[Blockierte Grafik: http://i1152.photobucket.com/albums/p493/xBastetx/BANDAID-HEART1_zpse57fce2a.jpg]
Care
Die erste Stunde im Warteraum war nervenzerfressend, die Zweite unerträglich und danach kroch nur noch jede Minute dahin. Während Fukano bloß einen Verband bekam, zumindest wurde es so gesagt, hier war ja doch etwas faul daran, und angeblich zur Beobachtung bei der Assistenzärztin bleiben sollte, lag Ibitak die gesamte Zeit in einen Raum, welcher auf große Pokemon ausgerichtet war. Erst heute hatte er den „Schwester“ Joys, ihr Titel war so irreführend, gegenüber aufrichtigen Respekt empfunden und erst wenn man sie mit Mundschutz und weißen Handschuhen sah, wurde einem bewusst, dass sie tatsächlich Medizin studierte hatte – Kazuya glaubte sich zu erinnern, dass Taiki diese Fachrichtung Veterinärmedizin genannt hatte. Da hatte er ein wenig ruhiger werden und ihr Atmacas Pokeball übergeben können.
Doch nun saß er hier an der Seite seiner Freunde, versuchte trotz seiner Intuition es zu tun, nicht gebeugt auf dem Stuhl im Wartezimmer zu sitzen und sein Gesicht in seinen Händen zu vergraben, um seine Würde zu bewahren und niemanden Sorge zu bereiten. Wie genau es ihm weiterhelfen sollte, wenn ihn Híme fordernd mit ihrem Kopf anstieß, wusste er nicht genau und er stand kurz davor sie anzublaffen. Stattdessen tätschelte er sie lustlos, sodass die Löwin ihre Vorderpfoten auf seinen Schoß legte und aus voller Kehle schnurrte, unmöglich sie zu ignorieren. Tatsächlich konnte sie ihm ein Lächeln entlocken, nur für einen Moment, doch es war da gewesen.
Taiki, links neben ihm, schrieb mit nervöser Hand und sichtlich lustlos SMS an diverse Freunde. Davon schien er etliche, dutzende, zu haben. Zumindest scrollte er sich durch eine scheinbar endlose Liste, während Kazuya nur Hitomi, Ruri und Taiki in seinem Telefonbuch eingespeichert und Shin aus Zorn gelöscht hatte. Hin und wieder erhellte sich Taikis Mimik und als Kazuya ihm auf den Display sah, wusste er auch weshalb: Da waren so viele, die wussten, dass er nach Dukatia wollte und ihn auf die Ereignisse ansprachen – vermutlich rauschten schon etliche Berichte durch die Medien –, einfache Fragen stellten: „Bist du okay?“ oder „Du bist ja grad in Dukatia, hast du schon gehört, dass…“ Neugierig sah er aus dem Winkel halb geschlossener Augen weiterhin auf den Bildschirm. Mum, Dad, erschien im virtuellen Telefonbuch. Ich ruf euch später an, schrieb Taiki.
Kazuya erhielt ebenfalls eine SMS, jedoch von einer gereizten Hitomi, die ihm eine vorwurfsvolle Nachricht schrieb, wie er sich nur mit Shin hatte prügeln können, obwohl ihr Bruder versucht hatte, sich zu entschuldigen. Wegen seinem verletzten Atmaca war er zumindest im Moment unfähig Wut darüber zu verspüren, dass auch Hitomi ihm mit einem Messer in den Rücken fiel. Im Zweifelsfall würde sie wohl immer zu ihrem Bruder halten, obwohl er im Unrecht war. Für Kazuya war es klar, dass er selbst im Recht war. So ignorierte er sie und betrachtete für einen Moment seine beste Freundin.
Ruri, rechts von ihm, saß mit überkreuzten Beinen und verschlungenen Armen da, als wolle sie die ganze Welt von sich fernhalten. „Hey.“ Nach vorne gebeugt suchte er eine Regung in ihrem Gesicht, dabei sah sie ihn noch nicht einmal an, verzog bloß ihren Mundwinkel und schluckte schwer. War es besser sie in Ruhe zu lassen oder anzusprechen? Manchmal verstand er das weibliche Geschlecht wirklich nicht.
Andere Gäste des Pokemoncenters starrten die Jugendlichen mitleidig an, anscheinend hatten sie Wind von den Ereignissen bekommen – oder glaubten etwas zu wissen. Jeden dieser Blicke bedachte Kazuya seinerseits mit einem solchen, der töten wollte, wenn er gekonnt hätte. Auch für Ruri wollte er sie fernhalten, auch sie wollte diese Gaffer nicht, die sich an ihrem, zugegeben recht verloren wirkenden, Anblick ergötzten und dachten, es wäre gnädig ihnen Mitleid zu schenken. Glücklicherweise verstanden sie dies auch recht schnell, ließen sich abschrecken und gingen mit einem zwanghaft nach vorne gerichteten Blick an ihnen vorbei.
Zwei Stunden und dreizehn Minuten dauerte es, bis Joy aus der großen Flügeltüre trat, über der vorhin noch die eindeutige Order geblinkt hatte, man dürfe sie nicht betreten. „Geht auf eure Zimmer und ruht euch aus, euren Pokemon geht es gut“, wies sie die Jugendlichen sanft an. Ihr gesamtes Gesicht zeigte Ermüdungserscheinungen.
„Was hat da solang‘ gedauert?“, wollte er aufbrausen, behielt seinen Vorwurf aber aus Anstand bei sich.
„Ibitak wird einige Zeit nicht fliegen können, aber das ist wohl das kleinste Problem; Fukano ist es ebenso strengstens untersagt zu kämpfen. Das sollte aber ohnehin klar sein.“
„Ich will aber zu meinem Ibitak!“, erwiderte er scharf und spürte gleichzeitig, wie alle Sympathie von ihm abfiel und auf Taiki überging. Joy bemühte sich, ihm gegenüber freundlich zu sein – ja, sie musste sich anscheinend wirklich bemühen.
„- und ich zu meinem Fukano!“, stieg Taiki ein. Seine Augen leuchteten hoffnungsvoll auf. Dies war auch für Kazuya tröstlich.
