Leben und lernen - Die Celebi-High

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  • Part 6: Petri Fungus, Ray!



    Federnden Schrittes und mit der brennenden Sonne im Genick bewegte sich Ray Valentine voran – den Kopf voller Flausen, eine muntere Weise aus seinem unerschöpflichen Vorrat an Videospielmusik auf den Lippen. Zuvor war er einer der ersten gewesen, die aus der Aula der Gondelstation ins Freie getürmt waren. Die Aussichten, zu welchen turbulenten Abenteuern ihn die abwechslungsreichen Landschaften führen würden, wirkten in seiner kindlichen Vorstellungskraft schier unbegrenzt. Umso beflügelter setzte Ray unbeschwert einen Fuß vor den nächsten, sein Pfeifton wurde noch fröhlicher. So viele Möglichkeiten boten sich ihm, so viele Freundschaften könnten geschlossen werden, so vielen Gefahren hinter den vielen kräftigen Baumstämmen oder unscheinbaren Gebüschen lauern.
    Fast schon enttäuscht schaute Ray über die Schulter, wo er soeben einen dornigen Hagebuttenstrauch ereignislos passiert hatte. Was er erwartete? Selbst Auge in Auge mit einem zähnefletschenden Blumenkohlmonster mit Knoblauchgeruch vom Planeten der Hausaufgaben klang in der blühenden Phantasie des Raikous nach dem größten Spaß seines Lebens. Fast fühlte sich Ray in die Abenteuer seines Lieblingscomic-Helden hineinversetzt. Wer kannte ihn nicht - Bakmi, das kleine Pokémon? Der kleine Vollwaise - seit seinem ersten Atemzug auf sich alleine gestellt - in einer Welt voller Gefahren und Abenteuer. Die aufregende Reise von Bakmi und seinen Freunden über Berge, Täler und Ozeane sollten ihn jedoch in seine ihm unvertraute Heimat führen, Rays Weg hingegen zu einem neuen Gefährten und gleichzeitig Spielkameraden für Sheinux.
    „Stark! Stark! Stark! Ray Valentine voll in seinem Element. Jetzt fehlen nur noch die kleinen Pokémon. Wo seid ihr? Huhu, kommt raus. Hat jemand eines gesehen? Hier muss es doch nur so von ihnen wimmeln ... Ist ja nicht so, dass man hier bei all dem Grün nicht leben könnte. Oder spielen die hier Verstecken – Räuber und Gendarm vielleicht? Nun kommt schon ...! Kann mir mal jemand sagen, wo ich hin muss? Und warum red ich wieder nur mit mir selbst, kann mir das mal jemand sagen ...?“
    Einsamkeit – ein von Ray verhasster Umstand. Niemand da, mit dem er reden konnte, kein Spaß, keine Stimmung. Warum aber sollte man ihm auch dieses Dilemma aufzwingen, wenn es doch Mittel und Wege gab, dem entgegenzuwirken?
    Sheinux nahm immer schärfere Konturen an, bis er sich gänzlich auf dem grasbewachsenen Untergrund materialisiert hatte. Er streckte sich lang, gähnte der bereits fast im Zenit stehenden Sonne keck entgegen, bevor er sich Ray zuwandte. Beide lächelten einander an.
    „Fit?“ Sheinux beantwortete die Frage seines Freundes durch das mehr als lässige Kratzen seines rechten Ohrs mit einer Hinterpfote. Ray befand diese ganz und gar niedlich anzusehende Geste mehr als deutlich und setzte sich in Bewegung – Sheinux schloss sich ihm an und trottete getreu an seiner Seite.


    Viele Wege hatten sich Ray bei seinem Aufbruch ins Unbekannte erschlossen. Warum er gerade diesen dazu auserkoren hatte, sein Ziel zu sein, konnte er auch bei tiefgründiger Überlegung nicht beantworten. Norden, Süden, Westen, Osten – alle Himmelsrichtungen waren ihm aus seinem Blickwinkel der Dinge gleich vorgekommen. Manch eine brave Seele hätte sein rasches Handeln sicherlich als überstürzt, hitzköpfig, vielleicht sogar ungestüm bezeichnet, wenn er nicht von dutzenden seiner Mitschüler, die ebenso wie er gehandelt hatten, begleitet worden wäre.
    Der lange Aufstieg zu der Hochebene hinauf war gemeistert, die vielen Quittenbäume lichteten sich mehr und mehr. Ihrer ersetzten vereinzelte Haine aus Bambus. War einem die Luft noch nicht dünn genug, konnte man den Aufstieg des Bergrückens gen Westen oder Osten fortsetzen. Beiden Wanderern schwebte nach dieser schweißtreibenden Angelegenheit jedoch etwas anderes vor und setzen daher ihren Weg unbeirrt nach Norden, eine Senke hinab, fort.
    „Nux-Nux?“
    Zu Beginn des Schuljahrs hätte Ray die Frage seines Freundes sicherlich mit einem ratlosen Schulterzucken und gequälten Lächeln beantwortet. Das Band ihrer Freundschaft reichte in der Zwischenzeit aber bereits so tief, dass die gröbsten sprachlichen Barrieren längst überwunden waren.
    „Sonja? Öhm ...“ Ray blickte über die Schulter. Dass aber seine Klassenkameradin mitsamt Gepäck und vorwurfsvollem Blick - bezüglich Rays unkameradschaftlichen Verhalten ihr gegenüber - plötzlich hinter ihm aus dem Nichts auftauchen würde, erwartete er natürlich nicht. Insgeheim musste er sich sogar zugestehen, dass er sie in seinem Übereifer völlig vergessen hatte.
    „Keine Ahnung – irgendwo dahinten, denke ich ...“ Ray nickte in die entgegengesetzte Laufrichtung. „Sie kommt schon klar.“ Trotz seiner Worte war ihm plötzlich aber sehr unangenehm in der Magengegend zumute, jetzt da er derart in flagranti ertappt worden war. Zwar gab Sheinux seinem Partner mit einem ungenierten Lachen zu verstehen, dass er in Rays Situation wohl nicht anders gehandelt hätte, dennoch aber plagten Ray herbe Schuld- und Gewissensbisse. Doch was half es? Umkehren konnte er schlecht. Sonja konnte überall sein ...
    Schönreden wollte Sheinux das Verhalten seines Kameraden wohl nicht, doch verstand das kleine Pokémon es gut, Ray in ein Gespräch zu vertiefen und ihn somit von der Frage nach Sonjas Verbleib abzulenken.
    „Sh-Ei, brurrw ruww Ein-Ru Shnux?“
    „Er war direkt hinter mir, hab’ ihn dann aber aus den Augen verloren. Aber du kennst ja Eagle: Er hätte den Teufel getan, zu zweit loszuziehen. Ha! Wenn es nach dem ginge, hätte er noch immer seine Einzelzelle. Ich glaube allerdings, Skip ist etwas zu hartnäckig für den Guten. Er war dem Vogel dicht auf den Fersen, als ich die beiden zum letzten Mal gesehen habe. Bei Eagles kurzer Zündschnur würde es mich aber stark wundern, wenn wir von ihm so schnell nichts mehr hören würden. Ich kann die Lunte fast schon riechen. Irgendetwas liegt in der Luft ...“
    Vor Ray und Sheinux krümmte sich die Hochebene zu einer kleinen Kuppel - es ging ein kurzes Stück wieder aufwärts, bevor bereits wieder ein kleines Gefälle einsetzte. Ein einladender Windhauch erfasste die zwei, strich durch Haar und Fell und spendete eine angenehme Kühle. Die letzten beiden Quittenbäume, die sich verbittert gegen die Übermacht der immer zahlreicher werdenden Bambus-Haine auflehnten, wurden ereignislos passiert. Ray blieb dem Trampelpfad, der ihn bislang sicher geleitet hatte, treu und schlug einen Weg immer weiter Richtung Westen ein. Wiederholt ertappte er sich dabei, wie seine Hand nervös in die Hosentasche fuhr, wo er das aufgewärmte Metall des komprimierten Pokéballs spürte. Seine schwindenden Nerven gaben Ray deutlich zu verstehen, dass der Einsatz des Pokéballs längst überfällig war. Die Chance dazu erübrigte sich allerdings offenbar, wollten ihm seine Augen keinen bösen Streich spielen.
    „Was zum ...? Bin ich im falschen Film?“
    Ein letzter Schritt über die knöchelhohe Grasebene, dann stoppte Ray plötzlich. Die üppige, mit vereinzelten Gänseblümchen, Rittersporn und Salbei-Blumen gesäumte Umgebung wich nicht sonderlich von dem bisher Gesehenen ab; mit nur einem Unterschied – einem gewaltigen Unterschied. Über die Jahre hinaus hatte die Laune der Natur den Stamm einer betagten Weide wie einen Korkenzieher wachsen lassen. Das allerdings war nicht der Anlass, warum Ray seine ziellose Suche so abrupt beendet hatte: Am Fuße des Stammes lag allem Anschein nach ein Pokéball. Was aber für ein Exemplar! Ein handelsüblicher Pokéball, wenn er sich nicht in seinem komprimierten, taschenfreundlichen Zustand befand, hatte in etwa die Größe einer kleinen Orange oder ausgewachsenen Apfels. Dieses Schmuckstück menschlicher Schmiedekunst jedoch reichte einem Jugendlichen sogar bis ans Knie. Was für ein gewaltiges Pokémon darin wohl ruhen musste, wenn ihm nicht aber vielleicht irgendwer einen bösen Streich spielen wollte ...?
    „Verstehst du das?“
    Die Frage war an Sheinux gerichtet; blieb allerdings unbeantwortet. In diesem Moment besaßen er und Ray markante Ähnlichkeit mit ihren Pendants Evoli und Sonja, zumindest der Gesichtsausdruck beider stimmte haargenau bis ins kleinste Detail überein. Auch Sheinux verschränkte fragend den Kopf.
    Etwa zwanzig Meter Abstand lagen zwischen ihnen und ihrer Entdeckung. Es wirkte irgendwie grotesk, auch abseits der unnatürlichen Größe, gleichzeitig aber gerade deswegen verlockend. Konnte es Ray wagen, einfach hinzugehen und sich aus der Nähe ein Bild zu machen?
    „Nur die Harten kommen in den Garten ...“ Ein letzter Blickwechsel mit Sheinux änderte nichts an Rays für seine Verhältnisse äußerst sorgfältig gefassten Entschluss. Natürlich war er äußerst skeptisch, was die Echtheit seiner Entdeckung anbelangte, doch wenn er jetzt kniff und diesen Augenblick untätig verstreichen lassen würde, würde er es sich womöglich sein Leben lang vorwerfen.
    Merkbar vorsichtiger als es üblicherweise seine Art war, tastete er sich auf leisen Sohlen über den Grasteppich heran. Getreu, jedoch wachsam war auch Sheinux seinem Freund in dieser unvorhersehbaren Situation an der Seite und pirschte sich heran. Die Umrisse des Pokéballs vergrößerten sich mit jedem noch so kleinen Schritt, der zurückgelegt wurde. Er wirkte nun, bei näherer Betrachtung, eher wie eine Malerei auf Karton-Papier. Weniger Meter trennten sie nur noch vor dem ersten Kontakt; der Moment, der die schmutzigen Zweifel in seinen Gedanken davonwaschen oder aber die Seifenblase seiner Träume zerplatzen lassen sollte. Ray baute sich vor dem Abbild des Pokéballs auf, sein Zeigefinger fuhr in die Richtung seines Ziels ...


    „Holla die Waldfee!“
    Der Finger hatte kaum das Material berührt - das sich keinesfalls wie ein handelsüblicher Pokéball, sondern merkwürdig weich und dehnbar anfühlte – als Ray seinen eben gefassten Entschluss bereits schon wieder bitter bereute und vor Schreck einen gewaltigen Satz zurück hinlegte. In seinem Vorstellungsvermögen hatten einige Dinge existiert; keinesfalls aber die Eventualität, dass die vermeintliche Kapsel plötzlich wie Espenlaub zu zittern beginnen könnte und ihr Körperteile aus dem Nichts entspringen würden.
    „Wandelnder Pilz“ beschrieb die Kreatur wohl am treffendsten, die sich so unverwechselbar in Schale geworfen hatte, bevor Ray mit seiner Berührung die Tarnung hatte auffliegen lassen. Der Hut, welcher eben seltsamerweise einem Pokéball zum Verwechseln ähnlich sah, hatte wohl seinen Dienst als Schutz vor der grellen Nachmittagssonne erfüllen sollen. Die Entlarvung hatte den Stiel des Wesens dazu veranlasst, seine Deckung fallen zu lassen, den Schirm in die Luft zu hieven und somit den Rest seines Körpers vor den Augen der Öffentlichkeit zu präsentieren. Zwei schwarze Augen und eine dicke Knollennase lugten aus dem wendigen Schaft hervor, aus dessen Seiten zwei kleine, nur ein bis zwei Zentimeter lange Stängel sprossen, die man schon fast als Ärmchen betiteln konnte.
    Ray fiel es, nachdem er diesen gewaltigen Schreck überwunden hatte, äußerst schwer, sich wieder zu fassen. Irgendwie war ihm ja zum Lachen zumute, wenn er sich sein eigenes, dämliches Gesicht in Gedanken vorstellte. Gleichzeitig aber begannen seine analytischen Fähigkeiten in seinem Kopf auf Hochtouren zu arbeiten. Jegliche Zweifel waren von ihm gefallen: Ein Pokémon, keine Frage, wenn auch von ganz eigenartiger Natur. Sheinux fauchte dem flatternden Schirm mit eingeklemmtem Schwanz aus sicherer Distanz entgegen. Ihm war die abstruse Situation deutlich weniger geheuer, als es bei seinem Partner der Fall war.
    „Ich hab’ da eine aberwitzige Idee ...“
    Umso länger der Blick des Menschen auf dem zum Leben erwachten Wesen ruhte, desto mehr und mehr konnte er sich mit dem anregenden Gedanken anfreunden, dieses Pokémon in seinen Reihen begrüßen zu dürfen. Allein die Vorstellung, welch Schindluder er mit den Fähigkeiten des quiekenden Pilzes treiben könnte, der so unberechenbar seinen Schirm in alle Richtungen schlingern ließ, waren durch und durch interessant. Wie viele seine Mitschüler würden wohl ebenso leichtsinnig wie er auf die verblüffende Tarnung hereinfallen? Welch interessante Kräfte mochten noch unter der großen Pilz-Kappe schlummern? Letztendlich kam Ray zu dem einzig sinnigen Schluss und es gab nur eine Möglichkeit, diese Entscheidung zu besiegeln.


    Die Zeit stockte, stand fast still. Wild um die eigene Achse rotierend suchte sich Rays geworfener Pokéball seinen Weg durch die zum Zerreisen gespannte Luft. Die Pupillen des Pilzes bekamen gerade noch so viel Zeit, sich erregt zu weiten, bevor der Pokéball gegen seine Schirmkappe prallte, einen Augenblick regungslos in der Luft schwebte, dann das Pokémon ohne weitere Warnung erfasste, von der Wurzel des Stiels bis zum Hut in das geheimnisumwobene Innere zog und zu guter Letzt zwischen den kargen Grashalmen zu den Wurzeln der Weide fiel.
    „Das ... war es?“
    Man musste sich inständig fragen, in welcher Hinsicht der Unterrichtsterror der letzten beiden Wochen gerechtfertigt war. Pausenlos hatte man sie mit Stoff malträtiert, mit Hausaufgaben und Sonderunterrichtseinheiten bestraft, das Gelernte immer und immer wieder aufs Neue wiederholt ... Und für was? So gesehen völlig für die Katz.
    Ungeachtet der völlig überflüssigen Plagen der vergangenen Woche sah Ray keinen Anlass dazu, die Freude über seinen Erfolg in irgendeiner Hinsicht zu zügeln. Erst einen monströsen Triumphschrei dann einen gewaltigen Sprung später wollte sich der siegreiche Raikou ganz seinem Fang hingeben, doch zeugte der Käfig, der nur vermeintlich zur Strecke gebrachte Beute, von deutlicher Gegenwehr. Rays Finger - bereits verlangend ausgestreckt - ließen von der fahrig in alle Richtung zappelnden Kugel ab, hinter dessen Schloss und Riegel der erbitterte Konflikt zwischen dem widerspenstigen Pokémon und seinen ihm gewaltsam auferlegten Ketten vonstatten ging.
    „Nein!“
    Die Gefängniswände bröckelten, die Fesseln wurden gewaltsam gesprengt. Unfähig das Wesen hinter seinen Mauern weiterhin zu bändigen, gab es der Pokéball notgedrungen wieder frei. Der gleißende Lichtblitz löste sich aus dem Kerngehäuse der Kugel und ergoss sich unmittelbar vor Rays Beinen und knapp unter Sheinux’ Kragenweite. Der Fangversuch war missglückt, die Revolte dafür umso erfolgreicher. Mit der wiedergewonnenen Freiheit allein wollte sich der aufständische Flüchtling allerdings nicht begnügen: Er sühnte nach bitterer Rache.
    Mensch samt Gefährte reagierten zu langsam. Ehe sie es sich versahen, fanden sie sich inmitten eines bläulichen, übelriechenden und arglistig im Hals kratzenden Sporennebels wieder, dessen Wiege in den Lamellen des Pilz-Pokémons lag. Atemringend fasste sich Ray an die Kehle. Die Kontrolle sickerte ihm sekundenschnell aus den Beinen, die Sinne schwanden dahin. Er ging auf die Knie. Die brennenden Augen schrieen nach kühlenden Wasser oder dem erlösenden Schlaf.
    „...einux ...“
    Sheinux waren ebenfalls unlängst die Beine zusammengeklappt und war für die Ignoranz seines Partners mit einem unangenehmen Bauchklatscher bestraft worden. Die sonst so frohen, großen gelben Augen kullerten wie Flipperkugeln in den Höhlen herum, bis die Augenlider dem schrecklichen Bild einen Riegel vorschoben. Ray tat es Sheinux augenblicklich gleich; seine Landung endete jedoch mit einem äußerst scheußlichen Aufprall seines Kinns auf dem Boden. Die taube Zunge schmeckte ein kleines Blutrinnsal zwischen den Zähnen. Sein Versuch Luft zu holen mündete in einer spektakuläre Achterbahnfahrt seines Verstandes und dem stechenden Gefühl beider Lungen, die sich im Todeskampf immer wieder krampfhaft zusammenzogen. Ihm war speiübel. Die bereits verblassenden Bilder wirbelten herum. Sheinux, der Pilz, die knöchrigen Wurzeln des Baumes, die Grashalme davor, alles ... Dunkelheit ...


    „Bleibt ... stehen!“
    „Wa-was? Urgh! Sheinux? Ist ja gut ...!“
    Wie man nach einer viel zu kurzen Nacht, in der man einer Überdosis hirnzellenschädigenden Videospielen ausgesetzt war, viel zu viel Cola-Koffein und fettiges Junk-Food konsumiert hat, und die üblichen acht Stunden gesunden Schlaf auf magere fünfundvierzig Minuten reduziert hat, am elegantesten dem neuen Tag antritt – darin scheiden sich die Geister. Manche ziehen einen besonders lauten Wecker vor, so laut, dass es einem noch Minuten danach in den Ohren klingelt; andere dagegen vertrauen auf eine kräftige, kalte Dusche, die sämtliche Müdigkeit auf Eis legt. In Rays Fall traf zu diesem Zeitpunkt – obwohl er weder das eine, noch das andere bevorzugte – beides zu. Eine schrille, äußerst hysterisch klingende Stimme – Ray vermochte sie im Moment seines ruckartigen Erwachens nicht zuzuordnen – sorgte für den unerfreulichen Weckruf, Sheinux’ feuchte, kitzelnde Zunge für die mehr oder weniger erfrischende Morgendusche; die polkatanzenden Kopfschmerzen in seinem Schädel sorgten für den Rest, um ihn endgültig wieder in die Welt der Lebenden zurückzuführen. Wild mit den Händen rudernd schreckte Ray genau dort aus seinem traumlosen Schlummer auf, wo er unfreiwillig in den Schlaf gewogen worden war: am Fuße der Korkendreher-Weide. Von dem Schlummerpilz fehlte jedoch - nach stichprobenartiger Auskundschaftung der näheren Umgebung und in Anbetracht seiner Desorientierung - jede Spur, so auch von dem schrillen Wecker. Leicht schwummrig und auch noch recht wackelig auf den Beinen war es ihm, als er sich endlich in ganzer Lebensgröße aufrichtete. Die übrigen Lebensgeister wollten nur langsam in den matten Körper zurückkehren. Viel schneller dafür die traurige Gewissheit über das ernüchternde Endergebnis seines tollkühnen Auftaktes.
    „Von ’nem Pilz in die Pfanne gehauen worden – und dann noch ohne Butter ...“ Ray las den inhaltslosen Pokéball auf, der so bitterlich von ihrem Misserfolg zeugte. Auf gleicher Augenhöhe schaute er parallel dazu seinen Partner energisch an. „Wenn du es nicht weitererzählst, tu ich es auch nicht. Okay?“
    Mit einem Zwinkern seinerseits besiegelte Sheinux dieses geheime Abkommen. Ray lächelte dankbar. Doch das Lächeln bestand nur wenige Augenblicke, denn musste er sich an diesem Punkt einfach eingestehen, dass die gemeinsame Pilzjagd unweigerlich zum Ende gekommen war, noch bevor sie eigentlich richtig begonnen hatte. Leerer Pokéball, eine schmachvolle Niederlage und rasende Kopfschmerzen als unerfreuliche Nebenwirkung eines überflüssigen Nickerchens. Ein bitterer Wehrmutstropfen für einen Tag, der ursprünglich nicht besser hätte starten können. Trotz des frühen Mittagschlafes fühlte sich Ray äußerst schwach auf der Brust, gar empfand er in seinen Gliedern noch größere Erschöpfung, als vor dem langen Marsch. Das Trostpflaster an der ganzen Geschichte, so redete er sich selbst in stillen Gedanken ein: Nur wenig Zeit war seit dem erlebten Zwischenfall ins Land gezogen, wie ein rascher Blick auf die Uhr bestätigte; das, und natürlich die Hoffnung, dass niemand Zeuge dieser peinlichen Eskapade geworden war.
    „Dreck verdammter!“
    Müde und erschöpft lehnte sich Ray Valentine mit dem Rücken an den unförmigen Stamm der Weide, der einzigen Zeitzeugin, die wohl noch in Jahrzehnten von dieser beschämenden Glanzleistung ihre hämischen Lieder singen und deren Blätter spätestens zur goldenen Jahreszeit die Botschaft in alle Winde hinaustragen würde. Fehler seinerseits räumte sich Ray nach näherer Betrachtung der Geschehnisse mehr als genug ein, lautete er schließlich nicht den Namen seines Zimmerkameraden, an dem jegliche Kritik einfach abperlte. Er konnte die belehrenden Worte seiner Lehrer beinahe hören. Dass er die Risiken nicht sorgfältig genug abgewogen hätte, ja, das wäre wohl Professor Cenras Kommentar zu der dieser Geschichte gewesen. Professor Armadis sähe es sicherlich ähnlich, nur mit einem Hauch mehr Rückendeckung und wohl der Ermutigung, an dieser Stelle bloß nicht das Handtuch zu werfen und es einfach erneut zu versuchen. Auf Professor Finchs überflüssige, geistreiche Gehirnkapriolen konnte Ray natürlich gut und gern verzichten ...


    Keine mächtigen Trompetenstöße einer aufmarschierenden Armee, kein warnendes Leuchtfeuer am Firmament, noch nicht einmal das leise Grollen einer dunklen Wolke am Horizont – keine Ankündigung ging der gewaltigen Detonation voraus, die plötzlich wie ein Lauffeuer über das Landschaftsbild rollte. Wenn es einen übermächtigen Gott gab, so musste dieser wohl gerade zornestrunken seinen Fuß auf die Erde geschmettert haben. Eine übermächtige Windböe folgte dem Donnern, erfasste die wehrlos nachgebenden Zweige und Blätter der Bäume, zwang Grashalme und zierliche Blumen für den nur kurzen Augenblick in die Knie, und ein ganz und gar überraschter Baumbewohner schüttelte es wie Fallobst von seinem Ast und somit direkt vor die Augen des nicht weniger überraschten Menschen mit seinem Pokémon-Begleiter.
    Die verstrickte Kette der Schlag auf Schlag eingetretenen Ereignisse sorgte in Rays Kopf für fast noch mehr Durcheinander, als eine mit allerlei Tücken und Feinheiten gespickte Mathematik-Klausur. Rekapitulation der Dinge: Irgendjemand hatte irgendwo aus irgendwelchen Gründen sich irgendeinen Ulk erlaubt und es irgendwie ordentlich krachen gelassen. Der Spaß war aufgegangen und hatte für ordentliche Furore gesorgt; insbesondere bei dem kleinen, tropengrünen Wesen, das es vor Schreck glatt aus seiner Baumbehausung gefegt hatte, nur knapp auf allen Vieren gelandet war und sich nun vor den verblüfften Augen von Ray und Sheinux befand.
    Nur äußerst selten forderte der erste Eindruck eine derart positive Reaktion von Ray herauf – hier aber wurde es regelrecht verlangt. Das Auftreten des vom Baum geworfenen Pokémons war – anders konnte man es gar nicht beschreiben – einfach nur cool. Fast so, als ob es das Allernormalste der Welt wäre, wie eine reife Frucht von seinem privaten Schlafplatz abgeerntet zu werden, richtete sich das fremde Pokémon ruhig und völlig unbeeindruckt auf. Die großen, gelben, ovalförmigen Schlitzaugen fixierten Ray, während es sich mit seinen dreifingrigen Händen den gröbsten Schmutz von den Gliedern und dem langen, wie ein Fächer gebauten Schwanz, der allerdings in der Länge deutlich größer war und in der Breite den Kürzeren zog, abklopfte; doch mit einer Gleichgültigkeit, als ob der Mensch und dessen Partner nur Luft wären. Die Lässigkeit und Desinteresse, mit der das grüne Pokémon Ray begegnete, ja diesem schon die kalte Schulter zeigte ... jeder einzelne Umstand beeindruckte Ray nur noch mehr. Es stand außer Frage, dass der Baumbewohner bereits seit der Ankunft des Menschen über dessen Existenz Bescheid wusste. Der Zustand einer peinlichen Berührung im Bezug auf die lächerliche Vorstellung von vorhin, welche somit zweifelsohne einen Zuschauer gefunden und womöglich köstlich amüsiert hatte, blieb allerdings aus, so weit reichte Rays Erstaunen über das Auftreten des Fremdlings hinaus.
    Das sonst so kühle Metall des Pokéballs, den Ray noch immer fest umschlossen in seiner rechten Hand hielt, sonderte plötzlich eine verlangende Wärme ab. Runde zwei sollte beginnen; dieses Mal jedoch ohne peinliche Patzer, auch wenn dies zwangsläufig bedeutete, dieses Stück Arbeit ganz im Sinne des Schulunterrichts zu verrichten. Bereits der bloße Blick zum Gefährten genügte völlig, um dem anderen das Vorhaben klar zu erklären. Sheinux nickte und nahm vor seinem Partner Formation ein. Der Tanz konnte beginnen ...


    Noch nicht einmal Sheinux’ speerartiges Rammmanöver wirkte beeindruckend auf das fremde Baum-Pokémon. Gekonnt, doch weiterhin völlig für alles Weltliche desinteressiert wich er mit einem gewaltigen Sprung den galoppierenden Schulterblättern seines Gegners aus. Sheinux bremste seinen nur kurzen Spurt ab und wirbelte herum. Gerade noch erhaschte er einen kurzen Blick darauf, wie sein Gegner ihn kopfschüttelnd und mit gekreuzten Armen spottgleich den Rücken zukehrte.
    „Lass dich nicht verarschen. Schnapp ihn dir!“
    Doch auch die nächste, nicht weniger brachiale Aktion war von nicht weniger Erfolg gekrönt, als es bereits die letzte war. Abermals hob der Gegner ab, sprang über Sheinux’ Kopf hinweg und landete unmittelbar am Fuße des Baums. Sheinux schnaubte seinem eben wieder sicher auf den Füßen gelandeten Widersacher eine Vielzahl der wüstesten Flüche in der den Menschen unverständlichen Pokémonsprache entgegen; sein Gegenpart begegnete diese Geste mit einem kühlen Schulterzucken und rümpfte abfällig die Nase. Blind vor rasender Wut stürmte Sheinux zum dritten Mal in Folge auf das trickreiche Geschöpf zu. Zu spät, um über eine unverhoffte Versöhnung nachzudenken, zu spät, um ein zeitweiliges Friedensangebot anzunehmen, zu spät, eine andere Alternative in Betracht zu ziehen, doch auch zu spät, um noch rechtzeitig vor der schmerzhaften Kollision mit dem massiven Baumstamm abzubremsen ...
    „Stopp, Shei...!“
    Nun waren es menschliche Flüche, gepaart mit frustriertem Aufstöhnen, die bitterlich in die Welt ausgestoßen wurden. Lediglich der rettende Sprung hinterrücks war notwendig gewesen, um der Gunst der Stunde habhaft zu werden und sich so geschickt aus der Gefahrenzone zu manövrieren. Pech für den Vierbeiner, dass er mit dem Missen seines eigentlichen Zieles nun, ohne es zu wollen, mit dem harten Holz vorliebnehmen musste. Sein Schimpfen erstickte so schnell, wie seine verspäteten Abbremsversuche und das hässliche Geräusch beim Zusammenprall mit dem Baumstamm. Benommen und angeschlagen taumelte Sheinux wenige Schritte zurück, bevor er über seine eigenen Beine stolperte und leise stöhnend hinterrücks umkippte. Ob gewollt oder nicht – Sheinux war seinem gewieften Artgenossen auf den Leim gegangen und auch die beschwichtigenden Worte seines menschlichen Gefährten, der sich sofort seiner annahm, vermochten weder die Schande noch die pulsierende Beule an der Stirn zu schmälern. Die gelben Schlitzaugen des trickreichen Pokémons spähten aus halber Baumeshöhe auf die Geschehnisse in Bodennähe herab. Hände und Füße waren fest auf der Rinde verankert, sodass er sich problemlos auf der Stelle halten konnte, vergleichbar mit einer lästigen Fliege, die an der Wand klebte und auf der Lauer nach einem Stück Zucker lag. Doch noch nicht einmal der Anflug eines spöttischen Lächelns entblößte sein nach wie vor völlig gelassenes Gesicht, wie man es in Anbetracht der Situation eigentlich hätte erwarten können. Doch konnte man es drehen und wenden wie man wollte - auch dieses Vorhaben war ein gehöriger Schlag ins Wasser. Der Unterschied zum ersten Versuch bildete natürlich der Umstand, dass die Ursache der ganzen Affäre noch immer am Ort des Geschehens war, wenn auch mittlerweile - dank seiner Kletterkünste - aus der Reichweite von Sheinux’ Möglichkeiten, Vergeltung für diese Schmach zu üben. Auch so aber erweckte Sheinux nicht gerade den Eindruck, besondere Lust daran zu hegen, in das Domizil seines Rivalen einzudringen, um dort möglicherweise noch einmal den Kürzeren zu ziehen; zumindest ließ sein geknickter Blick in die Höhe dies vermuten. Der Heimvorteil lag dort, auf den dünnen Ästen in gut und gern sechs Meter Höhe, erst recht auf der gegnerischen Seite. Ray sah es ähnlich, wenn allerdings mit etwas mehr Zuversicht. Zwei Reinfälle ... Na und? Der Tag war noch jung, das Spiel noch lange nicht vorbei. Einzuräumen war jedoch, dass es ihm im Moment noch an guten Ideen fehlte. Guter Rat war teuer und die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten stark begrenzt. Auch sein Blick schlängelte sich an dem Korkendreherstamm hinauf, bis er den Ast erreichte, von dem aus das flüchtige Pokémon gelassen und mit dem Rücken an den mächtigen Schaft des Baumes gelehnt hinabblickte. Ihre Blicke kreuzten sich. Das Nicht-Blinzel-Duell ging zugunsten des Pokémons. Seine Selbstbeherrschung war schlichtweg beeindruckend. Was konnte man dieser Ruhe entgegensetzen? Ja, was?


    Ray besann sich auf sein unmittelbares Umfeld. Natürlich gab es auch dort den ein oder anderen Sonderling. Logan Sokol beispielsweise, seines Zeichens bereits unumstrittener Jahrgangsbester und Sieger des großen Grundkurs-Turniers - ihn hatte man noch nie dabei beobachten können, seine gelassene Fassung zu verlieren, oder dass er einfach seine Logik ablegte. Rational, nicht emotional – und da konnte kommen, was oder wer wollte. Selbst Eagle hatte sich bei ihm, seinem schärfsten Rivalen, die Zähne ausgebissen. Ihn dagegen in Rage zu versetzen war recht einfach, auch wenn er sich meist kühl und distanziert der Außenwelt auf den ersten Blick präsentierte. Ein falsches Wort aber und er explodierte. Dann konnte man sich auf etwas gefasst machen. Von Ruhe und Gelassenheit konnte dann nicht mehr die Rede sein; ebenso überlegtes Handeln suchte man bei dem Hitzkopf in diesem Moment vergeblich. Die Frage war: Konnte man den grünen Baumhüpfer womöglich ebenso aus der Reserve locken, sodass er alles um sich herum vergaß und seine lückenlose Deckung einfach fallen ließ? Durch was konnte man dieses Pokémon so provozieren, dass man es nicht auf den Baum, sondern auf die Palme brachte?
    „Einfach ...“, murmelte Ray, dem auf diesen Gedanken plötzlich die hysterisch kreischende Mädchen-Meute vom ersten Turniertag in Erinnerung kam. Er kramte kurz in seiner Hosentasche und wurde schnell fündig. „Zeit für meinen ,Ladykiller’.“ Wenn ihn das nicht in Rage versetzte, dann nichts. Wer konnte schon sein Mütchen kühl halten, wenn der Preis dafür war, sich bedingungslos mit einem Spuckröhrchen beschießen zu lassen? Natürlich forderte dieses Vorhaben selbst auf der Gegenseite Tribut, auch wenn dies für Ray lediglich bedeutete, den eiligst von Sonja abgekritzelten Hausaufgabenentwurf für den Mathematikunterricht am Montag zu kostbarer Munition zu verarbeiten.
    „Was solls ...?“ Er zerknüllte das Paper. „Halt dich bereit“, meinte er an Sheinux gewandt und stopfte sich einen Papierfetzen in den Mund.
    Auf dem Lande gehörte die Furcht, von einem Spuckkügelchen getroffen zu werden, offenbar nicht zum Alltäglichen, was wohl auf die Seltenheit dieser seltsamen Waffe zurückzuführen war; dies oder selbst die durchweichteste Papierkugel ließen einen echten, abgebrühtesten Kerl vom Lande völlig kalt. Da es Rays lebendige Zielscheibe beinahe vor Schreck von seinem Ast geworfen hatte, war ersteres zweifelsohne der Fall. Das Geschoss hatte sein Ziel, wenige Millimeter über dem rechten Nasenloch, problemlos erreicht. Die erste sichtbare Reaktion auf diese Tätlichkeit blieb nicht lange auf sich warten. Mit einer nicht zu geringen Portion des Abscheus kratzte sich das kurzzeitig vor Schreck gelähmte Pokémon das nasse Geschoss vom Gesicht. Doch auf dem ersten Treffer sollten schnell weitere folgen. Siegessicher leckte sich Ray die Lippen und setzte erneut an. Bald schon war die Luft erfüllt von ganzen Projektil-Schwärmen, was einst eigentlich als Hausaufgabe auf dem Lehrerpult als Hausaufgabe hätte landen sollen. Abzüglich einiger ausreißerischer Querschläger war Rays Trefferquote – dafür, dass seine Zielscheibe durch seine vergeblichen Ausweichmanöver von Ast zu Ast alles daran setzte, nicht noch weitere Schläge einzustecken – überragend gut.
    Mit der würdevollen Zurückhaltung des Baum-Pokémons war es spätestens mit einem Treffer ins offene Auge endgültig aus und vorbei. Ray hatte seinen Munitionsvorrat gerade aufgestockt und wollte eben einen neuen Kugelhagel heraufbeschwören, als der Geduldsfaden seines Opfers endgültig riss und es sich rasant den gewundenen Baumstamm herunter bewegte. Sheinux nahm sofort eine schützende Stellung vor seinem Partner ein; der aber gebot seinem vierbeinigen Gefährten mit einer eindeutigen Handbewegung sich in Geduld zu üben. Ein verstohlenes Grinsen huschte Ray über das Gesicht. Sein Plan trug reiche Früchte; sie mussten lediglich noch geerntet werden. Eben dies konnte sich allerdings als schwieriger herausstellen, als der erste Blick vermuten ließ, denn die Früchte ... sie trugen Stacheln und wollten sich nicht widerstandslos pflücken lassen.


