erübrigte sich, denke ich. Wie aber sollten wir das Medaillon bekommen und gleichzeitig Mauzi loswerden, ohne dass hier gleich die Fetzen flogen? Leider fiel es mir ausgesprochen schwer, einen klaren Gedanken zu fassen, während Mauzi mich mit ihren Fragen bearbeitete. Und dann war da noch ... Fiffyen? Täuschte ich mich, oder schlugen ihre Augenlider schneller als normal? Zwinkerte sie mir zu? Und warum schabte sie mit ihrer rechten Vorderpfote nervös auf dem Boden herum? Das alles beunruhigte mich doch sehr, insbesondere wenn man bedachte, wohin Fiffyens hitziges, unberechenbares Temperament uns in der Vergangenheit schon geführt hatte. Das hier schrie nach einer diplomatischen Lösung, nicht nach rudimentärer Gewalt.


    „Ach, Stan, kommst du mal bitte?“
    Schon die ganze Zeit über hatte Stan neugierig in unsere Richtung gespäht. Jetzt, wo er beim Namen gerufen worden war, hatte er sich erhoben und schlurfte zu uns herüber.
    Ooh. Pokémon sprechen zu Mensch und Mensch hört zu. Schlauer Mensch ihr habt. Hat er was für mich?“
    „Ähh ... danke für das Kompliment ... denke ich.“ Stans nachdenkliches Stirnrunzeln ging erst in ein Lächeln und dann wieder in ein Stirnrunzeln über. Schließlich gab er es aber auf, über die Bedeutung von Mauzis Worten nachzudenken. Stattdessen kam das hier: „Ist das dein Schrottplatz?“
    Empört öffnete Mauzi den Mund, hingegen ich - peinlich über Stans fehlendes Feingefühl berührt - zusammenfuhr. Was die Menschen unter „Diplomatie“ verstanden, hörte im Volksmund auf den Namen „Jemanden einen vor den Latz hauen“. Fiffyen für ihren Teil amüsierte sich königlich. Leider half uns das in dieser Situation nur äußerst wenig weiter.
    „Frecher Mensch ihr habt! Hoffe, er bringt Glänziges für mich.“
    Fragend schaute Stan mich an. „Ähh, weswegen bin ich hier? Leergut anglotzen? Und was für Glänziges?“ Auch er flog über Mauzis Sammelsurium, bis er schließlich ebenfalls an der silbernen Kette mit dem bernsteinverzierten Medaillon hängen blieb. „Ist das ...?“
    „Beweisstück A in Mülltonne B“, nickte ich leise, gestikulierte anschließend in Mauzis Richtung. Stans Auffassungsgabe konnte zwar mit meiner kaum wetteifern, reichte aber dann doch so weit, dass auch er schnell unsere hiesigen Umstände auffasste und sein Verständnis für die Lage schließlich mit einem bedächtigen Nicken besiegelte.
    „Entschuldigst du uns bitte kurz?“, lächelte ich Mauzi falsch von der Seite an.
    Wir gewannen etwas Distanz zwischen uns und Mauzi, gerade weit genug, dass sie unsere Unterhaltung nicht mitverfolgen konnte. Als ich mir dessen auch absolut sicher war, spähte ich nur noch einmal kurz über die Schulter. „Also, und jetzt?“
    „Hmm ...“, machte Stan.
    „Was gibt es da noch lange zu überlegen? Schnappt das Teil und dann weg von hier“, war Fiffyens Meinung zu dem Thema.
    „Ach, und wie stellst du dir das vor?“, erwiderte ich.
    Hinter Fiffyens Zähnefletschen hielt sich ein gemeines Grinsen versteckt. „Überlasst sie mir, und schon heute Abend serviert sie uns der gute Stan auf Silberteller in Dillsauce. Dann bekommen wir doch noch unserer Rendezvous.“
    „Die Apokalypse auf vier Beinen hat gesprochen ...“, seufzte ich, während ich gleichzeitig Stan energisch anschaute. Dummerweise stand in seiner Nachdenklichkeit geschrieben, dass er in Gedanken tatsächlich das Rezept für Dillsauce suchte. Rückendeckung oder gar einen guten Einfall war von ihm also nicht zu erwarten. Oder doch?
    „Wo sind wir bei ... Wie war noch gleich ihr Name?“
    „Mauzi“, antworteten Fiffyen und ich gleichzeitig, wobei bei ihr eine deutliche Spur von Bitterkeit in der Stimme verankert war.
    „Mauzi“, nickte Stan. „Also, wo sind wir bei ihr dran?“
    „Verfressen, selbstgefällig“, zählte Fiffyen mit schleppender Stimme auf, „strohdumm, verquer, zottelig, stinkend und potthässlich.“
    Was wunderte mich eigentlich mehr: Dass ausgerechnet Fiffyen jemanden als zottelig bezeichnete, oder dass die meisten Eigenschaften auch problemlos auf sie übertragbar gewesen wären?
    „Ist das alles?“, hakte Stan nach.
    „Wer bin ich - ihr Frisör?“, knurrte Fiffyen Stan an. Erbost stampfte sie auf den Boden. „Sie will mir meinen Freund ausspannen, was gibt es da noch mehr zu wissen?“
    „Wa-? Du“, Stans Zeigefinger peilte mich an, während sein Gesicht tiefe Furchen zog, „und Mauzi?“
    Mit einem demonstrativen Augenrollen symbolisierte ich Stan, dass nur einmal wieder Fiffyens überquellende Phantasie mit ihr durch ging. Diese Geste verstand er glücklicherweise problemlos, sodass wir uns wieder unserem eigentlichen Problem zuwenden konnten, sofern Fiffyen es natürlich zuließ.
    „Sie ist ganz verrückt nach diesem Plunder“, ergänzte ich Fiffyens Aufzählung.
    „Alles, was glänzig ist“, ahmte Fiffyen Mauzis quietschende Stimme so glaubwürdig nach, dass sich mir im ersten Moment vor Schreck der Schwanz kräuselte.
    „Ist tatsächlich so“, antwortete ich auf Stans verwirrten Blick in meine Richtung hin.
    „Aha ... glänzend ...“
    „Nein, glänzig“, korrigierte ich ihn. „Oder Glänzi-Glänzi.
    „Es ist zum aus dem Fell fahren!“, keifte Fiffyen unbeherrscht. „Wir braten ihr eins über und schnappen uns das Teil! Ende der Geschichte! Du kannst ja Schmiere stehen, während Sheinux und ich den Job machen. Für viel mehr bist du ja nicht zu gebrauchen.“
    „Gefällt mir nicht“, antworteten Stan und ich im Chor.
    Fiffyen schnaubte auf. „Dann macht ihr halt einen besseren Vorschlag. Na, was ist?“
    Ihrem herausfordernden Augenausdruck hielt Stan nicht lange stand. Er wandte sich ab von ihr. Mir blieb leider nichts anderes übrig, als mich für den Moment in nachdenkliches Schweigen zu üben.
    „Das habe ich mir gedacht“, sagte Fiffyen und klang ziemlich zufrieden. „Also: Ja oder nein? Ich bin das Warten leid! Lassen wir es Krachen! Ich will hier weg!“
    „Ändert nichts an der Tatsache, dass es ziemlich brutal wäre. Hast du denn kein Mittelding?“, fragte Stan vorsichtig.
    „Nja oder Jein? Bringt uns auch nicht weiter“, antwortete ich.
    „Sie hat uns im Schlaf ausgenommen, dann geschieht es ihr nur recht, wenn wir dasselbe machen. Ich sehe da echt kein Problem“, fügte Fiffyen hinzu.
    „Irgendwie ...“ Stan schaute mich gequält an, „hat sie schon recht. Ich meine: Wir holen uns ja noch das zurück, was ohnehin uns gehört, oder was meinst du?“
    „So gesehen ....“, murmelte ich. Da war schon etwas dran. Dummerweise klang das alles bei Fiffyen recht einfach. Welche Konsequenzen ihr fragwürdiger Plan allerdings im Endeffekt annehmen würde, stand in den Sternen geschrieben. Doch welche anderen Möglichkeiten blieben noch? Fiffyens Eindruck war nicht unbegründet: Mauzi war echt ziemlich schräg. So wie sie ihre Fundsachen bemutterte, wäre es ein Ding der Unmöglichkeit, dass wir hier alleinig durch Komplimente und freundliches Fragen weiterkommen würden. Entweder rohe Gewalt oder ... ihr etwas geben, was noch größeren Wohlgefallen in ihr weckte.
    „Ein Tausch.“
    „Was?“
    Es klang seltsam, Stan und Fiffyens Stimme im Einklang zu hören, doch war es mir in diesem Zeitpunkt fast schon völlig egal. „Ein Tausch“, wiederholte ich. „Oder Tauschgeschäft - nennt es wie ihr wollt.“
    „Und was schwebt dir vor?“
    „Weiß nicht ...“, zögerte ich. „Hast du nicht eine Idee?“
    „Mhm ...“
    „Was es auch ist - beeilt euch damit!“, knurrte Fiffyen. „Ich will dieses eifersüchtige Miststück endlich hinter mir lassen, und die schönen Augen, die sie dir macht!“
    „Nicht schon wieder ... Fiffyen, sie ...“
    „Aus ihr spricht der pure Neid! Und dabei hat sie noch die schäbigste Anmache. Als ob sie glaubt, dass sie mit ihrem Mitgift dich rumkriegen könnte, mein Sheinux“, lachte Fiffyen affektiert auf. „Sie kann es einfach nicht ertragen, dass ich meinen Ritter in glänzender Rüstung bereits gefunden habe, und sie nicht.“
    „Glänzig? Zeigt euer Glänzi-Glänzi!“
    Alle, einschließlich mir, zuckten erschrocken zusammen. Am schlimmsten traf es immer noch Stan, der es nicht gewöhnt war, dass sich jemand heimlich heranpirschte, um dann schnurrend und mit hautengen Bewegungen um die Beine wie aus dem Nichts aufzutauchen. Das gierige Funkeln in Mauzis Augen gab ihm dann noch den Rest. Als wir uns dann endlich von dem Schock - insbesondere bei Stan ließ dieser Prozess lange auf sich warten - erholt hatten, holte uns leider viel zu schnell der Mangel an Optionen ein: Entweder Fiffyens Plan und Mauzi wie eine Weihnachtsgans auszunehmen oder aber mein Plan, bei dem es leider daran mangelte, dass wir nichts hatten, was wir hätten Mauzi anbieten können.
    „Warte, ich hab da eine Idee ...“ Stan öffnete sein Portmonee und zählte seinen fast aufgezehrten Notgroschen in Mauzis Pranken ab. Es handelte sich dabei nicht gerade um viel; nicht einmal genug, um sich die billige Plastiküberraschung aus dem Kaugummiautomat zu kaufen, die nach drei Tagen bereits ihre maximale Lebensdauer weit überschritten hätte. Und dennoch schafften es die wenigen Münzen, eine tiefe Zufriedenheit in Mauzi heraufzubeschwören. Ihre Augen fast so wie das Silber in ihren Krallen. Ein gutes Zeichen.
    „Klimper-Klimper! Funkel-Funkel! Habt ihr noch mehr für mich?“
    So viel zu meinem Plan, ich weiß ...