Das Mädchen unter ihnen legte ihnen beiden eine Hand auf den Rücken und wollte sie sanft in Richtung Stiege lenken. Knurrend schüttelte Kazuya sie ab.
„Jungs, lasst euren Pokemon Ruhe. Sie sind noch nicht einmal wach. Es geht ihnen gut. Ich verstehe eure Sorge doch. Morgen früh werde ich sie euch übergeben.“ Erst wandte sie sich an Kazuya. „Die Wunde ist nicht sehr groß, das Blut mag dir viel vorgekommen sein, aber im Prinzip wird alles gut verheilen und keine Komplikationen schaffen.“ Ihr misstrauischer Blick verfolgte ihn länger, als er auf ihn gelegen war. Sicher kam es ihr seltsam vor, dass ein Pokemon angeschossen wurde, obwohl Ruri ihr zuvor schon versichert hatte, sie würde ihr alles Beizeiten erklären können.
Freudig legten ihm seine Freunde wegen der guten Nachricht eine Hand auf die Schulter, doch eine Frage stand noch offen im Raum. „Und Fukano?“
„Steht unter Beobachtung.“
Erst ließ er die Aussage sacken, dann gestikulierte er wild. „Warum steht man mit einem Rippenbruch unter Beobachtung?“
Überlegend biss sich Joy auf die Lippen und setzte mild an: „Manchmal brechen Rippen …“
„-nach Innen“, vollendete er bestürzt. Er reckte seinen Hals und versuchte in die Zwinger, in denen sich vorwiegend kleinere Pokemon ausruhten, hineinzulugen, musste jedoch feststellen, dass er am Ordinationsraum nicht vorbeisehen konnte. „Nach Innen, in die Lunge“, murmelte er in der Hoffnung, dass Joy ihm doch noch widersprach.
„Mein Team ist kompetent, auch hier sind keine Komplikationen aufgetreten. Dein Fukano schläft in einer Aufwachbox und eine meiner Assistenten ist bei ihm.“ Sie wandte sich an Kazuya. „Wie auch bei Ibitak. Wir empfehlen auch bei schwereren Verletzungen eine Entwicklung, wenn sie möglich ist und da sie in diesem Fall ausführbar ist, würden wir sie befürworten, sobald die Wunde Großteils verheilt ist. Damit können wir Langzeitfolgen ausschließen. Sie bleiben auf der Intensivstation.“ Eigentlich endete sie an dieser Stelle bereits, fügte jedoch rasch hinzu: „Nur zur Sicherheit, ihr versteht.“ Zu gleichen Teilen professionell wie mitfühlend, schien sie zu wissen, wie sie sich die Trainer fühlten. Doch den Schock konnte sie nicht von ihnen nehmen. Intensivstation. Was für ein schreckliches Wort.
„Aber-“, setzte Taiki nochmals an.
„Jungs!“, unterbrach sie schroff. Sie zeigte auf ihren Schreibtisch. „Dort liegt ein Pokeball eines kleinen Mädchens auf meinem Tisch.“ Mit einer klaren Kopfbewegung deutete sie ein blondes, vielleicht achtjähriges Mädchen mit seinen Eltern auf der anderen Seite des Warteraumes an, welches krampfhaft versuchte seine Tränen zurückzuhalten. „Ihr Wiesor hat Verbrennungen eines höheren Grades erlitten. Und die drei weiteren Pokebälle liegen nicht zur Dekoration da. Das Wiesor wird in dieser Nachtschicht noch meiner Obsorge unterliegen, um weitere Fälle kümmert sich mein Kollege. Vorhin noch haben wir einen Jungen zur Beobachtung hereinbekommen, da das nächste Krankenhaus von unserem Standpunkt aus viel zu weit entfernt ist.“
Da anscheinend nichts geschehen war, verbat sich Kazuya ein schlechtes Gewissen.
„Dann hatten wir wieder Beschwerden von Trainern, dass ihre Pokemon nicht behandelt werden, die nicht verstehen, dass Menschenwohl vorgeht. Also bitte Jungs, macht mir nicht auch noch Probleme. Es geht euren Pokemon wirklich gut.“ Ermattet fasste sie sich an die Schläfe und schloss die Augen. Vermutlich stand sie in den Anfängen ihrer Dreißiger und wirkte doch so erschöpft, als sei sie bereits vierzig. „Und ich brauch auch einmal einen Kaffee…“
„Ich bring Ihnen welchen“, erklärte sich Taiki bereit, ließ sich den Weg zum nächstbesten Automaten erklären und kam nach wenigen Minuten mit zwei Bechern in der Hand zurück.
„Danke“, erwiderte Joy kraftlos und empfing den Becher mit ausgestreckten Händen. „Lieb von dir.“
„Gern geschehen – außerdem wollt‘ ich mir selbst auch was Gutes tun.“
„Ganz viel Zucker?“, nuschelte sie.
„In meinem schon.“ Er rang sich zu einem Lächeln durch, als sie ihn ermahnend den Blick von ihrem dampfenden Kaffee hob. „In Ihrem auch. Ich würd niemanden einen Kaffee ohne 'nen Berg Zucker antun.“
„Sehr brav. Und jetzt geht auf euer Zimmer, husch.“ Joy wedelte mit der Hand und trieb sie davon.
Zu gern hätte Kazuya Atmaca mit sich genommen, einfach nur, damit er sein Pokemon in seiner Nähe wissen konnte, auch wenn er sich in seinem Pokeball befand, doch die Schwester – oder Ärztin – ließ nicht mehr mit sich sprechen.
Unwillig ließen sie sich von ihr bevormunden und trotteten die Treppen hinauf. Eigentlich hätte sich jeder jugendliche Trainer über jenes lichtdurchflutete, geräumige Zimmer freuen sollen. Stattdessen warfen sie lieblos ihre Taschen auf ein Bett und Taiki schaltete als Erstes seinen Laptop an. „Ich muss jetzt wirklich meine Eltern anrufen.“
In einigen Schlucken leerte er den Kaffee hinab – als würde das Getränk irgendetwas an der Lage verbessern – und warf den Becher in den Mülleimer.