    Lediglich ein zorniges Augenfunkeln in Richtung des Schützen ging dem ersten Vergeltungsschlag voraus, ohne das Ray seinen Kopf nicht rechtzeitig aus der Schlinge hätte ziehen können. Schneller als es dem Raikou eigentlich lieb war, musste er seinen rechten Arm aus der Reichweite eines peitschenden Schwanzhiebs seines Gegners ziehen. Sheinux fauchte erregt, hielt aber auf den ausdrücklichen Befehl seines Partners die Stellung. Ray hatte nach seinem rettenden Satz noch nicht richtig Fuß gefasst, als die beiden Füße des Pokémons sich abermals kraftvoll vom Boden abstießen, es im Flug halb um die eigene Achse wirbelte, die Luft mit seiner strafenden Rute entzwei pflügte und diesmal auf den Kopf des Menschen zielte. Rays rettender Rückwärtssprung war wenig grazil, erfüllte aber völlig seinen Zweck. Zwei Mal in Folge war er der drohenden Tracht Prügel seines Lebens mit knapper Not entronnen. Auf ein drittes Mal wollte er es gar nicht erst anlegen – und die Chance dafür, sie war da! Der peitschende Schwanz sauste durch die Luft; Ray packte zu. Abblocken, so wie er es aus dem Unterricht mitgenommen hatte, wenn vielleicht auch nicht ganz so, was seine Lehrer darunter verstanden. Mittel zum Zweck; erfüllte schließlich das waghalsige Manöver des Raikous voll seine geplanten Absichten. Die Augen des plötzlich kopfüber in der Luft baumelnden Pokémons weiteten sich erschrocken, Arme und Beine schlugen erregt in alle Richtungen aus, fast wie ein zappelnder Fisch am Haken, der um sein klägliches Überleben kämpfte. Nichts aber vermochte den eisernen Griff des Menschen zu lockern. Der anfängliche Schreck und auch die ziependen Schmerzen, als Ray den Angriff mit bloßen Händen abgefangen hatte, saßen ihm noch arg in seinen Gliedern. Erschwerend hinzu kam, dass er im wahrsten Sinne des Wortes alle Hände damit zu tun hatte, unter keinen Umständen den Halt an dem weichen, erschlafften Hinterteil zu verlieren. Es gab keinen Anlass, weitere Zeit zu schinden. Jetzt oder nie!
    „Hau ihn weg!“
    Keine Taten aber folgten auf diese Worte. Zum ersten Mal sträubte sich Sheinux vehement davor, einem von Rays Wünschen nachzukommen. Seine Skrupel waren allerdings auch gerechtfertigt. War schließlich die Gefahr groß, seinem besten Freund durch die nachfolgende Handlung beträchtlichen Schaden zuzufügen.
    „Sh-Ei ...!“
    „Bisschen spät für spontane Planänderungen, meinst du nicht?!“
    Das Gewicht des zappelnden Bündels wuchs stetig an, die boxenden Faustbewegungen und Tritte gewannen an Treffsicherheit. Rays Kräfte dagegen schwanden dahin. Selbst mit dem tatkräftigen Einsatz beider Hände wollte ihm die Bändigung seines Gefangenen kaum noch gelingen. Die Arme verkrampften sich immer mehr. Der schwitzigen Hände verloren mehr und mehr den Halt. Es war nur noch eine Frage der Zeit ...
    „Mach schon!“, brüllte er.
    Ray sah sich innerlich bereits mit der Gewissheit konfrontiert, dass er jeden Moment als ungewollter Sparringpartner oder gar als Sandsack herhalten musste, als endlich Sheinux’ lang ersehnter Kampfschrei ihm neuen Mut einflößte. Es war soweit, sein Einschalten in die Auseinandersetzung stand unmittelbar bevor.
    Die über Jahre hinweg antrainierten Zockerreflexe machten sich bezahlt: Zeitgleich mit dem Erwachen von Sheinux’ schlummernden Kräften reagierte Ray blitzschnell. Das bläuliche Glühen von Sheinux’ Fell hatte noch nicht völlig die gewohnte Intensität gewonnen, als Rays Fingerkuppen von seinem Opfer abließen und das Pokémon einen knappen Meter gen Boden stürzte. Gerade noch rechtzeitig rollte sich Ray zur Seite ab, als auch bereits ein Funkenstrom durch die Luft peitschte, nur knapp sein rechtes Ohr verfehlte, dafür aber das eigentliche Ziel gänzlich in einem knisternden Meer der Schmerzen ertränkte. Das bloße Ausmaß der Energie, die sich gewaltsam den kleinen Körper einverleibte, stellte nur vom Zuhören selbst die kleinsten von Rays Augenbrauenhaare steil zu Berge. Wie schon zuvor gab es auch aus diesem Haltegriff kein Entrinnen, nur mit dem Unterschied, dass dieses knisternde Gefängnis mit den unausstehlichsten und heimtückischsten Qualen verbunden war, die man sich nur vorstellen konnte. Die nicht ersticken wollenden Kräfte, die die Luft aufwühlten und sich gewaltsam das grüne, sich vor Schmerzen windende und aus Leibeskräften brüllende Pokémon einverleibten, ließen selbst die bloßen Gedanken an eine Flucht im Keim ersticken.
    Die spannungsgeladene Vorführung war nur von kurzer Dauer; von einer Zugabe sah man ab. Sheinux’ Gebete an den Donnergott erstickten, der Stromfluss verebbte, die in alle Himmelsrichtungen gestreckten Glieder des von den Blitzen gebeutelten Opfers zuckten noch. Der Spuk aber - er war vorbei. Spätestens als Ray die Position seiner schützend über den Kopf geworfenen Hände lockerte und seinen Blick auf das Häufchen Elend festigte, sollte das Schicksal des Baum-Pokémons endgültig besiegelt sein. Widerstandslos musste sich das ohnmächtig geschlagene Geschöpf dem unerbittlichen Sog des von Ray aus kürzester Distanz geschleuderten Pokéball unterwerfen. In dem mysteriösen Inneren angekommen, sah es dann wieder ganz anders aus. Wie bereits bei dem ersten Fangversuch zuvor, brach auch hier ein heftiger Protest zwischen zwei unvorstellbaren Mächten aus. Auf der einen Seite hatte das verschleppte Pokémon nicht das Geringste für die ihm mutwillig auferlegten Ketten übrig und setzte sich erbittert zur Wehr; eine Wehr, die auf der anderen Seite der Pokéball mit seinen dicken Mauern gut zu unterdrücken wusste. Ray und Sheinux, die einzigen Außenstehenden, denen das Spektakel zuteil wurden und überhaupt auch nur ansatzweise Mutmaßungen anstellen konnten, welch streitgeladener Konflikt wohl im Inneren der ein Eigenleben entwickelten Kugel vonstatten ging, beobachten beinahe atemlos das fuchtige Hin und Her des Balls. Ein Ende war auch zu dem Zeitpunkt nicht in Sicht, als der Pokéball gegen die mächtigen Wurzeln der Weide prallte und der Zweikampf einfach auf dem Kopf fortgeführt wurde – es machte keinen Unterschied. Dann plötzlich, ohne weitere Vorwarnung, erglimmte das Kernstück der Kugel, das Leben erlosch daraufhin schlagartig. Stille.


    Bereits zum zweiten Mal an diesem sehr erlebnisreichen Tag pirschte sich Ray überaus vorsichtig als es eigentlich seine Art war heran. Diesmal jedoch hätte ihn sein laut in die Welt hinausschlagendes Herz verraten, wenn nur außer ihm und Sheinux jemand da gewesen wäre, die dem schnellen Trommeln hätten lauschen können. Innerlich kämpfte er noch mit dem Zwiespalt, ob ihm sein Unterfangen tatsächlich gelungen war. Als er dann aber das warme Metall des schlafenden Pokéballs in seinen Händen spürte, fielen auch die letzten Zweifel von ihm ab. Es war geschafft.
    „Geschafft!“ Sollte es doch jeder hören, die ganze Welt mit ihm und Sheinux ihren gemeinsamen Triumph feiern. Es gab allen Anlass dazu, diesen Triumph mit einem gigantischen Siegesschrei in alle Winde hinauszutragen. Der Stein, er hätte gar nicht größer sein können, der ihm mit einem Mal vom Herzen fiel und eine schier unendliche Last so ungestüm von ihm abwälzte, dass es ihm im ersten Moment ganz schwindelig auf den Beinen wurde. Sich einfach der Schwerkraft hinzugeben und auf den Boden fallen zu lassen, schien seinen aufgewühlten Gefühlen als Belohnung nur gerecht.
    Sichtlich erschöpft ließ es sich einfach neben seinen nicht weniger körperlich und geistig ausgezehrten Partner nieder. Die Beine weit von sich ausgestreckt und die Hände deutlich zittriger als sonst ruhten seine Augen auf der kleinen Kugel zwischen seinen Fingern, die nicht nur auf Knopfdruck zu der Größe einer Murmel zusammengeschrumpft war, sondern auch seinen neuen nun neusten Freund beherbergte. Freund - so hoffte er zumindest. Es gab allerdings nur eine Möglichkeit, herauszufinden, ob das eben gefangene Pokémon den Menschen als solchen anerkannte.
    Weder konnte Ray seine Gedanken zu Ende sammeln, noch seinen neuen Gefährten zur Begrüßung wieder der Freiheit entlassen – zu beidem kam er nicht. Viel zu groß war der Schock und die Verwunderung darüber, dass plötzlich ein kleines, vierbeiniges, Geschöpf mit rostbraunem Fell und buschiger Rute sich seiner und Sheinux’ Position mit schwankenden Schritten und glasigem Blick näherte. Ray und Sheinux tauschten nur kurz Blicke, als sie beide schnell wieder auf den Beinen waren und das verwirrte Geschöpf empfingen. Es war Evoli. Nur war das Bild, abseits der Tatsache, dass Evoli einen völlig verstörten, geistesabwesenden Eindruck machte und das sonst so ordentlich gepflegte Fell völlig verstrubbelt war, merkwürdig fremd: Von Sonja fehlte jede Spur ...

  • Moin Jens, ich bins mal wieder. Tja, Unkraut vergeht nicht, würd ich sagen^^. Hoffe du hast deinen Prüfungsstress gut überstanden und bist relativ erfolgreich gewesen. Schön jedenfalls, dass du wieder da bist. :thumbup:


    Heute muss ich mich aber mal etwas kurz fassen, also los. Was Eagle angeht, so hab ich mir irgendwie von Anfang an gedacht, dass das mit dem Georok (bin mir ziemlich sicher, dass es eins sein sollte) nix wird. Mal ganz ehrlich, dass ausgerechnet er von seinen Prinzipien abweichen sollte, was in diesem Fall bedeuten würde, er würde sich eben kein Flugpokémon fangen, hat ja wohl keiner erwartet. Und dann noch ein Pokémon vom Typ Gestein - einem der Erzfeinde der Flugtypen. Never ever. Ich fand es aber sehr gut, dass du dich für eine so spektakuläre Art und Weise entschieden hast, um das Kapitel zu beenden. So ne schön Explosion tut der friedlichen Atmosphäre, die zur Zeit so vorherrschend ist, mal ganz gut. Und auch hast du das Kapitel auf einen angenehmen Grad an Länge hinausgezogen. Denn diese Handlung hätte man auch leicht viel zu kurz fassen können. Da du dir aber die Zeit nimmst, jedes kleine Detail an Emotionen und Umgebung zu erörtern, ist der einzige Punkt, den man eventuell bemängeln könnte, dass es villeicht ein wenig zu langsam voran geht.
    Und bei Ray... irgendwie isses da ganz genau so. Die Art, wie du die letzten Kapitel voran getrieben hast, hat sich höchstens in Details voneinander unterschieden. Ist zwar recht logisch, wenn alle Charaktere, denen du ein eigenes Kapitel gegönnt hast, so ziemlich das gleiche Ziel verfolgen und schön geschrieben ist es ja auch, nur fehlt nda nach einer gewissen Zeit ein wenig die Abwechslung. Aber ich gehe davon aus, dass sich dies ja ohnehin bald ändert, von daher kreide ich dir da nichts an. Nebenbei ist es immer wieder schön zu sehen, wie du die Partner der Protargonisten immer wieder kurz miteinbeziehst. Sei es nur ein kurzer Blickkontakt oder ein kurzer, zustimmender Ausruf... man merkt einfach, dass sie zu jedem Zeitpunkt vor Ort sind und sie werden nicht vergessen. Manchmal wird das ja gerne vergessen und die Pokis geraten völlig in Vergessenheit. Das wäre hier überaus chade gewesen und ich bin froh, dass du diesen Faktor nun schon so lange aufrecht erhälst.


    Hm, bissl was is jetzt doch zusammen gekommen. Naja, gut für uns beide, nicht? Viele Grüße jedenfalls und bis demnächst.
    Pheno

  • Moin,


    ich bins mal wieder!
    Inzwischen haben alle 4 also ihre Erfahrungen in der Safari-Zone gemacht. Schauen wir uns das mal an:


    Sonja ist total ängstlich und geht total nervös an die Sache ran - soweit nichts ungewöhnliches. Aber es ist eine gute Idee, ein zweites Evoli ins Spiel zu bringen! Da Ray diesem offenbar noch begegnet, habe ich einen starken Verdacht, dass sie sich dieses Evoli ebenfalls fangen wird - wenn nicht noch mehr ;) Das dürfte einen sehr interessanten Sidestream ergeben, vor allem die Reaktion ihres ersten Evolis. Insgesamt ist in ihrer Geschichte aber sehr wenig geschehen, aber die (Vor-)Erwähnung der Explosion hat am Ende noch einmal sehr schön Spannung aufgebaut!


    Skip hingegen geht die ganze Sache ziemlich gelassen an und frönt erst einmal seinen Hobbys - Schwimmen. Ab hier beginnst du damit, die Helden auch gegen starke Pokemon antreten zu lassen. Eventuell ist das ja ein Seitenhieb zu Sonja, der das als einzigstes nicht blühte, vielleicht fängt sie ja ein mächtiges Pokemon^^ Wie auch immer, Skip wird erst einmal von Golking abgehängt und fängt sich daraufhin die Vorstufe vom Pokemon seines Hauslehrers Armadis, Ottaru. Das könnte in der Tat interessant werden. Und, natürlich, hat er auch sein Zusammentreffen mit Eagle...


    Eagle weiß ja schon ziemlich genau, dass Flug-Pokemon auf einem Berg anzutreffen sind... Nicht das die Gegend sehr STEINIG wäre, nein^^ Wie auch immer, muss sich Eagle zunächst mit den Bewohnern der Steingegend auseinandersetzen. So findet er auch ein Skorgla, welches einerseits zur Umgebung passt, und dass Eagle natürlich ohne Rücksicht auf seine eigene Gesungdheit fangen muss und auch schon gleich ein passendes Feuerwerk gezündet hat. Nicht dass er leichtsinnig wäre, nein niemals, aber er hat es schon verdient, dass Skip ihn retten musste, den er ja überhaupt nicht ausstehen kann. Ehrlich gesagt sollte Eagle mal ein Dodri erhalten, schon aus Prinzip, da ein Dodri nicht fliegen kann :P


    Ray hingegen übt sich im Pilzesuchen und macht dabei ein kleines Nickerchen. Offenbar hat das nichts mit der Schule zu tun, sondern ist einfach eine alte Angewohnheit von ihm ;) Auf jeden Fall geht er beim zweiten Anlauf ziemlich dreist vor und fängt sich so ein - GEWALDRO? Ehrlich gesagt bin ich einmal den gesamten Bilderdex durchgegangen und hab keinen anderen Kandidaten entdeckt. Wenn ich etwas übersehen habe, lasse ich micht gern mit einem weniger starken Exemplar beruhigen... Naja, auf jeden Fall ist er die gleiche Route entlanggegangen wie Sonja, die es, wie ich glaube, irgendwie geschafft hat, Ray zu überholen - siehe Umgebungsbeschreibungen - und schneidet Evoli2 den Weg ab. So kommt Sonja vielleicht wirklich in das Vergnügen, ein Team Evo präsentieren zu dürfen, aber du hast bestimmt deine Safari-Pläne mit Sonja^^


    Wie auch immer, die Charakter sind sehr gut zur Geltung gekommen, und vor allem hast du die neuen Pokemon wirklich exzellent beschrieben - Respekt! Außerdem passen die gefangenen Pokemon zu den jeweiligen Fängern. Desweiteren hat mich das Georok ein wenig an Logan erinnert, da es sich um nichts auf der Welt aus der Ruhe bringen ließ. Vielleicht fängt Logan ja dieses Exemplar, schon damit ein wenig weitere Reibung zwischen ihm und Eagle entsteht. Ich bin schon sehr gespannt, wie es weitergeht, und ich bin auch interessiert, ob noch Garados und Pelipper auftauchen, und ob Eagle/Skip solche haben werden (Stichwort Dualtypen ;) )


    Das wars dann auch erst mal von mir und
    Mach weiter so!
    Niggel

  • So Jens,
    da du heut ja schon 2 Kommis bekommen hast sag ich nur: alle guten Dinge sind drei ;)
    Ich will mal meinem Vorposter gleichtun: Sonja total aufgeschmissen, like a streber halt :D, lässt sich vonnem Polümorfux oda so verarschen, später mehr
    Eagle, wie ich ja schon schrieb immer like a boss rauf auf die Steine, Skip rettet ihn. Ottaro passt glaube sehr gut zu ihm
    und dann Ray - will mit 'nem ähm. wie heißt das Fiech, Hutzassa mit Wutpulver im Double oder Dreier angeben :D und bekommt lecker Sporen ab, Fähigkeit Sporenwird :D, der Pilz hätte mir aber zu overpowered nich so gefallen, daher ist's gut, dasser das ZORUA, wie ich denke, gefangen hat. Er fängt ein Poki und aus dem Ball kommt ein anderes, und ich denk mal nicht, dass Ray ein Ditto fängt, und sonst fällt mir neben Mew und Fabeagle - da steckt eagle drin - keiner ein, der legal an Wandler kommen kann oder eben Fähigkeit Doppelgänger bzw Illusion besitzt
    okay, wie wirds nun weiter gehen? Du darfst ruhig schneller Kaps rausbringen, denk aber dasste mit Kimba mehr zu tun hast. Müsst ich auch ma lesen, hatte aber bis jetz nich grade Zeit, und hatt ich sie hab ichs verpennt^^
    Na dann Lg,
    Almarik

    Warum wollen Männer keine Osterhasen sein?


    Rechtschreibfehler sind rein zur Belustigung da. Ihr müsst mich auch nicht darauf hinweisen, wie toll ihr sie fandet.

  • Part 7: Die Evoli-Diskrepanz


    Der frühe Nachmittag war vor den Türen und Fenstern der kleinen, gemütlichen Blockhütte an dem Ufer des Gebirgsees angebrochen. Außerhalb – die unermüdlich am Horizont ihre Bahnen ziehende Sonne. Die Hatz noch etlicher Schüler nach einem neuen Gefährten wurde unter ihrem segenreichen, warmen Haupt fortgeführt, manche erfolgreicher, manche weniger. Innerhalb der holzvertäfelten Wände – die Zusammenkunft der unterschiedlichsten Gemüter und Emotionen. Glück brauchte es noch keines, um einen Platz auf einem der noch vielen freien Stühle oder Bänke zu ergattern. Ganz gleich, dass beinahe im Fünfminutentakt ein Schüler durch die Holztür in den mit reichlich Sitzgelegenheiten gemeinschaftlich eingerichteten Raum schritt, schnell das ein oder andere vertraute Gesicht erspähte und sich im Anschluss für einen erlebnisreichen Plausch zu deren gesellten. Vorher klaubte man sich noch vom Tresen ein Brötchen oder ein Gebäck und legte im Anschluss frei von Hemmungen los. Von maßloser Übertreibung spektakulärer Abenteuer bis hin zu aufrichtiger Ehrlichkeit knallharter Fakten reichten die vielen Diskussionen, die jedoch alle nur einen Ursprung kannten: die eben erst gemachten Erfahrungen. Der Hauptaugenmerk – neben den kleinen Rand- und Splittergruppen im Raum, zu denen auch die drei Mitarbeiter der Safari-Zone gehörten, die hinter einem Tresen für das leibliche Wohl der Gäste sorgten – lag speziell auf einer einzigen, sichtlich aufgewühlten Schülerin, um die sich herum einige ihrer Mitschüler versammelt hatten.
    Durch die unverhoffte Wiederentdeckung menschlicher Zivilisation mitten im Nirgendwo hatte Sonja Lynn mit ihrem nur kurzen Höllentrupp – so beschrieb sie es unter einem drohenden Weinausbruch – gänzlich abgeschlossen. Für sie stand es überhaupt nicht in Frage, noch einmal freiwillig auch nur einen Fuß zurück in die Wildnis zu setzen – und auch die mehr oder wenigen hilfreichen Kommentare ihrer Mitschüler vermochten an dieser gefällten Entscheidung nichts mehr zu rütteln.


    „Du machst Witze?!“
    „Bleib locker! Echt mal ...!“
    „Wut macht einen Mann so unattraktiv. Macht bei dir aber eh keinen großen Unterschied mehr.“
    „Was willst du eigentlich?! Halt dich da raus, sonst setzt es was!“
    In dem Kreuzfeuer der unterschiedlichen Meinungen gab es solche, die ihre emotional angeschlagene Klassenkameradin mitfühlend in die Arme nahmen, dann solche, die ihr gut zuredeten. Andere wiederum hielten sich mit ihrer eigenen Meinung zu diesem heiklen Sachverhalt eher schweigsam und bedeckt. Zu der einzig noch verbliebenen Personengruppe gehörten jene, die unnachgiebig auf dem eigenen Standpunkt verharrten, jegliche andere Sichtweise der Dinge mit einer unbarmherzigen Geringschätzung begegneten, Zweifel oder gar Kritik an der eigenen Person brutal niederschmetterten und natürlich alles daran setzten, dass der eigene Wille, der ja schließlich weitaus gewichtiger als sämtliche andere Meinungen war, durchgesetzt wird. Letztere Gruppe wurde einzig und allein von Eagle repräsentiert, der dummerweise zu Sonjas unmittelbarem Umfeld und somit zu ihren engsten Freunden zählte. Unter keinen Umständen wollte sich der Schüler des Hause Raikou mit Sonjas abgehackter Schilderung zufrieden geben und hatte auf eine Erklärung gedrängt. Im Nachhinein jedoch hätte sich Eagle sogar leichter mit Sonjas stummem Elend abfinden können, als mit ihrem nachträglichen Schuldgeständnis, das aussagte, dass sie auf ganzer Linie versagt hatte. Diese beleidigende Blamage wollte Eagle weder auf sich noch auf seinem Haus untätig ruhen lassen. Dafür hatte er da draußen nicht Kopf und Kragen riskiert – und schon gar nicht, um sich hier beleidigen zu lassen. Die Ausgangslage war allerdings nicht gerade die beste. Von allen Seiten hagelte es unbedeutendes Mitleid und Ratschläge für Sonja und eine mehr als nur reichliche Portion von „Du kannst mich mal“ für Eagle.
    „Mir will das noch immer nicht richtig in den Kopf. Du sagtest, Evoli wäre einfach einem Artgenossen hinterhergelaufen und später ist sie einfach so ohne Weiteres zurückgekommen? Einfach so?“, fragte Diana Rawkes.
    Mit gesenktem Haupt hickste Sonja ein leises Ja hervor. Gleichzeitig drückte sie Evoli auf ihrem Schoß noch näher an sich heran, als ob sie befürchtete, ihre Kameradin könnte jeden Moment erneut ausbüchsen Evoli jedoch war allem Anschein nach viel zu sehr damit beschäftigt, sich an den Keksen des Hauses zu erfreuen, als dass sie derartige Versuche unternehmen würde.
    „Sieht ihr aber eigentlich nicht ähnlich, oder?“, hakte Skip nach.
    Erneut stöhnte Sonja einen Laut hervor, den man nur äußerst schwer als ein weiteres Ja übersetzen konnte. Skip gestand sich mit einem Kopfschütteln seine Ratlosigkeit ein.
    „Und von dem anderen Pokémon gibt es keine Spur mehr?“, frage Diana.
    Diesmal verschluckte sich Sonja bei ihrem kümmerlichen Beantwortungsversuch an ihrer eigenen brüchigen Stimme und brach daraufhin in einen heftigen Hustenanfall aus. Evoli wippte im Gleichtakt auf dem Schoß ihrer Freundin, ließ sich aber – bis auf einen nur kurzen verwerflichen Blick in Sonjas Richtung - nicht weiter von dem Verzehr des Gebäcks stören. Im gleichen Moment öffnete sich die Eingangstür - Logan Sokol betrat den Raum, und auch wenn er keinerlei Interesse an dem munteren Zusammenraum seiner gleichaltrigen Mitschüler hegte, trug seine Ankunft nicht sonderlich positiv zu Eagles schon jetzt überaus gereizter Laune zu.
    „Macht es euch eigentlich Spaß, euch die ganze Zeit im Kreis zu drehen? Das hat sie doch alles schon gesagt!“, schnauzte Eagle die anderen an. „Die Sache ist erledigt. Lasst sie halt mit eurem Terror in Ruhe! Fertig!“
    Eagles Äußerung stieß auf generelles Unverständnis aller Beteiligten. Niemand aber, bis auf eine, hatte den Schneid, das, was ein jeder insgeheim dachte, laut auszusprechen. „Der einzige, der hier Terror schiebt, bist doch du!“ Diese Ausnahme bildete die Suicune Marina Parker, deren man sich nach ihrem bissigen Kommentar teils bestürzt, teils anerkennend zudrehte. Sie hatte ihm nun bereits zum wiederholten Male verbal Paroli geboten. Die schlagfertige Gegenantwort ließ auch diesmal nicht lange auf sich warten.
    „Du bist echt auf Streit aus, kann das sein?“ Eagles vernichtender Blick und das bloße Ballen seiner Fäuste hätte ein neugeborenes Kind selbst aus einem Kilometer Distanz zum Weinen gebracht. Während die sonst so geschwätzige Diana aus Sorge ihr Tuscheln mit der Entei-Schülerin Lucy Westerholt einstellte, ließ es Marina dagegen recht kalt; so sehr, dass sie vielmehr Interesse der Länge ihrer Fingernägeln gegenüber heuchelte, als Eagle auch nur eines Blickes zu würdigen. „Kann mich nicht erinnern, dich hier eingeladen zu haben“, blaffte Eagle weiter. „Und überhaupt: Dachte, euch hirnverbrannte Tussen gäbe es nur im Dreierpack? Wo hast du deine lästigen Anhängsel gelassen oder habt ihr euch etwa verlaufen?“
    Eagles höhnischer Unterton verfehlte sein Ziel nicht. Zumindest erreichte er insoweit Wirkung, dass Marina ihn falsch und herablassend von der Seite her angrinste. „Wüsste nicht, was ein kleines Kind das anzugehen hat, Granger.“ Die zänkische Antwort bekam durch den besonders kräftigen Schlenker ihrer wallenden Frisur besondern Nachdruck, dass es fast wie ein abwehrender Peitschenhieb wirkte. Sofort verfiel Diana erneut mit Lucy in leises Flüstern, aus dem man nur unschwer Passagen wie „Hab gehört ...“ und „... unterwegs in die Haare bekommen“ heraushören konnte.
    Eagle grinste gehässig. „Oh! Habt ihr euch etwa verkeilt?“, höhnte er mit demütigender Stimme. „Nix mehr beste Freundinnen? Das tut mir jetzt aber leid.“
    „Das geht dich einen Scheißdreck an! Spar dir dein Mitleid – ich hab’ es nicht nötig!“, blaffte sie ihm hysterisch zurück. Ihre Fingernägel hatte sie inzwischen völlig vergessen. Beide funkelten sich nun mit einer regelrechten Abscheu an, die leicht eine ölgetränkte Lunte lichterloh entzünden hätte können. „Pah!“, fuhr sie fort. „Pah! Die kleine Miss Super-Chic glaubt, sie wäre etwas Besseres und könnte mir einfach meinen Fang abspenstig machen, wo sie doch ihren Sinn für Mode genauso gut im gleichen Abfluss gefunden haben könnte, aus dem du immer trinkst, Granger.“
    „Wenn ich mit dir fertig bin, wird man glauben, du wärst kopfüber in eine Sägemühle gestürzt!“


    Selbst Nea Banner, die die ganze Zeit über dem giftigen Wortwechsel kaum Achtung geschenkt und Sonja leise ihren Beistand zugeredet hatte, zuckte bei dem nachfolgenden und immer lauter werdenden Schlagabtausch der wüstesten und gepfeffertsten Beleidigungen ängstlich zusammen, bis sie eine ähnliche Größe wie Sonja auf ihrem Stuhl erreicht hatte. Der Rest der Beteiligten tauschte eher ratlose Blicke. Erst die eindringliche Warnung des Safari Zone-Personals, welches den Kleinkrieg nun lange genug und mit der größten Zurückhaltung von der Seitenlinie beobachtet hatte, brachte die Waffen endlich und nach langem Hin und Her zum Schweigen. Der ersehnte Friede paarte sich mit der Ankunft einer weiteren Schülerin der Celebi High: Amy Radik sah man ihre Erleichterung sichtlich an, als sie den ersten Fuß in das Heiligtum setzte. Wirkliche Kenntnis nahm von der eben erst eingetroffenen Suicune jedoch kaum jemand. Sie stahl sich durch den Raum, klaubte sich etwas zögerlich ein Sandwich vom Stapel und ließ sich abseits des üppigen Getümmels auf einem Stuhl nieder; nichtsahnend, welch hitziges Debakel ihrer Ankunft voraus gegangen war.
    „Jedenfalls“, lotste Skip die Unterhaltung wieder zurück zu dem eigentlichen Thema, „kann man durchaus behaupten, dass du einen ereignisreichen Tag hinter dir hast, auch wenn der Sprung ins kalte Wasser vielleicht doch etwas unangenehm war“, sagte er freundlich zu Sonja.
    Eagle, der die größtmöglichste Distanz zu Marina übte, ohne allerdings gänzlich der Diskussion den Rücken zuzukehren, zuckte leicht zusammen. Er hatte schon den Mund geöffnet und eine wüste Beleidigung war schon fast auf seiner Zunge entfacht, als er diese dann doch hinunterschluckte und stattdessen zähneknirschend knurrte: „Der Tag ist noch lange nicht vorbei.“
    „Bisschen schwierig, findest du nicht?“, tat Lucy ihre Meinung kund und nickte in Sonjas Richtung. Während der nur kurzen Waffenruhe zwischen Eagle und Marina hatte sich Sonja wieder einigermaßen gefangen. Zumindest vermochte sie es nun wieder dem freundlich gesinnten Gesichtsausdruck eines Schulkameraden kurzzeitig standzuhalten. Von weiterer Besserung ihres Zustandes konnte allerdings kaum die Rede sein.
    „Sie fängt sich schon wieder, und außerdem“, erwiderte Eagle und richtete sich trotzig zu Lucy, „sind das Raikou-Angelegenheiten. Braucht euch also nicht zu interessieren.“
    „Aber mein Suicune-Handtuch ist gut genug, um deine Raikou-Frisur zu trocknen, ja?“, entgegnete Skip feist grinsend.
    Eine weitere Welle von wüsten Pöbeleien – diesmal allerdings sogar unter Zimmerlautstärke – schwappte über alle Beteiligten hinweg, die, kurz darauf, mit den Worten „Macht doch, was ihr wollt! Ist mir doch egal!“ endete. Nun endgültig in seiner Ehre zutiefst beleidigt zog Eagle demonstrativ einen Stuhl heran und ließ sich am äußeren Rand der Sonja-Fangemeinschaft nieder, nicht aber ohne noch ein paar leise Verwünschungen in seinen nicht vorhandenen Bart zu murmeln.


    „Wenn ich es mir so recht überlege ...“, sinnierte Lucy laut vor sich hin. Sie betrachtete kurz Evoli, schaute dann nachdenklich aus dem Fenster, wo still und schweigsam der See ruhte. „Es klingt fast so, als ab man Evoli den Kopf verdreht hätte, zumindest wäre es plausibel.“
    „Wie meinst du das?“, hakte Diana nach.
    Lucy lächelte gequält. „Sie gehören der gleichen Art an, oder? Ein paar schöne Augen, aufkochende Hormone, ... Den Rest könnt ihr euch wahrscheinlich denken.“
    „Die nachfolgenden Reaktionen auf diese Äußerung reichten von Eagles gezwungenen erstickenden und würgenden Lauten bis hin zu Neas und Serinas albernen Gekicher.
    „Sie ist verliebt“, seufzte Serina mit einem verträumten Blick.
    „Wie süß!“, flötete Nea.
    Eagle dagegen erntete mit seiner Bitte nach einem Speikübel weitere Missgunst, speziell von Seiten seiner Raikou-Kolleginnen.
    Diana gab sich selten skeptisch über die Aussage, die nun im Raum stand. Lippenschürzend beäugte sie Evoli, die auf Sonjas Schoß seelenruhig – als ob sie die ganze Geschichte überhaupt nicht kümmern würde – ihre Mahlzeit vertilgte, ungeachtet der neugierigen Blicke, die plötzlich auf ihr ruhten. „Für jemanden, dem womöglich gerade das Herz gebrachen worden ist, scheint ihr das aber reichlich schnuppe zu sein, meinst du nicht? Ich an ihrer Stelle hätte wohl anderes im Sinn als mir den Bauch vollzuschlagen.“
    Für einen winzigen Moment ließ Sonjas vierbeinige Gefährtin von dem bereits halb verzehrten Gebäck-Stapel ab, schenkte Diana einen stechenden Blick, bevor sie ihre ganze Aufmerksamkeit wieder auf ihre Mahlzeit zurücklenkte.
    „Wie sagt man doch so schön: Liebe geht durch den Magen“, erwiderte Lucy mit rechthaberischen Unterton in der Stimme. „Für mich liegt der Fall klar auf der Hand: Evoli ist umgarnt und in einer heißen aber schnellen Affäre um den kleinen Finger gewickelt worden. Jetzt setzt das große Frust-Essen ein, in dem man seinen ganzen Kummer, das ganze Leid, das ganze Elend um das gebrochene Herz und die verlorene Lieber krankhaft wegfrisst.“
    „Arme Evoli ...“, tröstete Diana das Pokémon auf Sonjas Schoß.
    Wohlwollend ihr Mitleid über diesen Herzschmerz kundzutun, kraulten abwechselnd Nea und Serina ihrer um die erste Liebe betrogenen Patientin mitfühlend hinter den Ohren. Wirklich entlohnt bekamen es die beiden Mädchen – sah man von einem kurzen Augenkontakt ab, der allerdings allem Anschein nach vielmehr absicherte, dass ihr auch ja keiner einen Keks abspenstig machen konnte – jedoch nicht.
    „Besser jetzt, wenn man noch leicht drüber hinwegkommt, als wenn man nur noch ein hässliches rauchendes Loch im eigenen Schädel als einzigen Ausweg sieht“, sagte Marina und klang dabei recht unbekümmert. Inzwischen hatte sie das fast verloren geglaubte Interesse an ihren Fingernägeln wiederentdeckt. „Ich für meinen Teil hab schon zwei Typen den Laufpass gegeben. Auf Knien haben sie mich angefleht, doch zu ihnen zurückzukommen. Tja, das hätten sie sich überlegen sollen, bevor sie fremdgehen.“ Marinas herablassender Stimmlage zu Folge genoss sie es regelrecht, sich in Gedanken an die Abfuhr ihrer Ex-Freunde zu erinnern. „Sie haben es überlebt – und das wird Evoli auch“, sagte sie abschließend.
    „Wette, sie waren froh darüber, dich Brechmittel los zu sein“, ergänzte Eagle, ohne dabei auch nur die Bemühungen einer Stimmminderung vorzutäuschen.


    Speziell bei Marina stieß Eagle mit dieser Aussage auf nur äußerst mäßige Begeisterung. Kurzum brach ein erneuter Krawall zwischen den beiden aus, der abermals mit der Warnung seitens des Personals der Safari Zone endete, hochkantig vor die Tür gesetzt zu werden. Der Rest der Anwesenden nutzte die darauf eintretende Stille, um die Spekulationen um Evoli und ihre verlorene Liebe auszuweiten. Ganz vorne dabei: Lucy, Diana, Nea und Serina. Allesamt verloren sich irgendwann so tief in ihre Mutmaßungen, dass sie sogar das ursprüngliche Thema, nämlich Sonja, völlig vergasen. Skip hingegen hielt standhaft die Stellung an Sonjas Seite, ertappte sich mehrmals allerdings dabei, wie er sehnsüchtige Blicke hinaus auf die spiegelglatte Seeoberfläche warf. Marina schien endgültig genug von dem aufmüpfigen Raikou-Jungen zu haben und hatte sich von der Gruppe völlig gelöst, was Eagle natürlich nur sehr gelegen kam. Einmal mehr fühlte er sich in seiner Überlegenheit bestätigt. Evoli, als letztes im Bunde, hatte zwischenzeitlich auch den letzten Kekskrümel zum Verschwinden gebracht und sich auf dem Schoß ihrer Gefährtin eingekringelt. Sie atmete ruhig und gleichmäßig; ein Gefühl, das auch auf Sonja sehr entspannend wirkte.
    „Geht es wieder?“, fragte Skip vorsichtig.
    Sonja seufzte tief. Ihre Stimme hatte mittlerweile fast den gewohnten Ton angenommen. „Ja, ich denke schon.“ Ihre Fingerkuppen nahmen sich zärtlich die Spitzen von Evolis Fell an. Ihre Gefährtin öffnete ein Auge, musterte Sonjas Verhalten kurz, befand es für gut und schloss es wieder.
    „Und?“, hakte Skip nach.
    Sonja schüttelte sacht den Kopf. An der unlängst gefällten Entscheidung hatte sich nichts geändert.
    „Verstehe ich“, antwortete Skip anerkennend nickend.
    „Und was willst du den Lehrern erzählen? Armadis, Cenra und Finch wird das sicherlich nicht gerade gefallen“, schaltete sich Eagle wieder in die Unterhaltung ein.
    Im ersten Moment erweckte Sonja den Eindruck, als stünde sie vor einem bodenlosen Abgrund mit einer ganzen Armee zähnefletschender Ungeheuer zu ihrem Rücken oder unmittelbar von einer unhaltbaren Lawine überrollt. Sekundenschnell wieder kreidebleich öffnete sie den Mund, doch nur Gestammel wollte ihr entweichen. „L-Lehrer?“
    „Was glaubst du denn? Warum sind wir wohl hier?“ Eagles Äußerung hatte weniger etwas einer Frage, sondern vielmehr einer knallharten Feststellung; einer Feststellung, deren sich Sonja allerdings nicht einmal im entferntesten Sinne gewachsen sah.
    Frühzeitig erkannte Skip die drohende Gefahr und sprang für Sonja rettend in die Bresche. „Es wird sich schon irgendwann eine andere Gelegenheit ergeben. Für heute soll es aber gut sein, da kann ich nur zustimmen.“
    „Und wer hat dich bitteschön nach deiner Meinung gefragt?“, höhnte Eagle. „Raikou-Angelegenheiten bleiben Raikou-Angelegenheiten. Find dich endlich damit ab!“
    „Das ist eine Sache der Freundschaft, nicht der Häuser“, erwiderte Skip prompt, „und mit deiner Engstirnigkeit ist ihr sicherlich nicht geholfen.“
    Eagles Stuhl kratzte wütend über den Boden, schlagartig war der Raikou mit bedrohlich funkelnden Augen auf den Beinen. „Ich gebe dir gleich engstirnig!
    „Äh, J-Jungs ...?“, meldete sich Sonja kleinlaut und mit zögerlich erhobener Hand zu Wort, wurde jedoch nur unschwer von Skips und Eagles Streitgespräch übertönt.
    „Du willst ihr Freund sein? Dann benimm dich gefälligst auch so!“
    „Ich brauche keine Ratschläge von irgendeinem dahergelaufenen Suicune, der nicht weiß, wo sein Platz ist! Und außerdem: Ich war schon für sie da, als noch niemand überhaupt wusste, dass du zehn Meilen gegen den Wind nach Fisch stinkst! Sie braucht weder dich noch den Rest von deiner Suicune-Sippe, kapische?“
    „Ach ja?! Kann sie mir das auch selbst ins Gesicht sagen?!“
    „Ja, kann sie!“
    „Na, das will ich mal hören!“
    „Dann sperr endlich deine verstopften Lauscher auf!“
    „Wenn sie nicht raus will, kann sie auch niemand zwingen. Kommt dir das nicht in den Sinn?“
    „Bei eurem ganzen geistigen Dünnschiss ist es ein Wunder, dass ich überhaupt noch halbwegs vernünftig denken kann!“
    „Wie kann man nur so stur sein?!“
    „Weiß nicht. Sag mir lieber, wie man nur so verdammt blöd sein kann?!“
    „Lass sie halt ihre eigenen Entscheidungen treffen.“
    „Sie geht nachher noch einmal raus – basta!“
    „Jungs!“ Sowohl von ihrer eigenen bebenden Stimme als auch von den im ersten Moment eingeschüchterten Blicken der beiden Streitenden war Sonja anfangs so überrascht, dass sie die dritte im Bunde war, die im ersten Moment erschrocken zusammenfuhr. Zumindest bei Eagle und Skip legte sich dieser Umstand dann doch recht schnell wieder. Sonja dagegen benötigte ein paar mehr Sekunden, um sich wieder zu fangen. Die Herren der Schöpfung – ihren Keil hatten sie für den Augenblick vergessen – schauten Sonja so an, als hätten sie während ihrer Rangelei Sonjas Präsenz völlig vergessen. Umso interessierter hingen sie an den Lippen ihrer Freundin, als sich diese endlich bewegten. „A-also“, begann sie noch vorsichtiger als es ohnehin ihre Art war. Ihr entschuldigendes Lächeln galt speziell Eagle. „Es wird dir nicht gefallen, aber ...“ Sonja stockte kurz. Sie nutzte den Augenblick, in dem Eagle eine Augenbraue fragend in die Höhe zog, um den faustdicken Klos in ihrem Hals mit aller ihr zur Verfügung stehenden Kraft hinunterzuschlucken. „Der Pokéball ... ich habe ihn ... verloren.“
    „Du – hast - was?!“
    Zum wiederholten Male öffnete sich die Tür und ein Schüler trat ein. Niemals aber diesen Tag zuvor erregte die Ankunft eines altbekannten Gesichts eine derartige Aufmerksamkeit.