    Stan, Fiffyen und ich waren auf halbem Weg zum vereinbarten Treffpunkt zurück. Am Ende war doch noch alles gut ausgegangen. Ich hatte meinen Plan bekommen, dessen Ausgang ihr ja kennt, und Fiffyen ihren Willen: Sie hatte Mauzi bewusstlos geschlagen, womit nicht nur sie ihre ganz persönliche Rache bekommen hatte, sondern wir außerdem um die Amulett-Kette reicher waren. Als Entschädigung für unseren ... gemeinen Diebstahl hatte Stan darauf verzichtet, sein Geld wieder einzusammeln, und sich so schnell ihn seine Füße tragen konnten verdrückt.
    „Ich bin zwar pleite, aber was tut man nicht alles für einen Typen, der einen nicht einmal leiden kann?“, scherzte Stan. In seiner Rechten hielt er die Kette fest umschlossen, die schon mehrmals für einen kurzen Flug in die Luft mit anschließender Punktlandung in der Handfläche hatte herhalten müssen.
    „Und stell dir vor: Er wird dir wahrscheinlich überhaupt nicht dankbar sein. Ist es das, was du hören wolltest?“, kam es bissig aus Fiffyens Richtung.
    „Er ist ein Scheißkerl.“ Mit dieser Meinung stand ich nicht allein - Fiffyen und auch Stan stimmten mir zu.
    „Ich erzähl ihm besser nicht, wo ich sie gefunden hab, sonst zieht er noch auf einen persönlichen Rachefeldzug gegen Mauzi aus. Ich denke, die hat für heute genug.“
    „Dann forderst du das ausgegebene Geld nicht zurück?“, fragte ich.
    „Denk dran: Du könntest die Kette auch verhökern, und im Anschluss mir und Sheinux ein romantischen Abend mit allen Schikanen als Entschädigung für all die Strapazen bescheren.“
    „Und wie weit würde mich das auf deiner Ansehen-Skala hochtreiben?“
    „Von ,nicht vorhanden’ auf ‚quasi nicht existent’“, antwortete Fiffyen.
    „Wäre zumindest ein Anfang“, zwinkerte ich Stan zu. Er und ich grinsten uns an. Fiffyen war unmöglich. Aber zumindest hatte dieser kleine Ausflug sie wenigstens etwas näher gebracht. Also hatte die ganze Geschichte neben dem Fund der Kette doch durchaus etwas Gutes.
    Ein weiteres Mal wirbelte die Kette durch die Luft. Der glückliche Fang blieb leider aus.
    „Pass doch auf, du Tölpel!“
    „Ja, ja ...“
    Wie gesagt: Fiffyens und Stans Pokémon-Mensch-Freundschaft stand in den Startlöchern. In ihrer eigenartigen Beziehung konnte man es schon fast als Kompliment bezeichnen, dass Fiffyen ihn nur als Tölpel bezeichnet hatte.
    Stan kratzte das Medaillon wieder vom Boden auf. „Ist doch nichts passiert ...“, murrte er. Mit seinem Ärmel wischte er den gröbsten Staub von der silbernen, bernsteinverzierten Oberfläche. Eine seiner unglücklichen Bewegungen später ... und das Medaillon war gespalten. Es klappte an der Seite auf.
    „Was bist du nur für ein hoffnungsloser Idiot? Du hast es kaputt gemacht!“ Fiffyen fluchte noch eine ganze Zeit. Wie gemein die Welt doch war, wie sehr ihre Pfoten doch schmerzten, dass sie ihr Frühstück und somit womöglich die besten Fischköpfe ihres Lebens wegen dieser mülltonnenbelagernden Mauzi in den Sand gesetzt hatte. Für das und noch viel mehr fand ich aber kaum Gehör. Wie sich herausstellte und Stan mir auch sofort zeigte, war das Medaillon nämlich gar nicht kaputt. Lediglich ein Schließmechanismus war ungewollt betätigt worden. Interessant aber war nicht diese Tatsache allein, sondern das, was sich im Inneren der Kapsel befand: das Bild eines gleichaltrigen Mädchens. Eagle ... hatte eine Freundin?

  • Part 6: Graphitport City - das Tor zur Welt



    Viele lästige Fragen warteten auf uns, als wir zur vereinbarten Zeit am vereinbarten Treffpunkt angekommen waren. Eine merkliche Besserung von Eagles übler Laune war auch nach der Übergabe seines Medaillons nicht in Sicht. Genau so, wie Fiffyen bereits vorausgesagt hatte: von Dank nicht die Spur, noch nicht einmal ein feuchter Händedruck. Stattdessen nur noch mehr Fragen. Wer, wo, wieso, ... Insbesondere für das Wer zeigte Eagle deutliches Interesse. Stan stand Rede und Antwort. So gut es ihm möglich war, nahm er dabei Mauzis Identität in Schutz, indem er sie erst gar nicht beim Namen nannte. Er habe ein streunendes Pokémon irgendwo aufgegabelt und das Medaillon in einer glorreichen Schlacht abgerungen. Um weitere Einzelheiten habe er sich nicht sonderlich gekümmert, so log Stan. Sein Gesprächspartner (man mochte schon fast von einem Verhör sprechen) stimmte dieser Ausgang der Dinge halbwegs zufrieden. Insbesondere der Teil, dass Stan bei der Suche mehr Glück als Verstand gehabt hatte, entlockte Eagle seine bewährte höhnische Grimasse. Er glaubte ihm Wort für Wort. Leider aber auch in dem Punkt, dass Stan das Medaillon versehentlich geöffnet hatte. Die Strafpredigt folgte auf dem Fuße - und was das für eine war. Hier möchte ich nicht weiter ins Detail gehen. Es bleibt so viel zu sagen, dass Stan mit dieser Tat unbeabsichtigt in das Allerheiligste vorgedrungen war, was er sich auch ganze fünf Minuten lang lautstark anhören musste. Der ganze Krach, und das alles nur wegen einem Weibsbild ... Wer war das ominöse Mädchen mit dem langen, ebenholzfarbenen Haar und was suchte ihr Bildnis in dem Schmuckstück eines eingeschworenen Einzelgängers? Welches Geheimnis verbarg sich hinter der liebreizenden Fassade? Versuchte Eagle mit all seiner Wut, mit all seinem impertinenten Wesen und seinem aufgeblasenen Ego seine wahren Gefühle zu übertünchen? Und wenn ja, was verstecke er da, tief in seinem Innersten, abgeschottet von dem Rest der Welt? War es die Art von Liebe, wie sie nur ein fürsorglicher großer Bruder seiner jüngeren Schwester entgegenbringen konnte? Oder verzehrte sich sein Herz in inniger Leidenschaft nach dem Mädchen seiner Träume? Waren sie zwei Teile eines Ganzen? Seelenverwandte? Wer konnte das schon sagen? Nur einer. Und wenn es nach dem Hüter dieses Geheimnis ging, sollten wir die Antworten auf diese Fragen niemals erfahren. Im Gegensatz zu mir hielt sich Stans Interesse an dieser Debatte auch deutlich zurück. Zum gleichen Teil gab er sich sehr glücklich darüber, als Eagles Standpauke endlich ihr Ende gefunden hatte, als auch, dass Shaymin und Igelavar wohlbehalten in den Schoß ihrer Familie zurückgekehrt waren. Sicherlich hätte zu Stans persönlichen Glück noch ein halbwegs freundschaftliches Wort von Eagle gefehlt, doch schien er sich auch mit diesem Ausgang der Dinge zufrieden geben zu können. All seine Freunde waren wieder an seiner Seite und Eagle behandelte ihn wieder wie Luft, also alles so wie immer, nicht besser, aber auch nicht schlechter.


    Die Sonne wanderte dem Zenit entgegen, als wir die Schwelle von Wildnis zu Zivilisation überquerten. Graphitport City, eine belebte Hafenstadt im südlichen Teil Hoenns, konnte ich aus meinem persönlichen Blickwinkel als den kulturellen Höhepunkt meiner bisherigen Reise bezeichnen. Hier rollte der Rubel. Es wurde um Preise gefeilscht, erbittert gehandelt und schamlos über den Tisch gezogen. Graphitports geschäftige, breite Einkaufspassagen begannen bereits unmittelbar an der Stadtgrenze und endeten an der wirklich allerletzten wettergebeutelten Pommesbude an den Docks. Sie waren die pulsierenden Arterien dieses gigantischen, atmenden Lebewesens, in dessen reißenden Strom die Menschen schwammen oder im Kaufrausch einfach nur so dahin getrieben wurden. Selbst der noch so zwielichtigsten Ecke im verkommensten Viertel hauchten die auch hier vorzufindenden zahlreichen Geschäfte eine Spur von Verlockung ein. Dann waren da noch die Bewohner dieser Metropole. In dieser Stadt gab es sie alle, Menschen von ganz nah und noch viel weiter: Sonnengebräunte Matrosen auf der Suche nach der erstbesten Möglichkeit, ihre hart erarbeitete Heuer gegen einen Krug Hausmarke einzutauschen; frauenaufreiserische Prahler mit dem dazugehörigen perlweißen Lächeln, deren feurige Motorräder so auffrisiert waren wie die schmalzige Tolle auf dem Kopf; dickbäuchige Finanzbeamte mit dicken Schlitten und noch dickeren Gehältern; stark parfümierte Weibsbilder, deren Absicht einen dauerhaften Partner fürs Leben zu finden ungefähr so falsch war wie die Wimpern oder die knallroten Fingernägel; rüstige Rentner regten vor dem Mittagessen mit einem kleinen Bummel durch die Straße ihren Appetit an oder befanden sich bereits auf dem Nachhauseweg; Kinder drückten sich die Nasen an den farbenprächtigen Schaufenstern platt; an jeder zweiten Straßenlaterne wegelagerten schmierige Schausteller, die ihren schäbigen Plunder zu absoluten Schleuderpreisen feilboten, ahnungslose Touristen, wie uns und die es hier wie Sand am Meer gab, mit Glücksspielchen den letzten Penny aus der Tasche zogen und bei der noch so kleinsten Polizeipräsenz schneller vom Erdboden verschluckt waren als man „abgeluchst“ sagen konnte; und einfache Stadtbewohner gab es noch. Sie gehörten zu den unauffälligsten Passanten. Sie waren abgebrüht. Wie Geister schwebten sie durch die Straßen, trotzten den Klängen der Straßenmusikanten, ließen die farbenprächtigen Reklame-Plakate hinter sich und entsagten den duftenden Verlockungen von Lakritze und salzigen Brezeln. Für sie gehörte das alles zum Alltag. Wäre ich dagegen einer von ihnen gewesen: es hätte mir hier sicherlich gefallen. Vielleicht sogar so sehr, dass ich in dieser Stadt meinen Lebensabend verbracht hätte.