Ein paar Mausklicks, ein Programm mit einem blauen Symbol und einem weißen ‚S‘ – Kazuya kannte sich dabei nicht so recht aus, Hauptsache er konnte sein Handy, Suchmaschinen und YouTube halbwegs bedienen, oder? „Nimm einfach dein Handy, wenn du deine Eltern anrufen willst“, lag ihm bereits auf der Zunge. Bevor er sich jedoch blamierte, blieb er lieber stumm.
Ein Fenster ging am Monitor auf und wurde schon bald von einem flimmerenden Bild gefüllt. Taiki hängte sich ein Headset um und richtete das Mikrophon aus.
„Tai, mein Schatz!“ Die Stimme seiner Mutter überschlug sich. „Ich hab gerade einen Beitrag gesehen, dass es im Steineichenwald gebrannt hat. Und ich hab dich angerufen, du bist aber nicht rangegangen. Geht es dir gut, ist dir etwas geschehen? Du bist doch nicht etwa heute durch den Steineichenwald gegangen, oder? Du wolltest, aber du bist doch nicht …? Sag mir, dass du dich schon länger in Dukatia aufhältst, ja?“
Auf dem Bildschirm erschien das erst verwackelte Bild einer blonden Frau mittleren Alters, welche ihr Haar zu einem losen Zopf gebunden hatte und sich der Kamera entgegenlehnte. Ihr Gesicht war bereits von einzelnen, kleinen Falten durchzogen, welche verrieten, dass sie ihr Leben bereits zur Hälfte gelebt hatte. Es war ein gutmütiges, schlichtes Gesicht mit warmen, blauen Augen. An ihrem Hals war eine Kette mit einem kleinen, einfachen Kreuz zu erkennen. Sicherlich nicht besonders wertvoll, obwohl sich diese Frau bestimmt prunkvolle Schmuckstücke hätte leisten können. Sie wollte ihren Mitmenschen anscheinend nur zeigen, dass sie gläubig war, es ihnen aber nicht aufdrängen. An ihren Schultern erkannte er die Träger ihres Kleides, welches am Stoff bereits erkennen ließ, dass es wesentlich edler und teurer als die Kette war. Man sah ihr nicht an, dass auch sie ihr Architekturstudium mit Bravur abgeschlossen hatte, doch von zu Hause aus zeichnete - Kazuya hatte sie sich anders vorgestellt.
„Ihr müsst Sinan und Ruri sein.“ Ein wenig abwesend.
„Frau Miyamoto“, erwiderten die Jugendlichen anständig und nickten.
Viel eher waren ihre Gedanken bei ihrem Sohn und ihren Sorgen, so beachtete sie seine Begleiter kaum und widmete sich ausschließlich ihm. Niemand konnte es ihr verübeln.
„Sag mir, dass du schon länger in Dukatia bist!“, befahl sie ihrem Sohn resolut.
„Bin ich aber nicht!“, rief er wie jemand, der endlich ein lang gehütetes Geheimnis aussprechen durfte und sich sogleich erleichtert fühlte – und mit verworrenen Geheimniskrämerein kannte sich Kazuya nur zu gut aus. „Aber du brauchst dir keine Sorgen machen, ich …“
Das Gesicht seiner Mutter – Yuna hieß sie, soweit Kazuya wusste – wurde leichenblass. „Was …?“
„… ich sitz doch hier und skyp‘ gerade mit dir. Also geht’s mir auch gut“, versuchte er sie zu beruhigen. Vergebens.
„Wenn deine Mutter dich sieben Mal anruft, gehst du gefälligst an dein Telefon! Und das beim ersten Mal, von mir aus auch beim zweiten Mal. Allerspätestens beim Zweiten“, erklang eine männliche, bodenständige Stimme – und sie zankte ihn an.
Yunas Blick wandte sich für einen Moment ab und rückte zur Seite an den Bildrand, um ihrem Mann und Sohn Platz zu machen. Sie flüsterte ihm etwas zu.
„Wie bitte?“, fragte sein Vater ungläubig. Sein dunkelbraunes Haar war konventionell, wie für sein Alter angemessen geschnitten. Architekt. Daran erinnerte sich Kazuya als Erstes, als er den Mann erblickte. Eigentlich hätte ihm die Brille und der akkurat kurzgeschnittene Bart ein strenges Erscheinungsbild verleihen müssen, wäre da nicht ein überaus besorgter Ausdruck in seinen Augen gelegen.
Augenblicklich verstand Kazuya weshalb sich Taiki zu Hause so geborgen und tief verankert fühlte. Er musste diese Menschen bloß ansehen, um sich erinnert zu fühlen.
„Erzähl“, sagte sein Bruder freundschaftlich. Er sah ihm unverschämt ähnlich und doch komplett anders aus. Kazuya wusste nicht, woran dies lag. Vielleicht an Kohakus Haar- und Augenfarbe, welche um einige Nuancen heller war, eventuell auch an den blassen, aber trotzdem deutlich sichtbaren, Sommersprossen, jedoch sicherlich nicht an dem funkelnden Augen und an seiner Stimme, welche man in der Eile, wenn man nur mit halben Ohr hinhörte, mit seinem Bruder verwechseln konnte.
Taiki umfasste das Kabel, welches von seinem Headset-Mikrophon wegführte und rollte es verspielt zwischen den Fingern. „Also … bitte regt euch nicht auf, ja? Mir ist nichts passiert.“ Als könnte er es selbst noch nicht glauben, lehnte er sich mit dem Ellbogen auf den Tisch und stützte seine Stirn. „Aber Fukano. Er ist grad in Behandlung. Er hat sich Rippen gebrochen. Und Sinans Ibitak ist auch … verletzt. Ich weiß nicht, wie das entstehen konnte. Ich weiß, dass sich Brände exponentiell ausbreiten. Und dass auch einfache Lagerfeuer oder nur Streichhölzer Brände verursachen. Ich weiß. Aber glauben kann ich’s nicht.“
Erklärte er immer alles so wissenschaftlich, wenn er etwas nicht begreifen konnte?
Die Augen seiner Mutter wurden verständnisvoll tröstend, ein Trost, der ihnen drein galt. Dann schüttelte sie bedächtig den Kopf. „Hauptsache, dir ist nichts geschehen. Oder eben euch. Für uns ist das, das Wichtigste.“
„Aber Fukano!“, protestierte Taiki.