    Ray Valentines Auftreten zeugte auf den ersten Blick von keinem gravierenden Unterschied zu sonst. Sein Gesicht wirkte entspannt und gelassen wie eh und je, begleitet wurde er - wie man es von ihm aus der Freizeit her kannte - von seinem vierbeinigen Gefährten. Alles wie üblich. Ein Detail allerdings entfremdete das gewohnte Bild von dem Raikouianer samt Begleiter, dass man schon fast von einem Akt der Gewalt gegen das Augen sprechen konnte: Aus Rays Armen, gut vor den kurzsichtiger Blicke neugieriger Menschen versteckt, lugten zwei spitze, lange Ohren, ein wehleidiger Blick, ein Paar dunkelbraune Augen und das dazu passende bronzefarbene Fell hervor. Von dem einen auf den anderen Moment veranlasste Evoli mit ihrer Präsenz gleich doppelten Anlass zur Freude. Niemand aber, der Zeuge von den letztminütigen Ereignissen geworden war, konnte sich von dieser unerwarteten Wende der Ereignisse mitreißen lassen.
    „Was geht denn hier ab?“ Nur wenige Augenblicke nach seinem Eintreten wurde sich auch Ray endlich von der Existenz des kleinen Fellknäuels bewusst, das sich entspannt und unbekümmert im Halbschlaf auf Sonjas Schoß räkelte. Ein von Verwirrung gezeichneter Blick in Sonjas Richtung folgte ein in dieselbe Richtung gehender Schritt. Kurz darauf - er musste sich einfach Gewissheit verschaffen – schaute er zu dem sanft atmenden Bündel, das er fest in den Armen verschlossen hielt. Diese Geste fand bei allen, die sich der heiklen Angelegenheit im Klaren waren, rege Beteiligung; allen voran natürlich Sonja. Fassungslos wanderten ihre Augen immer wieder von den beiden Pokémon hin und her.
    „Was spielt ihr denn für ein Spiel?“, lachte Ray ungläubig. „Mag mich mal bitte jemand aufklären?“
    Die kleine Runde von vorhin hatte sich im Handumdrehen wieder versammelt. Diana, Lucy, Nea, Serina, Sonja, ja selbst Eagle schien seinen Groll – zumindest für den Moment – völlig vergessen zu haben und trotzte plötzlich völlig problemlos der Anwesenheit von Marina und Skip. Sogar abseits der Runde hatte die Unruhe im Raum auf einmal ihre Allgegenwärtigkeit verloren. Wie ein Funke war die Spannung von einer Person auf die andere übergegangen, auch ohne sämtliches Hintergrundwissen zu besitzen: Man konnte man einfach spüren, dass hier etwas gar und gar nicht stimmte.
    „Kann das sein, ist das ...?“, flüsterte Nea in Serinas Richtung. Es war wie ein besonders kräftiger Weckruf, der die Lebensflamme im Saal neu entfachen ließ. Überall brachen plötzlich geheimnisvolle Flüsterpartien aus, Zeigefinger wurden abwechselnd auf Ray und auf Sonja gerichtet und Blicke bohrten sich misstrauisch durch Fell und Fleisch. Die verräterische Stille, eine Stimmung wie in einem Gerichtssaal kurz vor der Urteilsverkündung, hatte das Pokémon auf Sonjas Schoß aus seinem Schlummer geweckt. Eine misstrauischer als die andere tauschten beide Evoli-Exemplare Blicke aus.
    „Irgendwie ... Ich bin mir jetzt auch nicht mehr sicher ...“, murmelte Sonja mit halb offenem Mund.
    Evoli richtete sich auf die Hinterbeine auf, die Vorderbeine stützten sich auf Sonjas Brust. Ihre dunkelbraunen Augen dagegen hatten alle Hände damit zu tun, um dem Menschenmädchen den flehentlichsten Blick ihres ganzen Lebens zuzuwerfen. Nur kurz war der Schulterblick zu Ray, der noch immer seine ganz eigene Version des Pokémons in den Armen hielt. Schon bettelten ihre bekümmerten Augen wieder nach denen Sonjas. Analog dazu piepste Rays Fund empört auf, was die ganze Geschichte nur noch mehr verkomplizierte.
    Wer schwor hier wem die Treue? Bei wem ging die trügerische, verfälschte Seelenverbundenheit in schamlose, missratene Korruption über? Wessen Gedanken waren so abgrundtief verdorben, dass er dieses verlogene Netz der Intrigen in einer gewissenlosen Selbstruhe spinnen konnte? Oder einfach nur: Wer war nun die echte Evoli? So unterschiedlich man doch war, so verschieden man die Welt doch mit den eigenen Augen sah – diese Fragen suchten in just diesem Augenblick in jedermanns Kopf erbittert nach einer Antwort.


    „So ist das also ...“ Ray hatte sich Sonjas Erlebnisse der letzten Stunden schildern lassen. Ein wenig mehr Klarheit hatte es ihm zwar verschafft, beantwortete es allerdings noch lange nicht die Frage, wer hier im Raum mit gezinkten Karten spielte. Das Pokémon, das noch immer hilflos in seinen Armen lag und mit dem langsamen, gleichmäßigen Herzschlag ein Gefühl des absoluten Friedens spendete, oder aber das bis auf das kleinste Haar identische Duplikat mit demselben flehentlichen und wehleidigen Blick, der sogar im tiefsten Winter eine Tafel Schokolade hätte zum Schmelzen bringen können. „Und jetzt?“
    „Wer ist die echte? Du musst es doch wissen“, warf Diana ein.
    Eagle übernahm für Sonja das Sprechen. „Was wissen? Die sind absolut identisch.“
    „Ach Quatsch! Das gibt es nicht!“, erwiderte Lucy trotzig.
    „Dann mach die Augen auf! Habe ich es hier eigentlich nur mit Behinderten zu tun?“
    „Die da ... sie sieht etwas verwahrlost aus, meint ihr nicht?“, äußerte sich Skip. Sein Blick galt Rays Fund. Tatsächlich wirkte sie mit ihrem leicht strubbeligen Fell etwas ungepflegt, was allerdings auch aus einer zünftigen Abreibung resultieren konnte. Passend dazu piepste Evoli ihrem Ankläger einem kläglichen, beinahe flehentlichen Laut entgegen.
    „Sie sah schon so aus als ich sie aufgegabelt habe“, schulterzuckte Ray. „War ganz schön mitgenommen, ist mir einfach so in die offenen Arme gestolpert.“
    „Wo war das?“, hakte Skip nach.
    „Nicht weit von hier, bei einer großen Weide, sah wie ein Korkenzieher aus.“
    „Den habe ich auch gesehen! Irgendwo dort verlor ich auch meinen Pokéball“, schreckte Sonja auf. „Äh, warst du dann das unter dem Baum? Da hat jemand gelegen. Ist etwas passiert?“
    „Nööh!“, erwiderte Ray, tauschte gleichzeitig aber einen flüchtigen Augenkontakt mit Sheinux aus. Niemand brauchte etwas von ihrer bescheidenen Pilzjagd zu erfahren.
    „Dann ist definitiv eine, oder sollte ich besser einer sagen, unser Herzensbrecher“, schlussfolgerte Lucy verschwörerisch.
    Es folgte anerkennendes Nicken, was dann aber schnell wieder verebbte. Das bloße Auge konnte trotz dieses Anhaltspunktes keinen sichtbaren Unterschied feststellen, sah man von einem leicht schmuddeligen Fell ab. Dem noch nicht genug war das beidseitige Interesse der Pokémon füreinander verebbt. Für beide schien nur noch die Bemühung im Vordergrund zu stehen, alle Beteiligten von der eigenen Echtheit zu überzeugen und somit den oder die Betrügerin zu entlarven.
    „Wenn ihr mich fragt“, begann Lucy und ignorierte dabei nur zu gern Eagles Dich fragt aber keiner, „dann ist die Sache glasklar.“ Ihr Zeigefinger deutete anklagend in Rays Brusthöhe. „Dieser Landstreicher ist eindeutig unser Double.“
    Fassungslos öffnete Evoli ihren Mund, doch kein Ton wollte ihr über die Lippen kommen. Stattdessen sah sie flehentlich in die Runde, von einem Gesicht in das nächste bis sie Sonjas erreichte und dort verharrte.
    „Ist das nicht sehr gewagt?“, meinte Diana. „Ich meine, was wenn nicht? Es sind Indizien, mehr nicht.“
    „Wenn das von der kommt, dann ist etwas Wahres dran“, pflichtete Eagle seiner geschwätzigen und für ihren Klatsch und Tratsch berüchtigten Hauskameradin auf seine ganz persönliche Art und Weise zu.
    „Was soll denn das wieder heißen?“, richtete sich Diana schmollend in Eagles Richtung. Nea und Serina kicherten leise hinter Dianas Rücken.
    „Der Pokéball ...“, flüsterte Skip.
    „Was?“
    „Der Pokéball“, wiederholte Skip. „Evolis Pokéball, den hast du doch, oder?“
    „Schon, aber was soll der ...? Oh!“ Sonjas offene Handfläche raste mit unglaublicher Geschwindigkeit gegen die eigene Stirn, dass es ihr im ersten Moment sogar ein wenig schwarz vor Augen wurde. „Stimmt!“
    Die Lösung, sie war so genial und doch so schlicht. Man musste sich eigentlich schämen, nicht gleich zu Beginn darauf gekommen zu sein. Nur die echte Evoli konnte natürlich in ihren Pokéball zurückkehren. Allen anderen ihrer Mit-Pokémon stand dieses Privileg nicht zu. Wer am Ende dem Sog des Pokéballs gezwungenermaßen widerstehen konnte, war auf frischer Tat ertappt.
    Sonja erhob sich von ihrem Stuhl und setzte die Evoli, die die ganze Zeit über auf ihrem sicheren Schoß verweilt hatte, auf den nächstbesten Tisch. Ihre leicht zitternden Finger fuhren in die Schultasche, wo sie – neben Kugelschreiber, Bleistiften, Spitzer, Radiergummi, Textmarker und einem schwarzen Edding – das Metall von Evolis Pokéball zu spüren bekamen. Auf Knopfdruck wuchs er zu der stattlichen Größe heran, die den Eintritt eines Pokémons erlaubte.
    „Also los“, hauchte Sonja. Sie richtete den Pokéball aus, war nur noch Wimpernschläge von der Wahrheit entfernt, als ...
    „Roa!“
    Die nackte Panik brach urplötzlich im ganzen Raum aus. Menschen rempelten sich gegenseitig an, Stühle und Bänke wurden umgeworfen, von den Tischen gestürzte Teller und Gläser zersprangen in ihre Einzelteile. Noch rechtzeitig hatte sich Sonja auf den Boden geworfen und den Atem angehalten, bevor der ganze Saal augenblicklich in einem undurchdringlichen, widerlich im Halse kratzenden, rosaroten Nebelschleier versunken lag; ein Phänomen, mit dem Sonja bereits nur allzu gut vertraut war. Es war die gleiche Reaktion, durch die Evoli auf ihrem gemeinsamen Weg ins Unbekannte ihren Verstand verloren hatte. Obwohl es ein angenehmes Gefühl war, wie sich der warme Dunst eine jede Sorge im Kopf einverleibte und dort nur noch eine Woge des Glücks und der Hoffnung zurücklies, so lief es Sonja dennoch eiskalt den Rücken runter. Es graute ihr davor, was sie wohl im Anschluss erwarten würde ...


    Das Hustorchester im Raum hielt sogar noch eine geschlagene Minute an, nachdem sich die purpurrote Wolke endlich gelichtet hatte. Zurück blieb eine Schneise der Verwüstung – die Überreste einer ausgelassenen Feier oder aber nur das Resultat von einem einzigen Abwehrmechanismus eines Pokémons. Ray war einer der ersten, der sich wieder fangen konnte. Etwas aber fehlte ihm: Während dem Gerangel war Evoli seinen Armen entglitten. Sehr weit war sie allerdings nicht gekommen. Sie und ihr Spiegelbild thronten beide auf einem der wenigen noch stehenden Tische im Raum. Obwohl man das heillose Durcheinander schamlos für ein erneutes Bäumchen-wechsle-dich-Spielchen ausgenutzt hatte, war nun offensichtlich, wer hier die ganze Zeit über einen jeden an der Nase herumgeführt hatte.
    „Evoli! Was tust du?! Lass das!“
    Allein der schelmische Blick von Evolis Duplikat in Richtung der Menschen, während es sich zärtlich von Evolis Zunge an der Wange streicheln ließ, eliminierte jedweden Zweifel, der bis zu diesem Moment noch im Raum gestanden hatte. Die zu verschmitzten Schlitzen verengten Augen und das amüsierte Grinsen des Pokémons stießen nur auf reichlich wenig Begeisterung unter den Anwesenden; das Gegenteil war sogar der Fall. Angewidert packte Sonja ihre Freundin und zerrte es gewaltsam von ihrem Ebenbild weg. Evolis Reaktion auf diese Geste war allerdings alles andere, als ihrer menschlichen Gefährtin ihre gewohnte Dankbarkeit entgegenzubringen. Mit entrüsteter Stimme strampelnd wehrte sie sich mit sogar vehement gegen den Griff ihrer Freundin und setzte alles daran, offenbar wieder zu ihrem verlogenen Artgenossen zurückzukehren.
    „Lass das, Evoli! Was soll das?!“, keuchte Sonja.
    „Sie ist verliebt! Wie romantisch!“, seufzte Nea.
    „Ach, halt die Klappe!“, schnauzte Sonja durch ihren erbitterten Zweikampf mit Evoli hindurch.
    „Jedenfalls dürfte jetzt wohl klar sein, wer uns hier die ganze Zeit so dreist verarscht hat“, knurrte Eagle und schaute bitterböse die Gestalt an, die sie die ganze Zeit über als eine von ihnen erachtet hatten. Der Evoli-Klon schnitt als Antwort eine Grimasse, bevor er plötzlich in einem grellvioletten Schein verschwand. An seiner Stellte tauchte – unter etlichen Oh’s und Rays Was geht denn hier ab? - plötzlich ein völlig anderes Wesen auf, das seinen Platz einnahm.


    Totenstille. Vergeblich suchte man die Aufmerksamkeit seines Nachbarn, denn jegliches Interesse richtete sich auf den kleinen, kohleschwarzen Vierbeiner, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war und mit einem selbstzufriedenen Lächeln in die Runde der Menschen schaute. Es war der gleiche Gesichtsausdruck, der schon zuvor das Evoli-Duplikat vor seinem Verschwinden angewandt hatte. Die salbeigrünen Augen des Fremdlings passten jedoch deutlich besser zu dieser Geste, als es jene von Evoli getan hatten. Das große Pony auf der Stirn des Pokémons war von der gleichen spätreifen Kirschfarbe wie die Augenlider, die zwei Flecken auf der Stirn wie auch die spitzen Sohlen aller vier Beine. Vom Kopf bis zum Schwanz wirkte das Aussehen wie für diesen verlogenen Charakter geschaffen.
    „Das nenne ich dann mal einen falschen Fuchzger“, lachte Ray beifällig.
    „Was zum Henker ist das?“
    In Sonjas sperrangelweit offenen Mund hätte man eine reife Mandarine hineinschieben können, so bestürzt wirkte sie. Nichts Neues, dass es ihr die Sprache verschlagen hatte, doch ging es den meisten nicht sonderlich viel anders. Blühende Vorstellungskraft hin oder her - eine solch skurrile Entwicklung der Dinge hatte sich niemand auch nur im entferntesten Sinne erwartet. Die Verwandlung des Duplikates hatte Evolis Verstand wiederhergestellt. Dieser Gesichtsausdruck, der jenem von Sonja zum Verwechseln ähnlich sah, hätte die echte Evoli sogar unter tausenden ihrer Art als die echte entlarvt. Doch das hatte sich natürlich nun völlig erübrigt. Von allen in der Runde übte Sonja mittlerweile die größte Distanz, doch das sollte sich mit dem Sprung des Pokémons in ihre Arme schlagartig ändern.
    „Huch!“
    Evoli piepste empört auf, was allerdings nichts daran änderte, dass ihr Pokémon-Artgenosse ihren sonst so angestammten Platz eingenommen hatte.
    „Was es auch ist, es scheint dich zu mögen“, meinte Skip.
    Sonjas Gesichtsausdruck war alles andere als belustigt; vielmehr hin- und hergerissen zwischen Abscheu und Interesse. Die Sprache hatte es ihr nach wie vor verschlagen.
    „Ich weiß es wieder! Das ist ein Ditto, kein Zweifel!“, rief Lucy plötzlich.
    Alle – ausgenommen Sonja, deren Blick noch immer wie angewurzelt auf dem Schelm in ihren Armen ruhte, sowie Evoli, deren Gesicht von Neid und Bitterkeit furchtbar entstellt wurde – drehten sich interessiert zu Lucy hin.
    „Ditto?“, wiederholte Serina stirnrunzelnd.
    „Ich habe von ihnen gehört“, sagte Diana. „Formwandler. Sollen verdammt selten und verflucht schwer zu finden sein.“
    „Sie mimen perfekt das Aussehen ihres Gegenübers bis ins kleinste Detail. Ist ein Abwehrmechanismus“, ergänzte Lucy.
    „Ditto also, ja?“, sagte Ray und drehte sich wieder in Richtung Sonja. Alle anderen taten es ihm gleich. „Ist ja stark (und ich jage Pilzen nach ...).“
    „Würde mich doch stark wundern, wenn wir es hier mit einem Ditto zu tun hätten.“ Diese Stimme, bei der sich sogleich sämtliche von Eagles Haaren wütend aufrichteten, gehörte Logan Sokol. Bislang hatte der Suicune die Ereignisse stillschweigend – wie man es von ihm kannte – von der Seitenlinie aus beobachtet. Eine grobe Unrichtigkeit allerdings schien nun seine pädagogische Ader geweckt zu haben, die Dinge richtig zu stellen. Jegliche Aufmerksamkeit war auf ihn gerichtet
    „Der Besserwisser weiß man wieder alles ...“, knurrte Eagle
    „Besser?“, beendete Ray Eagles Satz mit einem Grinsen.
    „Ditto übernehmen bei ihrer Verwandlung nicht nur die körperlichen Merkmale bis ins kleinste Detail, sondern verfügen weiterhin über die identischen Fähigkeiten. Körperkraft, den Typ, ja sogar die Angriffs- und Verteidigungstechniken.“ Logans Stimme stand der eines eingeschworenen Lehrers in nichts nach. Er richtete sich von dem bequemen Stuhl an seinem kleinen Zweimann-Tisch auf und näherte sich unter verfolgenden Blicke seinen Mitschülern.
    „Und was soll das heißen? Drück dich klar aus!“, brummte Eagle.
    „Soll heißen, durch die Imitation ihres Ziels verfügen sie auch über deren Attacken. Dieser Nebel von vorhin, das war Anziehung, eine Fähigkeit, die einen Sinneswandel bei geschlechtsfremden Pokémon herbeiruft, der schon fast an eine“, hier musterte er Lucy, „fanatische Liebe grenzt. Darum hat auch Sheinux hier“, binnen Sekunden wurde Sheinux Opfer unzähliger Blicke, „kühlen Kopf bewahrt.“
    „Komm zum Punkt!“
    „Beherrscht Evoli Anziehung?“
    Sonja war im ersten Moment noch nicht ganz bei der Sache. Sie benötigte fast das Fünffache der Zeit, eine handelsübliche Antwort herauszuwürgen. „N-nein, ich glaube nicht“, stammelte sie.
    „So viel also dann zu eurer Ditto-Theorie“, sagte Logan gelangweilt in Lucys und Dianas Richtung.
    „Schön! Kannst jetzt wieder gehen“, höhnte Eagle herablassend in Logans Richtung. Der aber hob nur eine Augenbraue und bewegte sich nicht.
    „Dann lass mal hören, was dein Dex zu sagen hat“, schlug Ray vor.
    Ein nur selten zu beobachtenden Ausdruck der Neugierde huschte über Logans Gesicht, den man bei ihm eigentlich nur sehen konnte, wenn ein Lehrer ihn tatsächlich mit etwas Unbekannten konfrontierte, das er im Anschluss assimilieren konnte. Dies veranlasste ihn wohl auch dazu, dass er Rays Wunsch nicht abschlagen konnte und diesem aus eigenem Interesse sofort nachging. Er zückte seinen Pokédex – Eagles Gesicht wurde noch viel finsterer – und richtete ihn auf das unbekannte Pokémon. Identisch mit Sarahs Version ihres Pokédex kam auch aus diesem der sanfte Ton einer Männerstimme entgegen.
    „Zorua, auch bekannt als Lausefuchs-Pokémon“, hieß es. „Bekannt für ihre Beharrlichkeit gehen Zorua mit eiserner Stirn ihrem Willen nach. Raffinesse und Tücke gepaart mit ihrer Eigenschaft, das Aussehen eines jeden Lebewesens anzunehmen, helfen ihnen dabei, stets das zu bekommen, was sie wollen. Zorua gelten im Allgemeinen auch als sehr stur und lassen sich nur schwer von ihren Vorhaben abbringen. Durch ihren Drang, alles und jeden zu erschrecken, symbolisiert dieses Pokémon in manchen Regionen der Welt eine Art böses Omen oder Unglück.“
    „Zorua also, so so ...“, murmelte Logan. Interessiert musterte er abwechselnd seinen Pokédex und die lebensechte Gestalt in Sonjas Armen. „Unlicht-Pokémon, sehr interessant ...“
    Der Pokédex lügt nicht“, warf Ray lächelnd über die Schulter in Richtung von Diana und Lucy.
    Sonja wanderte derweil zu dem Tisch, auf dem schon zuvor Zorua – noch in seiner Evoli-Verkleidung – gestanden hatte, und setzte das Pokémon zum zweiten Mal dort ab. Ohne ihren Blick von ihm abzuwenden oder gar zu blinzeln, schritt sie langsam zurück; eine Geste, die ihr Zorua bewegungslos gleichtat.
    „Was hast du? Alles okay“, fragte Skip.
    „Mhmm ...“, machte Sonja nachdenklich. Evoli schindete ihre Form von Aufmerksamkeit und schmiegte sich so lange um Sonjas Beine herum, bis sie endlich wieder in den Armen ihrer Freundin lag. „Ich weiß nicht, was ich davon halten soll ...“, murmelte Sonja.
    „Zorua scheint dich zu mögen“, meinte Nea.
    „Vielleicht nutzt er sie aber auch nur aus?“, warf Serina ein.
    Sonja biss sich auf die Lippen, eine weitere Reaktion blieb aus.
    Sheinux kletterte derweil auf einen Stuhl und sprang auf den Tisch. Er und sein Mit-Pokémon standen sich gegenüber. Zorua war etwas größer. Sheinux näherte sich vorsichtig. Noch vorsichtiger bewegte sich seine Nase zum kohlefarbenen Fell seines Gegenübers hin. Urplötzlich erstrahle Zoruas ganze Gestalt in einem durchdringenden Violett und nur zwei Sekunden später waren Sheinux und Zorua-Sheinux, ein perfektes Imitat seines azurblauen Pendants, auf gleicher Augenhöhe. Sheinux machte vor Schreck einen gewaltigen Satz nach hinten.
    „Wie geil ist das denn?“, lachte Ray und fing im gleichen Moment geistesgegenwärtig seinen hinterrücks von der Tischplatte stürzenden Partner auf. Viele seiner Mitschüler stimmten in das Gelächter ein; Ausnahme bildeten Logan - er tippte nachdenklich auf den Tasten seines Pokédex ein -, Sonja – sie schürzte unsicher die Lippen – und Eagle – die Ausgelassenheit im Raum behagte ihm nicht.
    „Wo willst du hin?“, erwischte Skip Eagle im letzten Moment, bevor der Raikou durch die Tür schreiten konnte. „In einer knappen Dreiviertelstunde kommt hier ein Bus vorbei und fährt die anderen Stationen ab, oder schon vergessen?“
    Eagle würdigte den Suicune keines Blickes und antwortete noch während er ins Freie trat: „Es geht dich zwar nichts an, aber ich habe noch etwas vor.“


    Skips Vorhersage bewahrheitete sich: Pünktlich wie versprochen erreichte der Bus eine der vielen Stationen auf seiner Fahrt kreuz und quer durch die Safari-Zone. Einige Schüler, die man an den anderen Ruhezonen aufgesammelt hatte, saßen bereits erwartungsfroh auf den gepolsterten Sitzen und warteten nur vor Spannung darauf zu erfahren, was ihren eintreffenden Klassenkameraden widerfahren war, welche Erlebnisse ihnen zuteil worden waren und natürlich welch interessantes Wesen sie von nun an begleiten würde. In all der heiteren Ausgelassenheit nahmen nur die wenigsten den bitterernsten Ausdruck auf dem Gesicht einer Schülerin auf, die zum ersten Mal in ihrem Leben die Einsamkeit suchte. Fort vor den neugierigen Augen, die über die Rückenlehnen einen kurzen Blick auf sie zu erhaschen versuchten - auf sie und Zorua.

  • Heyho Jens


    Tja, was hat man wohl von der ganzen Aktion erwartet? Das hier sicher nicht. Die Evoli-Diskrepanz hat nochmal deutlich unterhaltsamere Dimensionen erreicht, als ich mir ausgerechnet hatte. Aber wie immer eins nach dem anderen.
    Zu Beginn fand ich das Lesen offen gesagt ein wenig zäh, was wohl hauptsächlich daran lag, dass mich die hohe Anzahl an Charakteren wieder mal fast erschlagen hat. Ich glaube kaum, dass es anderen genauso geht wie mir, aber ich musste mich hier erst ein zweites Mal einlesen, biss ich wieder den vollen Durchblick hatte. Wie du es schaffst, bei deinen eigenen Charakteren noch den Überblick zu behalten, ist mir ehtlich gesagt rästelhaft und dann musst du dich ja noch an individuelle Eigenschaften und Persönlichkeiten halten, die du ihnen verliehen hast. Ich muss gestehen, dass ich dich um so viel Übersicht beneide.
    Und wie´s bei so nem Menschenauflauf so üblich ist, treffen da natürlich auch einige Personen aufeinander, die sich gegenseitig total scheisse finden, weshalb es zum Streit kommt. Frage: Ist das Zufall, dass in 99% dieser Fälle auf der einen Seite immer Eagle steht? ( :achtung: ist natürlich kein Zufall). Ein Stück weit kann ich ihn ja verstehen, manchmal ist ne giftige Rivalität, bei der einem beim Anblick des Gegenüber schon die Galle hochkommt, einfach lustiger als Freundschaft. Aber so streitsüchtig kann man ja echt kaum sein. Doch was soll´s, unterhaltsam ist´s in jedem Fall. Nebenbei fällt mir auf, dass Eagle der einzige zu sein scheint, dessen Hass auf die anderen Häuser noch genau so groß ist, wie zu Beginn des Schuljahres. Es hatte sich ja engekündigt, dass das mit der Zeit etwas abflauen würde, nur hat Eagle das wohl nicht mitgekriegt. Hätte aber ehrlich gesagt auch nicht zu ihm gepasst.
    Aber mal zum eigentlichen Thema hier. Die Aktion mit dem Fake-Evoli ist schlichtweg genial! Hatte es ja selbst für ein echtes gehalten und war, wie bereits einmal erwähnt, von der Idee, dass Sonja ein zweites Evoli bekommen soll, ziemlich angetan. Aber ein Zorua... das ist mal ne Art, die Ereignisse auf den Kopf zu stellen. Dieser Part hat etwas verrücktes, doch gleichzeitig unbeschwehrtes, lockers an sich und beinhaltet zudem noch geniale Ideen. Und mitten drin..., um alles schöne mal wieder in hohem Bogen über den Balkon zu werfen... das bemitleidenswehrteste, schwächste und nervigste Wesen überhaupt... Sonja. Wohl jeder normale Mensch würde beim Anblick von Zorua folgendes denken: Haben wollen! UND DIE DUMME NUSS IST UNSICHER UND SUCHT DIE EINSAMKEIT? Manchmal frage ich mich, warum sie noch nie an Suizid gedacht hat. Wahrscheinlich zu feige. So gesehen hat sie ein Zorua eigentlich gar nicht verdient, aber dennoch hoffe ich, dass sie es wirklich einfangen wird. Sicher wäre es auch tough genug, um das Mädel auf Trap zu bringen. Hoffen wir das Beste.
    Fast schon möchte ich dich anflehen, Sonja mal verbal einen Arschtritt zu verpassen, aber das steht mir ja nicht zu. So vertraue ich dir einfach mal, dass du die Sache zu nem guten Ende für mich bringen wirst und veabschiede mich mal.


    Pheno

  • ~Kapitel 11: ~ Kapitel 11: Alte Bühne, neue Besetzung ~


    Part 1: Gestatten ...?




    „Schüler-Identifikationsnummer: 75 726 812 214. Name: Faksen, Skip. Pokémon: Ottaro. Geschlecht: Weiblich. - Da ’aben Sie aber ein an’ängliches Exemplar von einem Pokémon erwischt, Mr. Faksen, meine Güte!“
    Noch am selben Tag hatte man die unbeschwerte Rückreise zur Celebi-High angetreten. Besagter Tag sollte aber noch weit davon entfernt sein, vorzeitig abzudanken. Auf so ziemlich alles hatte man die Schüler der Grundstufe vorbereitet: Sie konnten es mit den unbarmherzigen Gesetzen der Natur aufnehmen, den Untiefen eines noch so tückischen Sees trotzen, sicher jeden steilen Berg erklimmen, ja es sogar in einem Stück von einer unerwartet riskanten Pilzjagd zurückschaffen. Vor sämtlichen Übeln der Welt waren sie nun, nach diesem Tag, gefeit – und das mit allen Schikanen. Doch wartete bereits die nächste, völlig unerwartete Herausforderung vor den Pforten ihres Zuhauses auf sie.
    Sitte, Angewohnheit, Brauch, Notwendigkeit, Übel, ... Man konnte es betiteln, wie man es nun auch wollte. Der Name änderte es nicht und schon gar nicht gebot er dem lästigen Aufwand Einhalt, den nur ein überflüssiger Akt der Bürokratie mit sich bringen konnte. Bereits bei ihrer Einschulung auf der Celebi-High waren sämtliche Schülerdaten in die High-Speed-Datenbanken der schulinternen Festplatten hinterlegt worden. Persönliche Daten, Lebensläufe und Zeugnisse vorheriger Schulen. Auch die Testergebnisse, die so gesehen sämtliche der persönlichen Charakteristika aufzeigten und die Zugehörigkeit des Hauses belegten, konnte man via simplen Tastendruck binnen Nanosekunden abrufen. Was natürlich in einem derart akkurat gehaltenen Schüler-Register einer Pokémon-Schule niemals fehlen durfte, waren natürlich die Pokémon selbst. Jeder Schüler musste sich zu diesem Anlass dem Eintragungsverfahren unterziehen. Die einzige Option hierzu bildete die Möglichkeit, augenblicklich sein Bündel zu packen und unehrenhaft die Schule zu verlassen. Keine wirkliche Alternative also, die einem gelassen wurde. Es verwunderte daher kaum, dass sich ausnahmslos jeder zur Registrierung einfand, gleichgültig ob von der langen Reise müde und erschöpft oder nicht. Keiner wollte den Rauswurf provozieren und schon gar nicht aus dem völlig banalen Anlass, die Identität seines neuen Pokémon-Gefährten, aus welchen Gründen auch immer, zu verschleiern.
    Sämtlichen Schüler der ersten Jahrgangsstufe war die Pflicht auferlegt worden, sich dieser Prozedur in drei separaten EDV-Räumen der Schule zu unterziehen; einen Raum für jede Hausfarbe. Neben dem jeweiligen Hauslehrer, der die aufgenommenen Daten in die nimmersatte Schuldatenbank einspeiste, gab es nur eine weitere Person im Raum. Der gepflegt gekleidete Monsieur. C. Jacques Médoc hatte sich bereits im Vorfeld dem jungen Suicune-Schüler als ein sogenannter Pokémon-Kenner zu erkennen gegeben, eine Berufslaufbahn, zu deren man sich auch im Verlauf des Studiums an der Celebi-High ausbilden lassen konnte. Ähnlich wie ein begnadeter Sommelier es bestens verstand, einer jeden Mahlzeit den passenden Wein zuzuordnen, besaßen Pokémon-Kenner das Talent, die Kompatibilität zwischen Mensch und Pokémon bis in die kleinste Niederung zu analysieren. Alles konnte hierbei unter die Lupe genommen werden und von tragender Bedeutung sein: Der erste Eindruck beim bloßen Auftreten beider Seelen, über das Mit- und Füreinander im alltäglichen Leben, bis hin zu den Wallungen inmitten eines hitzigen Gefechts. Wer sich diese gehobenen Künste aneignen wollte, dem blieb nichts anderes als ein langer und beschwerlicher Weg voll von jahrelangen Plackereien übrig. Man klassifizierte von dem rangjüngsten C-Klasse-Kenner, der lediglich als Assistent fungieren durfte, darüber lagen die B- und A-Klasse-Kenner. Zu der absoluten Spitze zählten sich die renommierten S-Klasse-Kenner. Für die elitären Ansprüche der Celebi-High kamen natürlich nur die Besten unter den Besten in Frage. Und eine solch hochanangesehene Persönlichkeit saß Skip nun Auge in Auge gegenüber.
    „Vortrefflich möchte moi meinen!“, flötete Mr. Médoc. „Und Sie ’aben einander erst jetzt kennengelernt?“
    „Öh, ja. Gerade heute Mit...“
    „A la bonne heure!“, unterbrach Monsieur Médoc die Ausfertigung seines Subjektes mit einem begeisternden Händeklatschen. „Absolut! Es ist ein absoluter ’ochgenuss, eine solch innige Liebe zwischen zwei verschiedenen Seelen zu betrachten. Sehen Sie nur, Professor, sehen Sie nur!“
    „Ich sehe es“, antwortete Professor Cenra, wenn sie auch nicht einmal ansatzweise den Ton des Pokémon-Kenners traf.
    „L-Liebe? Öh ...“ Skip senkte sein Haupt. Natürlich war es ihm kaum entgangen, dass Ottaro, das kleine Pokémon auf seinem Schoß, mit dem er diesen Mittag noch im See gerungen hatte, bereits während der kurzen gemeinsamen Anwesenheit den Oberkörper ihres neuen Gefährten liebkoste. Von Liebe hatte Skip jetzt aber nicht sprechen wollen. Er hob seinen Kopf. „Liebe?“, wiederholte er.
    Monsieur Médoc wirkte über Skips passive Reaktion etwas enttäuscht. „Ihnen hat sich bislang kaum eine Gelegen’eit geboten, sich mit Ottaro bekannt zu machen, das verstehe ich“, sagte er traurig. Wären Sie ein Pokémon-Kenner, wäre ich nicht ’ier und ’öchst wahrscheinlich arbeitslos“, er lachte leicht gekünstelt auf, „und ’ätten sicherlich bereits gemerkt, welsch überaus schmack’afte Partie Sie beide doch bilden.“
    Erneut schaute Skip herab, wo ihm nun Ottaros glitzernden Augen entgegenleuchteten und ihre leicht geröteten Wangen ihn anlachten. Unzweifelhaft erwartete sie von ihrem Angebeteten eine Reaktion. Skip streichelte ihr sanft über die rechte Wange. Ottaro lief sekundenschnell noch röter an und drehte sich kichernd weg. Ein wenig erschrocken musste Skip feststellen, dass Monsieur Médoc ihn plötzlich mit fast dem identischen Blick ansah.
    „O, welch ’ingabe! Absolument magnifique!“, seufzte der Pokémon-Kenner. „Es wird Sie sicherlich erfreuen, Mr. Faksen, dass ich Ihnen und Ottaro eine überaus vergnügliche Zeit miteinander prognostizieren kann. Sie beide, zwei unterschiedliche Seelen vereint als Ganzes, wie der geschickte Umgang verschiedener Zutaten in einem einzigen Menü eine Einheit schafft, so werden auch Sie eine innige Partnerschaft bilden. Ihr feuriger Sinn für Freundschaft und Ottaros lodernde Leidenschaft könnten gar nicht besser einander abstimmen, und so das Rezept einer bereichernden und glücklichen Zukunft bilden. ’üten Sie sich allerdings vor der Konkurrenz. Ottaro könnte in Anwesen’eit von Rivalinnen eifersüchtige Gefühle hegen, so wie auch die schönste aller Rosen Dornen ’at. – Das wäre alles, Sie dürfen gehen.“
    Das Ende von Monsieur Médocs Ansprache kam so überraschend, dass es Skip anfangs gar nicht wahrhaben konnte und man ihn sogar noch einmal darum bitten musste, den Raum für seinen Nachfolger zu verlassen. Was er von dieser kurzen Unterhaltung halten sollte, wusste er während des Hinausgehens und auch, als er die Tür hinter sich schloss, nicht. Die Zukunft aber, und in dieser Beziehung teilte er voll und ganz die Auffassung des Pokémon-Kenners, würde sicherlich prächtig für ihn und Ottaro werden. Dafür würde er selbst schon Sorge tragen.