    Unbewusst führte der von uns eingeschlagene Weg Stan, mich und unseren lästigen Anhang in das örtliche Pokémon-Center. Es gab uns die Gelegenheit, das nachzuholen, was uns an diesem Morgen verwehrt geblieben war, nämlich einen gehörigen Bissen zu uns zu nehmen. Trotz regem Trubel und Schlangestehen kamen wir dabei voll auf unsere Kosten; insbesondere Igelavar schlang, als ob es keinen neuen Morgen gegeben hätte. Ein Glück für den ausgezehrten Geldbeutel meines Freundes, dass Kost und Logis hier aufs Haus gingen. Weiteres Fasten hätte Igelavar auch sicherlich nicht verkraftet. Sah man allerdings Stan beim Essen zu, so musste man schon fast glauben, dass die teuersten Speisen sich auf seinem Teller befanden und er sie deshalb nicht anzurühren wagte. Nachdenklich beobachtete ich ihn, wie er da auf der Bank saß, umringt von seinen fröhlich schwatzenden und scherzenden Artgenossen und wie er teilnahmslos in seinen Erbsen und Kartoffeln stocherte. Wer den dürren und blassen Jungen auf der Bank bemerkte, stupste nicht selten seinen Banknachbarn an, zeigte unauffällig mit dem Finger auf Stan und verfiel sofort in geheimnisvolles Tuscheln. Unter welch gewaltiger Knute er wohl stehen müsste, war so ziemlich die harmloseste Bemerkung, die ich heraushören konnte. Hier, unter so vielen Menschen, wurde es auch mir noch einmal gewahr, wie ausgemergelt und krank Stan doch im Vergleich zu seinen Artgenossen aussah. Es war sehr bedenklich, vielleicht nur noch eine Frage der Zeit, bis er schon gar nicht mehr die Kraft besaß, um eine Gabel zu halten, geschweige denn, die Reise an meiner Seite fortzusetzen. Wenn ich mich nicht täuschte, wurde die ernsthafte Sorge um meinen Freund nur von Shaymin wirklich geteilt, die außergewöhnlich oft unter dem Tisch zu ihm hinauflugte. Ich wollte schon gerade Shaymin oder vielleicht auch Stan direkt ansprechen, als ein gar seltener Gast uns mit seiner Anwesenheit beehrte: Eagle nahm an derselben Bank platz, direkt Stan gegenüber. Eine solche Nähe war zum gleichen Teil äußerst befremdend wie unangenehm. Wir sollten auch gleich erfahren, was die seltene Gastfreundschaft sollte.
    „Da wären wir also ...“
    Soweit ich das beurteilen konnte, stelle Stan keinerlei Blickkontakt her, ganz im Gegensatz zu seinem Gegenüber.
    „Wie geht es jetzt weiter?“
    „Wie meinst du das? Was soll weitergehen?“
    Eagle klang leicht belustigt. „Na, ich nehme an, du willst nicht nach Johto schwimmen, oder?“
    „Natürlich nicht ...“, murmelte Stan kleinlaut.
    „Also ...?“
    „Mit dem Schiff natürlich.“
    „Irre? Per Schiff bist du zwei Tage unterwegs!“
    Ja, das klang schon mehr nach Eagle. Stans Gabel kratzte derweil nervös auf dem Tellerboden und trug auf jeden Millimeter des Porzellans eine feine Schicht Erbsenpüree auf. „Und ...?“, fragte er zögerlich.
    „Zeitverschwendung. Mit der neuen Magnetbahn dauert es nur ein paar Stunden. Du hast davon gehört?“
    Oh ja, wir hatten davon gehört. Eigentlich war es sogar völlig unmöglich gewesen, das ganze Getratsche in den überfüllten Straßen, durch die wir uns just gebahnt hatten, zu überhören. Auch wenn es zum größten Teil nur Wortfetzen gewesen waren, konnte man sich - der eine mehr, der andere weniger - ein halbwegs gutes Bild davon machen: Ein neues Massenfortbewegungsmittel der Menschen hatte vor kurzem seine Premiere gefeiert. Seine Jungfernfahrt lag erst einige Tage vor unserer Ankunft zurück und war mit viel Trubel zelebriert worden. Es erklärte auch den regen Durchgangsverkehr, der uns die Tage zuvor im Pokémon-Center begegnet war. Die Magnetbahn fuhr auf Schienen, was mit meinem damaligen Verständnis nur sehr schwer in Bilder zu fassen war. Ebenso, dass sie von gewaltigen Magneten angetrieben wurde, die den Zug durch auf dem Meeresboden verlaufende Tunnel lotsten. Das war so das, was wir flüchtig aufgeschnappt hatten.
    „Die Magnetbahn verbindet Hoenn mit Johto und Kanto. Schneller reisen ist kaum möglich. Und für Pokémon-Trainer gibt es einen Sondertarif. Nicht, dass ich mir darüber Gedanken machen müsste, aber wenn ich mir dich so ansehe ...“
    Stan zögerte. Es gab einen kurzen Moment, an dem ich glaubte, er wollte seinem Gegenüber endlich ins Gesicht schauen. Wie zu erwarten war, ließ er schnell wieder von seinem Vorhaben ab. Umso verängstigter klang seine Stimme, die von fast einem jeden Besteckkratzen überragt wurde. „Um ehrlich zu sein, habe ich nicht mal für das billigste Schiffticket Geld ...“
    Den letzten Bissen meines Mahls bereute ich bitter, denn er blieb mir vor unterdrücktem Lachen geradewegs im Halse stecken. Zugegeben: Stans finanzielle Situation war zum größten Teil aus meinem Mist gewachsen. Schuldgefühle, die sich durch unangenehmes Ziepen in der Magengegend bemerkbar machten, blieben daher nicht aus. Vielleicht aber weil die Lage eigentlich so verdammt ernst war, war es in gewisser Weise auch schon wieder urkomisch. Gerade Stan, der sich so tunlichst bemühte, unbeschadet und ohne Großes Aufsehen durchs Leben zu gehen, provozierte solche peinliche Eskapaden - ohne es natürlich zu wollen - immer wieder. Irgendwie aber bezweifelte ich, dass sein kleiner Bankrott an seinem Krankheitsbild oder seiner unergründlichen Schlaflosigkeit Schuld zweckte. Dieses nämlich rührte bereits sein unserem Aufbruch von Laubwechselfeld und lag damit sogar noch vor der unfreiwilligen Reisepartnerschaft mit Eagle.
    Wo ich gerade auf ihn zu sprechen komme: Die Reaktion, wie er die Lage seines Begleiters auffasste, war als durchaus unvorhergesehen einzustufen. Ursprünglich hatte ich felsenfest damit gerechnet, dass wir wieder einmal kurz vor einem katastrophalen Wutausbruch seinerseits standen. Gerade hier, in einer solch menschenbevölkerten Umgebung, wäre es der Peinlichkeit natürlich kaum zu übertreffen gewesen. Doch kam es etwas anders.
    „Hat dir eigentlich schon jemand gesagt, wie verdammt planlos du eigentlich bist?“, höhnte Eagle.
    Stan - sein blasses Gesicht hatte unlängst ein beschämendes Rot angenommen - sah davon ab, darauf wahrheitsgetreu zu antworten, denn tatsächlich hatte er sich genau das schon einige Male anhören dürfen, und sicherlich auch nicht zum letzten Mal. Eagle begann sich über sein Mittagessen herzumachen; genug Zeit für Stans angekratztes Ego, um sich von dieser Schmach wieder einigermaßen zu erholen, oder zumindest um etwas zu verschnaufen. Währenddessen sprach Eagle weiter. „Aber das Glück ist mit den Dummen, wie man so schön sagt. Das soll heißen, Glück für dich, dass ich dabei bin. Ich spendiere dir dein Ticket.“
    Mir klappte der Kiefer auf. Stan dagegen reagierte kaum, wenn man davon absah, dass sich jetzt selbst seine Ohren rot färbten. Kaum merklich hob sich im gleichen Moment Eagles Kopf, sodass seine Augen gerade so Stans Kinn erfassen und unmöglich Augenkontakt herstellten konnten, während er sich Kartoffeln auf die Gabel aufschaufelte. „Und dass du dir jetzt bloß keine falschen Hoffnungen machst: Wir sind damit quitt. Keine Vorhaltungen dafür, dass du mir mein Medaillon zurückgebracht hast. Weder jetzt noch irgendwann anders, klar?“
    Falsche Hoffnungen ... das traf es ziemlich gut. Eagle und freundschaftliche Gefühle? Nicht die Spur. Er hatte einfach nur die Gelegenheit gewittert, sich von seiner Schuld reinzuwaschen, und sicherlich wusste er, dass Stan bedingungslos einwilligen würde, was selbiger mit einem verlogenen Lächeln schließlich auch tat. So wie ich den Stand der Dinge auffasste, hätte Eagle solche Nächstenliebe niemals gezeigt, wenn er nicht sein Ziel, nämlich Shaymin, stets vor Augen gehabt hätte. Er brauchte meinen Freund, nur wollte er es natürlich nicht zugeben. Und je schneller er es erreichte, desto besser. Dass er über diesen Umweg außerdem noch die Schuld Stan gegenüber begleichen und somit sein Gewissen beruhigen konnte, kam ihm wohl mehr als gelegen.


    So trug es sich zu, dass wir noch am selben Tag unseren Abschied von Hoenn feierten. Eagle hatte Wort gehalten: Seiner bislang unbekannten freigiebigen Seite war es zu verdanken, dass sich in der Hand meines Freundes ein dünner Streifen Papier befand, der die elektronischen Türen des Magnetzuges für uns öffnete. Gerne würde ich an dieser Stelle behaupten, dass man uns mit einer freundschaftlichen Handbewegung und ebenso freundschaftlichen Lächeln hereinbat, uns so behandelte, wie es sich eben für Gäste gebührte, doch wäre das gelogen. Die Wahrheit stellte sich als ein übermüdeter und schlecht gelaunter Schaffner in traubenblauer Uniform heraus, der uns und eine ganze Horde weiterer Passagiere von der lärmigen, menschenüberfluteten Wartehalle in den ebenso geräuschvollen und überbelegten Zug lotste. Ich konnte nicht behaupten, dass ich mir den ominösen Magnetzug so vorgestellt hatte, was aber bei so ziemlich allen Gerätschaften der Menschen zutraf. Das schier ewig lange, weiße Gefährt war mit einem riesigen Auto vergleichbar, nur eben mit dem entscheidenden Unterschied, dass es auf Schienen und nicht auf Rädern fuhr. In seinem Bauch gab es Kabinen über Kabinen; Platz für hunderte, vielleicht sogar für ein ganzes Tausend Fahrgäste. Wie stets, wenn wir uns an einem solch überbevölkerten Ort befanden, nutzte ich die erhöhte Position von Stans dünnen Armen als Ausguck und das letzte sichere Fleckchen vor skrupellosen Füßen, die nach meinem Schwanz trachteten. Zwischen all dem Gedränge und Geschubse murmelte er mir leise zu, er wolle sich ein leeres Abteil suchen. Der rote Teppichboden wies uns dabei den Weg. Immer wieder spähte Stan durch die Fenster und wurde mit den meist fröhlichen oder schwatzenden Gesichtern derer, die bereits das Abteil bewohnten, stets aufs Neue enttäuscht. Unsere Suche führte uns beinahe an das hintere Ende des Zuges und endete endlich an der ersten menschenverlassenen Kabine. Erleichtert wollte Stan die Schiebetür bereits schon wieder schließen, als eine Hand seinem Treiben Einhalt gebot und ein mit grimmigem Gesichtsausdruck auferlegter Eagle nachkam. Damit konnten wir beide mittlerweile ganz gut leben.
    Auf beiden Seiten der Kabine gab es drei ineinander verbundene, komfortable Stühle mit je einer Oberflutablage für das Gepäck und sehr viel Beinfreiheit. Ansonsten mussten sich beide Seiten einen kleinen Tisch in der Mitte wie auch ein einziges großes Fenster teilen. Bis sich der Zug in Bewegung setzte, verbrachten wir die meiste Zeit nur damit, aus dem Fenster zu schauen. Draußen auf dem Bahnhofsgelände gab es nichts, was wir während unserer Wartezeit auf den Zug nicht schon gesehen hätten, nur ertrug es keiner der beiden Menschen dem anderen länger als unbedingt nötig in die Augen zu schauen. Alles in allem also eine willkommene Ablenkung.