„Fukano ist verletzt?“, hakte Kohaku ungläubig nach.
„Von vorne?“ Taikis Blick suchte den seiner Freunde – bestimmt sah er seine Begleiter schon als Solche an und Kazuya wollte erwidern, irgendetwas Ähnliches war er eben –, um zu erfragen, ob es eine gute Idee wäre zu erzählen.
Während Ruri ratlos mit den Schultern zuckte, bejahte er selbst nickend, schließlich durfte man seinen Eltern nichts verheimlichen. Das tat man einfach nicht. Auch dann nicht, wenn man von Team Rocket und einem Überfall erzählen musste und auch dann nicht, wenn man schweigen wollte, um ihnen Sorgen zu ersparen.
Also erzählte Taiki langsam und wählte jedes Wort mit Vorsicht und Bedacht. An der Stelle mit der Pistole angelangt – Kazuya hörte weg und fixierte das Gesicht der Mutter –, wie ruhig er seine Stimme auch zu halten versuchte, schlug Yuna die Hände vor ihrem Mund zusammen und gab einen erstickten Laut von sich. „Mein armer Tai.“ Ihre Brust hob und senkte sich unter rasselnden Atemzügen, dann griff sie sich auf die Stelle ihres Herzens. Sämtliche Bemitleidungen bedachten ihren Sohn und zu Kazuyas Überraschung auch ihn und Ruri. Eigentlich hätten ihn solche Bekundungen innerlich mit den Augen rollen lassen, stattdessen überlegte er, wie er Yuna trösten konnte. Wenn die Freunde ihres Sohns nicht anwesend gewesen wären, mit Sicherheit hätte sie geweint. Das wusste Kazuya.
„Mum, mir ist nichts passiert“, sagte Taiki beruhigend.
„Ich hab euch, nicht nur dir, auch Ayu und Kohaku, doch gesagt, dass so eine Reise gefährlich ist.“ Um ihn nicht direkt ihrer Empörung auszusetzen, sah sie zur Seite. Vielleicht war ihr auch nur bewusst geworden, in welche Widersprüche sie sich verstrickte. Eine einstige, wenn auch nicht sehr erfolgreiche, Trainerin tadelte, dass eine Reise Gefahren barg?
„Ihr hattet verdammt großes Glück“, stellte Kohaku fest. „Wenigstens habt ihr denen gezeigt, was eine Harke ist!“
Sein Vater legte Yuna eine Hand auf die Wange. „Was euch wiederfahren ist, ist nicht schön. Aber wart ihr denn schon bei der Polizei? Ihr braucht diese Gerechtigkeit und dürft nicht zulassen, dass Team Rocket jede ihrer Taten ungestraft ausüben darf.“
„Sicher, dass du nicht auch ein guter Anwalt wärst?“, neckte Taiki.
Ruri schüttelte den Kopf. „Wir wollten nur ins Center, weil …“
„…weil mein Ibitak angeschossen ist und wegen Fukano.“ Kazuya biss die Zähne aufeinander und dachte angewidert an Atmacas Blut an seinen Händen zurück.
„Morgen oder übermorgen, wenn der Schock überwunden ist, müsst ihr eine Zeugenaussage bei der Polizei abgeben. Versprecht mir das.“
Zuerst zuckte Taiki unsicher mit den Schultern, doch da sein Vater drängte, rang er sich zu einem Versprechen hindurch. Die geschicktesten Lügennetze spann sich Kazuya bereits aus. Er würde auch seine Freunde dazu bringen, zu erzählen, dass Team Rocket das Feuer gelegt hätte. Team Rocket konnte man für alles die Schuld in die Schuhe schieben, daher fand er auch keine Lücke in seiner Ausflucht.
„Wie schlimm ist es?“, wandte sich Yuna an ihren Sohn und Kazuya.
„Fukano hat, glaub ich schon, Schmerzen. Ich hätt‘ ihn gerne bei mir. Morgen darf ich ihn wieder abholen und dann muss ich ihn bald entwickeln.“
„Ibitak hat nicht zu viel Blut verloren, ich hab ihn gleich zurückgeholt und er wird in einem Monat oder zwei etwa wieder anfangen dürfen zu fliegen. Also … laut Ärztin.“
Yuna umfasste den Anhänger ihrer Kette und schloss die Augen. Vielleicht betete sie gedanklich oder dankte den Göttern. „Die guten Nachrichten überwiegen zum Glück den Schlechten. Ich war noch nie so froh wie heute, dass du so starke Pokemon wie Kabutops und Armaldo an deiner Seite hast.“ Etwas an ihrer Art vertrieb einen Teil der drückenden Stimmung.
„Erzählt mal Ayu nichts davon. Sie macht sich im Moment sicher keine Sorgen, weil sie nicht weiß, dass ich jetzt schon nach Dukatia wollte.“
Kazuya stellte fest, wie sehr es ihm gefiel, dass Taiki an seine dreizehnjährige Schwester dachte.
„Und sie kommt erst in ein paar Tagen.“
„Woher weißt du das denn?“
„Facebook!“, antworteten die Brüder beinahe synchron und tauschten schelmische Blicke aus, die sie wohl nur untereinander verstanden.
„Ich werd mich dann wohl auf die Ohren hauen.“ Er nahm das Headset und war schon im Inbegriff es zur Seite zu legen.
„Schlaft gut und macht euch nicht so große Gedanken, ja?“ Nach einigen, lieben Worten wurde der Bildschirm schwarz.
Doch anstatt zu schlafen, saßen sie den gesamten Abend auf einem Bett gedrängt – da hätten Erinnerungen an den gemeinsamen Filmabend aufkommen können, wenn die Situation nicht so bedrückend gewesen wäre –, sprachen wenig miteinander, sondern starrten in die klare Nachtluft und umklammerten die Bettdecke.
Híme saß wie eine Sphinx auf dem Teppich, spitzte die Ohren und fixierte die Türe. Hätte man sie nicht atmen sehen, hätte man sie tatsächlich mit einer Statue verwechseln können. Alles in ihr war darauf getrimmt, ihren Kazuya zu beschützen.