    * * *


    „Schüler-Identifikationsnummer: 75 726 218 412. Name: Granger, Malcom. Pokémon: Skorgla. Geschlecht: Männlich. – Merci beaucoup noch einmal, Professor! Welch bereichernde Erfahrung das doch war ...“
    „Keine Ursache, keine Ursache“, lachte der noch leicht atemlose Professor Armadis. Bis zu diesem Augenblick hatte er und der junge Schüler seines Hauses alles in ihrer Macht stehende unternommen, um das völlig aufgewühlte Pokémon, das auf den Namen Skorgla hörte und von diesem Tage an Eagles neuer Gefährte sein sollte, wieder zu beruhigen. Die Spuren von Skorglas kurzen aber heftigen Amoklauf manifestierten sich in Form einiger zersprungener Flachbildmonitore, wahllos im Raum verstreute CD-Roms, Tastaturen und Mäuse, zwei umgeworfene PC-Tower und ein wie ein Sieb durchlöchertes Kopiergerät.
    „Entschuldigung“, murmelte Eagle selten kleinlaut. Mit hängendem Kopf stand er unmittelbar hinter Skorgla und tätschelte seinem neuen Verbündeten auf dem Weg zum Ruhm mitfühlend den Rücken. Professor Armadis aber lachte nur.
    „Aber nicht doch. Machen Sie sich darüber keine Gedanken, Malcom. Professor Badham wird zwar morgen sicherlich reichlich wenig Anlass zur Freude haben“, er ließ seinen Blick nochmals über das Trümmerfeld schweifen, „nichts aber, was ein besonders kräftiger Kaffee nicht wieder geradebiegen könnte. - Dies ist Madame Sophie Loire, eine Pokémon-Kennerin“, stellte Professor Armadis seinem jungen Schüler die einzig andere Person im Raum vor. Madam Loire hatte die Besänftigungs-Bemühungen beider Männer nicht unterstützt und sich während Skorglas Eskapade rasch aus dem Raum gestohlen, wohl aus Sorge, ihre teure Kluft könnte bleibende Schäden davon tragen, so dachte Eagle. Er nickte der jungen Frau in ihrem langen, schwarzen Abendkleid kurz zu; das war im Moment das höchste der Gefühle, das er angesichts der eben gemachten Erfahrungen aufbringen konnte. Die Pokémon-Kennerin erwiderte die Geste des Raikouianers mit einem sanften Lächeln.
    „Nehmen Sie Platz, s'il vous plaît?“
    „Ich stehe lieber, danke“, antwortete Eagle tonlos.
    „Eine vorbildliche ’ingabe“, sagte Madame Loire. „Sie werden sie auch brauchen, um diese Beziehung über die bevorstehende schwere Zeit zu führen.“
    „Schwere Zeiten?“, unterbrach Eagle die Kennerin. Seine Miene verfinsterte sich. „Wie meinen Sie das?“
    Auf Madame Loires blutroten Lippen zeichnete sich ein grimmiges Lächeln ab, als spielte sie in Gedanken zwischen ärgstem Bedauern und heiterer Belustigung. „Ihnen ist unzweifelhaft bereit das Unbe’agen aufgefallen, das ihr neuer Gefährte an den Tag legt, ou bien? Können Sie sich darauf einen Reim bilden?“
    „Skorgla ...“, Eagle überlegte kurz, „zittert“, antwortete er schließlich kurz angebunden. Natürlich war ihm das nicht entgangen, auch nicht, dass Skorgla vehement sein Haupt senkte und einen direkten Augenkontakt mied, was augenmerkliche Ähnlichkeit mit Sonja besaß. Das allerdings hatte Eagle bislang lediglich als banaler Zufall eingestuft – bis zu diesem Zeitpunkt.
    „Und wahrscheinlich nicht, weil ihm kalt ist“, lachte Madame Loire affektiert auf, dass es sogar Eagle plötzlich fröstelte. Das aber war nichts im Vergleich zu dem heftigen Angstschauer, der Skorgla schlagartig spürbar über den Rücken lief. Eagle verhärtete seinen bislang lockeren Griff, mit dem er das Pokémon mühelos am Boden halten konnte, da er befürchtete, Skorgla könnte jeden Augenblick zu einem weiteren turbulenten und insbesondere für die Schule kostspieligen Höhenflug ansetzen.
    „Was ist mit ihm?“ Die kühle Beherrschung hatte Eagles Stimme mittlerweile verlassen. Doch auch wenn es in den Ohren der Erwachsenen womöglich rotzfrech klingen könnte, war es ihm inzwischen reichlich egal.
    „Was glauben Sie, Professor?“
    Professor Armadis, der bislang äußerst dezent Zurückhaltung geübt und lediglich die wenigen aufgenommen Daten in den Schulcomputer eingegeben hatte, holte Luft. „Skorgla ist schüchtern“, seufzte er tief.
    „Er ist was?!“
    „Sie haben doch Professor Cenras Rede an dem heutigen Mittag beigewohnt, erinnern Sie sich nicht? So wie Sie und ich, besitzen auch Pokémon ihre individuellen Charaktermerkmale. Sie werden mir sicherlich zustimmen, dass es kaum verwunderlich ist, dass auch unser Freund hier“, Professor Armadis nickte in Skorglas Richtung, der seinen Blick allerdings nicht erwiderte, obwohl er plötzlich sichtbar aufzuckte, „eben solche Züge tief in sich verborgen trägt. Vielleicht wurde ihm nie eine solche Kindheit zuteil, wie andere seiner Art sie erfahren haben, vielleicht war er immer der Kleinste unter seinen Artgenossen, konnte sich nie wirklich durchsetzen, oder schämt sich vielleicht noch heute für sein Äußeres.“
    „Er ’at eine außergewöhnliche Färbung, C’est bien ça?“, schaltete sich Madame Loire in das Gespräch wieder ein. Professor Armadis nickte. „Ahh, ’abe ich es doch gleich gewusst!“
    Eagle betrachtete nachdenklich Skorglas stark gepanzerten Rücken. Er wünschte sich in diesem Moment nichts sehnlicher, als diesen Raum endlich verlassen zu können und sich selbst sein ganz eigenes Bild von Skorgla machen zu können.
    „Es liegt nun an Ihnen, Malcom, Skorgla als Freund beizustehen und zu zeigen, dass anders zu sein nicht zwangsläufig damit verbunden ist, schlechter als andere zu sein. – Entschuldigen Sie die langatmige Unterbrechung, Madame Loire“, lächelte Professor Armadis der Pokémon-Kennerin zu und erteilte ihr somit wieder das Wort.
    „Nicht doch, nicht doch, mein lieber Professor “, lachte sie. „Also, wo waren wir ...? - Es wird Sie sicherlich freuen zu hören, Mr. Granger, dass Ihre offensichtliche Sorge völlig unbegründet ist. Schon als Sie hier diesen Raum betraten, konnte ich die unglaubliche Präsenz Ihres Selbstvertrauens am ganzen Leib spüren. Sie und Skorgla ergänzen sich absolument prächtig. Ihr standhaftes Auftreten und das unbändige Streben nach dem Ziel, das Sie stets fest vor Augen ’aben, bilden mit der kühlen Überlegt’eitihres neuen Gefährten eine wahr’aft exquisite Mischung; so wie der Senf die Süße des ’onigs mit seinem heißblütigen Willen beraubt, während der ’onig die Schärfe des Senfs mit ruhiger Stimme unterdrückt und so die ’armonie zwischen diesen beiden Zutaten ’erstellt.Weiter’in wird es Sie sicherlich interessieren, dass Skorgla schon jetzt Ihnen ein bewundernswertes Vertrauen schenkt. Sie dürfen sich glücklich darüber schätzen, dass Skorgla in Ihnen vielleicht seinen ersten Freund gefunden ’at. Erschüttern Sie dieses Vertrauen nicht. Au Revoir.“
    Während Eagle die Tür stumm hinter sich schloss – widerstandslos war Skorgla in seinen Pokéball zurückgekehrt – und die Gedanken in seinem Kopf in wahllosen Bahnen rotierten, hörte er noch einmal kurz die Stimme Madame Loires. „Jemand soll ’ier aufräumen, bevor wir weitermachen.“



    * * *


    „Schüler-Identifikationsnummer: 59 726 199 484. Name: Lynn, Sonja. Pokémon: Zorua. Geschlecht: Männlich. - Ahh, ich verstehe schon, was Sie meinen, geschätzte Professoren. O, ja ...!“
    Der Tag wollte und wollte kein Ende finden. Auch ohne die bevorstehende Konversation - ein weiteres Erlebnis an diesem bereits viel zu langen Tag, auf das Sonja nur zu gern verzichten wollte - drohte der randvolle Kopf der Raikou-Schüler schon im Vorfeld vor unangenehmen Gefühlen und Erfahrungen überzulaufen. Schüler ihres Hauses hatten ihr im Vorbeigehen berichtet, dass das alles nicht der Rede wert wäre: Professor Armadis sei anwesend und eine Pokémon-Kennerin, die – so meinte zumindest Eagle - in den Klang ihrer eigenen Stimme verliebt sei. In dem Zwangsverhör würden ein, zwei Fragen gestellt werden und ehe man es sich versah, wäre man wieder auf freiem Fuß. Alles nicht so schlimm. Von der versprochenen Intimsphäre aber sah man in Sonjas Fall nur reichlich wenig. Professor Armadis und die Präsenz der Pokémon-Kennerin hatten sich bewahrheitet, nicht allerdings die gleichzeitige Anwesenheit der Professoren Cenra und Finch. Auf dem Stuhl mitten im Raum und mit Zorua auf ihrem Schoß fühlte sich Sonja wie auf dem Präsentierteller, die Zielscheibe sämtlicher Blicke - und sie hatten allesamt etwas Anklagendes, das ging bereits unmittelbar beim Eintreten in Mark und Bein über. Sonja wagte keinen direkten Augenkontakt. Ihr Fokus lag auf Zorua und dem Wunsch, diese Unterhaltung – was auch immer sie bezwecken sollte - so schnell und reibungslos wie nur irgendwie möglich über die Bühne zu bringen.
    Die Pokémon-Kennerin hüllte sich in nachdenkliches Schweigen. Es war diese bedrückende und gar unerträgliche Stille jener Sorte, auf die niemals etwas Gutes folgen konnte. Erschwerend hinzu kam das kaum zu vernehmende Flüstern der drei Professoren, das da durch die leblosen Computer-Gehäuse des Saals leise seinen Unmut in die Welt hinaus schimpfte. Die Nachricht über Sonjas Fang – wenn man es überhaupt so nennen durfte – hatte unzweifelhaft das Interesse des Lehrkörpers geweckt, was wohl deren gewaltiges Aufgebot erklärte. Schon bei der Überfahrt war Sonja nicht entgangen, dass insbesondere sie ein besonderes Zielobjekt für das Augenmerk der drei Hauslehrer war. Dass es allerdings derartige Ausmaße annehmen würde, damit hatte sie nicht einmal in ihren schlimmsten Vorstellungen gerechnet. Rückendeckung oder gar ein ermutigendes Wort, damit rechnete Sonja in ihrer Lage nicht. Sie war allein, allein mit Zorua, von dem sie noch immer nicht wusste, inwieweit er zu ihr hielt. Wenn sie allerdings nicht dieses Verkrampfte aus ihren Streicheleinheiten herausnehmen vermochte, die Zorua immer wieder mit unergründlichen Blicken aus seinen salbeigrünen Augen für das Menschenmädchen heraus beantwortete, würde sich das Problem vielleicht sogar von selbst lösen. Aber – wollte sie das überhaupt? Zorua wieder loswerden? Nein, natürlich nicht ... Der Gedanke an das weitere Zusammensein mit diesem unberechenbaren Pokémon stieß bei Sonja allerdings auf ärgstes Bedenken. Konnte das wirklich gut gehen? Dieses Mysterium zu lüften hatte wohl auch sämtliche der drei Hauslehrer dazu veranlasst, dieser Unterhaltung beizuwohnen. Madame Loire schaute kurz über die Schultern, wo der Lehrerverbund saß. Sie gestikulierten sich stumm einander zu. Die Pokémon-Kennerin sollte beginnen, wenn es nach dem Nicken Professor Cenras ging, woraufhin sich Madame Loire wieder ihrem mit reichlich Unbehagen und sich rapide beschleunigten Herzschlag belasteten Subjekts zuwandte.
    „Keine Sorge, meine Liebe. Nur nicht so verkrampft, entspannen Sie sich. Niemand will Ihnen etwas Böses.“ Dummerweise bewirkten die in Ihrer Absicht beruhigenden Worte Madame Loires gerade das Gegenteil und Sonja versteifte in ihrer Haltung nur noch mehr. „Man hat darum gebeten, dass Professor Cenra und Professor Finch Teil an unserer Beurteilung haben dürfen. Das macht Ihnen doch ’offentlich nichts aus, ou bien?“
    Sonja bewegte den Kopf zweimal stumm verneinend hin und her. Als ob sie die Wahl hätte ... Ein Nein hätte man sicherlich nicht kompromisslos im Raum stehen gelassen worden. Madame Loire erhob sich. Sie nahm erst Zorua, dann Sonja, dann wieder Zorua näher in Betracht und setzte sich anschließend wieder. Sonja schluckte. Sie konnte kaum darauf vertrauen, dass dieser durchdringende Blick, mit dem Madame Loire ihr eben begegnet war, etwas Gutes verheißen mochte.
    „Zeit der Beurteilung, puis-je?“ Madame Loire holte tief Luft. „Man ’at mich informiert, dass Sie eine ganz ’erausragende Schülerin seien. Eine Kennerin meines Formats allerdings“, sagte sie mit öliger Stimme und drehte sich ein klein wenig zur Seite, gerade weit genug, um den drei Lehrern ein leicht anmaßendes Lächeln zu schenken. Professor Cenra huschte ein augenscheinlicher Schatten über das Gesicht, „ist auf andere Meinungen nicht angewiesen. Aber ja, ich sehe es Ihnen an, dass sie eindeutig über überdurchschnittliche intellektuelle Fä’igkeiten verfügen.“
    „Das ... sehen Sie mir an?“, murmelte Sonja.
    „Naturellement! Ich wäre eine schlechte Kennerin, würde ich das nicht sofort sehen“, lachte sie. „Sie genießen die Anwesenheit Ihrer Freunde, meiden es allerdings im Rampenlicht zu stehen. Gerne würden Sie Ihnen eine bessere Freundin sein, doch zweifeln Sie zu sehr an sich selbst. Eine besondere Vorliebe teilen Sie für kreative Arbeiten. Kunst und Literatur nehme ich an, ’abe ich Recht? O, sagen Sie nichts, natürlich ’abe ich das.“
    Madame Loires spitzes Lächeln zog sich durch Sonjas Bestürzen nur noch mehr in die Breite. Sie las ihr Gegenüber wie ein Buch. Wie viel konnte ein bloßer Eindruck nur über einen Menschen aussagen? Es erweckte schon fast den Eindruck, als hätte die Pokémon-Kennerin seit Beginn von Sonjas Leben deren Schatten eingenommen und sie auf Schritt und Tritt verfolgt. Erstmalig verfinsterte sich das Gesicht der Pokémon-Kennerin. Ihr Interesse galt Zorua, der besagtes Interesse allerdings in keiner Weise entgegnete. Er kniff Sonja, die ihn seit geraumer Zeit nicht mehr mit Streicheleinheiten verwöhnt hatte, leicht und doch bestimmend in den rechten Zeigefinger. „Zorua allerdings ...“, begann Madame Loire.
    Auch ohne Kenner-Instinkte hatte Sonja bereits völlig verstanden. „Zorua wird nicht darauf hören, w-was ich ihm sage, oder?“, flüsterte sie. Ihr Blick wurde zunehmend glasiger, das Abbild Zoruas auf ihrem Schoß, das sie die ganze Zeit über betrachte, immer verschwommener.
    „Non, non, non, non, non”, verneinte sie Sonjas Aussage in schnellem Französisch und wackelte belehrend mit dem Zeigefinger. „Das ’abe ich nicht gesagt. Sie müssen wissen, dass Zorua Ihnen gegenüber sehr freundschaftliche Gefühle ’egt, auch wenn er eine sehr eigenartige Weise hat, dies zu zeigen.“ Erstmalig sahen sich Kennerin und Pokémon für einen kurzen Augenblick direkt an. Schnell aber wandte sich Zorua mit einem schnippischen Ton und hochmütigem Gesichtsausdruck wieder von der Menschenfrau ab. Madame Loire seufzte. „Man könnte schon fast sagen, Zorua ist eine Verkörperung des Unlicht-Typs.“
    „Eine Verkörperung ... von Unlicht?“, wiederholte Sonja fragend.
    „Möchte dazu vielleicht jemand etwas sagen?“ Die Pokémon-Kennerin hatte sich den drei bislang sehr schweigsamen Lehrern zugewandt. Wie auf Kommando öffnete Professor Cenra den Mund.
    „Sie müssen wissen, Miss Lynn, dass es einen guten Grund hat, warum wir Schülern der Grundstufe keine reinen Unlicht-Pokémon zuteilen. Sie besitzen meist einen äußerst schwierigen Charakter. Ränkeschmiede, die ihr Umfeld manipulieren, um das Ziel mit allen Mitteln zu erreichen, und viele von ihnen scheuen sich dabei nicht, sogar über Leichen zu gehen. Sie haben gewissermaßen eine zwanghafte Neigung dazu, Schabernack zu treiben und ergötzen sich an jeder Sekunde, in der ihnen Selbiges gelingt.“
    „Etwas Ähnliches meinte auch Logans Pokédex“, erinnerte sich Sonja leise.
    „Das ist richtig“, sagte Professor Cenra. „Und wenn man Madame Loires Urteil Glauben schenken darf ...“
    „Absolument! Das dürfen Sie!“, sagte Madame Loire laut.
    „... dann sind wohl all diese Eigenschaften in Zorua vereint“, fuhr Professor Cenra fort. „Sie werden daher verstehen, dass das Lehrer-Kollegium ein besonderes Interesse an Ihnen und Zorua verfolgt. Sie haben bei dem kürzlichen Turnier beeindruckende Fähigkeiten offenbart. Wir sind daher“, sie schenkte Sonja ein selten bei ihr zu beobachtendes sanftes Lächeln, „ob sie uns das nun glauben oder nicht, sogar sehr zuversichtlich, dass Ihnen die Bändigung Zoruas gelingen wird. Dennoch müssen wir uns über die Kompatibilität zwischen Ihnen und ihrem neuen Gefährten im Klaren sein. – Würden Sie bitte fortfahren, Madame?“
    Der nachfolgende Monolog erstreckte sich über mehrere Minuten. Wiederholt wurde betont, über welch herausragende akademische Fähigkeiten Sonja doch verfüge, dass sie sich einer jeder Schwierigkeit im Leben durch intensive Studien problemlos stellen könne und ihr Sinn für Freundschaft der Schlüssel für ein erfolgreiches Miteinander wäre. Gleichzeitig hob Madame Loire allerdings immer wieder hervor, welche problematische Eigenschaften Zorua doch vereinige, dass die bevorstehende Zeit für beide Seiten Opfer abverlangen würde, aber auch, welch Interesse Zorua an Sonja verfolge. Schlussendlich gab sich die Pokémon-Kennerin recht zuversichtlich, was die Zukunft für die beiden unterschiedlichen Persönlichkeiten bereithalten würde.
    „So wie eine exquisite Crème Brûlée erst durch den Einklang feuriger Glut und kühlender Luft langsam Form annimmt, so wird auch diese Beziehung von dem Feuer der Zeit geformt, wachsen und prächtig gedeihen. Die Reise des Lebens sollte man stets in guter Gesellschaft antreten; Zorua könnte auf seinem Lebensweg keine bessere Reisegefährtin als Sie ’aben, und in ebenso guten Händen glaube ich Sie bei Zorua zu wissen. Bleibt mir nur noch Ihnen beiden ,bon voyage’ zu wünschen“, schloss Madame Loire ihr fast fünfminütiges Plädoyer ab.
    „Wenn Sie keine Fragen mehr haben, Sonja, dürfen Sie gehen“, sagte Professor Armadis sanft, als er bemerkte, dass sich Sonja auch nach fast zehn Sekunden kein Stück von ihrem Stuhl bewegt hatte.
    Sonja zwinkerte ungläubig. Das war es? „Aber ...“, begann Sie unsicher, „was ist jetzt mit mir?“
    Professor Armadis lächelte freundschaftlich. „Sie haben doch Madame Loire gehört. Ihr Urteil soll auch das unsere sein.“
    „Ich ... darf gehen? Und Zorua auch?“
    „Gewiss“, antworteteProfessor Cenra. „Oder haben Sie noch etwas auf dem Herzen?“
    Sonja dachte nach. Etwas auf dem Herzen? Sie hatte ja nicht einmal damit gerechnet, dass sie sich jemals in einem Stück aus der Affäre ziehen könnte. Und jetzt erlaubte man ihr sogar noch, ihre Lehrer mit ihren vielleicht banalen Problemen zu belästigen. „Da gibt es noch etwas“, murmelte Sonja. Die dunkle Vorahnung ließ ihre Stimme beben. „Der Pokéball ... Ich habe ihn unterwegs verloren.“ Instinktiv zuckte Sonja zusammen, als erwartete sie die größte Standpauke ihres Lebens, die da allerdings zu ihrer größten Überraschung aus blieb. Professor Cenra erhob sich.
    „Das, Miss Lynn, ist das geringste Übel“, sagte sie, wobei sie jedoch flüchtig mit ihren beiden Kollegen einen unergründlichen Augenkontakt tauschte. „Sollte das alles sein, sehe ich keinen Anlass, Madame Loire noch weiter zu belästigen. Wenn Sie mich bitte begleiten wollen, Miss Lynn?“



    * * *


    „Schüler-Identifikationsnummer: 75 726 218 410. Name: Valentine, Ray. Pokémon: Geckarbor. Geschlecht: Männlich. – Ich kann Ihren Anlass zur Sorge wirklich nicht teilen, Professor.“
    Man taufte mittlerweile den frühen Abend desselben bereichernden Tages, der Ray die Bekanntschaft mit seinem neuen Gefährten - das stolze Laub-Pokémon, das auf den Namen Geckarbor hörte - beschert hatte. Ray hatte den Rest seines Nachmittags genutzt, um sich umfangreich mit dem flinken Baumhüpfer vertraut zu machen, was natürlich auch auf Gegenseitigkeit beruhte. Schnell stellte sich heraus, dass Geckarbor keineswegs beleidigt darüber war, dass er Ray und Sheinux unterlegen war. Es erweckte sogar den Eindruck, als hätte Geckarbor nur auf jemanden gewartet, der ihn im Kampf bezwingen konnte, und er von nun an in ehrerbietiger Manier seinem neuen Herrn mit seinem eigenen Leben dienen konnte. Ein stolzer Ritter in grüner Rüstung. Ray hatte daher nur recht dürftiges Verständnis, was diese ungebetene Unterbrechung seines Wochenendes anbelangte. Neben ihm, Professor Armadis und Professor Joy war noch eine weitere Person im Raum, die ihm seine Klassenkameraden als eine Pokémon-Kennerin namens Madame Loire beschrieben hatten. Seltsamerweise hatte man ihm aber auch berichtet, dass lediglich der Hauslehrer noch anwesend sein würde, und das auch nur aus dem Grund, um das Gespräch zu dokumentieren. Auch Geckarbor betrachtete äußerst skeptisch das neue Umfeld, die scharfen Augen fixierten immer wieder die drei Erwachsenen. Wie schon diesen Mittag zuvor hielt er sich mühelos in der Luft, dieses Mal jedoch klebte er an keinem Baum, sondern federleicht an Rays rechter Schulter.
    „Das ist Madame Loire“, sagte Professor Armadis überflüssigerweise.
    „Tag“, grüßte Ray.
    Die Pokémon-Kennerin war von der forschen Begrüßung, die sie offensichtlich unter ihrer Würde hielt, nur wenig begeistert, sagte allerdings nichts.
    „Wenn Sie erlauben, Madame, Professor Joy möchte gerne noch einige Takte mit Mr. Valentine wechseln. Es wird sicherlich nicht zu viel Zeit in Anspruch nehmen“, fügte Professor Armadis angesichts des dahinschwindenden Tages rasch hinzu.
    Ray war verblüfft.
    Professor Joy wartete gar nicht erst darauf, dass die Pokémon-Kennerin diesen Wunsch hätte abschlagen können, und fiel ihr einfach in den bereits einen Spalt weit geöffneten Mund. „Mein lieber Ray ... Sie wissen es vielleicht nicht, aber Sie haben mir vor nicht allzu langer Zeit einige schlaflose Nächste bereitet.“
    „Was habe ich? Öhh ...“ Nachdenklich kratzte sich Ray am Kopf. Schlaflose Nächte? Sicher, die letzte Hausaufgabe in Pokémon-Pflege war nur sehr knapp an einer berauschenden 4 vorbeigeschrammt, aber auch nur, da er nicht erwartet hatte, dass Professor Joy wegen seiner schlechter Rechtschreibung so spendabel mit der roten Minuspunkte-Keule ausholen würde. Aber schlaflose Nächte, wegen den ein, zwei Verschreiberchen? „Ich werde etwas Deutsch-Nachhilfe bei Sonja nehmen, wenn Sie das wieder ruhig schlafen lässt“, sagte er leicht grinsend.
    Professor Joy war für die ersten Sekunden vor Nachdenklichkeit wie gelähmt. Dann gelang es ihr aber, den Faden zu finden. „Nein, darum geht es nicht“, erwiderte sie.
    „Gut, dann kann ich mir die Nachhilfe auch sparen“, grinste Ray.
    „Es geht wegen ihrer doch leicht verdrehten Ansichten über Pokémon-Ernährung.“
    Nur kurz musste Ray in seinem Gedächtnis kramen, bevor er auch schon kaum hörbar aufseufzte. Er verfluchte sich schon fast selbst. Wie hätte er auch jemals ahnen können, welch langwierige Konsequenzen es haben könnte, in der Anwesenheit seiner Lehrerin Sheinux mit Schokolade zu verwöhnen? Ihm wollte es nicht in den Sinn kommen, wie nur ein solch banales Thema derartige Ausmaße annehmen würde; geschweige denn seiner Lehrerin so schwer im Magen liegen und so viel Kummer bereiten würde. „Sheinux schmeckt es.“ Es waren in etwa dieselben Worte, wie er Professor Joy bereits nach dem ersten Kampf bei dem großen Turnier zu überzeugen versucht hatte wie auch in den nachfolgenden Tagen, in denen er immer wieder erneut von ihr auf das leidige Thema angesprochen worden war. Er ahnte aber bereits, dass auch dieser Versuch auf dasselbe hinauslaufen würde – und er behielt Recht.
    „Ungesundes besitzt leider oft zwangsläufig die Eigenschaft, den Gaumen arglistig zu umschmeicheln. Ein zweischneidiges Schwert, wie Sie wahrscheinlich auch selbst wissen.“
    „Die Beißerchen sind doch noch alle drin“, gab Ray retour.
    „Können oder wollen Sie mich einfach nicht verstehen, Mr. Valentine?“ Professor Joy hatte mittlerweile ihren gutmütigen Ton und die Unschuldsmiene abgelegt. Ray aber blieb völlig uneingeschüchtert, noch wich er keinen Millimeter zurück. Professor Joy holte bereits zum nächsten verbalen Vergeltungsschlag aus. „Mir geht es doch nur um das Ihre und das Wohl der Pokémon! Gerade Geckarbor hat ganz andere Ansprüche, was eine abwechslungsreiche, ausgewogene und insbesondere gesunde Ernährung betrifft, das muss Ihnen doch klar sein!“
    „Och, wenn es weiter nichts ist“, winkte Ray zufrieden lächelnd ab. „Dafür ist bereits gesorgt.“
    Die rechte Augenbraue wanderte in dem Gesicht der Professorin fragend an die Decke. „So?“
    „Er steht nicht so auf Schokolade, das habe ich schon getestet. Auch nicht auf Erdnussbutter.“
    „E-Erdnussbutter?“
    „Dann war da noch – lassen Sie mich überlegen – ach ja! Auf Himbeer- und Kirschmarmelade scheint er auch nicht so zu stehen. Ist eben etwas wählerisch, der Gute.“
    „K-K-Kirsch...?“
    „Aber wissen Sie was? Er fährt voll auf Gurkensandwiches ab! Aber auch nur mit einer ordentlichen Portion Mayonnaise, nicht zu vergessen eine Scheibe Harzer oben drauf.“
    „Mr. Valentine!“
    „Ach, Mary, nun seien Sie doch nicht zu streng mit sich und dem Jungen“, schaltete sich Professor Armadis mit einem amüsierten Lächeln ein und hielt seine Kollegin vielleicht sogar noch im letzten Moment davon ab, erst an die Decke und dann mit ausgefahrenen Fingernägeln auf Ray loszugehen.
    „Gerade von Ihnen hätte ich mir eigentlich etwas mehr Rückendeckung erhofft, Galan!“, richtete Professor Joy nun ihre erhöhte Stimme an Professor Armadis. „Sie müssen doch wissen, welche gesundheitlichen Risiken eine einseitige Ernährung birgt. Ob Mensch oder Pokémon – niemand bildet da eine Ausnahme.
    „Das bestreite ich gar nicht, aber ...“, sagte Professor Armadis, bevor ihm Ray ins Wort griff.
    „Einseitig muss ich zurückweisen! Erst gestern gab es Lasagne mit irgendeinem Früchtekompott danach. Sie hätten mal mein kleinen Fresser sehen sollen“, grinste Ray.
    „Sehen Sie? Ist doch alles nur halb so wild“, sagte Professor Armadis.
    „Aber, Galan, er ...“
    „Sie würden sich wundern, auf welch famose Einfälle man doch gerade in Notfällen kommen kann. Erst letztes Jahr ist mir auf einer Wanderung durch einen Landstrich der Almia-Region meine Verpflegung ausgegangen. Ich habe den Nährwert von gerösteten Tannenzapfen kennen und schätzen gelernt – und mein Pokémon-Partner ist auf den Geschmack eines provisorischen Pilz-Omeletts gekommen.“
    „Professor!“
    „Hätte Gewaldro vielleicht das Tannenzapfen-Schaschlik essen sollen?“
    „Ich finde, Schaschlik ist ein furchtbar spießiges Gericht“, lachte Ray.
    „Es wäre ihm wahrscheinlich wesentlich besser bekommen, als das Pilzomelett!“, riss Professor Joy das Ruder wieder an sich.
    „Er lag etwas schwer im Magen, das stimmt.“
    „Sagte ich doch! Womöglich haben Sie Gewaldro vergiftet. Wo haben Sie die Pilze überhaupt gefunden und zu welcher Jahreszeit?“
    „Nicht die Pilze, der Tannenzapfen.“
    „Pilze, Tannenzapfen, Erdnussbutter – ist mir doch Wurst! Sie wollen doch nicht ...“
    „Mon Dieu! Wenn Monsieur et Madame vielleicht so freundlich wären, dieses bereichernde Gespräch vor der Tür fortzusetzen, dass ich meine Arbeit verrichten kann, avec votre permission?“
    Rays vorlautes Grinsen auf Madame Loires erregten Einwurf wurde von der Lehrerin für Pokémon-Pflege in keiner Weise geteilt. Geknickt und wohl auch erschöpft ließ sie sich auf ihren Stuhl zur Seite ihres Lehrer-Kollegen nieder, der ihr so schändlich in den Rücken gefallen war. Professor Armadis schmunzelte in Rays Richtung und zuckte die Schultern.
    Madame Loires Rede nahm fast nur halb so viel Zeit in Anspruch als das ermüdende Gerede über Schokolade, Erdnussbutter und geröstete Tannenzapfen. Letztendlich lief die geschätzte Meinung der Kennerin sogar genau auf das hinaus, was Ray bereits im Vorhinein gewusst hatte. Sie hatte nur eine einzigartige Gabe, eben dies in Worte zu fassen. „Mr. Valentine und Geckarbor stimmen sich in all ihren Fähigkeiten und Charakterzügen prächtig ab. Die frivolen und impulsiven Lebensansichten von Mr. Valentine und Geckarbors unbescholtene Ehrerbietigkeit sind wie zwei kräftige Gewürze, die in ihrer Zweisamkeit einem jeden Gericht ein wohltuendes Aroma verleihen. Was über des einen Verständnis ragt, kann durch die abweichende Perspektive des anderen in einem ganz anderen Licht erleuchtet werden. Der Freundschaftsstatus könnte zu diesem Zeitpunkt gar nicht besser sein. Ein wahrer ’ochgenuss kulinarischer Raffinesse. Sie dürfen gehen.“
    Ray ließ sich nicht lange lumpen, erhob sich und verließ er den Raum. Der ausgestorbene Korridor wurde von dem wenigen spätabendlichen Licht nur noch spärlich erleuchtet. Er blickte zu seiner Rechten, wo sein treuer neuer Begleiter wachsam an seiner Schulter hing.
    „Was die sagt, wussten wir schon lange“, sagte Ray und mit Geckarbors Zustimmung und einem breiten Grinsen im Gesicht gingen beide dem Wochenende entgegen.

  • Part 2: Zorua


    Für die Schüler der Grundstufe blieb es ein schlichtes Wunschdenken, auf mehr zeitlichen Spielraum zu hoffen, den sie ihren neuen Gefährten hätten widmen können. Die böse, böse Zeit zeigte sich aber einmal wieder von ihrer unerbittlichen Seite, verstrich aus so manch einer Perspektive in der dreifachen der gewöhnlichen Geschwindigkeit und ließ keinen Moment unversucht, um die euphorischen Grundstüfler um jede freie Minute mit ihren imponierenden, flauschigen, putzigen, megastarken oder einfach nur coolen Pokémon zu betrügen. Und ehe man es sich versah, durfte man dem verstrichenen Wochenende nur noch traurig hinterherwinken, die kurzzeitig ausgestorbenen Klassenzimmer waren wieder prall gefüllt und Ray Valentine um eine Nachsitzerfahrung wegen unerledigten Mathemaik-Hausaufgaben reicher. Mit dem Wiederaufleben des unlängst verdrängten Unterrichts-Stoff und somit der Rückkehr des alten, gewohnten Trotts konnte man also durchaus Behauptungen anstellen, dass alles wieder beim Alten wäre; schlummere jedoch nicht in jeder Hosen- oder Schultasche der Grundstufe ein kleines Geheimnis, das man mehr oder weniger seinen hausfremden Mitschülern präsentierte oder es aber vor ihnen geheim hielt. Weniger wohlbehütet blieb das Vermächtnis der Safari-Zone einer einzelnen Raikouianerin. Die Gerüchte um ein ominöses Formwandler-Pokémon überschlugen sich, bis ein wirklich jeder dessen Namen kannte. Kurzum entwickelte sich Zorua in rasanter Zeit zu dem Pausenhofgesprächsthema schlechthin; sehr zu Sonjas Leidwesen, die so abermals ungewollten Ruhm erlangte. Noch nicht einmal auf der Mädchen-Toilette war sie vor aufdringlichen Anfragen ihrer Mitschülerinnen betreffend der Echtheit Zoruas gefeit, was sie nach drei Tagen der aufdringlichen Fragerei beinahe an die Grenzen ihrer geistigen Kräfte trieb. Wer noch nicht Kenntnis über sämtliche Umstände der spielfilmreifen Begegnung von Sonja und Zorua besaß, der sollte dies spätestens mit einem Artikel rund um diese Erlebnisse für die anstehende Ausgabe der Schülerzeitung erhalten. Dieser Vorschlag war von der Direktorin höchstpersönlich gekommen und selbige vertraute Ray und Sonja diesen Auftrag an.


    „Jetzt lach doch mal wieder.“
    Nach dem Redaktionsmeeting der Schülerzeitung bis über die ganze Mittagspause hinweg hatten Ray und Sonja kaum ein Wort mit dem anderen direkt gewechselt, und dass obwohl am Raikou-Tisch Sonja und Zorua einmal wieder das Tagesgespräch schlechthin gewesen waren. Rays Motivationsversuche, einige froh gestimmte Worte aus seiner Freundin herauszuquetschen, ihr womöglich sogar ein flüchtiges Lächeln abzuringen, waren auch an diesem Tag zum Scheitern verurteilt; kein Wunder, wenn man bedachte, wie sehr sie sich gegen Professor Livas Wunsch gesträubt hatte und sich sogar regelrecht breitschlagen lassen musste, was eigentlich überhaupt nicht die Art der sonst so tüchtigen, engagierten Schülerin war.
    Sonja ließ ein betrübtes Seufzen verlauten. „Wenn es dafür einen Anlass gäbe ...“
    Die Aussicht auf eine dreistündige Session mit Professor Finch als Vorsitzenden gab an diesem Donnerstagnachmittag tatsächlich nur sehr beschränkten Grund zum Frohsinn, in dieser Beziehung musste Ray seiner schwermütigen Freundin zustimmen. Locker lassen wollte er dennoch nicht. Noch im Weitergehen schlang er die Arme lässig um den Hinterkopf und sagte: „Manche Leute würden sich über so viel positive Beachtung reißen ...“ Sein Blick galt Eagle, der soeben im Menschengedränge an ihnen vorbeimarschiert war. Der auch so schon leicht reizbare Raikou mit der bekannten kurzen Zündschnur war in den letzten Tagen noch übelgelaunter und schlechter auf ungebetene Störungen seiner Privatsphäre zu sprechen, als man es von ihm kannte. Er gehörte zu der Kategorie Schüler, die das Geheimnis um ihren neuen Gefährten wahrten und nicht so leichfertig das Herz auf der Zunge trugen. Folglich wusste noch nicht einmal Ray über das Mysterium seines Kameraden Bescheid. Gerade am Vortag hatte er beim Betreten ihres gemeinsamen Zimmers für den Hauch einer Sekunde die Umrisse einer voluminös gebauten Gestalt erkennen können, die im selben Augenblick gewaltsam aus der wirklichen Welt in das Innere von Eagles Pokéball hinfortgezerrt wurde. Dieses dürftige Wissen war dann aber auch schon alles.
    „Habe ich nicht nötig“, meine Sonja, die Rays Deut auf Eagles Drang, sich vor der Welt zu profilieren, deutlich verstanden hatte. „Für meinen Teil kann ich nur hoffen“, fuhr sie mit schleppender Stimme fort, „dass die Sache bald vom Tisch ist – ich bin es leid ...“
    Glücklicherweise für Sonja bildete Professor Finch eine der wenigen Ausnahmen; die Sorte nämlich, die sich keinen Deut um die neuen Gefährten seiner Schüler und somit um deren Freude oder Kummer scherten. Geschickt unter der steinernen Miene versteckt und verborgen unter dem völlig faltenfrei gebügelten, grauen Nadelstreifenanzug, den er an diesem Nachmittag trug, gab er seine stille Begeisterung für die Wiederkehr der früheren Ordnung kund und fuhr an dem Punkt mit seinem sorgfältig vorbereiteten Stoff fort, wo sie vor dieser ungebetenen Störung unterbrochen worden waren. Schwermütig kritzelte Ray in seinem Aufgabenheft herum, wo eine Sheinux-Karikatur, die Finch spektakulär in den Allerwertesten biss, einen Großteil der aktuellen Seite füllte. Den langwierigen, zahlengespickten Vortrag seines Lehrers überhörte er währenddessen völlig.
    „... sollten Sie also in den vergangenen zwei Wochen nicht völlig ihre Sinne für logische Progressionen beraubt worden sein und noch dazu den Quotienten nach dem Gmein’schen Prinzips sinngemäß angewendet haben, so sollten Sie auf welches Ergebnis kommen? Sokol?“
    „B beträgt 3,2, Professor.“
    Keiner im Saal hegte einen ernsthaften Zweifel an der wie aus der Pistole geschossenen Antwort des Jahrgangsbesten. Dutzende Kugelschreiber gravierten die ausgesprochenen Worte an das Ende der noch offenen Gleichung, noch bevor Professor Finch überflüssigerweise seine Schüler es zu notieren aufforderte. Ray glänzte weiterhin mit geistiger Abwesenheit, Finchs Voreingenommenheit zu seinen Hausschülern war ungebrochen und nur wenige Schüler – abseits von Logan Sokol – überraschten mit einer korrekten Antwort auf die Gehirnkapriolen ihres Lehrers. In dieser Beziehung war so gesehen alles beim alten geblieben.