    Ich hatte mich auf Stans Schoß eingekringelt, als ein harmonisches Ding Dong aus der Lautsprecheranlage den Startschuss für die Abfahrt signalisierte. Gleich im Anschluss ertönte eine wohlklingende Frauenstimme aus der Sprechanlage.
    „Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren, liebe Fahrgäste“, hieß es. „Wir freuen uns, Sie heute als unsere Gäste in unserem Hochleistungsmagnetzug begrüßen zu dürfen. Die geschätzte Ankunftsuhrzeit in Dukatia City beträgt 20:30 Uhr. Gerne werden wir Sie in unser Speiseabteil mit Erfrischungsgetränken und Speisen versorgen. Bitte zögern Sie nicht, uns Ihre Wünsche zu äußern. Wir wünschen eine gute Fahrt und einen angenehmen Aufenthalt! Vielen Dank.“
    Von den anderen Abteilen hörte man höflichen Applaus, dem in unserem Raum glücklicherweise nicht beigestimmt wurde. Der Beifall war noch nicht gänzlich verebbt, als sich plötzlich die Säulen vor dem Fenster in Bewegung setzten; erst ganz langsam, dann immer schneller. Der Zug bewegte sich. Vor unseren Augen verschwammen die vielen winkenden Menschen, der Bahnhof, selbst die ganze Stadt zu einem unwirklichen Nebelschleier. Viel bestürzter als die unglaubliche Geschwindigkeit, mit der wir uns urplötzlich fortbewegten, war ich aber dadurch, dass man davon eigentlich gar nichts spürte. Auf dem weiten Ozean hatte es seine Wellen, auf der asphaltierten Straße seine Schlaglöcher. In diesem Fortbewegungsmittel der Menschen aber gab es nichts, was einen daran erinnerte, mit welcher Eile man die Dinge und all seine Sorgen einfach in einem verschwommenen Farbenschleier hinter sich ließ. Keine Erschütterung, fast kein Geräusch. Hier kribbelte es mich nur - vor Ehrfurcht und Erregung. Vielleicht war es zu auffällig, wie ich begierig meinen Kopf emporreckte und dabei zusah, wie die letzten hohen Gebäude der Stadt an uns vorbeidüsten. Jedenfalls brach Stan seit langer Zeit endlich den Frieden und meldete sich zu Wort.
    „Der Magnetzug, oder auch Magnetschwebebahn, beschleunigt von null auf hundert in rekordträchtigen fünf Sekunden und erreicht dabei Spitzengeschwindigkeiten von bis zu sechshundert Kilometern pro Stunde. Magnetfelder halten ihn während der gesamten Fahrt in einem konstanten Schwebezustand, wodurch eine Entgleisung praktisch unmöglich ist, kein Reibeverschleiß auftreten kann und die Geräuschemission auf ein Minimum reduziert wird. Grundsätzlich berührt er nur bei An- und bei der Abfahrt kurzzeitig die Geleise; über den Rest der Fahrt schwebt er wie mit Engelsflügeln dahin.“
    „Astrein abgelesen. Hast wohl einen Kurs besucht“, spottete Eagle, ohne sich von der vorbeisausenden Landschaft außerhalb des Fensters abzuwenden.
    Es störte mich nicht im Geringsten, dass Stan nicht sein eigenes Wissen praktizierte, sondern lediglich aus einer Broschüre vorlas, die dort auf einem Tisch gelegen hatte. Ich dachte nicht weiter über Eagles Provokationen nach und vergaß sie auch schnell wieder.
    Zwischenzeitlich erreichte der Zug einen Tunnel. Vor dem Fenster wurde es dunkel, die Landschaft verschwand, die Deckenbeleuchtung begann uns ihr zu schenken Licht und ich glaubte ein sanftes Gefälle unserer Fahrt wahrzunehmen. Außer dem Blättern von Stans Broschüre und dem kaum wahrnehmbaren Rauschen des Zugs kehrte wieder die Ruhe in unser Abteil an. Außerhalb auf dem Gang hörte man das gelegentliche Schieben einer Tür und das muntere Geplapper derer, die bereits vom Hunger oder Langeweile geplagt wurden und sich auf dem Weg in den Speiseabteil befanden. Eine angenehme Schläfrigkeit begann mich wie einen guten Freund warm zu umarmen. Ich wollte mich ihr schon hingeben, als ich auflauschte. Der ganze Zug war plötzlich von ehrfürchtigen Ohhs! und Ahhs! erfüllt, Schritte eilten auf dem Gang auf und ab und auch in unserem beschaulichen, kleinen Abteil konnte man die knisternde Erregung spüren. Ein jedes Fellhaar kräuselte sich vor heller Begeisterung. Noch nie hatte ich so etwas gesehen: Die tristen, grauen Betonmauern außerhalb unseres Fensters waren verschwunden, an ihrer Stelle rückte zentimeterdickes Glas und Wasser so weit das Auge reichte. Azurblaues Licht schimmerte durch unser Fenster, eine mir völlig unbekannte, farbenprächtige Flora von atemberaubender Schönheit wog sich in einem sanften Rhythmus auf und ab, überwucherten Fels und Stein. Fische, groß und klein, in allen Regenbogenfarben, bevölkerten diese faszinierende, zauberhafte Märchenwelt. Sie schwammen allein, pärchenweise, zu dritt, zu viert oder in ganzen Schwärmen. Es war ein einzigartiges Spektakel, das sich seinesgleichen suchte. Stan war mit mir auf dem Arm aufgestanden, um diesem Anblick seinen ganzen Respekt zu zollen. Selbst Eagle konnte seine Faszination nicht leugnen, obwohl ich bei einer flüchtigen Kopfbewegung in seine Richtung einen Hauch von Missmut in seinem Blick festzustellen glaubte.
    „Der Meeresboden“, flüsterte mir Stan zu.
    Eigentlich hatte ich einen zynischen Kommentar von dem einzigen anderen Lebewesen in unserem Abteil gewartet. Dieser blieb aber glücklicherweise aus.
    Nur wenige Momente blieben uns, diesen Moment auszukosten. Vor unseren Augen verschwand die atemberaubende Unterwasserwelt und stattdessen holte der Zug wieder die hässlichen Betonverschläge ein. Enttäuscht ließ sich Stan wieder auf seinen Sitz nieder und schnappte sich sein Prospekt.
    „Gibt leider nur stellenweise solche Ausblicksmöglichkeiten. Wäre ansonsten einfach viel zu kostspielig gewesen, die ganze Strecke mit zehn Zoll dickem Sicherheitsglas zu versehen.“
    Mit dem Ende dieses herrlichen Ausblicks meldete sich auch Eagles schlechte Laune zurück, unangenehm wie eh und je. „Glaube kaum, dass dein kleines Ungeziefer großes Verständnis für solche Dinge aufbringt.“ Seine Stimme war so kalt und interesselos wie die Betonmauer vor dem Fenster, die er unserem Anblick vorzog.
    „Hin und wieder mal ein gutes Wort - ist das eigentlich zu viel verlangt?“, murmelte Stan, dummerweise aber laut genug, dass man es nicht überhören konnte, und schon gar nicht, wenn man ihm direkt gegenüber saß.
    „Warum sollte ich?“
    Stan reagierte äußerst gefasst. „Weißt du, du schuldest Sheinux hier mehr als du denkst. Im Grunde ist es sogar ihm zu verdanken, dass du dein Medaillon zurückbekommen hast.“
    „Hab ich dir nicht gesagt, dass ich mir keine Vorhaltungen deswegen anhören will?“, knurrte Eagle. „Und warum fällt mir das eigentlich so schwer, das zu glauben?“
    Stan lächelte zu mir herab. „Sheinux hat manchmal wirklich tolle Einfälle. Wahrscheinlich würdest du das tatsächlich nicht glauben. Ist aber echt so. Wenn du ihn verstehen würdest, würdest du es ... naja, verstehen.“
    „Tja, wenn man den halben Tag damit verbringt, seinen eigenen Hintern zu lecken, hat man wohl viel Zeit zum Nachdenken. Solltest du vielleicht auch mal in Betracht ziehen. Dann käme nicht immer so ein gequirlter Mist aus dir raus.“
    „Ich schau dir doch auch nicht beim Baden zu!“, erwiderte ich bissig.
    Stan aber schüttelte nur den Kopf. „Immerhin hat er mehr Persönlichkeit in der Nasenspitze als du am ganzen Leib trägst.“
    Wow! Ich glaubte mich verhört zu haben. War das eben tatsächlich aus Stans Mund gekommen? Was war nur in ihn gefahren? Stan ... zeigte Charakter? Ein überaus seltener Zug, und erfreulich. Eagle reagierte, wie man es von ihm kannte: er lachte beiläufig hohl auf und ignorierte uns weiter. Ich aber schenkte meinem Freund mein aufrichtigstes Lächeln.
    „D-danke!“, murmelte ich verlegen.
    Stan erwiderte meine Geste und rückte mich näher an sich heran, als er es jemals getan hatte. Sanft kraulte er mir meinen Nacken. Ich fühle seine Nähe, seine Wärme. Ich schloss meine Augen. Es tat gut.
    „Bald sind wir daheim ... Freust du dich?“ Ein Hauch von Bitterkeit umspielte seine gesenkte Stimme. Ich wollte antworten, doch brachte ich kein Wort heraus. Zu einnehmend waren seine Bewegungen, mit denen er mich liebkoste. Ich war zufrieden; zufrieden und schläfrig.
    „Weißt du ... Stan ... Ich wollte dir schon immer ... sagen ... dass du ... gut riechst ... Danke ... für alles ... Für ... deine ... Freundschaft ...“

  • Tut mir leid, dass du wieder so lange auf mein Kommi warten musstest ... ich hab wirklich ein grauenvolles Zeitmanagment, nicht nur was Kommentar schreiben anbelangt^^“