Niemand dachte daran seine Augen zu schließen, als könne Team Rocket jeden Moment das Zimmer stürmen und ihnen die Kehle aufschlitzen, sie erschießen, ein gefährliches Pokemon an den Hals hetzen. Als könne durch die geöffneten Fenster aus dem Nichts eine Feuerwalze hereinbrechen und sie ersticken oder verbrennen. Ihr aller Verstand gab diese Ängste der Lächerlichkeit preis und doch existierte eine versteckte Ecke in ihrem Geist, die noch immer in Panik verfallen war. Was sie am Nachmittag verdrängt hatten, kam nun hoch. Ein Fluchtinstinkt, der den Beinen, egal wie erschöpft sie waren und wie sehr sie schmerzten, befehlen wollte weiterzulaufen. Ein unangenehmes Kribbeln lag in ihnen. Alles an ihnen war unnatürlich rastlos und quirlig. Da er sich zur Ruhe zwingen wollte, spannte jeder seiner widerspenstigen Muskeln.
Taiki, seine Hände zitterten noch leicht, lehnte sich in seiner halb sitzenden, halb liegenden Position zu Kazuya hinab, welcher es seinem Snobilikat gleichtat und jeden seiner Sinne ungewollt alarmbereit hielt. Kazuyas Muskeln jedoch entspannten sich, er streckte sich und atmete die frische Nachtluft ein. Als würde auch der primitive Fluchtinstinkt, welcher sich den gesamten Tag über gemeldet hatte, nun wissen, was sein Verstand schon längst wusste. Im Moment waren sie in Sicherheit und gewiss würde es auch so bleiben. Atmaca war gut bei Schwester Joy aufgehoben, Fukano ebenfalls – und wer überfiel ein Pokemoncenter?
Da drückte er aus einem Impuls heraus Ruris Hand – vermutlich um ihr jenes ‚Wissen‘, zu dem sein Unterbewusstsein gelangt war, auch mitzuteilen –, die ihn schwach anlächelte.
„Ich muss nach Fukano sehen“, sagte Taiki schließlich mit einem seltsam belegten Ton in seiner Stimme und richtete sich ein wenig steif auf. „Sonst mach ich die ganze Nacht kein Auge zu.“
„Es ist elf, Joy wird damit keine Freude haben“, erwiderte Ruri.
„Das kann ich verstehen.“ Kurz sah sich Taiki in den Spiegel und schien sich zu fragen, ob man in einer Jogginghose, allerdings einer solchen, die in ihrer Qualität viel besser, einfach teurer, erschien als andere, unten auftauchen könnte. „Aber ich muss!“
Kazuya konnte es ihm nachfühlen. Zu gerne wäre er bei Ibitak geblieben, doch es hieß, dass sein Pokemon wohl noch einige Tage auf der Intensivstation bleiben würde. Intensivstation. Der Gedanke, dieses einzelne, schreckliche Wort, geisterte schon eine Stunde durch seine Gedanken.
„Gute Nacht, wenn ihr dann nicht mehr wach seid. Soll ich auch nach Atmaca schauen?“ Ob sie wollten oder nicht, wurden sie von Taiki kurz gedrückt. Kazuya ertappte sich, wie er für den Moment die Arme um seinen Körper genoss. „Wenn du kannst.“
„In Ordnung, mach ich.“ Für einen Moment schloss Taiki betrübt die Augen, dann nahm er den Schlüssel zu ihrem Zimmer und trat auf den Gang.
„Ich geh in mein Bett rüber.“ Seine Löwin sprang auf sein Bett und rollte sich neben ihm zusammen, sowie es Flamara ihr gleichtat.
„Ich hab Tai noch nie so niedergeschlagen gesehen. Natürlich kenn‘ ich ihn noch nicht lang, aber trotzdem“, stellte Ruri gepresst fest. „Er ist immer so glücklich, so … lebensfroh?“
„Wundert’s?“
Ruri sah ihn an, als wolle sie eine Feststellung treffen. Schließlich seufzte sie nur, stand auf und nahm die Fernbedienung. „Wir sollten uns ein bisschen ablenken, was?“
„Ein flächendeckender Brand breitete sich über den Steineichenwald aus. Menschen blieben verschont, bloß zwei harmlose Fälle von einer Rauchgasvergiftung sind bekannt, doch wie viele der hiesigen Pokemon in Mitleidenschaft gezogen, darüber wird noch spekuliert. Löschflugzeuge und auf den Ernstfall trainierte, sogenannte ‚Wasserspeier‘ befinden sich am Einsatzort.“
Der Fernseher zeigte die noch immer züngelnden Flammen, welche sich an den Bäumen entlangschlängelten. Löschflugzeuge tauchten am grauen Himmel auf – der Fernseher schien zu flimmern, dabei zeigte er nur den Flammen herabprasselnden Regen –, gefolgt von einem Schwarm Swaroness und Pelipper.
„Ja, gut gemacht. Tolle Ablenkung“, murrte Sinan und klatschte spöttisch.
„Kann ich denn Hellsehen? Ich weiß ja nicht, was kommt.“
Dann schwenkte die Kamera zu einem Mann mittleren Alters, dem ein Mikrophon untergehalten wurde. Hinter ihm richtete eine Gruppe Turtok ihre Kanonen auf den rebellischen, letzten Brandherd und deckten ihn mit Wasserstrählen ein. Neben ihnen befanden sich Feuerwehrmänner und befehligten ihre Pokemon.
„Wie konnte es dazu kommen!?“ Die Journalisten im Hosenanzug und dem streng zurückgebundenen Haar war Ruri etwas zu professionell, beinahe kalt.