    Diese Woche, die sich mit ihren bereits vier vergangenen Schultagen als Inbegriff von Sonjas leidigem Thema herausgestellt hatte, konnte in den Augen der Raikou-Schülerin wohl gar nicht schnell genug herüberziehen. Bislang hatte es nur wenige Zeitabschnitte ihrer Schulkarriere auf der Celebi-High gegeben, in denen sie beabsichtigt ihre Freunde und Klassenkameraden gemieden hatte. An diesem Donnerstag blieb ihr Platz am Haustisch zum gewohnten Nachmittagssnack unbesetzt und auch misste man sie beim gemeinsamen Abendessen im Schulhaus. Als dann der Abend an diesem lauen, fast wolkenlosen Tag endgültig dämmerte, suchte man die spurlos verschwundene Hauskollegin vergeblich. Hoffnungen, sie womöglich an den üblichen verdächtigen Plätzen wie den Schülertreff vorzufinden, machte man sich angesichts von Sonjas doch sehr eigenen Auffassungen von Freizeitaktivitäten erst gar nicht. Doch auch die Schulbibliothek, von der man sich noch am ehesten erhofft hatte, dort einen bis in die späten Abendstunden ackernden Blondschopf anzutreffen, war eine Irrglaube.
    „Hast du denn keine Ahnung, wo sie stecken könnte?“
    Der letzte Ort auf Rays Liste war gleichzeitig auch der mit der geringsten Aussicht auf Erfolg – nämlich sein eigenes Quartier, wo er natürlich nur seinen stets übelgelaunten Zimmerkameraden antraf. Die Stille durchbrechende Frage und Rays bloße aufdringliche Präsenz riefen bei Eagle einmal wieder die üblichen Reaktionen hervor: Genervtes Augenrollen, missbilligendes Lippenschürzen, aufbrausendes Blähen der Nasenflügel, ein wütendes Schnauben dicht gefolgt von einem entrüsteten Blick, der ein kleines Kind bitterlich zum Weinen gebracht hätte.
    „Woher soll ich das wissen? Sehe ich wie ein Hellseher aus?“
    „Natürlich nicht. Mit deinem Sinn für Pessimismus eher wie ein Schwarzseher“, stritt Ray ab. „Hätte ja sein können, dass du etwas weißt, dachte ich.“
    „Falsch gedacht“, brauste Eagle. Trotz des Umstandes, dass Ray ihn noch immer unverhindert ansah, vergrub er sein Gesicht wieder hinter einem Buch.
    „Ist ja nicht so, dass du nichts mit ihr zu tun hättest. Ihr scheint irgendetwas auf der Seele zu brennen, wusstest du das?“
    Wider Erwarten senkte Eagle sein Buch zum zweiten Mal. Sein Ausdruck hatte eine Spur von der vorherigen Grimmigkeit verloren. „Nicht aber wegen dieser komischen Zorua-Geschichte?“
    Ray zuckte die Schultern. „Offenbar doch.“
    Eagles Augenbrauen flohen eiligst vor seinen rollenden Augen. „Und die glaubt, sie hätte Problemen ...“
    An dieser Stelle konnte Ray nicht anders, er musste leicht schmunzeln. „Ach, du auch? Sag an. Ich höre.“
    „Hat dich ja wohl nichts anzugehen!“ Binnen eines nur winzigen Augenblicks hatte Ray mit seiner Aussage ungewollt zum zweiten Mal in Folge das allseits gewohnte Verhalten bei seinem Klassenkameraden heraufbeschworen. Nicht aber völlig blieb Eagle seiner üblichen Widerborstigkeit treu, sondern warf sein Buch achtlos an das Fußende seines Bettes und erhob sich zu Rays großer Verwunderung. Auch Staralili, die die ganze Zeit über den unwillkommenen Gast vom Bettgerüst aus misstrauisch beäugt hatte, verstand die Botschaft und nahm augenblicklich ihren gewohnten Platz auf der Schulter ihres Kameraden ein.
    „Glotz nicht so blöd – ich helfe dir“, belferte Eagle. „Ohne mich bist du ja mal wieder völlig aufgeschmissen.



    * * *


    Allzu viel war von der müden Abendsonne, die gemächlich am fernen Horizont verschwand, nicht mehr zu sehen. Bald schon würde die Nacht über Celebi-Island hereinbrechen und alles in ihrem unersättlichen Hunger verschlingen, das von ihrem kalten Griff berührt werden würde. Gräser wie auch Bäume, den See, das Schulgebäude, den Schülertreff, die drei Häuser, selbst die beiden Schüler samt deren Pokémon, die sich zu dem besagten Augenblick unter einem mächtigen Kastanienbaum in Ufernähe befanden. Obwohl die Abenddämmerung nur noch so viel von ihrem spärlichen Licht abwarf, dass man gerade so die alberne „Br + Ta 4 ever“-Gravur erkennen konnte, hielt Sonja ihre vergeblichen Skizzierbemühungen aufrecht, und das trotz deutlich widriger Umstände.
    „Es ist zum Mäuse melken ...!“ Zum wiederholten Mal erhob sich Sonjas Bleistift von ihrer halbfertigen Zeichnung. Mit viel Mühe und noch mehr Phantasie konnte man vage Vermutung anstellen, dass es sich bei der Skizze nicht nur um irgendwelches Gekrakel handelte, sondern die ernstzunehmenden Bemühungen, eine lebende Vorlage auf Papier einzufangen. Selbst als freiwillige Aufgabe für eine Zusatznote war es von Professor Cenra ein gewaltiger Schritt gewesen, das ursprüngliche Stillleben für ein lebendes, atmendes Geschöpf hinter sich zu lassen. Wenn aber das Modell dann noch seinen ganz eigenen Kopf besaß, rein gar nichts von Stillsitzen hielt und zu allem Überfluss noch auf den Namen Zorua hörte, dann kamen alle Einsen der Welt dieser Aufgabe nicht gerecht. Hilflos wanderte Sonjas ohnehin bereits wehleidiger Blick zu Skip, ihrer einzig greifbaren menschlichen Stütze für den Augenblick. „Kannst du denn nichts tun?“
    Skip antwortete nicht sofort, denn hatte er in diesem Moment alle Hände voll mit dem rastlosen, kohleschwarzen Fellknäuel zu tun, das um seine nackten, von der unbeendeten Schwimmrunde noch leicht nassen Beine wuselte. Bis dann Skip seine zum Scheitern verurteilen Versuche einstellte, bei denen Zorua stets geschmeidig seinen Fingern entglitt, war eine weitere Frustrationsminute den Bach heruntergegangen. Gequält lächelnd schüttelte er schließlich den Kopf.
    Sonja stemmte ihre Arme gebieterisch in die Hüfte und holte dabei tief Luft. „Zorua! Schluss jetzt!“ Ihre Bemühungen, das kleine, eigensinnige Pokémon mit ihrer vorgeheuchelten Autorität, aus der man unschwer die vertraute Unsicherheit herauszuhören vermochte, einzuschüchtern, stießen bei Zorua auf gänzlich taube Ohren. Nach fünf weiteren schwindelerregenden Runden um Skips durchtrainierte Beine, kam Zorua schließlich zum Vorschein, verzog sein Gesicht auf eine teuflisch zufriedene Art und kläffte Sonja frech entgegen.
    „Vielleicht sollte ich einfach wieder gehen. Scheinbar bringe ich nur Unruhe. Außerdem scheint Ottaro ...“ Kaum hatte der Name Skips Mund verlassen, hatte Ottaro wieder ihren von Zorua verdrängten Platz an Skips rechtem Bein angenommen. Auf ihren kalkweißen aufgeblähten Backen glühte ein deutliches von Neid und Missgunst gespeistes Rot hervor. Böse funkelte Ottaro in Zoruas Richtung, während sie sich mit ganzer Kraft an dem Bein ihres überrumpelten Trainers festklammerte. Zorua erwiderte den bösen Blick mit einer hässlichen Fratze auf dem eigenen Gesicht. Bamelin, nächst zu Evoli und mit ihr einen leisen Dialog führend, beobachtete das ganze Schauspiel aus kurzer Distanz. Auch Evoli erweckte einen recht müden Eindruck, konnte ihrer menschlichen Freundin jedoch nicht das Wasser reichen.
    Beiläufig fuhr sich Sonja erschöpft durchs Haar. „Nein, glaube ich kaum“, entgegnete sie. „Zorua hat einfach seinen ganz eigenen Kopf, ob du nun da bist oder nicht.“ Sonja seufzte der unfertigen Skizze in ihrer rechten Hand matt entgegen. „Ich glaube, ich gebe es auf ... Hat ja doch keinen Zweck ...“
    „Du gehörst doch eh zu den Besten in Kunst. Was macht da schon eine weitere Eins?“
    Skips simpler Aufmunterungsversuch erfüllte seinen Zweck – er erreichte bei Sonja ein schwaches, doch ehrlich gemeintes Lächeln. Nichtsdestotrotz starrte sie im Anschluss auf die still ruhende, im letzten schwachen Tageslicht glitzernde Wasseroberfläche des Weihers hinaus und seufzte: „Trotzdem ... Zorua ...“
    „Mach dir mal keinen Kopf. Irgendwann wird sich das Ruder ganz von alleine herumreißen und ehe du es dir versiehst, befindet ihr euch auf gemeinsamen Kurs. Was mich und Ottaro anbelangt“, Skip ging in die Hocke und tätschelte seiner anhänglichen Gefährtin – Ottaro schloss die Augen und lächelte entspannt - zutraulich den kahlen Kopf, „bin da jedenfalls sehr zuversichtlich.“
    Sonja nahm einen flachen Stein in die Hand. Sie begutachtete ihren Fund nur kurz, bevor sie ihn drei Mal über die flache Wasseroberfläche springen ließ. „Vielleicht“, murmelte Sonja, ihren Blick auf die Untergangsstelle gerichtet, von der sich gleichförmige Ringe langsam ausbreiteten und kurz darauf verschwanden.
    Skip tat es ihr gleich – sein geschmeidig glatter Stein hüpfte allerdings gleich fünf Mal spektakulär über das Wasser, bevor auch er von dem See verschluckt wurde. Peinlich über diesen unerwarteten Erfolg berührt kratzte sich Skip am Nacken und wandte sich zu Sonja um. Er hatte bereits die Lippen für eine Entschuldigung gespitzt, als seine Aufmerksamkeit dann jedoch von zwei fast mannsgroßen Schemen, die sich rasch ihrer Position näherte, abgelenkt wurde. „Wen die Flut alles anspült - sieh mal, die kennen wir doch.“
    Auch Sonja wandte sich den abendlichen Spaziergängern zu: Ray und Eagle, begleitet von Sheinux an deren Seite. Auf Eagles Schulter wippte Staralili im Gleichtakt seiner Schritte auf und ab und an Rays rechtem Arm hing bei näherem Hinsehen Geckarbor, Rays neuer und recht schweigsamer Gefährte.


    „Je später der Abend, desto schöner die Gäste, so sagt man doch?“, grinste Ray. „Da hast du also die ganze Zeit gesteckt.“
    „Und dann noch mit dem“, ergänzte Eagle. Nicht einmal ansatzweise teilte er Rays amüsiertes Lächeln, sondern funkelte böse in Skips Richtung; beinahe so, als trüge der Suicune eine besonders ansteckende Form der Beulenpest mit sich herum.
    Die von Eagle heiß ersehnte erboste Reaktion auf seinen Kommentar blieb allerdings aus. Er selbst wie auch der Rest der Anwesenden wurde Zeuge, wie sich Geckarbor mit einem gewaltigen Ruck von Rays Oberarm löste, Hände und Füße an dem Stamm des Baumes verankerte und mit spielender Leichtigkeit hinaufkletterte. Die zum größten Teil faszinierten Blicke folgten dem leichtfüßigen Baumliebhaber, bis er einen schmalen Ast in luftiger Höhe erreichte, dort Platz nahm, sich rücklings an den Stamm anlehnte und lässig ein Bein herabbaumeln ließ. Geckarbor wirkte erstmalig sichtlich entspannt, was auch Ray noch fröhlicher stimmte. Er winkte seinem baumliebenden Gefährten fröhlich entgegen und wandte sich dann wieder zu seinen Schulkameraden hin.
    „Da ist mir im wahrsten Sinne des Wortes echter Glücksfang gelungen“, sagte Ray vergnügt.
    „Scheinst sehr glücklich zu sein“, stellte Skip fest.
    „Bin ich, bin ich – und er und Sheinux verstehen sich auch prächtig, auch wenn sie anfangs ihre kleinen Differenzen hatten. Stimmt doch, oder, Sheinux?“
    „Shuww!“, meldete sich Sheinux beipflichtend zu Wort.
    „Und wie steht es mit dir? Alles paletti?“, wollte Ray wissen. Er folgte Skips gespielt grimmigen Fingerzeig hinab, wo Ottaro mit glänzenden Augen das Bein seines großen Freundes in aller Zärtlichkeit liebkoste.
    Ray wollte darauf nichts wirklich Brauchbares – sah man von einem amüsierten Lächeln ab - einfallen. Das Sprechen übernahm gewissermaßen Eagle für ihn. „Endlich jemand, der dich wegen deines fischigen Aromas zu schätzen weiß. Kannst froh darüber sein, vielleicht aber auch nicht ...“
    Die Retourkutsche für diesen bissigen Kommentar folgte auf dem Fuße. Nur Ottaros sich rasch aufblähende Backen kündigten den kalten Wasserstrahl an, der ihr von Vergeltungsdurst getrieben aus dem Mund quoll und Eagle nur ganz knapp durch promptes Ducken entgehen konnte. Staralili hatte sich ebenfalls noch rechtzeitig von Eagles Schulter abgestoßen und setzte unter wütendem Gekreische auf einem Zweig unterhalb Geckarbors Position auf. Sie und Ottaro lieferten sich einen heftigen Schlagabtausch mit zynischen Drohgebärden und für das Menschenohr unverständlichen Flüchen.
    „Du mieses, kleines ...“
    „Ottaro scheint es gar nicht zu mögen, wenn jemand zwischen uns kommt“, belehrte Skip mit gespieltem Mitleid unnötigerweise seinen erbosten Schulkameraden. „Sie wollte anfangs noch nicht einmal Sonja an mich ...“
    „Richtig ...! Sonja ...!“, wurde Skip vor Beendigung seines Satzes von Eagle jäh unterbrochen, dem endlich wieder dämmerte, warum er überhaupt den Weg auf sich genommen hatte. Nicht minder erregt schaute er in Sonjas Richtung. „Was machst du eigentlich hier draußen? Wir waren krank vor Sorge, haben uns den Kopf darüber zerbrochen, wo du stecken könntest, und das halbe Gelände auf den Kopf gestellt ... und du flirtest hier rum, oder was?“
    Sonja reagierte mit versteinertem Ausdruck auf ihrem Gesicht und vermochte anfangs nicht, ihre Sprache zu finden und schon gar nicht sich gegen diese Unterstellungen ausreichend zur Wehr zu setzen. Äußerst peinlich berührt schabte sie mit dem Fuß über die trockene Erdoberfläche.
    Betreten hob sie ihre rechte Hand etwas hoch, die noch immer ihre unfertige Zeichnung umklammerte. Den Blick der anderen mied sie dabei völlig. „Wollte nur ... eine Schulaufgabe erledigen, in Kunst ...“ Sie ließ ihre Zeichnung auf ihrem Block, die sie ohnehin verkehrt herum ihren Mitschülern präsentiert hatte, wieder senken.
    „Und er hier?“, schnaubte Eagle verächtlich in Skips Richtung.
    „Wie sieht es denn aus? Ich war schwimmen, sieht man doch“, sagte Skip, der - leicht bekleidet und mit nassem Haar - tatsächlich keinen anderen Eindruck machen konnte. „Hab Sonja zufälligerweise am Ufer hocken sehen und da bin ich zu ihr, das ist alles.“
    Wirklich zufrieden schien sich Eagle mit dieser Antwort nicht geben zu wollen, doch fiel ihm auf Anhieb partout nichts anderes ein, als die Waffen schweigen zu lassen, zumindest für den Moment. Ray hatte sich derweil klammheimlich hinter Sonja gestohlen und lugte auf die angefangene und nicht zu Ende gebrachte Zeichnung in ihrer Hand. „Zorua?“, stellte er fest.
    Sonja, die bis zu diesem Augenblick nichts von Rays Annäherungsversuch bemerkt hatte, wirbelte erschrocken herum. Beklemmt presste sie ihren Skizzenblock gegen die Brust, fern vor neugierigen Blicken.
    „Sieht doch gut aus, weiß gar nicht, was du hast“, meinte Ray schulterzuckend.
    Der Anflug eines Lächelns huschte Sonja über das Gesicht. „D-danke“, stammelte sie, „aber ich lasse das Projekt trotzdem fallen ...“
    Die Verwunderung über diesen doch sehr unerwarteten Entschluss reichte nur von Ray zu Eagle hin; Skip wusste schließlich bereits um Sonjas Dilemma. „Zorua ist nur wenig kooperativ“, schaffte Sonja seufzend Klarheit auf die verdutzten Gesichtsausdrücke ihrer beiden gleichfarbigen Hauskameraden. Auf der Suche nach ihrem trotzigen Problemkind wanderte Sonjas Kopf umher. Ihr kurzer Rundblick endete ergebnislos. Abermals suchte sie die Umgebung ab, nun noch gründlicher. Geckarbor saß weiterhin unbekümmert auf seinem Ast. Unterhalb von ihm hatte Staralili ein wachsames Auge auf ihr Umfeld und insbesondere auf Ottaro. Auf dem Erdboden angekommen, nächst zu ihrer Seite, Ray. Zu dessen Füßen stand Sheinux. Weiter ging es mit Skip und Ottaro an dessen Rockzipfel. In einigem Abstand zu ihm wartete Evoli. Beträchtlich dagegen war die Entfernung zu Eagle, der sich auf großzügiger Distanz zu Skip übte. In Ufernähe, etwas abgeschieden von dem Rest der Gruppe, Bamelin und Evoli. Damit endete Sonjas Panorama und begann ein weiterer Abschnitt ihres Dilemmas. In ihrer Ratlosigkeit vergewisserte sie sich abermals, dass sie Zorua womöglich einfach hinter ein paar menschlichen Beinen übersehen haben könnte – doch Fehlanzeige. Von dem vermissten Pokémon fehlte weiterhin jede Spur. Der kalte Schweiß machte sich bereits auf der von Bedrängnis gezeichneten Stirn bemerkbar, als sie zum wiederholten Mal das Gelände absuchte.
    „Äh, alles klar?“, fragte Ray ein wenig verwirrt darüber, seine Freundin wie eine Primaballerina dabei zu beobachten, wie sie auf der Stelle ihre Pirouetten drehte. Rays Zustand wollte sich erst recht nicht dadurch bessern, dass Sonja auf einmal dreinschaute, als wären ihr alle Steine dieser Welt auf einen Schlag vom Herzen gefallen, und doch im selben Moment urplötzlich grimmig die Lippen schürzte. Ihr verärgerter Blick galt – so seltsam es auch wirkte – Evoli. Untypisch war auch der ruppige Ton, mit dem Sonja ihre vierbeinige Freundin ansprach. „Nicht schon wieder ... Habe ich dir nicht gesagt, dass du das lassen sollst? Du bist unmöglich, weißt du das?“
    Ungläubig pendelte so manch ein Augenpaar zwischen Sonja und Evoli hin und her, bis man realisierte, dass nicht nur Sonja ein mehr als ungewöhnliches Verhalten an den Tag legte. Die raue Strafpredigt beeindruckte Evoli nicht im Geringsten. Sie nahm es sogar reichlich gelassen hin, wenn man die Fratze auf ihrem Gesicht so deuten wollte. „Zorua ...“, erklärte Sonja endlich, wobei keiner der Anwesenden, ob Mensch oder Pokémon, an dieser Aussage auch nur den kleinsten Zweifel hegte. Die echte Evoli hatte zwischenzeitlich zu Sonja aufgeschlossen. Ihr ungeteiltes Interesse wie auch das aller anderen galt ihrem Duplikat. „Zorua hat eine Neigung dazu, sich in aller Öffentlichkeit zur Show zu stellen. Das ist, warum ich ...“
    Sonjas Stimme erstickte in dem widerlich im Halse kratzenden, rosaroten Nebelschleier. Das bunte Hustorchester - ausgelöst von Zoruas Anziehung - war nur von kurzer Dauer. Schnell hatten sich auch die letzten der zuckersüßen Rauchschwaden in alle Winde verstreut und aufgelöst. Der Effekt des betörenden Parfums litt hingegen keineswegs unter der sauerstoffreichen Abendluft: Man hatte noch nicht die letzte Tränenflüssigkeit aus den geröteten Augen gewischt und den ersten wirklich freien Atemzug getätigt, als sich bereits sämtliche von Zoruas Charme bezirzten Pokémon-Artgenossen um den trügerischen Casanova gescharrt hatten. Evoli starrte ihr exaktes Ebenbild mit großen, leuchtenden Augen an, Staralili hatte es von ihrem Ast hinab zu ihrem Geliebten getrieben, dem sie eine nie zuvor ihrer Kehle entronnene Arie der Wolllust vorträllerte, und sogar Ottaro verschmähte ihren ehemaligen Angebeteten und lieferte sich mit ihren beiden Mitbewerberinnen ein hitziges Ringen um Zoruas Aufmerksamkeit. Lediglich Sheinux, Bamelin und Geckarbor trugen so viel Männlichkeit auf ihren Herzen, dass sie den magnetischen Reizen unbehelligt zu widerstehen vermochten.
    „Wenn ich jemals eine Auszeit von Ottaro brauche“, begann Skip und schaute ebenso wie Ray belustigt in Richtung der Turteltäubchen, „dann weiß ich, wen ich fragen muss.“
    „Ich finde das verdammt gar nicht lustig!“ Unbeherrscht stürmte Eagle voraus. Seine Finger fassten die weichen Federn seiner liebeskranken Gefährtin äußerst grob und im selben Umgang wurde das sich mit Schnabel und Klauen wehrende, aufgebracht flügenschlagende Bündel weggezerrt. „Lass ... den ... Scheiß ...! Au, verdammt!“ Eagle zählte mittlerweile vier äußerst unangenehme Hackwunden auf seinem Handrücken, als Staralili seinem Griff entrann - und ehe man es sich versah, wetteiferte sie erneut mit ihren beiden Konkurrenten um Zoruas Gunst. Mit teils schmerz-, teils wutverzerrtem Gesicht taumelte Eagle noch einige Schritte zurück, bevor er endgültig zum Stillstand kam, sein Augenpaar stets auf die sinnlichen Umgarnspielchen vor ihm gerichtet und wüste Verwünschungen vor sich hinmurmelnd.
    Nur einer teilte Eagles Weißglut, wenn auch ein wenig mehr beherrscht. Doch war es nicht Ray, nicht Skip und schon gar nicht Sonja, auch ließen Sheinux und Bamelin nicht ihrem Unmut für den erfahrenen Hustenanfall freien Lauf. Bis zum Schluss hatte niemand realisiert, dass Geckarbor seinen luftigen Hochsitz verlassen hatte. Gelassen doch drohend hatte er sich vor Zorua – noch immer in seiner Evoli-Verkleidung – aufgebaut, was bei näherer Betrachtung wie das erste Aufeinandertreffen von Meisterspion und dem von seinen Weibsbildern heiß umgarnten Oberschurken in dem neusten Hollywood-Kassenschlager wirkte.
    „Ray, du pfeifst Geckarbor besser zurück, sonst geschieht hier noch ein Unglück“, meinte Skip leise.
    „Ich glaube, du hast ... Woah!“ Noch keine drei Sekunden waren es, denen sich Ray kurzzeitig Skip gewidmet hatte, die die Karten des ohnehin bereits völlig verdrehten Spiels neu mischten. Ray sah doppelt. Das war natürlich nichts Neues, hatte man es schließlich die ganze Zeit über mit Evoli im Doppelformat zu tun gehabt. Völlig ungewohnt war dagegen Zorua nun in der Haut von Geckarbor. In der Rolle des Zweibeiners tat sich Zorua offensichtlich etwas schwer. Leicht unbeholfen wankte Zorua anfangs noch auf seinen dreizehigen Füßen hin und her und auch wusste er scheinbar nichts anderes mit den beiden überflüssigen Händen anzufangen, als sie etwas angewinkelt in Brusthöhe herabhängen zu lassen, was ungefähr so wirkte, wie einen Vierbeiner dabei zu beobachten auf zwei Beinen laufen zu gehen. Geckarbor starrte seinem Duplikat, das ihm keck die pinkfarbene Zunge rausstreckte und ihm aus seinen stechend gelben Augen heraus beobachtete, entgegen. Er wich nicht zurück, doch unternahm er auch keine weiteren Schritte. Auch für ihn schien dies eine Erfahrung wie keine zweite auf dieser Welt zu sein. Einen Sinneswandel hatte Zoruas Verwandlung von Evoli in Geckarbor bei seinem Fanclub nicht hervorgerufen. Die Wirkung seines Odeurs hatte kein Quäntchen seiner fesselnden Anziehung verloren. Evoli war weiterhin völlig hin und weg, auch wenn ihr Angebeteter nun nicht mehr wie ihr Zwillingsbrüderchen wirkte, in Ottaros Augen spiegelte sich das Abbild ihres Geliebten in den gleichen hinreisenden Farbtönen wie zuvor und Staralilis lieblicher Gesang kehrte in den wiederkehrenden Refrain zurück. Letzteres sollte nun aber in den Augen ihres Gefährten endgültig sein Ende finden.
    „Es reicht!“ Erbarmungslos wurde der Frauenschwarm um eines seiner Objekte betrogen – und auch seine Verwandlungskünste vermochten nichts an dem Umstand zu ändern, dass Eagle Staralili mit dem gezielten Einsatz seines Pokéballs zurückbeordert hatte. „Ende der Vorstellung!“, knurrte er, nachdem Staralili endgültig in dem Inneren verschwunden war. Den Pokéball in seiner rechten Hand musterte er nur kurz, Geckarbor-Zorua dagegen mit tiefem Abscheu noch eine ganze Weile. Das Grün und Gelb in beider Augen kämpften gegeneinander an. Wer von beiden das Nicht-blinzel-Duell gewonnen hätte, blieb jedoch ungelöst, denn drehte Eagle seinem Gegenüber den Rücken zu und marschierte von dannen. Sein Glück, denn entging er so der Gewissheit, dass ihm Zorua hinter seinem Rücken noch eine diabolische Fratze schnitt.

  • Moin Jens,
    so sehr nach Pause schauts hier aber irgendwie nicht aus^^. War´s das damit etwa schon oder wie darf man das interpretieren?


    Nachdem der erste Part dieses Kapitels mir wenig Stoff zum Feedback gegeben hat, hole ich das nun zusammen mit Part 2 nach. DIe Idee, einen Pokémon-Kenner die neuen Begleiter der Charaktere beurteilen zu lassen, ist durchaus originell und sorgt auch für eine authentische Atmosphäre. Auch der Ablauf gestaltet sich sehr realistisch (sofern man bei Pokémon davon sprechen kann^^) und die Kennerin an sich, kommt als flüchtiger Charakter ebenfalls sehr gut rüber. Mit der Zeit ist es allerdings ein wenig ermüdent, sich Meinung um Meinung eben jener Person zu jedem einzelnen Pokémon und seines Trainers durchzulesen. Zwar hast du dich um individuelle Beurteilungen und etwas allgemeine Abwechslung bemüht, doch wirklich gelungen ist das mal wieder nur bei Ray, der mit seinen Prädigten zum Theme Pokémonernährung ja bereits zuvor für Aufsehen im negativen Sinne gesorgt hat. Und auch wenn es im Detail Unterschiede gibt, fällt das Fazit zu jedem Trainer-Pokémon-Paar fast gleich aus. Einige interessante Infos sind durchaus enthalten, allerdings fehlt es einem Part wie diesem hier fast zwangsläufig an gleich mehreren Elementen. Dennoch ist das Endergebnis - berücksichtigt man die Schwierigkeit, einen solchen Abschnitt überhaupt leserlich hinzukriegen - durchaus sehenswert und wäre wohl auch bei den meisten anderen Autoren nicht besser gelungen.


    Zum Thema Zorua. Dass dieses schlitzohrige kleine Fellbüschel Sonja vor einige Probleme stellen würde, war ja wohl jedem schon von Anfang an klar. Ebenso, dass diese dann gleich mal wieder in Selbstmitleid zerfließt. Uuuuugh, Sonja, kauf dir ne Packung Rückrat beim Aldi!. Doch vielleicht stellt Zorua ja jetzt endlich die längst fällige Aufgabe für Sonja dar, an der sie wachsen und endlich mehr Zuversicht zu sich, dem was sie tut, und überhaupt ihrem ganzen Leben fassen wird. Vielleicht kann Zorua aus ihr endlich eine standhafte Persönlichkeit machen, die mich nicht mehr bei jedem Auftritt wahnsinnig macht. Denn mal ehrlich, manchmal frage ich mich schon, wie sie überhaupt noch am Leben sein kann. Teilweise wirkt Sonja ja dermaßen depressiv, dass man meinen könnte, sie denke bereits an Suizid.
    Ebenfalls sehr vielversprechend sind Zoruas Sticheleien und Scherze gegenüber... ja eigentliche jedem. Besonders aber bei Eagle ist der Zwist aber vorprogrammiert und ich bin gespannt, wohin das noch führen wird.


    Bis dahin...
    Pheno

  • Part 3: Etwas ausbrüten


    Es war fast undenkbar, dass die Ereignisse des Freitags beinahe alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen sollten, und das ausgerechnet nur wenige Tage nach den übermäßigen Erfahrungen in der Safari-Zone; doch eben nur beinahe. Gerade die Mädchen der Unterstufe hatten diesem Tag wie keinem anderen entgegengefiebert: Dieser Freitag sollte den Übergang zur Projektwoche einläuten - das große Eierausbrüten. Wohin man auch sah, blickte man in doch sehr zwiegespaltene Gesichter. Gerade das sonst so starke Geschlecht reagierte eher antriebslos, sogar selten sensibel oder gehemmt. Auf so manch einer Stirn der werdenden Väter hätten die Mütter in spe die Eier geradewegs braten können, welche sie eigentlich gemeinsam ausbrüten sollten. Eben dies war ein beliebtes Ziel für den Spott der Mädchen, die es zum größten Teil gar nicht abwarten konnten, endlich in die Rolle der Leihmutter zu schlüpfen. Hinter den Rücken der Jungs tuschelten und giggelten sie heimlichtuerisch oder schwelgten einfach nur in ihren wilden Phantasien, die von halbwegs glaubhaft bis absolut verrückt reichten. Unter diesen beiden Parteien bestätigten Ausnahmen aber auch die Regel. Ray sah in der bevorstehenden Aufgabe nicht nur eine Woche lernfreie Zeit, sondern auch eine Gelegenheit, seine ganze Palette an Eierwitzen aufzufahren („Hausaufgaben? Ach du dickes Ei! Eigenartig ... eigentlich bin ich doch sonst so eifrig und schon gar kein faules Ei ...“). Sonja dagegen gehörte zu der Minderheit, die im Moment am liebsten auf beides, Projektwoche und normalen Unterricht, gut und gern hätte verzichten können, wobei sie die damit gewonnene Zeit allerdings nicht in das weitere Kennenlernen ihres neuen Pokémon-Begleiters investiert hätte, so wie es beispielsweise bei Eagle der Fall war. Sie wollte einfach nur ihre Ruhe; weg von dem - wie sie es nannte - „perversen Vergnügen“ ihrer Mitschüler, sie nach ihren Fortschritten mit Zorua auszufragen.


    „Wollt ihr wissen, was ich gehört habe?“
    „Du wirst es uns sicherlich gleich sagen ...“
    Die ersten zwei Stunden waren geschafft - Frühstückspause. Jeder Zahnarzt hätte beim Anblick von dessen, was Diana Rawkes soeben auf den Tisch gestellt hatte, bevor sie sich hastig zwischen ihre Klassenkameraden am Raikou-Tisch quetschte und verschwörerisch in die Runde schaute, die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Für ihre Hausbewohner dagegen gehörte die üppige Auswahl an zahnschmelzzerstörenden Süßigkeiten bereits zur Normalität. Noch immer hatte Diana keinen Wind von Sonjas schlechter Laune bekommen, daher blieb die zynische Antwort unbemerkt. Ungeachtet dessen oder ob ihr überhaupt jemand zuhörte, fing Diana zu erzählen an. „Lucy hat sich mit Kathy unterhalten, die hat von Jenny gehört, dass Pam angedeutet hätte, am Ende der nächsten Woche würde der beste Projektteilnehmer ausgezeichnet werden. Ausgezeichnet, ihr wisst schon ...“ Diana hatte noch nicht richtig geheimnistuerisch in die Runde geschielt, da knüpfte sie wieder an. „Professor Joy kann ja sagen, was sie will. Für mich ist die Sache klar: der Beste bekommt sein ausgebrütetes Pokémon geschenkt.“
    Serina und Nea tauschten Blicke und begannen, wie schon so oft, heftig zu tuscheln.
    „Ach quatsch! Du spinnst doch!“, sagte Miller und verdrehte dabei die Augen.
    „Natürlich tut sie das. Steht doch außer Frage. Professor Joy hat doch ganz deutlich gesagt, dass ...“
    „Klar hat sie das gesagt“, fuhr Diana Sonja ins Wort. Ihr Lächeln war so süß wie einer ihrer aufgetürmten Schokodonats mit bunten Streuseln. „Sie will keinen Konkurrenzkampf, logisch. Daher die Geheimnistuerei.“
    „Glaub doch, was du willst ...“, brummte Sonja und vergrub ihr Gesicht in ihre Ausgabe von „Pokémon-Training für Anfänger“.
    „Ich glaube es trotzdem nicht“, sagte Miller. Sein bester Freud und unmittelbarer Nachbar, Jake Folley, welcher der Unterhaltung bislang stumm beigewohnt hatte, nickte leise.
    „Was, wenn sie recht hat? Könnte doch sein ...“, meinte Nea leise.
    „Ach bitte!“, keifte Sonja über den Rand ihres Buches.
    „Woher willst du das wissen?“, erwiderte Serina aufgebracht in Sonjas Richtung.
    Böse Augen schauten hinter dem Buch hervor, dass Sonja soeben heruntergerissen hatte. So hatte man sie bislang nur selten gesehen. Vielleicht waren gerade deshalb nicht nur Serina, sondern auch alle anderen für den Moment wie gelähmt. „Ich bin eben nicht so naiv!“, fauchte Sonja.
    „Pokémon-Training für Anfänger“ wurde so laut zugeschlagen, dass selbst einige Suicunes zusammenschreckten und von ihrem Haustisch empört zu den Raikous starrten. Unter den verdatterten Blicken ihrer Hauskameraden schnellte Sonja hoch und schwang ihren Rucksack über die Schulter, nachdem sie ihr Lehrbuch schnaubend hineingestopft hatte. Ohne auch nur irgendjemanden am Tisch noch eines Blickes zu würdigen, stolzierte sie mit weiten Schritten zu Eagles Tisch. Weder fragte sie, noch ließ sie sich von Eagle dazu auffordern, sich zu setzen - sie tat es einfach, packte ihr Buch wieder aus dem Rucksack und verkroch sich abermals darin. Etwas skeptisch schaute Eagle sie an, ließ sich aber nicht weiter davon beirren und tat so, als säße er noch immer allein. Das schien sogar beiden sehr recht zu sein.
    Serina schaute richtig angewidert drein, fast so, als hätte ihr jemand gerade beim Vorbeigehen ins Müsli gespuckt. „Was ist denn in die gefahren? Richtig zickig ...“
    Alle schauten in Rays Richtung, der auch sogleich sein Ei dazu legte.
    „Die Zorua-Geschichte halt. Legt ihr die ganze Zeit Eier in die Nesseln („Och, Mensch, Ray!“). Jedenfalls bekommt ihr das nicht sonderlich gut, auch wenn man dadurch gewisse Vorzüge genießt.“ Ungeniert langte Ray auf Sonjas verwaisten Teller. Das unangetastete Kümmelkäsebrötchen wechselte seinen Besitzer. „Einfach vorerst in Ruhe“, meinte er schließlich achselzuckend.
    Nea legte ihre Stirn in Falten. „Verstehe ich nicht“, sagte sie. „Sonja hat doch den Fang des Jahrhunderts gelandet. Jeder würde mit ihr tauschen wollen.“
    „Hannah hat gesagt, Amy hätte Sonja sogar gestern einen richtigen Tausch angeboten. Natürlich hat Sonja abgelehnt. Hätte ich an ihrer Stelle auch getan. Irgendwie muss sie also doch sehr an Zorua hängen.“ Wie es Diana schaffte, mit derart gefüllten Backen noch verständliche Sätze zu bilden, war beinahe unbegreiflich. Sie musste wohl damit sehr viel Übung gehabt haben. „Vielleicht kommt ihr die Projektwoche daher sehr gelegen. Ablenkung und so. Aber wenn sie dann doch die Beste sein sollte ... Muss man sich nur mal vorstellen - auf einmal säße sie mit zwei von Zoruas Art da, und einem müsste sie sogar noch regelmäßig die Flasche geben.“
    Zum ersten Mal an diesem Tag folgte Rays ursprünglich eigentlich scherzhaft gedachte Aufforderung, man solle sich keine Gedanken über ungelegte Eier machen, nachdenkliches Schweigen. Einige Male warf ein jeder, der der Unterhaltung beigewohnt hatte, zu Sonjas und Eagles Tisch herüber. Dass die beiden aber kaum merkbar die Lippen bewegten, bemerkte niemand. Als sich dann Skip zu ihnen an den Tisch quetschte (nicht jeder war davon begeistert und rückte demonstrativ einige Zentimeter von dem Suicune weg), um sich mit Ray über die bevorstehende EDV-Schularbeit zu unterhalten, wechselte man schließlich das Thema.



    * * *



    „Wann hat sie dich herausgefordert?“
    „Gestern, beim Redaktionsmeeting der Schülerzeitung“, hauchte Sonja über den Rand ihres Schulbuches hinweg. „Ray war gerade beim Austreten. Und ja, das hat sie dann wohl genutzt ...“
    Noch nicht einmal eine von Eagles Augenbrauen zuckten, während er nun bereits eine Minute lang sein Müsli umrührte. „Weiß er davon? Hast du es ihm gesagt, also Ray?“
    Selbst ein Blinder hätte deutlich den Konflikt auf Sonjas Gesicht ihre Waffen aufeinander richten sehen, hätte sie nicht das Gesicht hinter ihrem Schmöker verborgen. Redliche Freundschafsgefühle kämpften mit gedämpfter Verbitterung. „Nein ...“, flüsterte Sonja schließlich. „Er weiß nichts davon. Nichts gegen ihn, aber du weißt ja, wie er ist. Für ihn ist das alles nur ein Spaß.“
    „Ist vielleicht auch besser so“, brummte Eagle, obgleich er sich ein zufriedenes, wenn auch nur kurzes Grinsen in dem Moment nicht verkneifen konnte. „Und wann soll das Massaker stattfinden?“
    Zum ersten Mal lächelte Sonja bitter. Doch da sie ihr heißes Gesicht noch immer hinter ihrem Buch versteckt hielt, blieb es unbemerkt. Massaker ... Ja, das traf es ziemlich gut. „Heute, nach der Schule.“
    „Verstehe ...“



    * * *



    Selten hatte man in Pokémon-Pflege eine derart angespannte Stimmung erlebt. Unaufgefordert hatte man zu Beginn des Unterrichts die bereits vorab gebildeten Paarungen wieder eingenommen. Sonjas Laune hatte sich leicht verbessert, doch vermied sie es irgendetwas anderes als ihr Lehrbuch zu betrachten, die beiden Jakes schienen damit zu wetteifern, wer von ihnen beiden dümmer aus der Wäsche schaute, Eagle tat wie immer und behandelte Skip wie eine äußerst penetrante Duftnote, Julia Brown schien endgültig vor Logan Sokols kühler Zurückhaltung zu kapitulieren und schaute neidisch in Richtung ihrer beiden Freundinnen Fabien und Marina, die ihren vor kurzem geführten Streit offenbar wieder begraben hatten. Ansonsten unendlich viele leise Unterhaltungen.