    So, wo fange ich am besten an, ist ja dieses Mal wieder ein richtig langer Part geworden. Genau, zu Letzt waren Sheinux, Stan und Fiffyen mit der Suche des Medaillons beschäftigt. Da hast du ja für den Dieb einen Charakter von der etwas ... anderen Sorte gewählt. So einen verrücktes Pokémon glaub ich hatten wir bisher noch nicht gehabt, hat mich irgendwie etwas an Gollum erinnert (an die Skritt hab ich ehrlichgesagt anfänglich gar nicht gedacht xD ). Aber ein sehr passender Charakter für so ein Glänzi-Glänzi süchtiges Wesen. Außerdem, zeigt die nochmal, wie sehr doch Fiffyen doch sich an Sheinux versucht festzuklammern, ich meine das sie Shaymin als eine Konkurrentin sieht ist verständlich, aber ein Mauzi das einen Sprung in der Schüssel hat ... Und wie „schlagfertig“ sie mit diesen unliebsamen Pokémon umgeht, also bei ihrem ersten Auftritt hätte ich ihr nicht unbedingt diese Eigenschaften zugeteilt. Also so viel Anhänglichkeit ist schon nicht mehr gesund und ich befürchte, dass dies in Zukunft noch mehr Ärger mit sich bringen könnte. Übrigens, wenn du am Ende tatsächlich eine „Was wäre wenn ...“ Szenario mit einem Vulpix und Sora machst, sag Bescheid, denn das klingt allein vom Konzept her schon unterhaltsam^^
    Eagle hat eine Freundin bzw. ein Mädchen, welches ihm viel bedeutet? Na das kam etwas unerwartet, ich kann mir den guten Rivalen jedenfalls schlecht mit einem Mädchen zusammen vorstellen, so unsensibel wie er meist ist. Aber gut, das wird schon alles seine Hintergründe haben, mal sehen ob du hier genauer darauf eingehen wirst. Du hast aber bereits angemerkt das Eagles Geschichte Großteils ins deiner anderen Fs erzählt wird, also werde ich möglicherweise mal einen Blick hinüber werfen müssen.
    So, jetzt geht es auch Schlag auf Schlag weiter, kaum in Graphitport angekommen (deren Bewohner du grandios beschrieben hast), geht es auch gleich weiter, raus aus Hoenn.
    Anfänglich hab ich mich gefragt: Moment, die Magnetbahn? Die verläuft doch zwischen Kanto und Sinnoh oder hab ich etwas ganz falsch in Erinnerung? Aber schnell ist mir klar geworden, dass du quasi eine neue Magnetbahn meinst, die unter dem Ozean verlaufen soll. Das Sheinux und Co. dieses Mal kein Schiff benützt finde ich eine gute Entscheidung ... Wir hatte im Verlauf deiner Fanstory bereits etliche Schifffahrten, da ist so eine Magnetbahnreise eine willkommene Abwechslung.
    Irgendwie ein seltsames Gefühl, sie verlassen jetzt tatsächlich Hoenn ... nach so langer Zeit, kehren die zwei Hauptprotagonisten der großen Insel den Rücken zu. Ist ja schon fast so etwas wie ein erinnerungswürdiger Moment, wenn ich so daran zurückdenke, wie sie erstmals auf ihr erstes Schiff gestiegen und nach Hoenn geschippert sind, da hat sich ja in der Zwischenzeit viel verändert. Besonders bei dem letzten Satz zeigst du nochmals, wie sehr sich dein Protagonist doch entwickelt hat und das brachte mich doch sehr zum lächeln. Das ist immer wieder etwas, was Geschichten so interessant machen, den Protagonisten/die Protagonistin wachen und sich verändern zu sehen. Das schafft in einem immer wieder ein (meistens) befriedigendes Gefühl und deine FF ist da keine Ausnahme. Bin schon sehr gespannt, wie du ihre Freundschaft weiterführen wirst und wohin es sie als nächstes verschlägt.
    Damit nähern wir uns immer weiter dem neuen Abschnitt, denn du bereits angekündigt hast ... Ich bin noch immer sehr neugierig, was du auf uns zukommen lässt, im Moment stehen ja alle Möglichkeiten offen. Ich werde in der Zwischenzeit etwas über den weiteren Verlauf spekulieren, mal sehen wie weit ich an den wirklich Verlauf dran kommen werden xD


    So, dass war es dann wieder von mir, freue mich schon darauf weiterzulesen, wie es mit den Sheinux und Co. weiter gehen wird. Hoffentlich komme ich dann auch etwas früher zum kommentieren, aber wie ich oft erwähnt habe, bin ich da leider etwas langsam, sorry nochmal deswegen^^


    Also, bis zum nächsten Mal,
    Toby^^

  • Hallolo, Jens


    Ja ich weiß, ich habe mich hier lange nicht blicken lassen. Aber irgendwie hatte ich nach deine Pause vor einiger Zeit die Fortsetzung irgendwie nicht mitbekommen und musste sozusagen "hinterherlesen". Nun will ich bei dieser FF aber wieder einsteigen und dir meine Meinung geigen. Ich versuche jetzt mal, die Ereignisse seit meinem letzten Kommi mehr oder weniger zusammenfassend zu kommentieren.


    Wen ich mich recht entsinne, war ich hier das letzte Mal beim Kampf zwischen Stan und Eagle zugange. Die komplette Szene von der Gegenüberstellung, über den Kampf bis hin zu Stans Erklärung, was eigentlich zwischen ihm, Sheinux und Deoxys Sache war, fand ich absolut spitze. Mir ist dabei wie einmal aufgefallen, was für eine erfrischende Abwechslung und auch bemerkenswertes Talent deinerseits es darstellt, einen Kampf aus der Sicht eines Pokémon zu sehen und zu erleben. Natürlich ist es nicht ganz so übersichtlich und die taktischen Gendanken (sofern vorhanden) bleiben ebenfalls unenthüllt. Aber dafür die Emotionen und auch die schmerzen des Kämpfers herauszulesen ist ein ebenbürtiger Ersatz.
    Dass Eagle die Gruppe nun begleitet, wundert mich kein bisschen. Ebensowenig sein Fanatismus für Shaymin und ich bin mir sicher, dass diesbezüglich auch noch einiges passieren wird. Die zwangsweise aufkommenden Spannungen beider Pokémonseiten sind ebenfalls amüsant. Zwar habe ich manchmal noch ein paar Probleme mit den Namen, aber dafür kannst nicht wirklich zur Verantwortung gezogen werden. Das ist mein Problem. Was mir besonder an den Charakteren gefällt (sowohl bei Menschen, als auch bei den Pokémon) ist, dass du ihnen von Beginn an ei paar Eigenschaften verpasst und dich strikt daran hältst. Für gewöhnlich ist es schön, wenn eine Person nach einiger Zeit eine Seite an sich offebart, die man zuvor nicht gekannt hat und die das Gesamtbild jener Person langfristig beeinflusst. Allerdings wäre so etwas bei der Bandbreite an Persönlichkeiten wohl äußerst lang und ermüdend ausgefallen. Lediglich Eagels Freundin hat eine durchaus schöne Abwechslung dargestellt. Apropos, ich hoffe, dass diesbezüglich noch etwas passieren wird. Wäre ein wenig sinnfrei, so viel Wirbel um das angebliche Madallion zu machen, um eine solche Entdeckung dann als eine ohne Folgen und Hintergründe abzustempeln. Und das durchaus unterhaltsame Kapitel mit Mauzi wäre dann letztlich auch nur ein unbedeutender Filler, den diese FF nicht bräuchte und auch nicht nötig hat.
    Was mir ebenfall mal wieder positiv aufgefallen ist, ist dein Humor und dein Schreibstil. Der ist nämlich einfach unverwechselbar und ich musste während der vergangenen Kapitel oft schmunzeln, wenn vor allem Sheinux, aber auch der ganze Rest sich zu Eagle und dessen Pokémon geäußert hat. Aber auch untereinander entstehen sehr lustige Konversationen und meist sind Shaymin und Fiffyen daran beteiligt.
    Auch die Freundschaft zwischen Sheinux und Stan scheint inzwischen auf ein völlig neues Level gestiegen zu sein. Ihre ernsthaft geführten Gespräche über selbige nehmen spürbar zu und ganz ehrlich, ich könnte es jetzt noch nicht vorhersagen, ob die beiden am Ende der Story denn nun zusammenbleiben oder nicht. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen ja, aber ich traue dir auch eine Überraschung zu.


    Das war jetzt zwar ziemlich kurz gehalten, wird sich künftig aber ändern, wenn ich wieder möglichst jedes Kapitel kommentieren will. Und vielleicht schaust du ja auch mal wieder bei mir rein^^. In diesem Sinne, bis bald
    Pheno

  • Kapitel 7: Im Geisterzug



    Part 1: Geheimnisse im Dunkeln

    Dunkel war es um mich herum. Weder mit Augen noch mit Ohren vermochte ich die Finsternis zu durchdringen. Ich war allein. Verlassen. Niemand war da, der mich tröstete, niemand, der meine Tränen trocknete. Ich war allein. Wo bist du ... Stan ...?


    Kalter Angstschweiß stand auf meiner Stirn, heiße Tränen kullerten meine Wangen hinab. Sie begegneten einander. Ich fühlte ihr salziges Aroma auf den Lippen und der Zunge brennen, und den brennenden Schmerz in meinem Herzen. Nur ein Traum ... Ein böser Traum ...
    Dutzende Herzen mussten in meiner Brust geschlagen haben, als ich langsam wieder meine Augen öffnete; meinen Geist zugänglich für die ersten Eindrücke der wachen Welt machte. Langsam fühlte ich sie wieder, die Wärme und Behaglichkeit des Zugabteils, in dem ich gutgläubig eingeschlafen war. Und ich fühle Stans befriedigende Nähe. Sein vertrauter Geruch verlieh mir die notwendige Kraft, den nächsten Schritt zu wagen.
    Die spärliche Helligkeit, die von der Deckenbeleuchtung ausging, war kaum in der Lage, den Raum zu füllen. Ich hob den Kopf und schaute mich um. Ruhig war es im Inneren unseres Abteils geworden. Seit langer Zeit sah ich Stan endlich wieder den Schlaf den Gerechten halten. Kein nervöses Zucken, kein klagendes Aufstöhnen. Er schlief einfach nur tief und fest. Stille auch aus Eagles Richtung. So mochte ich ihn am liebsten: schlafend. Meine Augen blieben blind für das stockdunkle Äußere des Fensters. Lediglich das unaufhörliche Trommeln des Regens gegen die Scheibe gab Aufschluss darüber, dass wir mittlerweile das Tunnelsystem wieder verlassen hatte, nicht aber, wie weit wir noch von unserem Ziel entfernt waren. Der Zug ratterte etwas. Vielleicht bremste er langsam ab, oder war er erschöpft? Konnte ein Zug überhaupt erschöpft sein? Ich konnte es nicht sagen.
    Während ich mich wieder auf Stans Schoß einkringelte, versuchte ich mir die verblassenden Bilder meines eben erst erlebten Traums wieder vor Augen zu führen. Die Silhouette eines weiten, kargen Ödlands tauchte in Gedanken vor mir auf und verschwamm wieder. Nur kurz verweilte ich in einer endlosen Leere, auf einer pockenvernarbten, brüchigen Erde, wo eine kränkliche, trübe Sonne, deren vergilbtes Licht kaum durch den zähen Nebel reichte, mein einziger Begleiter war. Traurigkeit hielt bei dem bloßen Gedanken daran mein Herz mit dornigem Griff umklammert. Ich wollte mich von den schrecklichen Hirngespinsten in meinem Kopf lösen. Ich Schüttelte mich, als ob ich die Bilder wie ein lästiges Insekt hätte verscheuchen können. Der Anblick der langsam die Scheibe hinunterlaufenden Regentropfen hatte etwas Fesselndes, das rhythmische Rattern des Zuges war hypnotisch. In beidem fand ich eine Ablenkung - doch nur kurz. Krampfhaft verharrte ich an diesen Dingen, wagte kaum, Auge und Geist wieder zu verschließen. Aus Furcht. Tatsächlich? Hatte ich etwa Angst, wieder einzuschlafen? Dass die Bilder mich im Schlaf wieder heimsuchen könnten und ich erneut in diese dunkle Welt eintauchte? Der bloße Gedanke daran und mein Verweigern vor dem Schlaf verdunkelte meinen Verstand fast schon in gleichem Maß wie die Bilder des Traums selbst, gegen die ich mich so erbittert zur Wehr setzte.