„Wir gehen zurzeit von Brandstiftung, gegebenfalls einem Unfall …“
Ruri schaltete den Fernseher aus und die neugewonnene Stille zwang sie, sich mit dem Bericht zu beschäftigen. Die Nachrichten schienen sie bis in den Schlaf hinein zu verfolgen, niemand von ihnen kam zur Ruhe. Nein, sie wühlten das, was an Erinnerungen eben einige Stunden alt war, immer wieder auf. Wie schlimm musste es erst für Taiki sein, der sicherlich vom Leben nicht so sehr abgehärtet wurde wie seine beiden Begleiter? Momentan befand er sich noch im Behandlungsraum bei Fukano. Verständlich, doch ansonsten schotteten sich die Jugendlichen lieber von der Außenwelt ab und hofften, dass die reißerischen Meldungen bald ihr Ende finden würden. Die Blicke im Warteraum hatten ja bereits genügt. Wenn sie Sinan betrachtete, fühlte sie sich an all das Erlebte erinnert – und das Letzte, das sie benötigten, war die analytische und gespielt mitleidige Stimme der Nachrichtensprecherin. Dabei hätte die steife Tussi an ihrem Nachrichtenpult sein sollen, dann wüsste sie die Wahrheit! Von Team Rocket mit der Pistole hätte sie bedroht werden und anschließend wie ein gehetztes Tier laufen sollen, immer weiter laufen … und Ruri hatte den Commandanten gekannt. Zwar hatte sie ihn nie näher kennengelernt, doch die damals aufgefassten Gesprächsfetzen genügten, um sie für diesen Umstand dankbar sein zu lassen.
„So Reporter haben keine Ahnung“, wandte sie sich um. „Also wir wissen, wie’s abgelaufen ist.“
Sinan verzog das Gesicht. „Ja, wir hatten ‘ne Live-Show.“
„Manche Shows sind echt scheiße, die gehören abgesetzt.“
Damit entlockte sie ihm sogar ein kurzes Lachen. „Leben zum Beispiel.“ Híme spitzte die Ohren, kräuselte die Nase und entließ ein wütendes Fauchen. Wahrscheinlich war es gut, wie es war, wenn die Löwin ihm so manches verbot.
Ruri zuckte für einen Augenblick zusammen. Natürlich, dass es ein bitteres, fast hilfloses, Lachen war, hätte sie selbst ahnen können. Sie hatte ihn nur aufbauen und eine dementsprechende Reaktion sehen wollen. „Du denkst doch nicht etwa an…“ Ohne diesen Satz zu vollenden, lief ihr bereits ein kalter Schauer hinab.
„Nein“, erwiderte er fest und sicher, sodass jede Sorge um ihn von ihr abfiel. Snobilikat hob den Kopf und schleckte ihn mit ihrer großen Löwenzunge zufrieden über den Handrücken.
Sinan sah überlegend in die Ferne und hielt auf seinem Schoß Koko, welcher es ihm gleichtat.
„Hör einfach nicht hin, diese Berichte kannst du doch alle vergessen.“ Sie setzte sich neben ihn. „Und denk nicht dran, die haben wirklich alle keine Ahnung.“
„Eh nicht, die können mich doch alle mal“, erwiderte er, dann richtete er sich an sein Flamara, welcher die Ohren anlegte und ebenfalls leicht apathisch wirkte. „Du hörst auch nicht, Koko!“ Bei ihm klangen manchmal auch gut gemeinte Worte wie ein Kommando. Dieses Mal sollte es vermutlich eines darstellen. Sinan verbot seinem Pokemon von einem schlechten Gewissen geplagt zu werden – und wahrscheinlich auch sich selbst.
„Ibitak geht es ja schon besser“, versuchte sie ein mehr schlecht als recht geführtes Gespräch.
„Besser ist nicht gut.“
„Bald wird es das aber wieder sein. Du hast Joy auch gehört.“
„Hör auf mit der Scheiße! Es geht auch um andere Dinge.“
Weshalb ließ er sich an ihr aus? Die Nachrichten über „Brandstiftung“, leichte Fälle von Rauchgasvergiftung, in Mitleid gezogene Pokemon und schließlich das Bild ihres Ariados, welches den Kommandanten biss … glaubte er, das genügte ihr nicht? Sie saßen im selben Boot. „Ich kann ja wohl nichts ’für!“
Sinan sah sie fest an, dann senkte sich seine Stimme. „Weiß ich nicht.“
Fassungslos riss sie die Augen auf. Sie hatte schon einmal einen Freund verloren, ebenfalls ihren damals besten Freund. Glen, er war ihr wie ein Bruder gewesen und als sie von zu Hause ausgerissen war, war er nicht mit ihr gekommen und nun wollte sie sich selbst beweisen, dass sie dazugelernt hatte, dass man um eine Freundschaft wie diese kämpfen musste. „Willst du sagen, ich hab dich verraten?“ Sie biss die Zähne aufeinander und hoffte auf die richtige Antwort. Darauf, dass er ihr vertraute.
„Das ist vorbei“, sagte er ruhig. „Aber ich glaub, dass du was weißt. Irgendwas. Was du nicht sollst. Vielleicht hast du irgendwas gehört oder so…“
Energisch und zugleich erleichtert, dass er sie nicht beschuldigte, schüttelte sie den Kopf. Vor allem, da sie seine Vermutung nicht wahrhaben wollte. „Sicher nicht.“
Da sah sie sich wieder, frisch in die schwarze Uniform eingekleidet, welche sie in der Öffentlichkeit momentan meist nicht trugen. Innerhalb des Stützpunktes sollte sie die Zusammengehörigkeit steigern. Sie hatte den Stützpunkt betreten, normale Räume vorgefunden und die Jugendlichen, welche zu den Tischen saßen, starrten sich betreten an, waren wohl auch Rekruten. Obwohl etwas in Ruri schon zu dieser Zeit geschrien hatte, sich schnellstmöglichst aus dem Schlamassel herauszuholen, in das sie sich hineingeritten hatte, fand etwas in ihr Gefallen daran. Der Reiz des Verbotenen – außerdem bekam man hier immer warme Mahlzeiten, ein Dach über den Kopf und so konnte sie ihr eigenes Leben beginnen, ja, mit beinahe dreizehn Jahren schon. Wenn man sich als nützlich und fleißig erwies, so würde man irgendwann sein eigenes Pokemon erhalten, manche sogar schon nach einem halben Jahr. Team Rocket war ihr wie eine Organisation Kleinkrimineller erschienen, welche ein Herz für obdachlose Jugendliche übrig hatte. Die Berichte der Spießer da draußen waren entweder übertrieben oder gefaked! Mit noch-zwölf und fast-dreizehn Jahren hatte sie nicht erkannt, wie naiv sie dachte und handelte und sie hatte geglaubt, sie müsse bloß rasch dazulernen – Kampfsport beherrschte sie ja bereits –, ihre moralischen Bedenken überwinden, um zu stehlen und dem Commandanten gehorchen. In ihrer Vorstellung führte man so ein gutes Leben bei Team Rocket, ein solches, in dem man bald sein erstes Pokemon erhielt.