    „Das typische Gelege umfasst für gewöhnlich ein, selten zwei oder auch mehrere Eier. Ein Nachgelege, also ein weiteres Eierlegen bei unerwartetem Verlust, ist nicht untypisch. Die Pflege des Nests und der sich darin befindenden Brut richtet sich nach dem Pokémon-Typ und ist unter der gewissenhaften Obhut des Elternpaares dank fester Rollenverteilung denkbar einfach: Das Weibchen weicht während der zwischen drei und vier Wochen andauernden Brutphase nur in absoluten Ausnahmesituationen von ihrem Gelege ab. Ihr allein obliegt die Nestfürsorge. Sie reagieren in der Regel sehr ungehalten über eine mehr als absolut notwendige Präsenz des Männchens, das sich zum überwiegenden Teil dem Schutz des Territoriums hingibt und das Weibchen mit Nahrung versorgt. Ungebetene Eindringlinge, die das Territorium verletzen, bekommen die volle Härte des elterlichen Schutzinstinktes zu spüren. - Notieren Sie sich das.“
    Nur die wirklich Allerwenigsten hatten sich während der bereits über dreißigminütigen, sehr umfangreichen Ausfertigungen ihrer Lehrerin keine Notizen gemacht. Zuvor hatte Professor Joy anhand einer ausrollbaren Vorführwand den fünfzehnteiligen Grundaufbau eines Pokémon-Eis erklärt, der von der äußeren kalkhaltigen Schicht, über die Kutikula, einer zusätzlichen dünnen Membran, die das Eiinnere vor Krankheitserregern schützt, bis hin zur eigentlichen Reifungskammer gereicht hatte. Weiter thematisiert waren die typischen Verhaltensmuster der beiden Elternteile vor, während und nach der Paarungszeit, der Bau des Nestes und dessen Pflege wie auch die Behandlung des eigentlichen Geleges worden. An Beispielen hatte Professor Joy erläutert, wie sich der Pokémon-Typ bereits auf die Fürsorge des ungeschlüpften Nachwuchses auswirkte, so beispielsweise bestimmte Feuer-Pokémon, die in regelmäßigen Minutenetappen ihre Eier mit exakt 72 Grad Celsius beatmeten, oder Pokémon vom Typ Gestein, die vorliebweise in Basaltablagerungen nisten; bei Mischtypen galten dagegen wieder ganz eigene Regeln.
    Der weitere Lehrstoff über den zwischen rasanten 5,7 Sekunden bis hin zu stolzen 21 Minuten lange Schlüpfvorgang zehrte auch die letzte bisschen Unterrichtszeit auf. Am Ende blieb keine Gelegenheit, auch nur ansatzweise über den endlich geschlüpften Nachwuchs zu sprechen, was sich in den zum gleichen Teil enttäuschten und erschöpften Gesichtern der Studenten widerspiegelte. Auch der Hausaufgabenpegel erreichte mit dem Lesen, Analysieren und Bewerten der Kapitel elf und zwölf ebenfalls nie zuvor dagewesene Ausmaße; die wundgeschriebenen, geschundenen Hände taten den Rest. Das Wochenende war überfällig. Nur nicht für Sonja, denn mit dem Erklingen der Schulglocke war ihr vorzeitiges Ende ein gutes Stückchen näher gerückt.

  • Part 4: Alte Fehden


    Mit dem Verklingen der Schulglocke endete der zweitstrapaziöseste Gewaltmarsch im Fach Überleben in der Wildnis und der vielleicht längste Freitag in der Geschichte der Grundstufe. Dass der so heiß ersehnte Tag derart anstrengende Züge annehmen würde, hatte sich niemand auch nur im Entferntesten vorstellen können. Selbst der noch so abgebrühteste Frischluftfanatiker verkündete, niemals wieder einen Fuß außerhalb der Cafeteria setzen zu wollen, in der man pünktlich zum Unterrichtsende die gewohnten kalten Speisen und Getränke auftischte oder brühwarmen Kaffee servierte. Wer diesem Beispiel nicht folgte, der war entweder auf dem Weg, seine Schultasche in die dunkelste und staubigste Ecke zu feuern, auf dass sie nie wieder ans Tageslicht kommen würde, oder hatte vielleicht etwas noch Besseres vor. Zumindest musste man das so annehmen ...
    Nichts dergleichen aber war auf das Verhalten der beiden Raikous zu übertragen, die an diesem überdurchschnittlich warmen Herbsttag unter dem azurblauen Herbsthimmel in südliche Richtung unterwegs waren. Mit jedem weiteren gemeisterten Schritt wuchs das Unbehagen, das sich in Form einer dunkeln Wolke in Sonjas Kopf manifestiert hatte und von Sekunde zu Sekunde mehr an Bedrohlichkeit gewann; fast so wie das sich in nicht absehbarer Ferne zusammenbrauende Unwetter, das sicherlich pünktlich zum morgigen Samstag eintreffen würde. An Sonjas Seite befand sich nicht Ray, sondern Eagle - eine selten anzusehende Partie. Er hatte seine Hauskameradin seinen Beistand für die bevorstehende Aufgabe versprochen, vielleicht auch mehr, falls es erforderlich werden würde. Sonja hatte dieses Angebot gerne angenommen. Ob diese freundliche Geste allein aber ausreichen würde, um ihr unbeschadet über die nächsten Stunden zu geleiten, blieb abzuwarten.
    „Die hat echt ’nen Narren an dir gefressen.“
    „Hm?“, machte Sonja und schreckte dabei aus ihren grauen, regenwolkenverhangenen Gedanken. „Ach“, seufzte sie schließlich“, ich war wohl lange genug aus dem Schneider. Früher oder später musste es ja kommen. Aber für dich ist das ja auch nichts Neues, oder?“
    Eagle musste nicht lange überlegen, auf was Sonja hinauswollte. „Du meinst Tarik und Anhang?“ Ein hässliches Schmunzeln umspielte seine Lippen. „Kaum der Rede wert“, winkte er ab. „Mittlerweile finde ich ihn ganz drollig. Muss immer herzhaft lachen, wenn er mir täglich aufs Neue meinen Untergang prophezeit. Gerade gestern meinte er wieder, eine Abreibung wäre längst überfällig. Ich sagte nur, klar doch, wenn er aufhören würde, nach Knoblauch zu müffeln und den Hintern nicht mehr im Gesicht tragen würde, könnte ich es ertragen, ihn mal wieder fertigzumachen.“
    Zum ersten Mal seit Tagen musste Sonja kichern. Sie fühlte sich gleich viel besser, und das obwohl mit dem Überqueren der Drei-Gabel-Brücke ihr Zielpunkt und somit das Ende jeden Gelächters ein gutes Stück näher gerückt war.
    Über den restlichen Weg hinweg redeten sie kaum noch miteinander. Sie ließen das mit blauen Ziegeln gedeckte Suicune-Haus hinter sich und so auch den Lärm und die Heiterkeit, die ihnen hinter den Türen und Fenstern des Schülertreffs entgegenschwappte. Als sie den vereinbarten Treffpunkt westlich des Schülertreffs erreichten, befanden sich bereits drei blauuniformierte Mädchen wie auch einige neugierig aus der Ferne gaffende Schaulustige vor Ort.



    * * *



    Rays Arm schmerzte etwas, als er und Skip ins Freie traten. Die letzten Eier-Witze, die er zuvor in der Cafeteria aufgetischt hatte, waren seinen Raikou-Kameraden nicht sonderlich gut bekommen. Man könnte sogar sagen, dass sie ihnen auf die Mägen geschlagen waren. Was aber kein Grund war, mit klobigen Büchern - und dann auch von der Sorte, die er gar nicht mochte, nämlich Mathebücher - zu werfen. Für so schwere Kost hatte Ray nichts übrig - und schon gar nicht am Wochenende. Zumindest gab ihm das Gelegenheit, sich um Skips Anliegen, die in zwei Wochen bevorstehende EDV-Klausur zu unterhalten; wäre er bloß Herr seiner Gedanken ...
    Als er allerdings endlich die erste ruhige Minute fassen konnte, niemand mehr - außer Skip - bei ihm war, der über seine abgedroschenen Witze lachen konnte und er realisierte, dass er keinen blassen Schimmer über Sonjas Verbleib hatte, fühlte sich Ray in seiner Haut richtig schäbig. Vielleicht hätte er ihr doch mehr Aufmerksamkeit schenken sollen, angesichts dessen, womit sie sich schon viel zu lange so sehr quälte. Eben so, wie man es eigentlich von dem besten Freund erwarten könnte. Zu dumm nur, dass es für diese Einsicht reichlich spät war.
    Nur das ununterbrochene, muntere Plätschern des Springbrunnens, in dessen Nähe sich Ray und Skip auf einer Treppenstufe niedergelassen hatten, war zu hören, als Ray tief seufzte. Die vielleicht längste lernfreie Minute in Rays Leben hatte damit ihr Ende gefunden.
    „Ist was?“ Skip, der die bis zu diesem Zeitpunkt angehaltene Ruhe dazu genutzt hatte, verträumt den wolkenlosen Himmel nach Anzeichen einer kühlen Brise abzusuchen, drehte seinen Kopf leicht in Rays Richtung.
    „Bin ich ... ein Kameradenschwein?“
    Die bequeme, weit zurückgelehnte Haltung, die Skip bisweilen eingenommen hatte, schwand dahin. Ein gutes Stücke wippte er nach vorne, um den Gesichtsausdruck seines Gesprächspartners besser in Augenschein zu nehmen. „Wie meinst du das? Ist etwas nicht im Lot?“
    Abermals seufzte Ray. „Du warst gestern dabei ...“
    „Du meinst Sonja?“, schlussfolgerte Skip. Emphatisch sog er die warme Abendluft in den Mund, bevor er anschließend tief ausatmete. Ansonsten schwieg er.
    Obwohl er eigentlich hätte nicken müssen, schüttelte Ray den Kopf; mehr als Antwort für sein eigenes Verhalten als auf Skips Frage. „Jeder sieht, was sie für ein schweres Kreuz scheinbar trägt, keiner aber weiß wirklich, warum sie sich so von Zorua eingeschüchtert fühlt. Niemand will ihr etwas Böses, am allerwenigsten Zorua, naja, denke ich zumindest. Keine Ahnung ...“
    Die schwere Doppeltür, die ins Schulgebäude führte, fiel knallend ins Schloss. Ein Rudel schwatzender Raikous der zweiten Jahrgangsstufe - darunter auch Andy und Sarah, die ihre beiden sitzenden Schulkameraden im Vorbeigehen grüßten - zog an ihnen vorbei.
    „Sie ist nicht so abgestumpft, wie die Leute vielleicht meinen“, ergänzte Ray.
    „Immer höflich, immer freundlich, immer zurückhaltend. Zuvorkommend, wo sie es nur sein kann. Bloß meist zu scheu, um es zu zeigen. Habe ich schon gemerkt“, sagte Skip.
    „Du hättest sie mal vor einigen Monaten sehen sollen.“ Ray lächelte leicht. Es war nicht sein übliches Grinsen und wirkte reichlich gequält. Trotzdem fühlte er sich ein wenig besser; jetzt, wo er mit jemandem reden konnte. „Man stelle sich vor: Sie wollte noch die Schule verlassen. Aber seit Eagle und ich ihr unter die Arme greifen, geht es bergauf.“
    „Und jetzt wird sie rückfällig“, stellte Skip bitter lächelnd fest.
    „Ist wohl mitunter meine Schuld. Ich war ihr in letzter Zeit kein besonders guter Freund ...“
    „Sie meinte gestern zu mir, sie fühle sich oft ein wenig alleingelassen. Vielleicht trifft sie sich deshalb heute mit ein paar Mädels. Wirklich zuversichtlich klang sie dabei aber nicht“, meinte Skip schulterzuckend.
    Abermals schwang die Eingangstür auf. Rico Tarik, Billy Finch und Nicholas Vance schienen es ziemlich eilig zu haben und hasteten an dem Raikou und Suicune vorbei. Genug Zeit für ein abfälliges Grinsen in Rays und Skips Richtung hatten sie aber allemal noch. Es lenkte Ray zumindest im Ansatz von seiner Verwunderung für Sonjas untypisches Verhalten ab, sich mit ein paar Mädels treffen zu wollen ... und das sogar freiwillig. Wohin die auch immer unterwegs waren - es konnte nur Schwierigkeiten mit sich bringen.
    „Ich werde wohl in nächster Zeit viel gut zu machen haben“, seufzte Ray schwer, nachdem er seine Gedanken wieder geordnet hatte.
    „Kannst gleich nächste Woche damit anfangen. Günstiger geht es kaum. Eine gute Note und alles ist wieder paletti, du wirst sehen“, sagte Skip.
    „Aber bloß keine Spitzennote - das versaut mir sonst meine makellose Durchschnittszensur. Was sollen da die Leute noch über mich denken?“, grinste Ray. „Obwohl ich nichts dagegen hätte, ein neues Pokémon zu adoptieren. Je mehr Verrückte, desto besser, sagt man doch. Aber Sonja bekäme sicherlich Magenschmerzen, wenn sie für den Rest der Schulzeit Flaschen geben und Windeln wechseln müsste.“
    „Du meinst, was Diana überall rumerzählt?“ Skips belustigter Gesichtsausdruck sprach Bände.


    Die frisch aufgesetzte, heftig brodelnde Gerüchteküche brachte die beiden wieder auf andere Gedanken. Auch wenn niemand von ihnen wirklich daran glaubte, dass die besten Teilnehmer der Projektwoche ihren ausgebrüteten Schützling behalten dürften, machte es ihnen Spaß, über die kommende Woche zu reden, spekulieren und zu scherzen; darüber, was aus ihren Eiern wohl schlüpfen würde („Hoffentlich kann es schwimmen!“), wie ihr Schutzbefohlenes sie wohl Tag und Nacht auf Trab halten würde („Ich kann ja den verpassten Schlaf übernächste Woche nachholen“) oder über die teilweise bunt zusammengewürfelten Gruppen („Hast du Julias Gesichtsausdruck gesehen? Wie sieben Tage Regenwetter!“).
    „Du hast mit Eagle aber - wie würdest du es sagen - einen denkbar schlechten Fang gemacht“, feixte Ray.
    „Er schlägt manchmal ziemlich hohe Wellen, scheint aber trotzdem ein anständiger Kerl zu sein. Er ist sogar mit Sonja gerade zu meinen Hauskolleginnen unterwegs, weißt du?“
    Ursprünglich hatte Skip fest mit einem anerkennenden Nicken von Rays Seite aus gerechnet. Dieses aber blieb aus und stattdessen machte sich ein dunkler Schatten auf Rays Gesicht bemerkbar.
    „Woher weißt du das? Hast du sie gesehen?“, fragte Ray. Im Kopf wiederholte er noch einmal Skips Worte. Hauskameradinnen? Der Kreis der Verdächtigen engte sich damit gewaltig ein und nahm eine Form an, die Ray überhaupt nicht mochte.
    „Diana und ihre Quellen - du weißt ja, wie sie ist“, erklärte Skip augenrollend. Seine rechte Hand imitierte einen sich ständig öffnenden und schließenden Mund. „Blah hat gesagt, dass Blubb gesehen hat, dass ... und so weiter ... Viel überflüssiges Geschwätz, das einem die Ohren bluten lässt. Sie hätte einfach sagen müssen, dass sich Sonja mit Fabien, Julia und Marina treffen will. Aber das ist wohl nicht ihr Stil.“ Als er bemerkte, dass sein Gesprächspartner weder schmunzelte noch beipflichtend nickte, verfinsterte sich auch Skips Miene. Vorsichtig fragte er: „Was ist los? Stimmt etwas nicht?“
    Ray hatte genug gehört. Seine ursprünglich für das Wochenende heruntergefahrenen Gehirnzellen arbeiteten auf Hochtouren. Fabien und ihre blasierten Freundinnen hatten Sonja sicherlich nicht zu Kaffee und Kuchen eingeladen, so viel war im Vornhinein klar. Erschwerend hinzu kam, dass, wenn Diana es wusste, jetzt sicherlich auch die gesamte Schule davon Kenntnis besaß, inklusive ...
    „Wir müssen zu ihnen!“



    * * *


    Feindseliges Gelächter schwappte einer eisigen Flutwelle gleich über die beiden Neuankömmlinge hinweg. In Sonjas Haut fühlte sich der eben noch so laue Nachmittag plötzlich furchtbar kalt an; ein Winter, der ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ, hingegen er Eagles innere Säfte zum Kochen brachte. Das sonst so leise raschelnde Gras klang verräterisch laut und verstummte erst, als Sonja und Eagle auf etwa zehn Meter Distanz zu ihren Gegenübern zum Stehen kamen. Das war weit genug.
    „Da ist sie ja, unsere kleine Sonja“, flötete Fabien. Julia und Marina kicherten. Fabien schielte zu Eagle. Sie schnitt eine belustigte Grimasse. „Ah, hast endlich der Flasche Valentine den Laufpass gegeben und gleich den nächsten geangelt, wie ich sehe. Naja, über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten. Aber wird ja ohnehin nicht lange dauern, bis du Granger ebenfalls abservierst. Inzwischen weiß schließlich jeder, dass du auf den gut gebräunten Faksen ein Auge geworfen hast.“ Ihre beiden Freundinnen an ihrer Seite übergaben sich gekünstelt. Schnell reihte sich Fabien in das darauf folgende beißende Gelächter ein.
    Von einem auf den anderen Augenblick war Sonja knallrot angelaufen. Natürlich hatte sie gewusst, dass sie kein besonders herzliches Empfangskomitee erwarten würde, doch die Gemeinheiten übertrafen einmal mehr ihre kühnste Vorstellungskraft. Und dennoch ... es war allemal besser, als eine offene Herausforderung und die damit verbundene Demütigung vor der gesamten Schule, mit der Fabien ursprünglich gedroht hatte, falls Sonja nicht mit diesem „intimen Plausch“ eingewilligt hätte.
    „Jammerschade, was meinst du, Sonja?“, sagte Eagle besonders laut, ohne seinen Blick jedoch von den drei Mädchen abzuwenden. Hässlich grinsend tat er einen Schritt nach vorne. „Wenn sie zu viert wären, hätten sie genug Grips, um einen Herd zu bedienen - für jede Platte gerade genügend Hirn.“
    Die schadenfrohe Grimasse auf den Gesichtern der Suicune-Mädchen schwand dahin, bis nur noch blanke Abneigung zurückblieb. „Wer hat dir denn erlaubt, dein vorlautes Maul aufzumachen, Granger? Kann mich nicht erinnern, dich eingeladen zu haben.“ Reichlich Unerwartet hatte Marina die Initiative für den nächsten Angriff übernommen. Selbst Fabien und Julia wirkten zu Beginn sehr verwundert darüber, fassten sich aber schnell wieder und nahmen ihre gewohnte überlegene Haltung ein. Eagle ahnte, dass dieser Angriff wohl mit der erst kürzlichen Auseinandersetzung zwischen ihm und Marina zusammenhängen musste. Trotz der Überdosis Haarspray, mit der sie ihren Kopf ständig bearbeitete, besaß sie noch genügend Verstand, um sich an die Vorfälle in der Safari-Zone zwischen ihnen beiden zu erinnern.
    „Muss ich mich jetzt wegen deiner Blödheit, dass du mich nicht vergessen willst oder kannst, eher geehrt oder beleidigt fühlen? Ich hatte dich Brechmittel jedenfalls bereits fast vergessen“, Eagles hässliche Fratze wuchs in die Breite, „dich, und dein Zetern gegen die ,kleine Miss Super-Chic’ da. So sagtest du doch?“
    Sonja konnte nicht sagen, ob es nun besonders schlau oder aber besonders dumm von Eagle war, die Suicunes gegeneinander aufzuwiegeln zu versuchen. Alles Erdenkliche konnte jetzt aus den Blickwechseln und dem leisen Geflüster der Mädchen untereinander resultieren; Gutes als auch Schlechtes.
    Die gedämpfte Unterhaltung der drei Mädchen endete rasch. Leider stand das Scheitern von Eagles List nur allzu deutlich auf den grienenden, perlweißen Zähnen der Suicunes geschrieben, als diese sich wieder in geschlossener Formation ihren Gegenübern zudrehten. Schminke und Lipgloss waren eben doch dicker als Wasser ...
    Fabien schüttelte amüsiert ihren Kopf. Eagle war nichts weiter als Luft für sie. „Du weißt, warum wir hier sind, Sonjalein, also los!“
    Bitter lächelnd machte Sonja einen wenig beherzten Schritt nach vorne. Ihre Begleitung mochte über die Unfähigkeit, nicht mehr für Sonja tun zu können, wie ein ausgehungertes, in die Ecke gedrängtes Pokémon knurren können - es half nichts. Einmal wieder war Sonja auf sich allein gestellt. Ob sie wollte oder nicht, sie musste da durch. Zumindest war in ihren Augen der Austragungsort gut gewählt. Außer dem einigen hundert Meter entfernten Schülertreff gab es kein Hindernis, das den bevorstehenden Kampf beeinflussen konnte. Kein Baum, kein Stück nackter Fels. Höchstens die ein oder andere Mulde versteckt im grünen Gras, aus der hin und wieder der Kopf eines neugierigen Boden-Pokémons zu sehen war, das die Menschen bei ihrem merkwürdigen Ritual beobachtete, bevor es wieder rasch im Erdinneren verschwand. Und was vielleicht am wichtigsten war: außer einigen Schaulustigen niemand, der sie beobachten konnte.


    Fabiens Versessenheit auf eine rasche und niederschmetternde Demütigung ihrer Gegnerin ersparte weiteres Vorgeplänkel. Viel schneller als es Sonja lieb war, hatte die Suicune bereits ihr Pokémon auf dem Feld. Der sorgfältig gehütete Schleier des Schweigens, den Fabien seit der Safari-Zone über ihren Fang geworfen hatte, war mit dem knapp einen Meter großen, violettfarbenen Falter, der sich aus dem strahlenden Licht des Pokéballs löste und seine weißen Flügel spannte, mit einem Schlag heruntergerissen worden. Johlende Jubelschreie von der Seite, wo Julia und Marina bereits die unausweichliche Niederlage der Raikou-Schülerin besangen. So sehr sich Eagle auch innerlich es zuzugeben sträubte: vielleicht taten sie das nicht zu Unrecht. Bei dem von Fabien gefangenen Pokémon handelte es sich um ein ausgewachsenes Käferpokémon. Um es überwältigen zu können, mussten sie sich wohl zu dritt darauf gestürzt haben, anders konnte er es sich nicht vorstellen. Dummerweise konnte nur eine von ihnen Anspruch auf das Pokémon erheben, was auch Ursprung des kürzlichen Streits zwischen Marina und Fabien gewesen war. Käfer-Pokémon pflegten einen äußerst schmutzigen Kampfstil. Nichts, was den hoheitlichen Flug-Pokémon hätte Paroli bieten oder gar gefährlich werden könnte, doch hegte er erhebliche Zweifel, ob Sonjas bislang erfolgreich angewandte defensive Taktik weiterhin Früchte tragen würde.
    Mit wiederkehrenden hohen Lauten flatterte der Falter kreisförmig über den ganzen Kampfplatz. Die zartroten Facettenaugen waren starr, die länglichen Fühler dagegen wippten im aufgefächerten Wind. Eine Pirouette in der Luft wie ein partnerloser Tanz. Ein gar hinreisender Anblick ... stünde das Pokémon nicht unter Fabiens Knute und zählte somit als Feind.
    Eagle plötzlich so unmotiviert zu betrachten und das alarmierende schlechte Gefühl in der Magengegend spornten Sonja nicht gerade an. Wenig spektakulär flog ihr Pokéball über den Kampfplatz - und Evoli erschien auf der Bühne. Der grazile Flug des Käfer-Pokémons nahm ein jähes Ende. Aufgeschreckt über die markante Entladung des Pokéballs segelte der Falter über die Köpfe der Erdbodenbewohner hinweg und bezog deutliche Position vor seiner Trainerin. Trotz dieses eigentlich zufriedenstellenden Gehorsams wirkte Fabien aber nur wenig begeistert, ja sogar verärgert. Wie sich aber schnell herausstellte, nicht wegen dem tadellosen Verhaltens ihres Kämpfers.
    „So haben wir nicht gewettet! Schieb die kleine Pelzverschwendung ab! Ich will die kleine Rampensau! Ich will Zorua!“
    „Äh, was?“ Sonja wusste nicht, ob sie über Fabiens unerwarteten Wutausbruch nun mehr verwirrt oder aber amüsiert war. Innerlich musste sie kichern, auch wenn sie es nach außen hin nicht zu zeigen vermochte. Ohne eine böse Absicht zu hegen, zuckte sie mit den Schultern. „Warum Zorua?“, fragte sie. Evoli warf währenddessen einen Blick über die Schulter. Sie wirkte deutlich weniger nervös als ihre Trainerin, sogar selten gelangweilt.
    Fabien schnaubte wütend, dass sie die Luft zum Beben brachte. „Bist doch sonst so altklug, Kleines, oder spielst du mit Absicht die Naive?“, fauchte Fabien. „Seht mich an, ich bin die ach so tolle, superschlaue Sonja. Ich krieg jeden mit meinem braven, kleinen Mädchenlook, und wenn das nicht hilft, hab ich ja noch Zorua, mit dem ich mich zur Show stellen kann.“ Mit ihrer bis zur Unkenntlichkeit schrecklich verstellten, hohen Kinderstimme gab Fabien nur ein sehr fadenscheiniges Sonja-Imitat ab. Es war offensichtlich, dass der pure Neid aus ihr sprach. Sie schien es einfach nicht ertragen zu können, dass Zorua ihr das Rampenlicht stahl, in dem sie so gern badete. „Du liebst es doch, dich vor aller Welt zu profilieren. Aber soll ich dir etwas sagen? Du bist richtig armselig, weißt du das? Niemand mag dich, so sehr du dich auch klammerst! Und ich treibe es dir jetzt aus!“
    Keine weitere Warnung ging dem brachialen Angriffsbefehl voraus, mit dem Fabien die Ketten auf dem Pokémon namens Smettbo sprengte und auf Evoli losließ. Auch schien sie völlig vergessen zu haben, gegen wen sich ihre Wut eigentlich richtete. Wenn sie Zorua nicht bekommen würde, musste eben Evoli notgedrungen herhalten. Es machte keinen Unterschied.


    Das Ordnen der durch Fabien stark aufgewühlten Gedanken hemmte Sonjas Reaktionsvermögen. Erst als der von den nachhallenden Klängen des Falters ausgelöste Druck auf Sonjas Trommelfell beinahe unerträglich wurde und sie schon beinahe die aufgepeitschte Luft spüren konnte, würgte sie den Befehl zum Ausweichen mit letzter Kraft hervor, welcher Evoli keinen Moment zu spät erreichte. Der rettende Satz zur Seite ersparte Sonjas Partnerin die unfreiwillige Begegnung mit ihrem angestürmten Gegner. Fabien tobte. Nur Augenblicke später setzte sie bereits nach und befahl dem Pokémon namens Smettbo einen weiteren Angriff. Eine lange Kehrtwende später war ihr fliegendes Einzelkommando wieder auf direkten Kollisionskurs und der Lärm in Sonjas Gehör nahm von Sekunde zu Sekunde bedrohlichere Bahnen an.
    „Noch einmal ausweichen! Schnell!“
    Smettbo sauste hinab. Mühelos rollte sich Evoli zur Seite ab.
    „Wirst du das Versteckspielen nie leid?“, tobte Fabien. Wut und Frustration standen ihrem sorgsam gepuderten Gesicht nicht sonderlich gut und machten sich in Form von entstellenden Falten auf Stirn und Wangen bemerkbar.
    Sonja wollte bereits kontern, dass Fabien mit ihrer durchschaubaren, einseitigen Taktik auch nicht gerade vor Kreativität übersprudeln würde, doch bevor sie auch nur einen Ton herausbekam, brauste Smettbo wieder heran. Ein weiteres Mal sollte Evoli ausweichen. Dank des leicht vorhersehbaren Angriffs waren die Voraussetzungen ideal und nichts stand diesem Vorhaben im Weg. Dann aber ... ein dumpfer Knall. Beide Trainerinnen riefen ihr jeweiliges Pokémon laut beim Namen; Sonja fassungslos darüber, dass Evoli soeben wissentlich eine klare und direkte Anweisung grob missachtet hatte, und Fabien, die bangend den durch die Luft taumelnden Falter beobachtete. Erst hatte Evoli einen stümperhaften, sehr holprigen Ausweichversuch fingiert, bevor sie dann die direkte Konfrontation gesucht hatte und nach einem Sprung, so kräftig wie ein Speerwurf, direkt in Smettbos weit geöffnete Flanke hineingerammt war. Evoli landete auf allen Vieren. Leicht taumelte sie auf der Stelle, doch erholte sich deutlich schneller als es bei Smettbo der Fall war. Konsterniert und richtungslos flatterte das Käfer-Pokémon nur wenige Fuß über dem Erdboden. Evoli - mittlerweile wieder völlig erholt - sah darin ihre Chance und wartete erst gar nicht auf eine Anweisung aus Sonjas Richtung, sondern jagte ihrem desorientierten Gegner mit gebleckten Zähnen und weiten Sätzen nach. Evoli sprang und schnappte nach Smettbo, verfehlte ihr Ziel nur knapp. Kaum war sie gelandet - die nächste gewaltsame Annäherung.
    „Höher!“, brüllte Fabien.
    Langsam fand Smettbo wieder seine Sinne und gewann an Höhe. Erneut kam Evoli angesprungen. Sie biss ins Leere und kam taumelnd auf den Boden auf. Dann, als es schon so schien, dass Smettbo bereits in unerreichbare Höhe entschwebt wäre ... ein letzter, verzweifelter Sprung. Evolis Zähne blitzten auf, Fabien brüllte aus Leibeskräften, Sonja und alle anderen stöhnten, wurden aber von Smettbos bitterliche Klagerufe überstimmt. Evolis Kiefer schloss sich, ihre Zähne bohrten sich in den rechten Flügel des Falters. Ein gewaltiger Ruck später donnerten erst Evoli und dann Smettbo auf den Boden auf. Evoli hatte noch nicht richtig den Halt von ihrem Opfer verloren, da stürzte sie sich wieder auf es. Heftig schlugen die Flügel des überwältigten, wehrlos auf dem Bauch liegenden Pokémons aus. Kein Stück verloren Evolis Kiefer den Halt, sondern schlossen sich nur noch enger.
    „Tu was! Schüttel das Vieh ab! Psystrahl verdammt!“, donnerte Fabien.
    „Lass jetzt nicht locker!“, hallte Sonjas brüchige Stimme dem entgegen. Kein logischer Sinn stand dahinter, nichts wirklich Rationales - es war Instinkt; Instinkt, jetzt bloß nicht loszulassen. Es konnte das Wunder sein, auf das sie gehofft hatte.
    Krümmend vor Schmerzen wurde Smettbos unbeholfenes Flügelausschlagen mehr und mehr zu knallenden Peitschenhieben. Evoli, die sich widerspenstig am rechten Flügel festgebissen hatte, drohte es, von der Wucht geradewegs in die Luft gerissen zu werden, und bohrte ihre ausgefahrenen Krallen nur noch tiefer in Smettbos Leib, mit denen sie sich sicheren Halt verschaffte und ihren Gegner am Boden festnagelte. Es war mehr ein Krümmen und Winden als kontrollierte Bewegungen, mit denen sich Smettbo ganz langsam auf die Seite kämpfe, bis ein einzelnes Paar der Facettenaugen endlich Blickkontakt mit dem bissigen Überwältiger herstellen konnten.
    Eine Lichtmauer aus grellen violetten, grünen, gelben und übermäßigen weißen Farben baute sich urplötzlich auf und schob sich gewaltsam zwischen die beiden Pokémon am Boden. Die Luft in unmittelbarer Umgebung verschwamm einem Zeitraffer gleich. Dazwischen bildeten sich Wellen, als ob man soeben einen Stein in ein ruhendes Gewässer geworfen hätte, die die Grashalme in trunkenem Zustand auf- und abschunkeln ließen. Bald darauf hatte die Barriere beide Pokémon völlig eingehüllt; sowohl Smettbo, welcher der Verursacher der Abnormalität zu sein schien, und Evoli, die noch keine Reaktion zeigte und unablässig knurrend ihren Griff nicht lockern wollte. Sonjas eben noch wabbelige Knie versteiften sich, als die von Chaos regierte Zone mehr und mehr Raum für sich beanspruchte und sich unaufhaltsam ihrer Position näherte. Ein greller, stetig lauter werdender Pfeifton löste erste Schwindelgefühle aus, Kopfschmerzen folgten. Schwerfällig taumelte sie einige Schritte zurück. Die peinigenden Schmerzen ließen leicht nach. Als Sonja rückwärts gegen Eagle prallte, hatten sich die die malträtierenden Gefühle beinahe in Luft aufgelöst. Weiter schien der verheerende Einfluss von Smettbos Attacke nicht zu reichen.
    „Was ist da los?“, zwängte Eagle zwischen seinen angespannt zusammengezwängten Kiefern hindurch. Unabhängig davon setzten beide Parteien ihr einseitiges Kräftemessen unausgesetzt fort. Weiterhin hatte Evoli den sich mittlerweile blaufärbenden rechten Flügel fest in ihrer alles zerstörenden Mangel und presste mit ihrem restlichen Körpergewicht ihren Gegner am Boden fest. Smettbos angestrengt fokussierter Gesichtsausdruck verhärtete sich mit jedem weiteren Ausbruch einer neuen von bloßen Gedanken gespeisten Attacke. „Warum verhält sich Evoli so aggressiv? Warum passiert da nichts?“, setzte Eagle fort.
    „Das - das ist nicht Evoli“, stammelte Sonja und sprach somit endlich ihre bislang streng gehütete Ahnung aus, die sie seit dem Zeitpunkt gehegt hatte, als Evoli, nein, Zorua wissentlich den Befehl zum Ausweichen missachtet hatte. Sie hatte versehentlich den falschen Pokéball geworfen.
    „Zorua“, knurrte Eagle. Auch er verstand jetzt. Logan hatte beiläufig erwähnt, dass Zorua die Eigenschaften eines Unlicht-Typs in sich tragen würde und somit gefeit vor Gedankentricks war. Das unüblich angriffslustige Verhalten, die Resistenz gegen Smettbos Psychokräfte - alles passte zusammen.


    Von der gegenüberliegenden Schlachtfeldseite löste sich ein purpurroter Strahl. Smettbo, kurze Zeit wie versteinert, verschwand in dessen reißerischen Wirbel. Noch immer in seiner Evoli-Verkleidung, verloren Zoruas Krallen ihren Halt und schlugen Augenblicke später ins Leere. Dieser Kampf war entschieden.
    Das Zurückkehren von Smettbo in dessen Pokéball stand in düsteren, von Hass und Ekel erfüllten Schatten geschrieben, die die drei Mädchen allesamt warfen. Gleichgültig wie sehr sich Sonja für Zoruas teils widerspenstiges, teils profilierendes Verhalten opponierte, konnte sie nicht anders als erleichtert auszuatmen und ihrem Schöpfer zu danken, dass sie den Ausgang dieser Schlacht für sich erringen konnte. Das alles kümmerte Zorua nicht im geringsten. Sein triumphierendes Geheul war die Fanfare, die die Kunde über seinen Sieg in alle Welt hinaustrug, gleichgültig, dass das für ihn rätselhafte Verschwinden seines Gegners nur eine kurze Waffenruhe und keinesfalls der großartige Sieg war, den er so ausgiebig feierte.
    Die niedrigen Gelüste nach Vergeltung rissen den Vorhang der Feierlaune mit aller Gewalt herunter. Drei Pokébälle kamen angeflogen, dreimal knalle es Sonja unheilvoll in den Ohren, drei Pokémon sah sich Zorua plötzlich Auge in Auge gegenüber. Eine kleine und nicht weniger gemeine Ausgabe von Fabien: Phanpy. Die nicht weniger herablassende, spitz gezüngelte Ausgabe von Julia: Vegimak. Und Marinas temperamentvolles, leicht zu provozierendes Stubenküken: Flemmli.

  • Part 5: Wenn zwei sich streiten ...