    Es war ein fürchterlicher Laut, der mich meine geheimen Sorgen und Ängste vergessen ließ und die Lücke in meinem Kopf mit Grauen füllte: Ein markerschütternder, hoher Schrei erfüllte die Luft; der Schrei eines Mädchens. Er klang aus der Ferne und wurde von dem Gang vor unserer verschlossenen Tür wieder verschluckt, von wo er gekommen war; der Gang, plötzlich so pechschwarz wie die finsterste Nacht ...
    „Hu-huh ...?“
    Ausnahmslos jeder im Raum sah sich außer Stande, die eigenen Ohren vor dem Widerfahrenen zu verschließen. Als Stan aus dem Schlaf schreckte, schüttelte er mich vor Schreck geradewegs von seinem Schoß, woraufhin ich um ein Haar zu Boden geschleudert worden wäre, hätte sich nicht im letzten Moment meine Krallen instinktiv in den Jeans und der darunterliegenden Haut meines Freundes verankert. Gequält keuchte Stan auf, half mir aber nichtsdestotrotz wieder zu sich hoch. „Sorry ...“
    Orientierungslosigkeit lag in Stans Suche quer durch den Raum, ähnlich der meinen mir kurz nach meinem Erwachen. Auch Eagle erging es nicht anders. Das schwache Licht der Deckenbeleuchtung, die angebrochene Nacht und schließlich der dunkle Gang vor unserem Abteilfenster - erst dann wandten sie sich einander zu.
    „Hast du das gehört?“, flüsterte Stan.
    Ein seltener Anblick bot sich vor meinen Augen: Ein äußerst angespannter und nervöser Eagle erhob sich, den Blick fest auf der Tür verharrend. „Ja ...“, antwortete er knapp. Seine Fäuste waren geballt.
    Stan schaute in meine Richtung. Ich nickte stumm.
    Nach dem verklingen des Schreis war wieder tiefe Stille angebrochen. Der Zug ratterte, der Regen schlug unaufhörlich gegen die Scheibe. Ansonsten ... diese unnatürliche Ruhe.
    Auch Stan erhob sich, wenn auch deutlich zaghafter. Auch sah er davon ab, einen Schritt in Richtung der Tür zu tun, wie es Eagle zuvor getan hatte. Gebannt starrten sie beide dem einzigen Ausgang unseres Abteils entgegen. Die Sorge beider Menschen war auch die meine: Wessen Stimme es auch immer war, die so schrecklich in der Luft gelegen hatte ... lange schon war sie verhallt. Niemand konnte sagen, was zwischenzeitlich ihrem Besitzer widerfahren war oder welcher Grauen sie heimgesucht hatte.
    „Es müsste doch jemand schauen ... Warum ist es so still?“, flüsterte Stan.
    „Still? Dein Engelsflügelchen-Zug rattert wie ein alter Dampfkessel“, entgegnete Eagle nicht weniger leise.
    „Warum ist niemand auf dem Gang?“, fragte Stan weiter.
    Darauf wusste Eagle keine Antwort, auch suchte er sie erst gar nicht. Seine Fingernägel gruben sich tief in die Handflächen. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich glatt behauptet, dass er zitterte. Verübeln konnte es ihm nicht - auch mir kräuselte sich der Schwanz, während ich dem Beispiel beider Menschen folgte, die Abteiltür fixierte und nach weiteren Geräuschen lauschte; vielleicht schnelle Schritte auf dem Gang, ein schadenfrohes Lachen nach dem etwas aus dem Ruder gelaufenen Streich. Doch es kam nichts. Totenstille.
    Zwischen Stan und Eagle brach bald ein gedämpfter Streit aus. Jeder verlangte von dem anderen, er solle nachsehen, was da vor sich ging. Und natürlich gab keiner dem anderen auch nur den kleinsten Millimeter nach.
    „Sonst bist du doch so ein Großmaul! Warum plötzlich so feige?!“
    „Ohne mich würdest du doch bei dem Scheißwetter irgendwo mitten auf dem Ozean verschimmeln. Zeig gefälligst etwas Dankbarkeit! Und wenn ich du wäre, wäre ich mal ganz still. Wer ist denn hier feige, Hasenfuß?!“
    „Na, du doch!“
    „Sag das noch einmal!“
    „Aber ge...“
    Stan hatte es vernommen: Polternde Schritte auf dem Gang. Ein Schatten war vor dem Sichtfenster der Tür vorbeigehuscht, bevor er wieder von der Dunkelheit dahinter verschluckt wurde. Mit der wieder eingekehrten, unheimlichen Ruhe zwischen den beiden Menschen waren auch die Schritte wieder verstummt - direkt vor der Türschwelle.
    Wilde, hektische Kopf- und Handbewegungen traten anstelle der viel zu lauten Worte. Einschließlich mir verspürte niemand das Interesse, die Schiebetür zu öffnen und die Rätsel dahinter zu lüften. Eagles Lippen formten stumm die Worte „Jetzt macht schon!“ an Stan gerichtet, während er das getönte Sichtfenster aus verschiedenen Winkeln in Augenschein nahm. Stan hingegen hatte einen weiten Schritt in die entgegengesetzte Richtung getan und war somit weiter denn je von einer mutigen Tat entfernt.
    Knarr!
    Die Gelenke der Tür ächzten und stöhnten. Jemand schob sie von der anderen Seite aus auf. In Zeitlupe rollte sie in ihrer Verankerung auf die andere Seite. Der Spalt dahinter weitete sich langsam, der kalte Luftsog des Korridors griff eisig nach dem warmen Inneren unseres Abteils, das schwache Licht der Deckenbeleuchtung schien von Mal zu Mal zu schwinden. Stan presste sich mit dem Rücken voran gegen die Wand, die mit ihrem verschlossenen Fenster den einzigen Fluchtweg versperrte. Auch Eagle wich zurück. Inzwischen war nur noch eine Hand zur Faust geballt; die andere umschloss in einem bangenden Griff einen seiner Pokébälle. Ich hatte die Kontrolle verloren. Kleinere Funken schlugen ziellos aus meinem Fell, Speichel tropfte mir aus dem Mund und bekleckerte den Sitzbezug, die aufgestaute Energie brachte meinen Magen zum Rotieren. Ein falscher Atemzug, und die Luft drohte zu zerbersten, so wie es meinem Kopf kurz bevor stand.
    Ein letztes Mal noch knackte das Getriebe-Gelenk auf, dann stoppten die Bewegungen der Tür. Die Kluft zwischen unserem Abteil und dem unheimlichen Korridor besaß nun genau die richtige Größe, um eine Faust hindurchzustecken. Unser mattes Licht wurde von der dahinterliegenden Schwärze gänzlich verschluckt, ohne dass es auch nur ansatzweise die Geheimnise aufdecken vermochte, und schon gar nicht den Öffner der Tür auf der anderen Seite des dunklen Vorhangs entlarven konnte.
    Wieder wurde es still. Wind und Wetter peitschten gegen das Fenster, der Zug ratterte, mein Herz pochte lauter als zehn Pauken.
    „Ha-hallo ...?“
    Eine Stimme - nicht von uns. Sie reichte jenseits der Tür zu uns herein. Schüchtern und überaus vorsichtig klang sie und auch sehr hoch. Ein Gesicht tauchte aus dem Meer der Finsternis auf und füllte Stück für Stück den Platz in dem dafür noch viel zu engen Spalt.


    Als Eagle zur Tür stürmte, sie mit rabiater Wucht aufriss und daraufhin einen leicht plumpen Jungen mit Hornbrille und verstörtem Gesichtsausdruck ans Tageslicht förderte, den er auch gleich mit aller Gewalt in unser Abteil zerrte, stand mir und Stan wohl die Erleichterung ins Gesicht geschrieben. Nun ja, mir wohl weit mehr als es bei meinem Freund der Fall war. Ich für meinen Teil konnte einfach nicht davon ablassen, lauthals loszuprusten, hingegen sich Stan noch sehr von seinem Schrecken erholen wollte, hätte er nicht dummerweise an der falschen Wand gestanden. Eagle hatte den fremden Jungen - er konnte etwa in seinem Alter sein - am Schlafittchen gepackt und nachdem er Stan von seinem scheinbar sicheren Fleckchen am Fenster vertrieben hatte, quetschte er unseren ungeladenen Besucher brutal gegen die Wand.
    „Du Penner kannst sie doch nicht mehr alle haben?! Bei welchem Frisör hast du dir dein dummes Hirn schneiden lassen?! Oder nichts als Sülze im Kopf?!“
    Selbst im matten Lichtschein konnte man Eagles Speichel fliegen und den Schweiß auf der Stirn des fremden Jungen rinnen sehen.
    „Fandest das wohl unglaublich witzig, was?! Mal sehen, ob du es immer noch so witzig findest, wenn ich erst die Grütze aus dir rausgeprügelt habe!“
    Zuzutrauen, dass Eagle seine Drohung bewahrheiten würde, war es ihm. Wir sollten es aber nie erfahren. Der fremde Junge schaffte es endlich, sich aus Eagles zermürbender Mangel zu befreien. Ausgerechnet hinter dem untauglichsten Rücken suchte er schließlich Deckung.
    „H-hey! Halt mich da raus!“
    Das ulkige Versteckspiel, bei dem der arme Stan wiederholt zwischen den Fronten stand, herumgeschubst wurde und für Beleidigungen und ängstliches Wimmern herhalten musste lief noch eine gute Minute, bis der erschöpfte und knallrote Jäger schließlich klein bei gab.


    Spürbar wärmer war es zwischenzeitlich in unserem kleinen Abteil geworden; vielleicht gerade deshalb, weil der anfängliche Schrecken überwunden war und mit ihm endlich wieder Frieden eingekehrt war - ein brüchiger Frieden, durchbrochen von den schwer atmenden Menschen. Stan, der die kleinste Rolle dieser Hetzjagd hatte spielen müssen und deshalb der noch frischeste von allen war, ergriff als erster das Wort.
    „Wer bist du und was sollte das da draußen?“
    Im matten Lichtschein schimmerte der Schweiß auf dem Gesicht des schwer atmenden Jungen. Die Hand presste er sich gegen die Brust, die Atemzüge klangen schrill und heiser.
    „Simon ... Simon Freeman“, würgte er heiser hervor.
    Freakman trifft es eher!“, knurrte Eagle.
    Der Junge namens Simon mied den Augenkontakt zu einem jeden von uns. Stattdessen starrte er ängstlich Löcher auf den Boden vor der Sitzreihe, auf die er sich zwischenzeitlich niedergelassen hatte.
    „Warum hast du das inszeniert?“, wiederholte Stan seine Frage.
    Simon verharrte stumm.
    „Warum do so ’ne kranke Show abgezogen hast? Hosen voll oder was? Dieser Schrei vorhin ist doch auch aus deinem Mist gewachsen!“, tobte Eagle.
    So schnell, dass man ein leises Knacken seines Genicks hören konnte, riss Simon den Kopf in die Höhe. Die Züge seines Gesichts waren furchtbar entstellt; zweigeteilt von der überstürzten Kopfbewegung und von nackter Panik. „Das - das war ich nicht, ehrlich!“, krächzte er, wobei seine Stimme noch schriller als zuvor klang.
    In Stans gutgläubiger Miene stand geschrieben, dass er nicht an der Wahrheit einer solch flehentlichen Aussage zweifelte, und auch ich mochte keine Heuchelei herauszuhören. Anders Eagle, der sich die Hand in die Hüfte stemmte und zweifelnd die Augen verengte.
    „Wer’s glaubt“, argwöhnte er.
    „Wirklich! Echt!“, beteuerte Simon. Da er zweifelsohne bereits festgestellt hatte, dass er bei Eagle auf harten Granit biss, beschränkte sich Simons Betteln auf Stan. Sonderlich weiter half ihm das aber natürlich nicht. „Bitte!“, flehte er.
    „Also, was sollen wir mit ihm machen?“ Boshaft grinsend richtete sich Eagle an Stan. „Steht dein kleiner Flohsack auf Menschenfleisch?“ Jetzt schaute er wieder auf Simon. „Verfüttert wir ihn!“
    Wie man eine solch absurde Drohung nur für bare Münze nehmen konnte ...? Simon schaffte es tatsächlich. Wimmernd kauerte er sich auf dem Boden zusammen, zuvor aber war er in heller Panik an das andere Ende des Abteils gestürmt, nachdem sich unsere Augen gekreuzt hatten. Zumindest Eagle hatte einen Heidenspaß daran, sich gehässig lachend an diesem Bild des Jammers auszulassen. Mehr als ein abfälliges Augenrollen hatten weder Stan noch ich für Eagle übrig. Auch war es Stan, der sich schließlich dem kauernden Häufchen Elend annahm. Das aber setzte voraus, dass sich Simon überhaupt helfen ließ ... was er nicht tat. Völlig von nackter Panik zerfressen schüttelte er Stans beschwichtigenden Armgriff ab. Stan stolperte einen Schritt zurück.
    „Ne-eeihn! Bitte!“, jammerte es bitterlich zwischen den Armen und Beinen der heftig zuckenden, zusammengerollten Kugel hervor.
    „Was ein Jammerlappen ...“ Mürrisch ließ sich Eagle auf ein Sitzkissen fallen. Er schien es leid zu sein. „Zieh Leine! Mach, dass du hier raus kommst, sonst helfe ich nach!“
    „Ne-eeihn! Bitte ...! Lasst mich bleiben! Bitte!“
    „Was jetzt?“ Auch Stans doch sonst so sehr strapazierfähige, unerschöpfliche Geduld war inzwischen zuneige gegangen. In meinem wie auch in Eagles Blick fand er teils verständnisloses teils genervtes Kopfschütteln.
    „Sarah und Toni ... sie sind einfach weg ... Ich weiß nicht, wo sie hin sind.“
    „Wer soll das sein? Freunde von dir?“, fragte Stan.
    Simon hob den Kopf aus seiner kauernden Stellung. Soweit man dem wenigen Licht im Abteil glauben durfte, waren Simons Brillengläser beschlagen. „Wir kommen alle aus Viola City und waren gemeinsam unterwegs, schon seit Wochen. Wir saßen im selben Abteil. Irgendwann bin ich eingeschlafen und dann ... waren sie weg.“
    „Wundert dich das? Die hatten bestimmt deine ewige Flennerei satt“, höhnte Eagle, doch selbst er schien dieses Mal innere Zweifel an seinen eigenen Worten zu hegen; Gefühle, die auch ich teilte. So unausstehlich sich Simon auch vor uns präsentierte - warum sollte ihm seine Freunde einen solch üblen Streich spielen? Oder bei ihnen musste es sich um die Sorte Freunde handeln, bei denen man keine Feinde mehr brauchte.
    „Wir sind in einem fahrenden Zug. Die haben sich nicht in Luft aufgelöst ...“, brummte Eagle.
    „Hast du mal im Speiseabteil nachgesehen?“, schlug Stan vor.
    „D-das ist es ja ...Außer euch ... habe ich niemanden gefunden ...“