„Aber du hast den einen Typen gekannt“, protestierte ihr Freund. „Ich sag ja nicht, dass du etwas absichtlich getan hast. Ich will dir nichts anhängen. Du checkst das nicht!“
„Keine Seitenhiebe mehr und so“, versicherte sie sich, obwohl sie bereits ein Gefühl der inneren Ruhe überkam, das so grotesk zu den letzten Stunden stand. „Sicher? Ganz?“
„Ganz.“
Da waren sie also an einen Punkt angelangt, an dem sie ihn mit Bestimmtheit als ihren besten Freund betiteln konnte und sie glaubte, dies würde nie wieder vergehen.
„Also? Hast du den Kerl gekannt?“, umging er geschickt.
„Ja.“ Wie sollte sie bestimmte Ereignisse erzählen, ohne es in einer Hasstriade seinerseits über Team Rocket enden zu lassen? „Selbst wenn man ganz neu kommt … also, jedes Mitglied kennt die hohen Tieren, also wenigstens vom Sehen. Die Vorstände, manche auch den Boss und den Sohn. Aber der Commandant hat mich nicht erkannt.“
„Du weißt das?“, fragte er nur trocken.
„Schon.“ Sie war drei Tage in dieser Basis gewesen und hatte es als furchteinflößend empfunden, jemanden entgegenzutreten, der eine andere Uniform als sie trug. Und damit höhergestellt war. Deswegen würde sie dieses Gesicht wohl nicht so schnell vergessen – doch die Vorstände vergaßen die Gesichter der Jugendlichen. Eventuell. Mit Bestimmtheit konnte sie dies nicht behaupten, aber sie wollte Sinan in Sicherheit wiegen. Zumindest war ihr nicht bewusst, dass sie geheime Pläne zu Ohr bekommen hätte. Solche besprach man doch nicht in der Nähe von Rekruten und selbst wenn … warum hatten sie Ruri nicht schon früher aufgespürt, als sie noch alleine und ohne ihre Pokemon gewesen war?
„Ich hatte da noch meine Naturhaarfarbe. So ein langweiliges Dunkelblond-Hellbraun.“
„Hm.“ Mehr kam also nicht? Doch sie spürte, dass ihm so vieles auf der Zunge lag, das gesagt werden wollte.
„Glaubst du, das kommt nochmal vor?“, fragte sie ihn, um seine Sicht der Dinge zu hören. Eigentlich wollte sie nie wieder mit Team Rocket etwas zu tun haben.
„Ich weiß nicht.“
„Ich auch nicht, ich hoffe nicht.“ Ruri faltete die Hände in ihrem Schoß und starrte diese an.
„Geht mir nicht anders.“
„Glaubst du…“ Abermals spürte sie die unbändige Furcht in sich hochkriechen und im Nachhinein wusste sie nicht, wie sie es geschafft hatte, die Pistole in die Hand zu nehmen und einen Menschen zu bedrohen. Obwohl es ihr egal – oder sie glücklich, er war ein schlechter Mensch gewesen! – sein sollte, dass Ariados den Vorstand gebissen hatte, wollte sie kein Menschenleben auf dem Gewissen haben. Also redete sie auf sich ein, dass er es geschafft hätte. Er war ja schließlich nicht wehrlos und auch Zufälle sollten geschehen. „…der Mann ist tot? Den Ariados gebissen hat.“ Vielleicht sollte sie sogar stolz sein? Sie hatte Sinan, Taiki und sich beschützt.
Sinan sah sie nur ratlos an, dann antwortete er behutsam. „Wir haben uns gewehrt, Ruri. Außerdem, hey, er war ein TR-Commandant. Mir tut er nicht leid.“
Abermals Schweigen. So einfach wie er sich das vorstellte, konnte sie den Gedanken nicht verdrängen. Eventuell war er auch nur zu sehr mit seinen eigenen Dämonen beschäftigt und trotzdem versuchte er, sich um sie zu kümmern. Sieh an! Der kleine Egoist zeigte Mitgefühl und wollte sie aufbauen. Die liebevolle Stichelei behielt sie heute bei sich. Ob er nun wollte oder nicht, beugte sie sich vor und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. „Ich hab dich lieb.“ Genauso wie ihre Geste freundschaftlich-schwesterlich gewesen war, legte er ihr brüderlich einen Arm um die Schulter. Er erwiderte nicht, würd es auch nie, weil es nicht seiner Art entsprach. Sie wollte ihn auch nicht anders.
Etwas ungeschickt setzte er erneut an. „Wenn’s dir lieber wär‘ abzukratzen, hätte Ariados ihn auch nicht beißen brauchen.“
„Ich versteh‘ ja schon“, murmelte sie. „Ich weiß was. Wir lenken uns ab. Gehen wir Basketball spielen oder zum Wuzzler. Oder zocken. Oder fernsehen. Irgendwas.“
„Was?“ Ablehnend, vielleicht auch ein wenig überheblich, zog er die Augenbrauen hoch. „Wie kannst du jetzt an Basketballspielen oder zocken denken?“ Wütend, von der einen auf die andere Sekunde kippte seine Stimmung, hob er die Hände zu einer Geste, die ihr bedeutete, dass sie bloß nicht mehr auf ihren Vorschlag bestehen sollte.
„Zum Ablenken!“, verteidigte sie sich. „Oder reden wir über etwas. Smalltalk. Machen wir es einfach.“
Zweifelnd sah er sie an, dann murrte er etwas Unverständlich. „Dann fang an. Reden ist okay.“
„Erzähl mir etwas über dich. Hattest du zum Beispiel mal eine Clique? Du weißt schon … so ein Zusammenschluss von paar Straßenkindern- und Jugendlichen, die alle Scheiße erlebt haben?“, platzte es aus ihr nach einiger Zeit heraus. Der Gedanke war ihr in den Sinn gekommen und alles war besser, als zu schlafen. Auch Sinan schien dies zu wissen. Sie würden ja doch nur von Alpträumen gebeutelt werden und der Schlaf stellte beinahe denselben Schrecken wie das Feuer dar.