    Ein Sturm mit vernichtendem Einfluss zog auf. Die Lust zum Feiern war Zorua vergangen, sein vermessenes Verhalten buchstäblich aus dem Gesicht gefegt, der letzte Tropfen Glanz, in dem er sich nach seinem Sieg so ausgiebig geaalt hatte, endgültig abgeperlt. So auch Sonjas voreilig entspannte Glieder, die mit der Konfrontation dieser neuen Übermacht vor Furcht bebten. Selbst mit Staralili, die Eagle schützend an Zoruas Seite Stellung bezogen ließ, waren sie diesem Ausbruch primitiver Feindseligkeit immer noch zwei zu drei unterlegen. Doch für Kompromisse war es bereits zu spät.
    Die Angriffsbefehle eines Raikous und gleich dreier Suicunes, gefolgt von den Schlachtrufen der Pokémon auf dem Feld krachten aufeinander. Staralili bildete die Vorhut. Ohne Rücksicht auf Verluste oder zu wissen, ob Zorua ihren Rücken deckte, schoss sie los, überzog das Kampffeld aus hoher Luft mit Salven sichelförmiger Geschosse und sprengte die drei heranstürmenden Pokémon auseinander. Das Ergebnis der geschlagenen Bresche war ein Zwei-Fronten-Kampf, der sich schnell zuspitzte: Staralili hielt Flemmli und Vegimak bei Laune, Zorua dagegen hatte es mit Phanpy zu tun. Grüne und rote Geschosse übersäten den aufgepeitschten Nachmittagshimmel einem bunten Feuerwerk gleich. Inmitten dieses Spektakels bahnte sich Staralili aufgebracht kreischend und unter akrobatischen Manövern ihren Weg. Gewaltsam wollte sie in das Herz ihrer Gegner am Erdboden vorstoßen, doch jedes Mal, wenn sie eine Lücke sah, durch die sie hätte durchschlüpfen können, schloss sich diese augenblicklich wieder und ein neuer verheerender grüner und roter Kugelhagel ergoss sich und zwang sie zu einer scharfen Kehrtwende.
    Im Zweikampf mit Phanpy schaffte es Zorua kaum, einen Fuß zu fassen. Ausweichrolle links, Hechtsprung rechts. Zu einer wild rotierenden Kugel zusammengerollt startete Phanpy einen Angriff nach dem anderen. Das offene, ebene Gelände war für den zerstörerischen Walzer-Angriff wie geschaffen. Kaum hatte sich Zorua wieder aufgerappelt, polterte seine Gegnerin erneut an, ungebremst und bar jedwedem Gefühl von Gnade. Weder wusste Sonja ein noch aus. Bloße Kraft, ausgefahrene Krallen und blitzende Zähne ... kein ausgeglichenes Kräftemessen, viel eher kam es einem Himmelfahrtkommando gleich, Zorua derart unbewaffnet auf das zerstörerische Ding loszulassen. Die Hoffnung ruhte auf Eagle und Staralili.
    Nach einem Wendemanöver atemraubender als das andere und solch halsbrecherischen Sinkflügen, dass sich einem der Magen umstülpte, hatte Staralili den Kampf in niedrigere Gefilde getragen. Die willkürlich detonierenden Geschosse brachte die bislang noch schwelende Luft nur so zum Kochen. Eines davon, ein limettengrünes von der Größe einer Walnuss und mit Vegimaks Handschrift versehen, verfehlte Staralilis linken Flügel einen Fingerbreit. Augenblicklich drehte sie unter wilden Gekreische ab. Wahllos feuerte sie als Antwort ein halbes Dutzend blassblauer Windsicheln dem Erdboden entgegen, in der Hoffnung, einen überraschenden Glückstreffer zu landen. Nacheinander krachten sie wie zentnerschwere Kanonenkugeln auf. Zwei von ihnen landeten so weit abseits, dass die entfernt gaffenden Schaulustigen vor Schreck die Köpfe einziehen mussten, zwei weitere kollidierten links und rechts nahe des Austragungsortes von Zoruas und Phanpys Ausdauertest mit dem Boden, wo sie zwei rauchende Mulden hinterließen, das letzte surrte an Fabien vorbei, ignorierte beim Vorbeiflug Julia völlig und verpasste dagegen ausgerechnet Marinas gehegte Frisur beinahe einen neuen Look, hätte diese sich nicht blitzartig auf den Boden geworfen.
    „Das merk ich mir, Granger!“, kreischte ihre schrille, hysterische Stimme über das Kampffeld, bevor sie sich überhaupt richtig hochgekämpft hatte.
    Es musste eine Form der Gedankenübertragung sein - der Wutausbruch ging in Flemmli über und fachte neue Lebensgeister in dem kleinen Küken an, das eben noch vor Anstrengung aus dem letzten Loch gepfiffen hatte. Ein neues Sperrfeuer glühender Geschosse löste sich. Staralili ging in der Sinnflut explodierender Schrapnelle unter und war mit bloßem Auge nicht mehr zu erkennen. Dann ... Das Blut gefror Eagle in den Adern. Staralili stürzte. War sie getroffen worden? Oder war es ein kontrolliertes Abstürzen, ein gepeilter Angriff? Noch mit dieser Ungewissheit ringend und dem sich unaufhaltbar dem Boden entgegensteuernden Vogel bangend im Visier, löste sich von Sonja ein erstickendes Keuchen.
    Dreck und schroffe Gesteinssplitter wirbelten ungezügelt durch die Gegend. Das alles beherrschende Dröhnen von Phanpys Walzer hatte eine völlig andere Tonrichtung angenommen, ein abtragendes Grollen, aber noch immer deutlich laut genug, um Zoruas schadenfrohes Gelächter über Phanpys Missgeschick zu überschatten. Auf ihrem blinden Vernichtungszug war Phanpy versehentlich in eine der von Staralili gesprengten Mulden geraten, und nun drehte sie in dem Krater pausenlos kreisförmige Runden. Millimeter für Millimeter höhlte sie das Loch tiefer aus, ohne jedoch über den Kraterrand hinaus zu kommen und so dem verteufelten Wirbel entrinnen zu können. Zorua, neugierig über den Kraterrand spähend und ununterbrochen lachend, konnte sich gar nicht satt genug an Phanpys misslicher Lage sehen.
    „Auf sie!“, brüllte Eagle.
    Auf halbem Weg zum Erdboden hatte sich Staralili selbst demaskiert: der Absturz - nur Schein. Der Wille war ungebrochen, die Fänge gewetzt, ausgefahren und nach Beute trachtend. Vegimak und Flemmli hatten ihr Bombardement eingestellt und befanden sich nun auf heilloser Flucht vor dem sie unnachgiebig im steilen Sinkflug anpeilenden Vogel-Pokémon. Wohin sie rannten, darüber waren sie sich selbst nicht im Klaren, noch nicht einmal darüber, dass sie ihre Füße unbeabsichtigt gefährlich nahe an den Austragungsort des anderen Kampfes trugen ...
    „Nicht dahin!“
    „Dann kauf dir eben das andere Mistvieh!“
    „Pack sie, Staralili!“
    „Zorua, nein!“


    Erst die vier Pokémon am Erdboden, dann auch Staralili - der betörende Nebelschleier in zartrosa legte sich über sie alle, bis er restlos alles darin verschlungen hatte. Das, was die Dunstglocke gleich freigeben würde, gefiel Eagle noch viel weniger als Sonja. Er konnte nicht anders als anklagend zu der Person an seiner Seite zu sehen, die es versäumt hatte, diese Eventualität und alles daraus Resultierende vorher abzuschätzen. Mutlos wendete sich Sonja ab, die der erdrückenden Last von Eagles Augen nicht lange standhalten konnte. Auch auf der anderen Kampffeldseite sank die Hoffnung. Fabiens und Julias Rufe nach ihren Partnern verhallten ergebnislos. Die letzte an ihrer Seite, Marina, die schon einmal Augenzeugin derartiger Vorkommnisse gewesen war, bemühte sich gar nicht, Flemmlis Namen laut zu rufen. So wie Sonja und Eagle wusste auch sie, welche krankmachende Bilder der Nebel gleich ihr vor die Füße ausspucken würde.
    Auch der letzte wabernde Rest von Zoruas Anziehung war schnell in alle Winde verweht. Entrüstet waren die Rufe all jener, die bis zu diesem Zeitpunkt nichts mit Zoruas seltsame Verteidigungstechnik anzufangen wussten. Alle anderen hätten sich am liebsten - wie Sonja es bereits getan hatte - einfach die Augen vor den entrüsteten Bildern verschlossen. Da waren sie alle: Zorua in seiner Evoli-Hülle, umworben von gleich vier turtelnden Anwärterinnen. Sie alle machten ihm den Hof, selbst Phanpy, die es mittlerweile irgendwie aus der tückischen Grube hinausgeschafft hatte. Die ursprünglichen Zwistigkeiten waren vergessen. Möglichst viel Eindruck auf Zorua zu schinden, nur das zählte. Staralili gurrte hypnotisch, Vegimak und Phanpy waren plötzlich nichts mehr weiter als erbitterte Rivalinnen und stießen einander für eine bessere Ausgangsposition zur Seite und Flemmlis kurzes, orangefarbenes Gefieder glühte förmlich vor heller Begeisterung.
    „Die hat mich nach Strich und Faden verarscht!“ Viel zu spät hatte nun auch Fabien den Braten gerochen, aber auch erst nachdem Marina ihr aufklärend zugeflüstert hatte, was sich hier vor ihnen anspielte.
    „Als ob es ihr irgendetwas genützt hätte, es vorher zu wissen ...“, murrte Eagle und bestätigte damit auch Sonjas unausgesprochene Gedanken. Er hatte bereits seine Hand um Staralilis Pokéball geschlossen, denn er wusste, das war die effektivste Methode, den Bann zu brechen. Der Rückzieher kam ihm wie eine Niederlage vor, doch so sehr er es sich zuzugeben sträubte, so war das doch ein akzeptabler Preis. Er konnte und wollte es nicht mehr mit ansehen, wie Staralili mit dem Feind sympathisierte ...


    Es war der Wolllust und niedriger Gelüste geschuldet. Niemand war auch nur im Entferntesten in der Annahme gegangen, dass irgendjemand eine derartige Ablenkung derart schamlos hätte ausnutzen können. Doch eben so geschah es. Nicht von der Seite beider Raikous, nicht von der Suicune-Fraktion und schon gar nicht von Zorua mitsamt dessen ihm zugetanen Harem. Die kriecherische Schmeicheleien hatten noch nicht ihren Höhepunkt erreicht, als ein knisternder, gelber Lichtstrahl kanalisierter Energie das dekadente Lustspiel grob erschütterte und gewaltsam auseinanderriss. Schreiend sackten die getroffenen Pokémon nacheinander nieder, krümmten und wanden sich in dem malträtierenden Lichtstrahl vor Schmerzen. Sonja und Eagle wirbelten herum, die nicht weniger entsetzten Suicune-Mädchen dagegen brauchten nur die beiden Raikous mit ihren Blicken hinter sich zu lassen, um sowohl die Energiequelle als auch den Ursprung des schadenfrohen Gelächters etwas östlich davon auszumachen. Die drei rotuniformierten Schüler hielten es auch nach deren Entdeckung durch ihre übrigen Schulkameraden nicht für erforderlich, ihr intrigantes Verhalten sonderlich zu tarnen. Im Gegenteil: Trunken von anschwellendem Stolz für ihr feiges Attentat deuteten Rico, Billy und Nicholas vielsagend auf ein Pokémon nächst zu ihnen. Das Geschöpf stand in keinem Verhältnis zu allem bisher Dagewesenen. Kugelrund und keine Extremitäten, mit denen es sich hätte fortbewegen können. Die exakte Mitte des Torsos bildete einen nahtlosen Übergang von lachsroter- zu einer schmutzigweißen Farbe. Zwei große, weiße, hervorstehende Augen waren dort, wo man ein Gesicht und Mund vermutet hätte, aber nichts dergleichen war. Und die Augen ... sie waren böse.
    „Wo man auch hinschaut: nichts als Versager!“, höhnte Rico. Sein gehässiges, von Billy und Nicholas begleitetes Gelächter galt allen. Den Raikous, den Suicunes und den sich nur langsam erholenden Pokémon. Flemmli hatte es ihr fluguntaugliches Gefieder böse zerzaust; Vegimak standen die kurzen, grünen Haare steil zu Berge; Phanpy dagegen war etwas durchgeschüttelt, schien aber sonst unversehrt zu sein; Zorua hatte man die Kleider vom Leib gerissen, sein Evoli-Kostüm war nicht mehr, und auch ihn hatte der Überraschungsangriff arg gebeutelt. Von allen aber hatte es Staralili am schwersten getroffen. Mit links und rechts ausgebreiteten Flügeln lag sie da, den Kopf schlaff auf den Boden gestützt, unfähig auf die Beine zu kommen.
    Sonja befürchtete, Eagle müsste sie und ihren schwächlichen Haltegriff, den sie auf ihren Freund ausübte, jeden Augenblick spielend überrumpeln können. „Einfach weghören!“, versuchte sie ihn zu besänftigen. Ihre schwitzigen Hände gaben immer mehr nach und das johlende Gelächter schien jeden Finger einzeln zu pflücken, bis ihr Griff schließlich entgleiten würde. In Wahrheit aber bemühte sich Eagle nicht einmal sonderlich, um Sonjas kümmerlichen Einfluss auf ihn loszuwerden. Kraft- und hilflos fühlte er sich. Er konnte die Bilder von Staralili nicht ignorieren, die in seinen Gedanken sogar lauter waren als das Gelächter um ihn herum oder den Zorn, den er fühlte. Immer wieder zog es seinen Blick von Rico und seinen Helfershelfern weg zu Staralili. Sonjas beschwichtigende Worte vermochte er nach kurzer Zeit nicht mehr zu hören, auch alles um ihn herum nicht mehr. Es fühlte sich wie ein fernes Meeresrauschen an oder als ob er nicht mehr Teil dieser Welt gewesen wäre. Er drehte sich einfach von den drei Enteis weg, überhörte die Schmähgesänge und Sonjas vorsichtige Frage, ob es ihm gut ginge. Ebenso blieb er taub für den Ausbruch ungezügelter Beleidigungen, die sich nun die Enteis und Suicunes entgegenwarfen. Rico nannte Fabien eine Schnepfe, sie dagegen ihn einen Scheißkerl. Eagle hörte nichts davon. Als er Staralili erreichte, wie sie mit trüben Augen flehentlich zu ihm hinaufsah, waren die Suicune-Pokémon bereits nicht mehr da. Ein Kampf war zwischen den beiden Fraktionen ausgebrochen. Eagles Hände zitterten, als er kniend Staralilis erschlafften Körper vorsichtig in die Arme nahm. Seine Augen brannten, seine Lippen bebten wie seine Hände es taten. Sanft streichelte er Staralilis Gefieder. Sie fiepte kläglich. Eine Hand legte sich auf Eagles Schulter - es war Sonja.
    „Malcom ... du ... du konntest nichts dafür. Es war ... eine miese Nummer.“
    Staralilis langsam dahinsiechendes Gesicht verschwand in dem purpurroten Strahl ihres Pokéballs. Das Taubheitsempfinden, das auf Eagle und seine Gedanken einen lähmenden Einfluss ausgeübt hatte, schwand dahin, bis es völlig verschwunden war. Zorn und Rachegefühle übermannten und trieben ihn an. Er rannte los.

  • Hallöle~
    da ich deinen FS nun schön längere zeit begutachte wollte ich endlich mal nen kommi machen :D


    naja zuallererst

    Zitat

    Zorn und Rachegefühle übermannten und trieben ihn an. Er rannte los.


    Bitte stampf die drei dumpfbacken in den boden alle mit dem gesicht nach unten! und schön nopch drei-viermal drauftreten!!! XD :thumbup:
    Eieiei ey die drei Rodröcke sollen mal gescheit vermöbelt werden so wie die sich aufführen.... >.<


    Und sonst:
    Schön beschriebener kampf, Spannend und doch hmmmmmm... sagen wir die Atmospähre war delicioes (ich denk dat hab i falsch gschrieben)


    Schon der einstieg ist wieder leicht gefallen da du relativ viele emomotionen in deine Story einpackst und -das finde ich- man sich die Geschichte besser merken kann.


    ############
    Zu guter letzt Großes Lob von mir :thumbup: !


    Und ich hoff es kommt mehr ;D


    mit dämonischen grüßen

  • Part 6: Das Chaos trägt rot, blau, gelb


    Entfesselte Elemente wüteten, massive Körperteile krachten ungezügelt aufeinander - der Kampf Entei gegen Suicune tobte. Es war ein heilloses Durcheinander: Phanpy und Frizelbliz hatten im Verlauf ihres nur kurzen Aufeinandertreffens ihr unmittelbares Umfeld bis zur Unkenntlichkeit pervertiert. Kaum ein Grashalm stand noch aufrecht oder war nicht von sengenden Stromentladung rußgeschwärzt. Weitere elektrische Ausbrüche gab es ein großzügiges Stück westlich davon, wo Vegimak und das fremde von Rico befehligte Pokémon ihre unterschiedliche Kräfte maßen. Jenseits davon, hoch oben am Himmel, lauerte Habitak geduldig auf seine Gelegenheit, endlich eine Bresche durch Flemmlis großräumiges Glutkugel-Speerfeuer schlagen zu können und das überdrehte Küken endlich mit Schnabel und Krallen aufs Korn nehmen zu können.
    Niemand nahm wirklich Kenntnis davon, wie erst ein, dann zwei Raikou-Schüler die Schwelle von Ordnung zu Chaos überquerten, dort, wo Zorua schon seit Beginn der Auseinandersetzung das Spektakel vor seinen Augen zum gleichen Teil interessiert wie auch höhnisch belächelte. Keiner scherte sich sonderlich um die Ankunft des neuen, fremden Kämpfers, der soeben die Bühne betreten hatte; niemand außer Rico. Für einen kurzen Augenblick wanderte seine Aufmerksamkeit von Skorgla auf Eagle und zurück. Der Ausdruck auf dem Gesicht des Enteis war unergründlich. Erst nach kurzer Zeit grinste er abschätzig, bewegte unhörbar seine Lippen, bevor er wieder sein Interesse dem Kampf gegen Vegimak widmete.
    „Lass uns verschwinden!“, bettelte Sonja. Flehentlich sah sie ihren Freund an.
    Die vergiftende Gedanken, dessen Sklave er war, machten Eagle aber blind für alles außer seines Rivalen. Lauter noch als der Sturm freigesetzter, aufeinander krachender Elemente donnerte die Stimme von Skorglas Trainer ihm den Befehl zum Angriff zu. Das Kampfgetümmel aber besaß nur spärliches Gehör. Sein Toben und Wüten verschluckte den Aufschrei so wie er gekommen war. Der mäßig geschundene Eindruck beeinflusste lediglich Ricos bislang eher dürftiges Interesse am Randgeschehen. Alarmiert driftete seine Konzentration nun deutlich öfter von Vegimak ab, die sich vergeblich gegen die elektrischen Entladungen zur Wehr setzte; überflüssig wie er schon bald drauf feststellen musste. Skorgla ... rührte sich nicht von der Stelle. Zweifellos hatte er die Order vernommen, denn blickte er über die Schulter, dem jungen Menschen direkt in die smaragdgrünen Augen. Das aber, was auf seiner chitinummantelten Miene gemeißelt war, strafte das Pokémon und seinem bedrohlichen Aussehen bittere Lügen. Bröckelnd schaute er drein, mit der Gefahr, eine hastige Bewegung oder nur noch ein einziges falsch betontes Wort könnten seine baufälligen Gesichtszüge im nächsten Moment einstürzen lassen. Das Weiß in seinen Augen schimmerte glasig und wurde begleitet von heftigen Schweißaufbrüchen auf der Stirn. Hemmung, Furcht, erhebliche Selbstzweifel - es waren Gefühle, die wie ein lähmendes Gift das stämmige Pokémon bis zur vollständigen Bewegungsunfähigkeit paralysierten.
    „Mach schon! los!“, knurrte Eagle ungeduldig. Seine wutgespeiste Faust war geballt, die von Adrenalin überfluteten Muskeln zuckten angriffslustig. Es war zum Auswachsen! Wo war der Kampfeswille, wo die Erhabenheit? Skorgla repräsentierte nichts; nichts was der Königsklasse der Flug-Pokémon zuzuordnen war. Stattdessen ein Widerspruch, ein Ärgernis, eine Enttäuschung! Bitter schmeckte diese Anblick, so wie eine Niederlage.


    Auf dem Schlachtfeld hatte die Zeit währenddessen nicht stillgestanden: Die Offensive von Ricos Geheimwaffe spitzte sich zu. Vegimak sah kein Land inmitten des unwettergestraften Ozeans, durch den sie manövrierte. Vergeblich wehrend wich sie immer weiter zurück. Im selben Moment - ein frustrierter Aufschrei in der Nähe. Nach langem Hin und Her hatten Phanpys Sturmangriffe endlich ihr Ziel gefunden. Einen halben Meter hoch und mehrere Meter weit schleuderte es Frizelbliz durch die Luft, bevor er auf den harten Boden schmetterte, sich dort noch einige Male wiederholt überschlug, bis er, auf der Seite zusammengeklappt und mit grünen Grasflecken übersäht, bewusstlos zum Stillstand kam.
    Ein belustigtes, perlweißes Lächeln - mehr hatte Fabien nicht für Billy übrig, der sogleich zu seinem zerschmetterten Partner eilte. Geistesanwesend hielt Fabien schon nach ihrem nächsten Opfer Ausschau. Abseits des Getümmels erspähte sich nach kurzer Suche Sonja mit Zorua in dessen wahrhaftiger Gestalt. Den reservierten Gesichtsausdruck der jungen Raikou-Schülerin ignorierend und Eagle mit dessen skurrilen Pokémon außer Acht lassend, hetzte Fabien auch schon Phanpy auf Zorua los.
    Wäre der von Zorn zerfressene Ausdruck in Eagles Augen eine scharfe Klinge gewesen, er hätte die Szenerie mit einem einzigen Stich massakriert und jeden Anwesenden erdolcht. Die Frustration über seine Handlungsunfähigkeit und die Hitze der stets aufs Neue entflammten Kämpfe um ihn herum brachten den längst überkochenden Vulkan unter seinem kurzen Haar zum Ausbrechen.
    „Ich habe die Faxen dicke! Machst du jetzt endlich?!“ Jedes seiner Worte stach noch dutzende Male wie kleine Nadeln auf seinen eigenen Verstand ein, und bei jedem dieser Geräuschimpulse schien das Furcht leidende, verstörte Pokémon vor ihm weiter zu schrumpfen. Schon gar nicht wagte er es Skorgla, seinem Trainer ins Gesicht zu sehen.
    „Wenn ihr zwei Waschweiber dann fertig mit Zanken seid, können wir ja endlich anfangen!“
    Ricos einzige Warnung war so schnell ausgesprochen, wie auch bereits der darin versteckte Angriff kam. Ein heller Lichtstrahl, ein Wirrwarr aus züngelnden, sich überschlagenden Schlangen, gegen die sich auch schon zuvor Vegimak erfolglos dagegen zur Wehr gesetzt hatte, leckte hungrig nach seinem Mahl. Ein Knall, wie der Schuss einer doppelläufigen Flinte. Zielgenau war der Funkenstrom direkt gegen Skorglas entblößten Brustpanzer geknallt. Unvorbereitet, die traurigen Augen vor Schreck weit aufgerissen, blieb dem Getroffenen keine Gelegenheit zu reagieren. Der unregelmäßige, gekrümmte Energiefluss bohrte sich tief in die Chitinrüstung. Begleitet von einem gewaltigen Ruck, der Skorgla drei unbeholfene Schritte zurücktaumeln ließ, verschwand schließlich auch der letzte Funke, das letzte Knistern, das letzte Gelb in dem Leib des Getroffenen. Die mit gierigem Verlangen oder bangender Hoffnung erfüllten Augenpaare beider Trainer waren auf den zweibeinigen Flug-Skorpion gerichtet. Dünner, weißer Qualm stieg von seinem blauen Rückensegel auf und verschwand nach kurzem Aufstieg in dem endlosen Himmel. Doch Skorgla stand. Mehr noch sogar: Obgleich der Stromschlag einen Erwachsenen für mehrere Stunden hätte außer Gefecht setzen müssen, zeigte er sich körperlich völlig unversehrt, wenn auch noch immer zutiefst eingeschüchtert über diesen unvorhersehbaren Angriff.
    „Hah!“, stieß Eagle hervor. „Hah!“ Die gespenstische Stille, die alle anderen Gefechte auf der weiten Ebene südlich der Celebi-High bis zu diesem Moment in den Ohren beider Beteiligten verschluckt hatte, wich dem triumphierenden Ruf des Raikous. Er rang sich sein bestes Pokerface ab, das einzige, was seine krankende Illusion, doch noch einen Sieg davonzutragen, am Leben hielt. Denn er wusste nicht, welches Wunder Skorgla davor bewahrt hatte, nicht augenblicklich in die Knie zu gehen, dafür aber, dass es ein weiteres Wunder brauchen würde, damit das Pokémon vor ihm endlich in die Offensive gehen würde. Verzweifelt klammerte er sich an seine Grimasse, in der schwachen Hoffnung, dass seine gezinkten Karten, bloß nicht durchschaut würde. Seine Panik hatte ihm die Galle bereits auf halbem Wege den Hals hinaufgedrückt. Nach starker Überwindung schluckte er so fest, dass es ihm übel wurde. Zuletzt presste er noch ein „Ist das alles, was du drauf hast?“ zwischen den Zähnen seiner Grimasse heraus. Zu seinem Glück blieb sein falsches Spiel von seinem Gegner unbemerkt. Bislang.
    „Armer Irrer.“ Rico verschränkte seine Arme auf eine süffisante Art und Weise, wie sie Eagle überhaupt nicht leiden mochte. Welchen Trumpf konnte er noch haben, der ihn in solcher Siegessicherheit wog? Die Antwort holte den jungen Raikou schneller ein als ihm lieb war. Als Rico seinen Freund Nicholas bei dessen Namen rief, wandte sich der hochgeschossene Entei nach nur knappen Zögern von seinem ganz eigenen Kampf gegen Marina und Flemmli ab. Kurz nickten sie sich einander zu, und schon zog Nicholas Habitak von der Front ab, nur um ihn an die nächste zu schicken, ungeachtet Marinas heftigen Protests, dass man sie einfach ignorierte.
    Die verzagende Zuversicht war wie ein Gift, das Eagle das letzte bisschen Glück gewaltsam aus den Gliedern saugte und ihm seine Gelenke klamm machte, bis sie nur noch ein stocksteifes, zerbrechliches Gerippe war. Die Aussicht auch nur gegen einen Gegner siegreich hervorzutreten war bereits gering gewesen. Jetzt aber mit gleich zwei gefährlichen, unberechenbaren Widersachern lag seine Chance auf eine Wendung zu seinen Gunsten in den Dreck gestampft. Habitaks krummen Hakenschnabel entwich ein angriffslustiges Krächzen, als er seinen neuen Gegner aus knapp fünf Meter Höhe musterte. Der Kampf gegen Flemmli schien ihn kaum in Mitleidenschaft gezogen zu haben, auch wenn sein rotbraunes Gefieder an manchen Stellen doch etwas dunkler als normal wirkte. Einzelne Funken stoben dem Ball-Pokémon aus der makellos runden Leder-Haut. Die großen, eckigen Augen funkelten niederträchtig. Rico und Nicholas nickten einander zu.
    „Ladevorgang, Voltobal!“
    „Furienschlag, Habitak!“
    Auf Ricos und Nicholas’ Kommando hin eröffnete erst Habitak und Sekundenbruchteile danach auch das Pokémon, das Rico zum ersten Mal beim Namen genannt hatte, den Kampf. Habitak bildete die Phalanx. Mit seinem krummen Schnabel, gezückt wie ein mit Widerhaken versehener Dolch, umkreiste er Skorgla unter rasanten Wendemanövern, wobei er auf seinen Gegner pausenlos einzuhacken versuchte. Skorgla stand diesen Angriffen mit seinen klobigen Scheren entgegen. Scheu und Angst standen ihm in das entstellte, schweißgebadete Gesicht geschrieben, während er einen Stich nach dem anderen parierte. Schwerfällig taumelte er mit gezückten Scherenhänden auf der Stelle, die er, wenn er gerade eine frei hatte, wie einen monströsen Hammer schwang. Seine Linke sauste heran. Eine steile Kehrtwende brachte Habitak auf sichere Distanz. Abermals sauste die Waffe des krummschnäbligen Vogels heran, nach seinem scharfen Ausweichmanöver diesmal auf Skorglas entblößten Rücken gerichtet. Instinktiv riss dieser seine rechte Schere in die Höhe. Ein stumpfes Geräusch, das zwei faustgroßen Steinen ähnelte, die aufeinanderprallten. Habitak bekam nicht die Zeit, seine Empörung über die erneute Gegenwehr mit einem wütenden Schrei zum Ausdruck zu bringen, sondern tauchte rasch unter dem linken Hammerschlag seines Gegners ab, bevor er zum nächsten Attentat ansetzte. Abseits davon hatte Voltobal Stellung bezogen. Weder griff er an noch beteiligte er sich sonst wie aktiv am Kampfgeschehen. Habitak und Skorgla mochten sich ihre Köpfe einschlagen, Voltobal dagegen verharrte in stiller Konzentration. Sein ganzer Körper fokussierte sich in einem Zustand der Akkumulation. Einzelne Stromschläge zuckten. Erst kaum mit dem bloßen Auge wahrnehmbar, dann rasch so intensiv, als ob man direkt in die grelle Sonne sah, formte sich eine Energiesphäre, die das Pokémon bald völlig einhüllte. Ein verheerender Angriff drohte sich zu entfalten.
    Skorgla wurde derweil zunehmend langsamer, das Würgen und Röcheln zwischen den glühenden Atemzügen krampfhafter und schneller. Nur die Wucht seines Dampfhammers schien nicht unter seinem Erschöpfungszustand zu leiden, sondern gewann an durchschlagender Gewalt, wenn auch zeitgleich die Hiebe an Tempo verloren. Nur ein gezielter Treffer, und die lästige,
    rotbraun-gefiederte Schmeißfliege konnte man mit einem Teigschaber vom Boden aufkratzen. Skorgla aber war weiter denn je davon entfernt. Zwischen den letzten fünf Angriffen war es Habitak zweimal in Folge gelungen, eine Lücke in der Abwehr seines Gegners zu finden und erstmalig die verletzlichen Schulterblätter zu attackiere, woraufhin Skorgla wehleidig geklagt hatte. Die Balance wich langsam aus den kurzen Beinen des Flugskorpions. Erneut fiel Habitak mit seinem gewetzten Schnabel über das schwerfällige Pokémon her. Skorgla riss seine linke Schere schützend in die Höhe, die rechte jagte dem penetranten Vogel nach, nachdem dieser abgedreht hatte. Eine scharfe Kehrtwende - Skorglas ungedeckter Rücken lag in Reichweite von Habitaks Fängen.
    Die Hitze eines mandarinengroßen Feuerballs, der nicht nur Skorgla um einen Fingerbreit verfehlte, sondern auch das eigentliche Ziel, Habitak, das Gefieder leicht versengte, zwang das daraufhin empört krächzende Vogel-Pokémon im letzten Moment Hals über Kopf zur Flucht nach oben.
    „Mich links liegen lassen ist ja wohl das Allerletzte!“
    Die sonst so gepflegten Haare standen Marina schier steil zu Berge, und auch Flemmli fasste Nicholas’ Desinteresse nur wenig gelassen auf. Während sie nicht mit bitterbösen Beschimpfungen schonte, die unzweifelhaft an Habitak gerichtet waren, stoben kleine Funken aus dem unaufhörlich klackernden Schnabel.
    „Halt dich da raus, Puderquaste!“, bellte Rico.
    „Und was mischst du dich da ein, Hackfresse?“, blaffte Marina zurück.
    Eine weitere Warnung blieb aus. Wahllos regneten Flemmlis Feuergeschosse auf das Kampffeld nieder. Skorgla riss sich schützend seine monströsen Scheren vor das Gesicht. Überstürztes, aber keinen Augenblick zu frühes Flügelschlagen brachte Habitak in vorerst sichere Distanz in gut zehn Meter Höhe. Es war auch das Ende von Voltobals Kräftesammeln. Hüpfend sein Heil in der Flucht suchend, löste sich die grellgelbe Aura auf, in der er bis zu diesem Zeitpunkt gebadet hatte. So wie Rico fluchte, ahnte Eagle, dass er soeben noch einmal mit einem blauen Auge davon gekommen war. Flemmlis ungestümer Angriff war nicht ohne Spuren an Skorgla vorbeigezogen, doch die wenigen Blessuren auf dem leicht versengten Chitin seiner Arme und Beine schmeckten in diesem besonderen Fall wie ein Sieg. Und er kostete diesen Moment, Rico so außer sich vor Zorn zu sehen. Ein kurzer Augenblick, in dem Eagle vergessen konnte, wie knapp er doch noch immer auf Messers Schneide stand.
    „Worauf wartest du? Schnapp dir das Miststück!“, schrie Rico zum gleichen Teil Nicholas und Voltobal zu.



    * * *



    „Sag deinem Biest, es soll loslassen!“
    „Jetzt nicht nachgeben, Zorua!“
    Nach langem Hin und Her hatte sich Zoruas Geduld endlich bezahlt gemacht: Die spitzen Zähne in Phanpys empfindlichen, winzigen Stummelschwanz gebohrt, hing das schwarze Pokémon - so unverschämt wie man nur sein konnte - an dessen Gegner. Die permanent wild ausschlagenden Hinterbeine fanden längst keine Bändigung mehr, der Rüssel trompetete einen Wechselgesang aus Folter und Frustration. Sonja war nun endgültig aus der Reserve gelockt. Gezwungen wieder allein ihren Mann zu stehen, war ihr mittlerweile jedes Mittel recht, aus dieser Misere zu kommen, und war es noch so schmutzig.
    Die dritte Runde, die Phanpy heulend im Kreis rannte, fand ihr Ende. Noch immer sah es so aus, als würde keiner von beiden freiwillig nachgeben wollen. Die Hufe schlugen kraftvoller denn je aus, doch immer wieder gelang es dem lästigen Anhängsel, im entscheidenden Moment zur Seite auszuweichen. Phanpy riss herum. Im selben Moment zerrte es Zorua in die selbe Richtung, wobei der heftige Ruck ihn für einen kurzen Augenblick den Boden unter den Füßen verlieren ließ und gefährlich knapp davor war, seinen Halt zu verlieren. Angestrengt kniffen die salbeigrünen Augen zwischen dem konzentrierten, schweißbedeckten Gesicht zu, Millimeter um Millimeter festigten die vorderen Schneidezähne ihren Haltepunkt.
    „Noch einmal! Los!“ War es der verkrampfte Schreckensmoment in Sonjas Gesicht, als ihr kämpfendes Pokémon beinahe weggeschleudert wurde, oder hatte es Fabien bemerkt, wie knapp sich Zorua nur hatte halten können? Irgendwie hatte die Suicune den Braten gerochen. Wuchtvoll warf sich Phanpy mit den nachfolgenden Sprüngen wiederholt zur Seite. Zorua wirbelte es nach links, dann nach rechts, dann wieder nach links. Dann ein paariger Huftritt nach hinten.
    Zwischen den zusammengebissenen Zähnen stöhnte Sonja auf. Hinterrücks schleuderte es Zorua zwei, drei Meter durch die Luft. Der Aufschlag und das nachfolgende Überschlagen auf dem Boden presste dem Unlicht-Pokémon die Luft aus der Lunge.
    Ein irres, triumphales Grinsen formte sich auf Fabiens Gesicht, als sie Phanpy zubrüllte, sie solle den Kampf nun endgültig zu Ende bringen. Schon stürzte sich Phanpy auf ihr Opfer am Boden. Der Rüssel umschlang Zoruas rechten Hinterlauf und riss das zum ersten Mal wehrlose Pokémon in die Höhe.
    Wusch!
    Phanpys Rüssel verlor den Halt. Der Rest ihres Leibs wurde von einer birkenstammdicken Wasserfontäne weggeschwemmt. Mit dem Gesicht voran landete Zorua im Dreck. Die beiden Mädchen rissen die Köpfe zur Seite.
    „Ahoi, Mädel! Gerade noch rechtzeitig.“
    Skip Faksens Augen funkelten so blau und rein wie das Wasser des Ozeans. Seine rechte Hand zähmte ein Seitenstechen, mit der linken kämmte er sich notdürftig das schweißperlende Haar aus dem wettergegerbten Gesicht. Neben ihm - Ottaro, pausbäckig über ihr gelungenes Werk grinsend.
    Über Sonjas Lippen wollte kein vernünftiges Wort kommen, so trunken war sie des Dankes. Deutlich weniger gehemmt war dagegen Fabien.
    „Du kannst sie doch nicht mehr alle beisammen haben!“
    „Aye, kann schon sein, wenn ,nicht richtig im Kopf’ bedeutet, einer am Mast aufgeknüpften Freundin beizustehen. Ist eben mein Stil, weißt du?“
    Phanpy richtete sich derweil auf. Zähneknirschend, von Kopf bis Fuß durchnässt und einer durchweichten Wimper im rechte Auge taumelte sie auf das Kampffeld zurück. Ihr Kampfwille war noch nicht gebrochen.
    „Dann zeig ich dir jetzt mal meinen Stil!“, kreischte Fabien hysterisch.
    „Pass auf!“