    So schwer es für Simon gewesen sein musste, die längst verklungenen Worte auszusprechen, so schwer schlugen sie uns übrigen auf den Magen. Das Verstummen des fröhlichen Gelächters und munteren Geplappers, diese unheimliche Stille, die uns in ihrem Würgegriff gefangen hielt ... Weil der Zug leer war? Deshalb? Weil man uns alle übersehen hatte, nachdem der sichere Hafen erreicht war? Das war doch totaler Irrsinn! Oder nicht? Hatten wir tatsächlich so tief geschlafen, dass wir alles um uns herum vergessen hatten? Selbst das Lärmen eines sich leerenden Zugs und wahrscheinlich noch etlichen Durchsagen? Es war möglich, denkbar oder zumindest im Bereich des Möglichen, dass es auf uns zutraf, wir, in unserem abgeschlossen Abteil, wo wir unter uns gewesen waren ... und selbst dann, schien es noch immer unvorstellbar, dass niemand von uns, noch nicht einmal ich, einen solchen Radau mitbekommen hatte. Und was Simon betraf, den von seinen Freunden vergessene Jungen ... Das lag jenseits jeglichen Vorstellungsvermögens ...
    „Wie, niemand?! Was heißt hier niemand?!“
    „Iiek!“
    Stan überlegte nicht lange, sondern ging lieber gleich stiften und räumte Eagle damit mehr als genug Platz ein, damit er dort weiter machen konnte, wo er zuvor aufgehört hatte. Abseits der wüsten Beschimpfungen und des Gejammers ließ sich Stan erschöpft auf den Sitzplatz neben mich fallen. Er wirkte unendlich müde. Eine leise Unterhaltung zwischen uns begann, bei der wir rasch auf denselben Nenner kamen. Wenn wir unsere Haltestelle verpasst hatten, wohin waren wir dann unterwegs? Zurück nach Graphitport City? Oder ganz wo anders hin? Stan war der Ansicht, dass der Zug nach unserer offenbar verpassten Station noch weiter fahren musste, nämlich Richtung Kanto. Wenn das stimmte, konnten wir von dort einfach den nächstbesten Zug zurücknehmen. Etwas Zeitverlust und vielleicht wundgesessenes Sizfleisch war der einzige Preis, den wir dafür bezahlen mussten. Dass es mittlerweile auch so spät war, erklärte, warum nur so wenige Fahrgäste im Zug sein mussten. Keine Erklärung aber ...
    „Und was war das vorhin? Dieser Schrei? Wenn er es nicht war ...“ ich machte eine Kopfbewegung in die Richtung, wo ein breitbeinig stehender Eagle dem zusammenkauernden Haufen namens Simon beschimpfte. Darauf konnte sich Stan nur sehr schwer einen Reim machen.
    „Vielleicht“, begann er nachdenklich, „hat noch jemand seine Haltestation verschlafen. Könnte doch sein.“
    „Warum bin ich eigentlich immer nur von totalen Volldeppen umgeben?!“ Eagle hatte sich heißer gebrüllt. Als abschließende Geste tat er so, als wollte er Simon einen Tritt in den zusammengerollten Hintern geben. Mit dem rechten Fuß holte er weit aus, bremste dann aber im letzten Moment in der Luft ab. Direkt anschließend nahm er knurrend wieder auf seiner ursprünglichen Sitzreihe platz. „Diese geistige Leuchte meint, er hätte in einem halben Dutzend Abteilen niemanden mehr gefunden, einschließlich dem Kantinenabteil“, knurrte Eagle an uns gerichtet.
    „Kein Personal?“, argwöhnte Stan.
    „Was weiß ich?!“, schnauzte Eagle. Er lehnte sich ein gutes Stückchen weiter auf seinem Sitzpolster zurück.
    Stans Einwurf war mehr als berechtigt und stimmte beide, ihn und Eagle, doch tief nachdenklich. Es schien so, als gehörte es bei den Menschen zum guten Ton, dass die Zugbegleiter selbst nach Einbruch der Nacht ihren Arbeitsplatz nicht unbeaufsichtigt ließen und für das Wohl der Passagiere sorgten. So gesehen erschien es auch mir nur logisch, schließlich musste jemand der Magnetbahn sagen, wo es lang ging. Nur noch größer war daher die Skepsis, dass etwas nicht stimmte. Waren wir tatsächlich die einzigen hier?


    Eine tiefe, andächtige Ruhe schloss unser kleines Abteil in seine zudringliche Umarmung, lediglich durchbrochen von den Geräusch trommelnden Regens und das erschöpfte Ächzen des Zuggetriebes. Simon hatte sich wieder eingefunden. Zeitgleich den größten Abstand zu Stan, Eagle und mir nehmend, wippte er unruhig auf seinem freien Sitz auf und ab, darauf achtend, bloß keinen provozierenden Blickkontakt zu einem von uns herzustellen. Ansonsten war er still. Mehr als gelegen für Eagle, der der stockfinsteren Fensterscheibe ebenso finstere Blicke zuwarf. Mit jeder weiteren verstrichenen Minute verfinsterten sich derweil auch Stans besorgten Züge im Halbdunkel zunehmend. Dem Glück hielten wir mit dem Aufrechterhalten unserem bedrück-misstrauischen Schweigen nicht gerade einladend die Tür auf. Man konnte sogar böswillig unterstellen, dass vorher, als Eagle Simon Mores gelehrt hatte, bessere Stimmung geherrscht hatte. Traurig ... Jedenfalls hielt dieser Zustand noch eine ganze Weile an, ohne dass auch nur ansatzweise eine Besserung in Sicht war. Dramatisch ändern, sogar noch zum Schlimmeren bekehren, sollte ein dumpfes Hämmern an unserer Abteiltür.
    Auf einem Schlag waren wir alle wieder hellwach. Die Situation kurz vor Simons Ankunft war wiederhergestellt, mit dem Unterschied, dass sich selbiger nun mitten unter uns befand und die ohnehin angespannte Stimmung mit seinen panischen, unbeherrschten Verhalten nur noch weiter anheizte.
    „W-was war d-das?“ Obwohl Simon seine Stimme zu einem Flüstern gesenkt hatte, klang sie dennoch schrill und provozierend durch das Abteil, dass er mit normaler Zimmerlautstärke sicherlich weniger Aufsehen erregt hätte.
    Das Schweigen der Ahnungslosigkeit folgte Simons verklungener Frage, durchflutet von einer neuen eisigen Woge der Angst, vor der niemand unter uns verschont blieb. Die eben erst verschlossenen Schweißporen arbeiteten wieder auf Hochtouren, während weit aufgerissene Augen vergeblich das okkulte Geheimnis hinter der verschlossenen Abteiltür zu röntgen versuchten. Ähnlich wie schon zuvor, hatte ich die Beherrschung über meinen Körper und damit meiner Kräfte beinahe gänzlich verloren; diesmal aber noch schlimmer. Alsbald musste Stan vor meinen sich unkontrolliert lösenden Entladungen das Weite suchen, die die Sitzpolsterbezüge rabenschwarz versengten und deren weiche Fütterung nach außen förderten. Mein Hals schnürte sich zu und kappte die Luftzufuhr, hingegen das zuvor hochgepumpte Blut sich in meinem Kopf staute. Knarrend bewegte sich die Tür. Ein sich stetig weitender Spalt bildete sich. Ohne Vorwarnung schoss die Tür mit lautem Krachen auf. Die Schreie aller Menschen zerrissen die Luft. Eine Reihe perlweißer Zähne blitzten auf, zwei dunkle Augen starrten aus dem gesichtslosen Kopf einer vermummten Gestalt uns entgegen.
    „K-E-I-N E-N-T-R-I-N-N-E-N!“