Zuerst hatte sie ihn über Taiki ausquetschen wollen, dann ließ sie es sein. Das schaffte sicher keine lockere Atmosphäre. Wie sollte sie Sinan klarwerden lassen, dass er bestimmt ein netter, sympathischer, junger Mann war, das, was möglicherweise zwischen ihnen entstand, jedoch niemals halten könnte. Ruri hatte die Erfahrung gemacht, dass es unmöglich war arm zu sein, wie in seinem Fall sogar ein Straßenjunge, und jemanden zum Freund zu haben, der mit den teuersten Markenklamotten und positiveren Lebenserfahrung durch die Welt schritt, die sich von seinen gänzlich unterschieden. Zumindest von dem, was er erzählt hatte. Liebe Eltern, Geschwister, einen Haufen Freunde, ein Haus, Garten, Pool, ein Schiff, studierte auf einer Privatuni und war oft anwesend bei Geschäftsessen und Kongressen seines Vaters. Nichts davon hatte wie eine saubere Fassade gewirkt, die verbergen sollte, wie kaputt und bröselig seine Familie dahinter war. Ruri hätte so etwas erkannt, da sie eine solche gerne aufgebaut hatte. Und deswegen schwieg sie sich aus, wollte auch nicht erwähnen, wie ihre einstigen Freunde und sie ihn zu ihrer Schulzeit bezeichnet hätten. „Gestopftes Bonzenkind“ hätte Sinan als Bezeichnung für Taiki nicht gefallen.
Und sie dachte an alles Mögliche, nur um nicht an den gebissenen Mann und Ariados denken zu müssen?
Ruri erwartete eine Antwort und bekam längere Zeit keine. Verstohlen wanderte Sinans Blick zur halbgeöffneten Türe, als befürchte er, dass jederzeit Taiki hereinkommen und ihr Gespräch mit anhören konnte. „Mach sie zu.“
„Mach sie selber zu“, empörte sich Ruri, da zeigte er nur auf Flamara, welcher auf seinem Schoß saß. Als müsse sie Verständnis dafür haben, dass sie ihn wegen eines Katers auf seinem Schoß bedienen müsste. Männer! Unwirsch beugte sie sich hinab und griff nach einem von Sinans schwarzen, schönen Turnschuhen – nicht zu lässig, nicht elegant, einfach nur normal und siehe da: neu – und warf ihn Richtung Tür. Mit einem Knall fiel diese ins Schloss. „Zu!“, triumphierte sie.
Jener schnaubte. „Willst du, dass wer reinkommt und sich aufregt? Joy oder so? Ich wollte …“
„Du wolltest, dass ich die Türe zumach.“ Mit einem selbstgefälligen Blick lehnte sie sich an die Wand hinter ihr.
„Damit keiner zuhört!“
Ihre eigene Überraschung über ihre Zickigkeit ergriff sie. Jetzt verstand sie ihren Freund. Sie atmete tief ein und versuchte die Anspannung allmählich von ihr abfallen zu lassen. „Jetzt hört keiner zu. Wir wollten normal miteinander reden. Ich hab dich was gefragt.“
„Wie kommst man überhaupt auf so’ne Frage?“
„Sowas ist mir wichtig, dass ich weiß, was früher bei dir alles so war.“ Überlegend sah sie ihn an. „Versteht man das?“
„Ja, irgendwie schon. Hatt‘ ich auch. Eine normale Clique eben. Oder zwei“, setzte er friedfertiger an, vermutlich hoffte er, dass er auf diese Art ein vernünftiges Gespräch weiterführen konnte und Ruri wollte diesem eine Chance geben. „Die Ersten haben mich auf voller Linie ausgenutzt, ich musste weg von denen. Später bin ich zur Zweiten. Da hab ich mich eigentlich freiwillig ausnutzen lassen. Eigentlich hab ich gedacht, wenn ich für sie da wär‘, wären sie auch für mich da, aber nichts!“
Die Grenzen zwischen Egoismus und Selbstlosigkeit waren anscheinend sehr verschwommen. Zählte mehr, dass Sinan für die anderen da war oder dass er sich einen Vorteil erhoffte? „Und? Würdest du mir helfen, auch wenn du nichts dafür kriegst?“, neckte sie ihn.
Wenigstens überlegte er nicht lange. „Ja.“
„Und irgendeinen Typen, den du nicht kennst?“
„Bist du wo angerannt?“ Er bedachte sie mit einem Blick, als wollte er ihr mitteilen, dass sie den Verstand verloren hatte und fing sich einen spaßenden Hieb in die Seite ein. „Wo angerannt? Sehr charmant!“
„Warte, warte. Wenn er fesch ist?“
Ruri verdrehte die Augen und enthielt sich jeder Antwort.
Dafür lächelte er nur wissend. „Was ist jetzt? Weiter im Text oder nicht?“
„Weiter im Text“, bestätigte sie.
„Ich hab einen Pokeball bekommen und die wollten nicht, dass ich gehe. Der Eine, Takeru, hat mir noch nachgerufen, dass ich ein Verräter bin.“
„Wo war das?“
„Anemonia. Da war ich ein paar Jahre lang, gleich nachdem ich von meinen Verwandten abgehauen bin. Zuerst war ich auf der Straße und dann hat mich eine alte Frau aufgegabelt. Ich hab ein Jahr bei ihr gewohnt … und dann ist sie gestorben. Sie hieß Cho und hatte einen Blumenladen.“
Mitgerissen von der Sanftmut in seiner Stimme, die nun wirklich nicht oft zu hören war, rückte sie an ihn, sodass sie Schulter an Schulter saßen. „Warum bist du weggelaufen?“
„Und warum fragst du immer mich aus! Erzähl doch selbst was.“
„Eine Information nur gegen eine Andere, wie?“ Ruri biss sich auf die Lippen, denn im Grunde genommen hatte er ja Recht. Genauso wie er nicht gerne über all den Mist sprach, tat sie dies auch nicht – und die schönen Erlebnisse, die man zu erzählen hatte, schmerzten sogar noch mehr. „Wo soll ich anfangen?“
Sinans Hand vollführte eine wegwerfende Bewegung. „Von vorne. Da fängt man an.“
„Gut …“