    Meine aufgestaute Angst entlud sich explosionsartig, der eigene Schrei überstimmte alles zuvor Dagewesen. Selbst durch meine fest zugekniffenen Augen hindurch blendete mich das gleißende, zerstörerische Licht, das sich aus meinem Körper löste und das gesamte Abteil überschwemmte. Schwere Objekte fielen klagend und jammernd zu Boden, Glas splitterte. Mein Energieausbruch zerlegte die Fensterscheibe, das Sichtfenster der Tür, die Deckenbeleuchtung, selbst Simons Brillengläser. Augenblicklich drang das Getöse des Sturms mit seinen peitschenden Windböen und dem sinnflutartigen Regen in das Innere des Zuges ein und umschlang einen jeden mit seinem eisigen Griff.
    Als mein Schrei endlich gänzlich verhallt war, ich das letzte Bisschen Energie gewaltsam aus mir herausgepresst hatte und als Folge dessen ich kraftlos zusammensackte, konnte ich nur abschätzen, ob mein Gesicht mehr von meinem eigenen Schweiß oder von dem eindringenden Regen durchnässt war. Der Sturm sah nun die Gunst der Stunde und überflutete das verwüstete Abteilinnere mit seinem klagenden Geheul. Regentropfen fielen unter dumpfem Geräusch auf den Teppichboden oder spielten auf den Glassplittern ein helles Orchester. Zwischen meinen metallischen Atemzügen meldeten sich nach und nach die anderen Anwesenden zu Wort. Ohne den matten Lichtschein der Deckenbeleuchtung blieben meine Augen blind für den Ursprung der dumpfen Geräusche von Kleidungsstücken, die über den Boden schabten, oder Fingernägel, die sich in die Stoffbezüge gruben, um die schweren Körper wieder aufzurichten. Die erste Stimme mischte sich in die verworrene Geräuschkulisse - jemand hustete. Es war Eagle. Dem folgte Stans vertrautes Keuchen. Zuletzt eine weitere stöhnende Stimme, die ich zuerst Simon zuordnen wollte, dafür aber zu tief war. Unmittelbar vor der Türschwelle klang sie zu uns herein. Daraus zu schließen, musste sie demjenigen gehören, der zuvor gewaltsam in unser Abteil eingedrungen war. Dem gesichtslosen Monster ...
    Es war zwecklos, irgendetwas erkennen zu wollen. Was auch immer sich im Stockdunkeln rührte, konnte bereits wieder auf den Beinen sein, während sich Stan und die anderen noch schwerfällig auf dem Boden räkelten. Bevor ich im Geiste überhaupt realisierte, was ich getan hatte, war ich bereits von der gepolsterten Sitzreihe auf den Boden gesprungen. Sämtliche verbliebene Kraftreserven galt es gewaltsam zu mobilisieren, um zu verhindern, dass meine heftig zitternden Beine von meinem bloßen Körpergewicht erdrückt wurde. Der heiße Atem des unbekannten Etwas, vor dem ich mich aufgebaut hatte, blies mir ins Gesicht, dass ich bald darauf die Augen verengen musste. Heftig zuckte ich zusammen, als mich etwas an den Wangen streifte.
    „Eine falsche Bewegung, und ich mach dich nieder!“, hauchte ich dem Dunkel entgegen, das - den Geräuschen zu urteilen - mühselige Aufstehversuche unternahm. Glück für mich, dass die Finsternis auch über mich ihren verschleiernden Schleier warf, denn war ich tatsächlich alles andere als in der Lage, über jemanden ernsthaft herzufallen, geschweige denn, ihn nieder zu machen.
    Hinter meinem Rücken hörte ich die würgenden Geräusche meines besten Freundes. Ich hätte mich umdrehen und so meine unachtsame Seite dem Ding vor zudrehen können, was ich aber weder wagte noch tat. Es waren polternde Schritte aus der Ferne, die mich dann aber doch ablenkten. Jemand kam schnell den Gang in Richtung unseres Abteils hinunter, und wer es auch war, trug ein Licht bei sich.
    „Kevin? Kevin?“ Schneller und lauter wurden die Schritte und dazugehörige mädchenhafte Stimme. Das Licht, das den Gang herunterstrahlte, dagegen heller und heller. „Kevin? Huch! Was ist hier ...?“
    „Machs weg! Machs weg!“
    „So grell!“
    „Hast du sie nicht mehr alle?! Mach die Funzel aus!“
    Das rückstrahlende Licht einer Taschenlampe riss den verbergenden Schleier der Finsternis von einer schlaksigen Teenagerin und offenbarte die leicht geschminkten, schockiert dreinblickenden Gesichtszüge. Ihre langen, brünetten Haare flatterten wie Fahnen in dem Fahrtwind des in Stücke geschlagenen Fensters, als sie verwundert ihre Taschenlampe auf uns richtete und das zu Klump geschlagene Abteilinnere musterte. Als Folge dessen bekamen unsere Augen die ganze Unbarmherzigkeit des aufdringlichen Lichts zu spüren, das uns augenblicklich erblinden ließ. Ich hatte mich auf den Boden geworfen, die Vorderpfoten fest auf die schmerzenden Augen gepresst.
    „Kein schöner Empfang, ich weiß, aber immer noch besser als meiner“, japste eine fremde Stimme unmittelbar vor mir, die ich sofort als die des Eindringlings wiedererkannte. Eben diese Stimme entfernte sich noch im gleichen Moment. Sie wanderte geradewegs über meinen Kopf hinaus. Sein Besitzer musste sich also aufgerichtet haben. Im selben Augenblick nahm die Taschenlampe ihn ins Visier. Als ich die tränenden Augen einen Spalt weit öffnete und hinauf schaute, war ich zu Beginn ebenfalls im Glauben, kein Gesicht zu dem perlweißen Grinsen, das über mir schwebte, zu erkennen. Erst als das Licht der Taschenlampe direkt auf das Gesicht fiel, erkannte ich endlich einen fremden, dunkelhäutigen Jungen, dessen Haut-Teint perfekt mit den uns umgebenen Schatten verschmolz.
    „Hast du schon wieder deine Horror-Nummer abgezogen?“ Die soeben noch erleichterten Augen der Teenagerin mit der Taschenlampe sahen den Jungen nun vorwurfsvoll an. „Sharleen hat sich nach deinem letzten Amoklauf immer noch nicht beruhigt. Na, nach der Aktion hier dürfte dir der Spaß ja vergangen sein.“
    „Machst du Witze? Das war stark. Astrein. Die ganze Bude hat es zerlegt.“
    „Oh, ja, ein Spaß!“, hörte ich Eagles wütende Stimme hinter mir bellen. „Schau mal im Lexikon unter Arsch nach. Da ist dein Gesicht abgebildet!“
    „Echt. Das war alles andere als witzig“, knurrte Stan, selten angriffslustig klingend.
    Wieder blitzten die Zähne des fremden Jungen in der Dunkelheit auf, als er grinste. „Ihr geht wohl alle zum Lachen in den Keller.“
    „Ich weiß nur, wo ich jetzt hingehe ...“ Eagle schob sich an Stan und dem noch immer bewusstlos am Boden liegenden Simon vorbei. „Nämlich raus aus dem Regen, und dir ein drittes Nasenloch verpassen.“ Mit schweren Schritten stapfte er auf den Ausgang zu, wo die beiden Neuankömmlinge standen. Nur ich war ihm noch im Weg, und ich hatte etwas besseres zu tun, als seinen Fußabtreter abzugeben.
    „Pass ja auf! Wenn du mich platt walzt, verpass ich dir ein drittes Nasenloch!“, drohte ich und bekräftig meine Warnung mit vereinzelnden Entladungen aus meinem Fell.
    „Wer hat dich denn gefr...?“ Mit offenem Mund erstarrte Eagle - ein seltener Anblick. Im gleichen Moment war nicht nur die Taschenlampe, sondern auch sämtliche verdutzten Augenpaare auf mich gerichtet.
    „Seit wann kannst du sprechen?“
    „Ein sprechendes Pokémon? Ist das irre!“
    Stan erwiderte meinen Blick mit derselben Ratlosigkeit. Nicht nur er, sie alle hatten mich verstanden. Was war hier los?

  • Dieses Mal kaum eine Verspätung beim Kommentar schreiben ... kann es selbst noch nicht fassen : D


    Schon mit dem ersten Satz ... nein, eigentlich schon mit der Überschrift kündigst du schon einen gewissen Stimmungsumbruch an. Wahrscheinlich hätte mich dieser mehr überrascht, wenn du mich zuvor nicht bereits über diese Wendung „gewarnt“ hättest. Sieht auf alle Fälle bereits sehr viel versprechend aus.
    Dafür hab ich mir anfangs wegen dem Titel und dem dazu passende Bild vorgestellt, dass sich die drei in einem altmodischen Dampfzug befinden, bis ich mich kurz darauf erinnert hatte, dass sie sich ja in einem modernen Schnellzug befinden. Die Vorstellung eines alten Abteils hab ich trotzdem den Rest des Pars nicht mehr aus dem Kopf bekommen können.
    Wie dem auch sei, die unheimliche Stimmung, die ab dem seltsamen Schrei eingekehrt ist, hast du wirklich fantastisch vermittelt, ich hab sogar während dem Lesen überall eine leichte Gänsehaut bekommen. Ich glaub die Bücher haben sich ausgezahlt, das gewünschte Horror und Grusel-feeling ist auf alle Fälle aufgekommen. War auch ungewohnt, einen derartig ängstlichen Sheinux zu sehen aber gut, wer würde in so einer Situation nicht auf völlig durchdrehen, besonders nach einem Albtraum.
    Die Spannungskurve hast du außerdem gleichzeitig steil in die Höhe gerissen, als die Schiebetüre sich das erste Mal geöffnet hat. Man war ich vielleicht begierig darauf zu erfahren, wer oder was da hinter der Türe verborgen war. In dem Moment hab ich nicht mal versucht, Vermutungen aufzustellen, es hätte immerhin wirklich alles vor dem Abteil stehen können und ich wollte einfach nur weiter lesen


    Also, den ersten neuen Charakter den du uns vorstellst heißt also Simon Freeman ... Ein interessant gewählter Name für ein Kind (besonders weil ich unter Freeman immer an zwei ganz andere Personen denken muss). xD Aber gut, ist ja ein üblicher Nachname.
    Dein nächste Streich war ebenfalls wirklich gelungen, ich als Leser hatte eigentlich erwartet, dass abermals ein weiterer Mensch in der Türe stehen würde... was zwar sich am Ende tatsächlich als wahr herausgestellt hat, aber erst nach dem du allen(oder zumindest mir) weis gemacht hast, dass da tatsächlich jetzt ein Geister oder etwas Ähnliches vor dem Abteil steht. Fand ich auf alle Fälle ebenfalls sehr gelungen. Einzig was mich etwas verwirrt hat, war die Beschreibung der Person:
    Eine Reihe perlweißer Zähne blitzten auf, zwei dunkle Augen starrten aus dem gesichtslosen Kopf einer vermummten Gestalt uns entgegen.
    Ich weiß nicht so recht, ich würde einen Kopf nicht unbedingt als gesichtslos bezeichnen, wenn dieser Augen und Mund besitzt. Aber vielleicht ist das nur eine Sache der Definition.
    Übrigens, irre ich mich, oder gehören viele deiner Charaktere zu der verbal schlagfertigen Sorte xD
    Dein letzter Schachzug muss ich sagen kam für mich völlig unerwartet: Alle Menschen um ihm können Sheinux nun verstehen oder dieser beherrscht plötzlich die Menschensprache. Was immer auch der Grund ist, mit dieser neuen Wendung hast du dir ja abermals einige neue Möglichkeiten geschaffen. Das schätze ich wirklich an deiner FS, du kommst immer wieder mit neuen Konzepten auf, ohne dass der Kern der Geschichte über Bord geworfen wird. Freu mich schon sehr darauf zu sehen, was du aus dieser neuen Situation machen wirst.


    So, dass war‘s dann auch wieder von mir. Hab dieses Mal sogar zwei oder drei winzige Tippfehler entdeckt(wie auch immer ich das geschafft habe), aber die sind ja nicht einmal der Rede wert ... außerdem weiß ich nicht mehr, wo diese genau zu finden sind^^“
    Bleib jedenfalls dran, ich persönlich freu mich jedenfalls schon den Rest des Kapitels ... Ich will unbedingt erfahren, was wirklich in diesem Zug geschehen ist und wie es mit Sheinux plus Truppe weiter gehen wird. Ich hab das Gefühl das es noch spannender wird ... sehr spannend : D


    Auf wiederlesen,
    Toby