    * * *



    „Was sollte mich jetzt eigentlich mehr interessieren: Wie du uns gefunden hast oder was da so lange gedauert hat?“
    „Ich hab nur eins und eins zusammengezählt“, presste Ray zwischen seinen kräftigen, abgehetzten Atemzügen hervor.
    „Na, kein Wunder, dass das dann so lange gedauert hat. - Pass auf!“
    Das nackte Chaos war auf dem gegenüberliegenden Kampffeld ausgebrochen, das inzwischen mehr einem Kriegsgebiet als der satten, grünen Wiese ähnelte, die jetzt bereits seit fünfzehn Minuten Austragungsort des wütenden Kampfes war. Ray war eingetroffen und hatte an Eagles Seite Stellung bezogen. Sowohl Sheinux als auch Geckarbor stärkten je links und rechts zu Skorgla dessen Rücken. Fast zeitgleich zu Rays Ankunft hatten sich Julia und ebenfalls Billy dem Kampf wieder angeschlossen. Da Frizelbliz den Kürzeren aus der vorherigen Runde gegen Phanpy gezogen hatte, präsentierte dessen Trainer seinen jüngsten Fang in der Safari-Zone: Stollunior. Granitfarbene Stahlplatten, die einen schützenden Helm um den Kopf, aus dem die beiden himmelblauen Augen stierten, und eine undurchdringliche Rüstung um den restlichen Oberkörper bildete, machten das vierbeinige Pokémon zu einem der zähesten Kämpfer auf dem Felde, das sich trotz seiner geringen Größe in keiner Weise einschüchtern ließ. Für Julia kämpfte weiterhin Vegimak. Wie sich herausstellte, hatte Voltobal in der ersten Begegnung das Pflanzen-Pokémon zwar ausschalten können, doch nur kurzzeitig. Der wohl heftige Stromschlag hatte das grüne Fell arg zerstrubbelt, sodass ihr die Frisur noch immer steil zu Berge stand und sie bei keinem Rock-Konzert nicht sonderlich aus der Reihe tanzen würde. Mehr aber auch nicht.
    Der Kampf war zwischenzeitlich derart ausgeartet, dass man mindestens zwei zusätzliche Augenpaare nötig hatte, und trotzdem noch leicht den Überblick verlor. Zwischen der aggressiven rot-blauen Front hatte sich auf der gelben Seite eine defensive Stirnseite gebildet. Sheinux und Geckarbor waren nur noch darauf bedacht, Querschläger - handelte es sich nun um feindlichen Beschuss oder der Gegner selbst - von ihrer Position fern zu halten. Eine Energiekugel löste sich aus Vegimaks zu einer Schale geformten Händen, erfasste Habitak und riss das Vogel-Pokémon mit sich in den Himmel. Erst als sich Vegimak zufrieden grinsend herumdrehte, realisierte sie, wie nahe sie ihr Kampf der gelben Verteidigungslinie gebracht hatte. Es war bereits zu spät. Sheinux stemmte sich auf seine beiden Hinterbeine. Seine zwei Vorderpfoten holten aus und leckten mit einem doppelspurigen, brennenden Prankenhieb über Vegimaks Gesicht. Jaulend vor Schmerz fuhr sich die Getroffene über die Kratzspuren. Diesen Moment nutzte Sheinux, ließ sich einen halben Meter zurückfallen und rammte seiner Gegnerin die Schulter in die Magengegend, woraufhin Vegimak rücklings zwei Meter weit durch die Luft wirbelte und atemlos keuchend aufschlug.
    Ein Regen aus faustgroßen, glühenden Kugeln prasselte im selben Moment Stollunior entgegen. Seit störrischer Ansturm auf das sich ihm frontal gegenüber befindende Feuerküken der Suicune-Fraktion blieb davon unbeeinflusst. Als sie ein Ausweichen nicht mehr länger hinauszögern konnte, sprang Flemmli in die Höhe. Nach kurzem Fall setzten ihre krallenbewehrten Füße auf das darunter preschende Stahl-Pokémon auf. Der holprige Ritt dauerte keine Sekunde an, da stieß sie sich wieder ab. In drei Meter Höhe wirbelte Flemmli um die eigene Achse und beschwor einen neuen feurigen Regen herauf, der nun auf Stolluniors Heckpanzer nach und nach donnernd einschlug oder seitlich davon abprallte und ziellos auf das Kampffeld niederging. Der Getroffene ging in dem Sturm unter und verlor zunehmend an Geschwindigkeit, bis er völlig zum Stillstand kam und mitgenommen in die Knie ging. Im selben Moment endete auch Flemmlis Angriff. Ungewollt. Voltobal war unter ihr aufgetaucht, die klobige Augen zu einem boshaften Grienen verzerrt, und hielt das sich vor Pein in der Luft zuckende Küken in einer fesselnden Woge elektrischer Energie gefangen. Zuvor von Stolluniors Seitenpanzer abgeprallte Projektile verwüsteten derweil die Umgebung. Eines taumelte unberechenbar in die Richtung von Skorglas Verteidigern. Auf Rays geistesgegenwärtigen Befehl hin lösten sich Geckarbors Füße vom Boden. Schon als er um die eigenen Achse zu rotieren begann, nahm sein langer Fächerschweif gleißendes Weiß an. Wie eine Peitsche - genau so schnell und genau so laut - schlug der Schwanz eine schnurgerade Linie und fiel mit einem ohrenbetäubenden Knall auf den Querschläger. Das Geschoss prallte ab. Unter bedrohlichem Surren und mit der doppelten Geschwindigkeit raste es auf das Kampffeld zu, wo die Schlacht unerbittlich wütete. Aus unerklärlichen Gründen ließ jeder zurückgelegte Meter die Kugel an Umfang gewinnen, bis sie plötzlich mehr als das Dreifache an Größe hatte. Rico schrie, Voltobal aber reagierte zu spät. Die Durchschlagskraft um ein Vielfaches gesteigert, schmetterte das Projektil zwei Meter von dem Elektro-Pokémon auf, wo es eine kuppelförmige Feuerwalze entfesselte, die Voltobal wegschleuderte und die Grünfläche in einem kreisrunden Radius pervertierte. Flemmlis lähmende Ketten waren gesprengt - sie war wieder frei. Knisternde Glut glimmte rot auf und Asche tanzte durch die Luft, als Flemmli auf dem zu kargem Ödland versengten Boden aufschlug. Aus Flemmlis Schnabel stoben kleine Rauchkringel, sporadische Entladungen zuckten aus dem zerzausten Gefieder. Die Herkulesaufgabe, sich aufrichten zu wollen, erstickte noch im Keim. Flemmli war geschlagen.
    „Stopp!“ Selten mit einem deutlichen Anflug von Panik erfüllt, rief Marina auf. Stollunior hatte sich wieder erholt und war nicht nur wieder auf den Beinen, sondern bereits auf halbem Weg zu seiner Gegnerin, die ihn zuvor niedergestreckt hatte. Stolluniors Größe strafte das kleine Pokémon Lügen: Unter dem Trommelfeuer seiner schnellen Schritte donnerte der Boden auf, einer ganzen Pokémon-Herde gleich. Was Geckarbor letztendlich veranlasste, seinen Posten an Skorglas Seite zu verlassen - war es Mitleid, unerklärliche Schuldgefühle, eine Form von Pflichtbewusstsein -, konnte man nur mutmaßen. Schnelle Schritte führten ihn rasch zu der Schwelle, wo die Ordnung der grünen Landschaft in das Chaos des vernarbten Ödlands überging. Die dreifingrige rechte Hand formte Vogelklauen. Noch während Geckarbor seitlich auf seinen Gegner zu rannte, ging ein Leuchten schleimig grüner Farbe von den ausgestreckten Fingerkuppen aus. Gleichwohl ohne auch nur irgendeinen Kontakt herzustellen, litt Stollunior Höllenqualen. Mit zunehmender Nähe zu dem Waldgecko wurden die Klagerufe des Stahl-Pokémons lauter und die anfangs noch zermürbende Schritte langsamer. Kaum mit bloßen Auge erkennbar und bislang vom hellen Licht der Sonne verschleiert, vor die sich just in diesem Moment eine vorlaute Wolke geschoben hatte, demaskierten die angekommenen Schatten die von hellen Grün bis zu einem dunklen Purpurrot reichenden Sphären in der Luft; reine Lebensenergie, die ununterbrochen aus Stolluniors Leib sprudelten und zielstrebig zu Geckarbors Hand waberten. Stück für Stück entzog er seinem Gegner die Kraft, so wie man ein Fass anschlug, dessen Flüssigkeit man allmählich abzapfte. Als sich Geckarbor schließlich schützend vor Flemmlis malträtierten Körper aufbaute, pfiff Stollunior längst aus dem letzten Loch. Bis zum allerletzten Tropfen geschröpft, gaben Stolluniors winzigen Beine nach. Ausgezehrt sackte er zusammen.
    Habitaks wütendes Gekreische übertönte Flemmlis kleinlautes, aber dankbares Fiepen um Längen. Ausgefahrene Krallen blitzten im Sturzflug aus zehn Metern Höhe auf, zielgenau auf Geckarbors Brustkorb gerichtet. Abwechselnd links und rechts katapultierte Geckarbor grüne Energiekugeln aus dem Handgelenk, ähnlich denen, die zuvor Vegimak ihrem gefiederten Feind entgegen geschleudert hatte. Habitak neigte sich schräg. Die ersten beiden Projektile rasten dem wolkenverhangenen Horizont entgegen. Weiteres Flakfeuer löste sich vom Boden. Kleiner. Schneller. Ein halbes Dutzend als großräumiges Sperrfeuer am Himmel verteilt. Stolz, Streitsucht und vielleicht auch ein wenig Sturheit hätten einem Pokémon wie Staralili angetrieben, verwegen das Minenfeld zu durchqueren, den Blick und die Krallen dabei starrköpfig auf das Ziel gerichtet, ohne Rücksicht auf Verluste. Habitak aber hielt diese Eigenschaften jedoch nicht inne. Nicholas Rufen zum Trotz, Habitak solle seinen Angriff fortsetzen, bremste das Vogel-Pokémon ab. Ein steile Linkskurve mit anschließender Korkenzieherdrehung in die Höhe, deren Weg weitere Energiekugeln säumten, brachte den Angreifer wieder auf sichere Distanz. Geckarbor knurrte säuerlich. Abgelenkt von einer fremden, fahrig klingenden Stimme, löste sich dessen Blick schließlich jedoch von seinem in unerreichbare Höhen entschwebenden Gegner. Rasch fand er dessen Ursprung:
    Die letzte Front hatte zum Zentrum der Schlacht gefunden. Die Augen vor nackter Panik geweitet und beide Arme über den Kopf gerissen, erinnerte nur noch reichlich wenig an das spitzbübische Wasser-Pokémon, das zuvor Phanpy hinterrücks ein feuchtes Schnippchen geschlagen hatte. Ottaro befand sich mitten in einer vergleichbaren Misere wie zuvor Zorua: Sie bildete die Spitze einer bizarren Prozession. Der weit geöffnete Mund zog ein ununterbrochenes „Aaah!“ hinter sich her, während sie vor Phanpy Reißaus nahm. Dass sie dabei zwischen ihrer seltsamen Mischung aus watscheln und rennen nicht zum Stolpern kam, fehlte gerade noch. Keinen Steinwurf dahinter befand sich Phanpy. Abermals zu einer wildgewordenen, zum Leben erwachten Kugel zusammengerollt, jagte sie ihrer Vorgängerin nach. Das von den Spuren des Kampfes schwer gezeichnete Gelände erschwerte ihr das Vorankommen. Stets wenn es so schien, als könnte Phanpy Fahrt aufnehmen, hob ihr zum Ball geformter Körper kurzzeitig einige Zentimeter vom Boden ab und geriet nach kurzem Ritt durch die Luft ins Schlingern, woraufhin die Geschwindigkeit wieder deutlich abnahm. Die Nachhut bildete Zorua. Es war keine Furcht, die ihn dazu veranlasste, sich im Hopserlauf an der Jagd zu beteiligen, und schon gar keinen Respekt. Vielmehr das perverse Vergnügen, sich an der Not seiner Retterin zu ergötzen. Die seltsame Auffassung von Dank sah so aus, dass Zorua Phanpy sogar noch mit seinem aufhetzenden Kläffen regelrecht dazu anstachelte, doch noch einen Zahn zuzulegen; bestätigt nur noch von dem Umstand, dass der Lausefuchs kaum Distanz zu seiner Vorgängerin wahrte, sodass es den Eindruck erweckte, als ob er selbst einen Teil dieser Hatz darstellte.
    Aus Geckarbors perplexen Gesichtsausdruck ging deutlich hervor, dass auch er nicht wusste, was er nun von der Sache halten sollte. Seine ganz eigenen Probleme sollten ihn allerdings von dieser Bürde befreien: Habitak war zurück, der nächste Angriff stand bereits in den Startlöchern. Damit noch nicht genug, tauchte die arg zerkratzte, orientierungslose Vegimak plötzlich wie aus dem Nichts auf. Die zornige Fratze, die einst ihr Gesicht gewesen war, entstellte sich nur noch weiter, als sie bemerkte, dass Geckarbor vor dem niedergestreckten Körper ihrer Freundin in die Höhe ragte - natürlich ein schrecklicher Irrtum. Auf mühselige Diskussionen aber wollte sich jedoch keiner einlassen, schon gar nicht war es der passende Zeitpunkt. Reaktionsschnell holte Geckarbor aus. Sein Tritt schmetterte auf die weit geöffnete Brust seines Gegenübers. Vegimaks wütender Aufschrei ging in ihrem atemlosen Röcheln unter. Die gewaltige Wucht des Tritts riss sie hinterrücks von den Beinen. Geckarbor aber hatte zu viel Schwung in seinen Angriff gesteckt. Vom Rückstoß überrascht, verlor er kurzzeitig das Gleichgewicht, rammte dabei versehentlich seine linke Ferse in Flemmlis Leib und geriet ins Stolpern. Sein Händerudern half da nichts mehr – auch er kippte hinterrücks um und landete mit einem gequälten Stöhnen auf dem Hintern. Im selben Moment raste Habitak heran. Der unglückliche Schritt und der darin gemündete Fall brachte jedoch auch den Angreifer völlig aus dem Konzept. Seine Klauen griffen ins Leere. Fast einen ganzen Meter fegte er an seinem Ziel vorbei und schoss – wütend krächzend – wieder in die Höhe. Ray erkannte, dass Geckarbor längst nicht mehr Herr seiner Lage war und entsandte Sheinux zu dessen Unterstützung. Auch Skorgla schwankte schwerfällig und mit nur spärlicher Begeisterung zum Unglücksort, nachdem ihm Eagle Beine gemacht hatte („Wenn ich deinetwegen in Rays Schuld bleibe, dann ist dieses überdrehte Spatzenhirn da oben dein geringstes Problem!“). Mitleidvolle Schulterblicke gab es der Zahl fünf. Alle aber blieben von Skorglas grimmig dreinblickenden, verbohrten Trainer unbeantwortet.


    Sheinux bekam es erneut mit Vegimak zu tun, Geckarbor dagegen hielt Habitak weiterhin auf Distanz. Zwischen den mit unverminderter Härte wieder aufgenommenen Kämpfen durfte sich Skorgla wütendes Gefluche von der Seitenlinie anhören, da er zögerte, in eines der Handgemenge einzugreifen.
    „Behält hier überhaupt noch irgendjemand den Durchblick?“ Sonja und Skip waren zu Ray und Eagle gestoßen. Die angehaltene Hektik und das Fiebern hatte auch bei Sonja – deutlich blässer um die Nasenspitze als sonst – ihren Tribut eingefordert, hingegen Eagles Gesicht zwischen seinen ununterbrochenen Kommandos bereits wieder rot anlief und die Augen leicht hervorquollen. „Ray ...“ Bedächtig tat Sonja einen Schritt auf ihren Freund zu. „Ich weiß, du genießt es, wenn die Dinge kopfüber stehen, aber das hier ...“
    „Nah, das ist selbst mir zu hoch. Was zur Hölle tut Zorua da eigentlich?“ Erschöpft fuhr er sich über die Stirn. „Egal. Waffenstillstand würde ich vorschlagen. Was meint ihr?“
    „Gute Idee. Das läuft hier völlig aus dem Ruder“, meinte Skip, mit der Lage nicht weniger mit der Situation überfordert. „Wer hisst die weiße Flagge?“
    Jubel. Schadenfrohes Gelächter war ausgebrochen. Ein dummer Zufall, den Eagle wie einen spektakulären Sieg feierte. Das Gesicht nun endgültig ein einziger Scherbenhaufen, suhlte sich Vegimak in ihrem Elend. Es war in der Hitze des Gefechts geschehen: Eine Ahnung, dass jemand hinter ihr lauerte, hatte Vegimak dazu veranlasst, sich kurzzeitig von Sheinux abzuwenden. Sie war herumgeschnellt, die Augen böse funkelnd. Ein Schreckensmoment, der Skorgla – zu eben diesem Zeitpunkt zu Vegimaks Schulter - in heftige Furcht hatte ausbrechen lassen. Von Panik ergriffen hatte er zu einem überstürzten Fluchtversuch kehrtgemacht. Der klobige, dornengespickte Schwanz war dabei versehentlich mit der Kraft eines Faustschlags ausgerechnet in dem Gesicht des Pflanzen-Pokémons gelandet.
    Zum gleichen Teil betreten wie auch von ehrlicher Reue ergriffen, bemühte er sich zu kitten, was es noch zu kitten gab. Sein Mund bewegte sich kaum, zitterte leicht. Mehr als ein paar beschämte Entschuldigungen brachte er nicht zusammen. Die rechte Schere zuckte dabei wiederholt auf, aus ob er mit dem Gedanken rang, ob er es wagen könnte, dass sich vor ihm hin und her wälzende Pokémon vorsichtig zu berühren.
    „Das nenn ich mal ,einen vor den Bug geknallt’. Autsch!“
    „Das ist verdammt noch mal nicht witzig, Skip! Die arme Vegimak“, gab sich Sonja betroffen. „Du auch, Ray! Hör auf zu lachen!“
    Auch Ray bekam – wenn auch gezähmt – seinen verdienten, tadelnden Genickschlag. Danach baute sie sich vor Eagle auf, selten entschlossen und furchtlos. „Es reicht jetzt!“
    „Was war das?“ Ungläubig starrte er Sonja an. „Jetzt klein beigeben? Die sind erledigt.“ Ohne seinen Blick von ihr abzuwenden, zeigte er auf das Kampffeld hinüber. „Wer keine Gnade kennt, hat auch keine verdient. Setzen wir ein deutliches Zeichen und machen sie fertig! Wenn Faksens Miniaturausgabe in die Pötte kommt, ist der Sieg unser.“
    „He!“
    „Lass es, Skip!“, schnitt Sonja ihm den Protest im Keim ab. Dann wandte sie sich wieder Eagle zu. Vereinzeltes Blinzeln stahl den notwendigen Nachdruck in Sonjas Gesichtsausdruck, um die unglaubliche Sturheit zu durchbohren, mit der sie bei ihrem Freund zu kämpfen hatte. Dann aber, nach kurzer Überlegung, lächelte sie einschmeichelnd, wie es sonst ihre Art nicht war. „Wenn du aber ein derartig peinliches Zeichen setzen willst, dann bitte.“
    „Was willst du damit sagen?“, knurrte Eagle.
    „Überleg doch mal“, sagte Sonja. Passend zu ihrem bittersüßen Lächeln hatte ihre Stimme zwischenzeitlich einen belehrenden, schon fast leicht herablassenden Unterton angenommen, wie sie ihn selbst noch nie zuvor gehört hatte. Darüber sehr überrascht, bangte sie zwischenzeitlich sogar leicht, ob sie die fremde Zunge im Mund zügeln konnte, damit Eagle es nicht in den falschen Hals bekam. „Wenn du so gewinnt, durch einen dummen Zufall und mit unserer Hilfe - mit Skips Hilfe -, ist dir damit geholfen? Ist das das Zeichen, das du setzen willst? Was werden wohl Rico und die anderen davon halten, hm? Sicher werden sie über diesen Sieg spotten. Wenn du jetzt aber sie so zurücklässt, angeschlagen, verwundet, gedemütigt, und du selbst mit einem selbstgefälligen Grinsen abziehst, ihnen zeigst, dass sie deiner weiteren Zeit gar nicht wert sind, ich glaube, das schmeckt ihnen bitterer als jede Niederlage. Denk nach. Aber beeil dich.“ Kaum hatte das verräterische Säbelrasseln in ihrer Stimme abgeklungen, rang sie nach Atem. Es waren nur wenige Sätze gewesen, und dennoch hatten diese ihr alles abverlangt. Schon aber, als sie in das plötzlich versteinerte Gesicht gesehen hatte, nachdem Skips Namen gefallen war, wusste sie, dass sie ihre Saat auf fruchtbaren Boden gepflanzt hatte.
    Eagles Kiefer malmten. Für und Wider wirbelten in seinen Gedanken wild umher. Sie zu demütigen klang sehr anregend. Ihnen jetzt den Gnadenstoß zu verpassen ... das hatte auch etwas. Aber zu welchem Preis, wenn es aus jemand anderes Mist gewachsen war? Ein Sieg, bei dem er sämtliche Lorbeeren teilen musste, er nicht weiter als eine kleine Fußnote war. War es wirklich das, was er wollte?
    „Na gut, lassen wir sie in ihrem Elend zurück und aalen uns in unserem Sieg“, brachte er endlich hinter seinem süffisanten Lächeln hervor.
    „Psychologische Kriegsführung war mir schon immer zu hoch, aber gegen eine Party habe ich nichts einzuwenden“, grinste Ray. Er tat es seinen Kameraden gleich - fünf Pokébälle wurden gezogen. Alle Kampfteilnehmer wurden beim Namen gerufen, sie sollen sich bereithalten. Doch da gab es noch eine weitere Stimme, die sich dazwischen schob und mit ihrem Klang das Kampffeld erschütterte. Sie gehörte Rico.
    „Es ist noch nicht vorbei! Jetzt, Voltobal! Finale!“
    „Holt sie zurück! Jetzt!“, schrie Sonja, die Augen weit aufgerissen.


    Es war das ohrenbetäubende Krachen eines ausbrechenden Vulkans, der Knall mehrerer antiquierten Vierpfünder-Kanonen, das Donnern eines richterlichen Urteils. Das Erbeben von Fenstern und Türen des Schulgebäudes zeugte von der gewaltigen Explosion fast zwei Kilometer südlich davon. Noch nach Jahrzehnten erzählten und schwärmten Schüler von dem gewaltigen dem Kampf, der sich an jenem Tag zugetragen hatte. Zwischen den Unterrichtsstunden, beim Plausch in der Schulmensa, an Abenden in ihren Häusern, und wann immer es sie zu dem eindrucksvollen Mal verschlug, dort, wo sich Raikou, Suicune und Entei einst getroffen hatten - dem Krater der Trispältigkeit.



    * * *



    Zwischen der Hektik, den der längste Abend dieses Jahres für die Schulkrankenschwester, Professor Joy, bereit hielt, vergaß diese irgendwann ihre Drohung, sämtlichen diesem Massaker beigewohnten Schülern bis zum Ende dieses Schuljahrs Nachsitzen aufzubrummen. Nachdem die größten Unruhestifter - Eagle, Rico und Fabien - endlich dem Krankenflügel verwiesen worden waren, kehrte langsam wieder Ruhe ein. Der unermüdlichen Pflege Professor Joys und ihrer heilkundigen Assistentinnen, den Pokémon Chaneira und Heiteira, war es zu verdanken, dass die meisten Patienten schon am nachfolgenden Tag wieder auf den Beinen waren. Flemmli verließ ihr Krankenbett nach dem zweiten Tag, Vegimak dagegen war erst am Montag wieder auf den Beinen.
    Obwohl gelegentliche Streitereien zwischen und auch in den Gruppen noch lange Zeit anhalten sollten, war der Zusammenhalt in der Raikou-Fraktion noch nie so groß.

  • ~Kapitel 12: Pokémon-Baby-Blues~



    Part 1: Ei, Ei, Ei ...


    Part 1: Ei, Ei, Ei ...


    Der Montag brach so trist und regnerisch an, wie man es bereits zu Beginn des verflogenen Wochenendes erwartet hatte. Zurückgehende Temperaturen, unbeständiges Wetter, graue Regenfronten - so die Prognose der Medien für die kommenden Tage. Der Herbst hatte endgültig die Oberhand gewonnen. Mit der launischen Jahreszeit hielten auch die ersten Regenjacken ihren mehr oder weniger feierlichen Einzug. Allen voran die Hypochonder, die schon bei dem kleinsten Nieser den drohenden Weltuntergang besangen, tüteten sich an jenem Morgen vorsorglich gleich mit einer doppelten Schicht Kleidung ein. Gleichgültig wie objektiv man den Wetterverhältnissen gegenüber stand oder wie sehr man doch über das überdrehte Verhalten einiger seiner Mitschüler die Nase rümpfte, waren sich selbst die eingeschworenen Optimisten im Klaren, dass es temperaturtechnisch jetzt nur noch bergab gehen konnte. Gleichzeitig war es der Beginn langer Tagungen und Seminare, deren Veranstaltungsort das Schulgebäude war. Rausgeputzte Krawattenträger und elegant gekleidete Frauen. Finanzbeamte. Versicherungskaufleute. Bankangestellte. Lehrer. Manager. Beamtentrottel, wie Ray sie gerne zusammenfasste. Büroheinis. Drehstuhlpiloten. Den lieben langen Tag konnte er so weitermachen, ohne dass ihm die deutlich negativ angelehnten Bezeichnungen auszugehen schienen. Daneben gab es dann noch den Mann beziehungsweise die Frau von nebenan; einfache Leute eben, leger gekleidet und heil froh darüber, ein paar Tage aus ihrem Alltagsstress herausgekommen zu sein. Urlaub zu machen, wenn man es so wollte. Eines hatten beide Personengruppen gemeinsam: man bekam sie kaum zu Gesicht. Als Seminarräume fungierten die im Obergeschoss gelegenen Mehrzweckräume. Die Teilnehmer fanden sich morgens nach dem Klingeln und mittags sowie abends davor ein; hinter verschlossenen Türen. Pausenzeiten für einen Snack oder einen Kaffee zwischendurch gab es fast so viele wie ein Seminartag Stunden hatte. Für eben diese willkommenen Unterbrechungen wurden die angrenzenden Räume zur Verfügung gestellt. Sorgen, dass man sich ein Quartier mit einem wildfremden, pokémonvernarrten Teenager teilen musste, gab es dank der Hotelanlage im nördlich gelegenen Örtchen Green Ville auch nicht. Und das war wohl der Grundgedanke: den Schulbetrieb unter keinen Umständen aus seinen normalen Bahnen zu treiben. Und dass dabei ordentlich Geld seinen Besitzer wechselte, war kein Geheimnis, selbst unter den Schülern.
    „Mir doch völlig wumpe, was die mit den Flocken anstellen. Wann kommt sie endlich?“
    „Wer bist du und was hast du mit Ray gemacht? Dass ausgerechnet du jemals den Unterricht nicht abwarten kann ... unvorstellbar. Erinnert mich daran, drei Kreuze in den Kalender zu machen, wenn der Tag vorbei ist.“
    „Hey, sei fair zu mir, Sonja. Ich kann nichts dafür, dass Schule der Inbegriff von Ätz und Langeweile ist“, sagte Ray, dabei lehnte er sich gelangweilt auf seinem Stuhl zurück. „Hätten wir am laufenden Band solche Projektwochen, wäre meine Einstellung eine ganz andere, das kannst du mir glauben.“
    „Projektwochen ... Präsentationen, Collagen, Dreck und so weiter ...“ Vorwurfsvoll blickte Eagle zu seiner Seite, wo dessen ungebetener, ihm zugeteilter Partner saß. „Gruppenarbeit ...“
    Skip reagierte prompt. „Sieh es positiv: Wenn wir leckschlagen und sang- und klanglos untergehen, dann kannst du mir die Schuld in die Schuhe schieben, Kamerad.“
    Widerstrebend schüttelte Eagle den kameradschaftlich um seine Schulter gelegten Arm des Suicunes wieder ab. „Das habe ich ohnehin vor“, knurrte er gehässig.
    Sonja und Ray lächelten einander still zu. „Wie Himmel und Erde“, meinte Sonja.
    „Ebbe und Flut“, korrigierte Skip.
    „Erdbeeren und Sauerkraut, Frankensteins Monster und Dracula, Windows 95 und ...“, scherzte Ray
    Das Gesicht in den Händen begraben, quengelte Eagle theatralisch: „Womit hab ich das verdient? Womit ...?“
    Ereignislose Sekunden häuften sich zu ebenso ereignislosen Minuten an. Nach wie vor blieb der Saal von der zuständigen Lehrkraft verwaist. Sämtliche Schüler der Grundstufe hatten sich dort eingefunden und die jeweilige Paarung bereits gebildet. Lediglich Logan Sokols Partnerin, Julia, fehlte. „Sie nimmt an der Visite im Krankenflügel teil“, erklärte der Einserschüler mit der üblichen Gleichgültigkeit in seiner Stimme Diana Rawkes, die sich bei ihm neugierig nach Julias Verbleib erkundigt hatte. Vegimak sollte noch heute entlassen werden, so munkelte man. Ihr Zustand war dank Tratsch- und Klatschtanten wie Diana ungefähr so geheim wie der Grund ihres Krankenbettaufenthalts. Folglich wusste inzwischen die ganze Schule von den Vorfällen vom Freitag. Auch wenn es keinen wirklichen Sieger bei der Auseinandersetzung gegeben hatte, wurde der Raikou-Verband - inklusive des Suicunes Skip - als Gewinner gefeiert; mehr oder weniger, je nachdem, wer gerade die Geschichte über den knallharten Schlagabtausch erzählte und dabei mit maßlosen Übertreibungen und künstlerischen Freiheiten nicht schonte. Die drei Suicune-Mädchen hingegen leckten sich noch ihre Wunden. Alles in allem waren sie aber noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen - und das im wahrsten Sinne des Wortes. Eiszeit dagegen bei den Enteis: Ricos bombige Idee, den Kampf mit einem Knall zu beenden, hatten weder seine beiden Kumpanen noch die Schülerschaft sonderlich gut aufgenommen. Abgeschlagen als Schlusslicht aus der Begegnung Entei versus Raikou versus Suicune gegangen, durften die drei Vertreter der roten Fraktion allerlei bissige Kommentare über sich ergehen lassen, selbst aus ihrem eigenen Haus. Keine Raffinesse. Kein Ehrgefühl. Es gehörte eben mehr zu einem Sieg, als feige aus dem Hinterhalt anzugreifen oder Freund und Feind gleichermaßen in die Luft zu jagen. Von seinen Kumpeln bis auf Weiteres geächtet, musste sich Rico gezwungenermaßen mit Billys vormaliger Gruppenpartnerin zufrieden geben: Pam Finnley.
    Sonst genoss man die wenigen Minuten unterrichtsfreie Zeit, diesmal aber zehrte sie an den Nerven der meisten Wartenden. Irgendwann hatte Ray damit begonnen, aus Langeweile allen Buchstaben seines sporadisch gefüllten Hausaufgabenplaners mit zusätzlichen Satzzeichen umzumodellieren, sodass es beinahe so wirkte, als ob sie dem Leser eine Grimassen schnitten. Das Lied, das er zum weiteren Zeitvertreib leise angestimmt hatte - es ging um einen ziemlich schrägen, raffgierigen Vogel auf Schatzsuche im Weltall -, strapazierte nicht nur minder die Nerven seiner unmittelbaren Mitschüler. Als Eagle dem Summenden androhte, diesen bei lebendigen Leibe zu häuten, verstummte Ray. Kurzzeitig. Keine halbe Minute später befand sich derselbe Vogel auf einer Diamantensafari im tropischen Regenwald, zum wiederholten Leidwesen der anderen. Längst ging es im restlichen Saal nicht mehr so ruhig zu wie zu Anfang. Im Schneeballsystem animierten die Gesprächschnipsel einzelner Schüler auch die benachbarten Tische, bis überall Unterhaltungen von A wie Algebra bis hin zu Z wie Zwiebelsuppe ausbrachen; mit der Lautstärke schonte man schon lange nicht mehr.


    Die schwere Eichenholztür des Klassenraums öffnete sich erst knapp fünfzehn Minuten nach dem Klingeln. Julia trat zuerst ein und ebnete ihrer Professorin den Weg. Alles andere als ein bescheidenes Lächeln stand auf ihren Lippen, als die Suicune-Schülerin den leeren Platz neben Logan füllte und ihren Freundinnen zuzwinkerte. Vegimak musste also wieder auf den Beinen sein. Julias Rampenlicht, in dem sie so gern badete, war nur von kurzer Dauer, denn das Interesse der meisten Schüler ruhte auf der Professorin. Seit sie den Raum betreten hatte, hatte sich Professor Joy nicht die Mühe gemacht, vorne am Lehrerpult Platz zu nehmen, sondern hatte davor Stellung bezogen und begann erst zu reden, bis sämtliche Augen auf sie gerichtet waren, was nicht sonderlich lange dauerte.
    Gebunden an die ärztliche Schweigepflicht, ging die Professorin nicht weiter ins Detail. Ein knappes Wort der Entschuldigung, keine weitere Einzelheiten. Weiter als bis zum nächsten Nachsitzen wäre ein Langschläfer mit einer derart faden Entschuldigung nicht gekommen. Doch niemand rebellierte. Vielleicht weil man wusste, wie sinnlos es war, sich dagegen auflehnen zu wollen, oder vielleicht, weil es gerade an diesem besonderen Morgen niemand darum scherte.
    Die erste Paarung wurde aufgerufen und von Professor Joy an die Schwelle des angrenzenden, bislang vorsorglich abgeschlossenen Nebenraums geführt. Die Tür ging hinter Kathy Torres und Lucy Westerhold zu. Die Lehrkraft hingegen blieb bei ihren restlichen Schülern. Eine geschlagene Minute, erst dann öffnete sich die Tür aufs Neue. Stühle knarrten über den Boden und Köpfe wurden erwartungsvoll verrenkt, um einen besseren Blick auf die beiden Entei-Schülerinnen zu erhaschen. Raunen zog durch den Saal wie Geistergeflüster, das sich an einer nebligen Herbstnacht durch knochiges Geäst zog. Die Scham, ausgerechnet als Erstes aufgerufen zu werden und so als Zielscheibe für den Rest der Klasse dienlich zu sein, stand in den sich rasch erröteten Gesichtern geschrieben. Vergeblich bemühten sich Kathy und Lucy, die aufdringlichen Blicke abzuschütteln, während sie wieder zu ihren Plätzen eilten. Der Fokus lag insbesondere auf Lucy, die in ihren Händen ein auf einem Kissen gebettetes Ei trug. Oval, wie man es eben von einem Ei erwarten konnte. Zwanzig, vielleicht fünfundzwanzig Zentimeter groß, überwiegend von einer erfrischenden blauen Farbe überzogen und mit zwei großen orangefarbenen Flecken betupft.
    Ungefähr so lange, bis endlich das nächste Pärchen aus dem Nebenraum trat, blieben Lucys und Kathys Köpfe in Beklommenheit gesenkt. Erst dann begannen auch sie endlich, das ihnen anvertraute Ding zu mustern, und stellten sich den Fragen ihrer Banknachbarn.
    Nach und nach lichteten sich die Reihen der Kinderlosen. Eine halbe Stunde, nachdem die erste Paarung aufgerufen worden war, dominierten die frisch gebackenen Eltern gegenüber dem Rest, bis nur noch eine Handvoll Schüler auf ihren Aufruf warteten. Inzwischen hatte man das Interesse an dem sich stetig wiederholenden Ritual verloren. Stattdessen zog man Vergleiche. Kein Ei glich dem anderen. So wie sie unterschiedlich groß waren, so besaßen sie auch unterschiedliches Gewicht. Auch Farben und Muster gab es mehr als man überhaupt aufzählen konnte. Langweiliges Grau ohne nennenswerte Verzierungen, mokkagefärbt mit spitz zulaufenden Sicheln, weiß wie Neuschnee mit roten und blauen Maserungen, orange mit teils cremefarbenen und teils schwarzen Streifen.
    „Hallo, ihr beiden. Nur keine falsche Scheu, kommt näher, Schnuckelchen.“
    Ray und Sonja hatten als zweiletztes Pärchen den Nebenraum betreten. Die frohe und ohnehin bereits kräftige Stimme der einzigen weiteren Person, eine wohlbeleibte, hochgewachsene Dame, Mitte fünfzig, mit purpurroten Kopftuch, unter dem einige Strähnen ihres schütternden, brünetten Haares hervorlugten, einem massigen Kinn und ebenso breiten Schultern wie sie Oberarme besaß, klang in dem großen, verlassenen Raum besonders laut. Das musste Mrs. Johnson sein, die mit ihrem Mann die Pokémon-Pension betrieb. Die üblichen Schulbänke, wie man sie aus jedem Saal kannte, waren zu einer langen Reihen gezogen worden, und diente bis zu diesem Zeitpunkt als Ablageplatz der Eier. Sonja vermutete, dass es wohl ein spektakulärer Anblick gewesen sein musste, all die Eier beisammen zu sehen. Jetzt aber waren nur noch zwei verblieben: ein pastellblaues mit drei grauen Flecken sowie ein kupferfarbenes, dessen Boden mit roten, wellenförmigen Mustern bemalt war, beide auf einem roten Kissen. Hinter der Tischreihe hatte es sich Mrs. Johnson auf einem Stuhl bequem gemacht, der ihren üppigen Hintern nicht völlig füllte und bei allzu hastigen Bewegungen verdächtig ächzte.
    Ein wenig distanziert, leicht versteckt hinter dem Rücken ihres Freundes zwang Sonja ein verkrampftes Lächeln hervor, das Mrs. Johnson aber ehrlich erwiderte. „Na, na, nur keine Hemmungen, Mädchen. Deinen Mitschülern habe ich auch kein Härchen gekrümmt, und warum sollte es bei euch anders sein?“
    „Hast du gehört, Sonja, sie hat schon gefrühstückt, also los“, feixte Ray.
    Mrs. Johnson hämmerte ein Lachen hervor wie das wiederholte Schlagen einer Pauke, bei dem Sonja nur noch mehr verkrampfte. „Was für ein Mannsbild! Du hast Charakter - das gefällt mir!“ Ein mächtiger Schatten legte sich über die beiden Raikous, als sich Mrs. Johnson erhob. Kameradschaftlich klopfte sie Ray auf die Schultern - die Wucht dieser freundschaftlich gemeinten Geste presste ihm die Luft aus den Lungen. Nun mit äußerster Sorgfalt versehen, schlossen sich die fülligen Finger der Pensionsleiterin um das pastellfarbene Ei samt Kissen. „Passt gut darauf auf, und dass mir keine Klagen kommen, ja?“ Sie hielt ihr gefühlvolles Lachen noch so lange zurück, bis Sonja das Ei in ihren Händen hielt. Man konnte es nicht anders sagen: Hinter Mrs. Johnsons einschüchternder Größe hatte sie etwas Herzliches, etwas Mütterliches. Es schien fast so, als könnten nicht einmal sieben Tage Regenwetter ihr sonniges Gemüt trüben.


    „Hat wohl heute Morgen einen Clown zu viel gefrühstückt. Völlig durch den Wind, die Alte.“
    „Ich finde sie sehr nett!“, klang Sonjas Stimme vorwurfsvoll in Eagles Richtung. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie kaum einen Moment ihrer Aufmerksamkeit von dem ungeschlüpften Ziehkind gelassen.
    Mit dem Erhalt des Eies hatte sich Eagles Laune nicht gebessert - im Gegenteil. Jetzt, wo er es in Händen hielt, schien er nun sogar noch schlechterer Dinge zu sein. Das Ei von ihm und seinem Gruppenpartner - es war von maisgelber Farbe und schwarz gezackt - war deutlich kleiner als das ihrer Nachbarn und wirkte im direkten Vergleich fast schon mickrig. Kein Tisch war inzwischen mit noch keinem Nachwuchs beglückt worden, kaum ein Gesprächsthema war ein anderes. Mit dem letzten zu vergebenen Ei hatte Mrs. Johnson zu der deutlich jüngeren Professorin aufgeschlossen und strahlte nur so auf die plappernden Schüler hernieder. „Daran werde ich mich wohl nie sattsehen können“, scherzte sie beiläufig. Beide Erwachsenen verfielen daraufhin in ein Unterhaltung. Gesprächsstoff gab es derweil auch bei den Schülern reichlich.
    „Was glaubst du, was drin ist?“ Ray hatte seinen Kopf auf seine Arme gestützt, welche wiederum auf dem Tisch lagen. Von dieser Position aus glotzte er beinahe hypnotisch auf das Äußere der Eierschale.
    „Eindeutig kann ich das nicht sagen, aber ...“ Sonja begann in ihrem Lehrbuch zu blättern. „Ich hab da doch was gelesen ... wo war es noch gleich ... ah, hier! Hier steht: Das optische Erscheinungsbild auf der Cortex (prägnante, charakteristische Eigenschaften, so z. B. Kolorierungen und Formen, siehe Schaubild III) lässt sich auf die Ovipare und somit auch auf deren Brut reflektieren. Kalkgehalt und Sättigung geben Aufschluss auf den Zustand des Behälters und dessen Inhalt, hingegen weder durch rein visueller Betrachtung noch mittels labortechnischer Analyse das Geschlecht festgestellt werden kann. Zitat Ende.“
    „Iche nixe verstehe Lehrbuch. Du mire erklären.“
    „Dann sieh dir das halt an! Es würde dir nicht schaden, ab und zu mal ins Lehrbuch zu schauen“, schnaubte Sonja und schob ihrem Freund das Buch unter die Nase.
    Ray folgte Sonjas Zeigefinger. Am oberen rechten Buchrand war ein grünes Ei abgebildet, unterbrochen von fingerdicken, blassblauen Linien auf der Schale. Ein gelber Pfeil nach rechts deutete auf das Abbild eines einhörnigen, sechsbeinigen Käfer-Pokémons mit zwei niedlichen Greifern am Gesicht und mit verblüffender Ähnlichkeit zu dem Ei. Darunter dessen Name: Weberak.
    „Das heißt, man kann an der Schale ablesen, welches Pokémon darin steckt?“, schlussfolgerte Ray. „Wieso schreiben die das so kompliziert?“
    „Warum hab ich nur so ein mieses Gefühl ...?“, knurrte Eagle beiläufig. Aus einer ähnlichen Haltung heraus wie die Rays höhlte er das gelbe Ei mit seinem strengen Blick förmlich aus, fast so, als fürchtete er die Ausgeburt Luzifers persönlich darin.
    „ Also, was könnte drin sein?“, ignorierte Ray die Bemerkung seines Hauskameraden.
    „Mhm“, machte Sonja nachdenklich, „weiß nicht, aber vielleicht, naja, ist doch irgendwie blau, nicht? Könnte also ein Wasser-Pokémon sein. Was meinst du?“
    „Ihr habt ein Wasser-Pokémon?“, fragte Skip und lehnte sich neugierig zu dem Ei seiner Tischnachbarn.
    „Vielleicht, könnte sein“, zuckte Sonja die Schultern. Wirklich überzeugt war sie nicht, insbesondere, nachdem sie sich umschaute und feststellte, dass einige Eier deutlich kräftigere Blautöne besaßen als das ihre.
    „Ich wette, sie weiß es.“ Ray nickte verschwörerisch in Mrs. Johnsons Richtung, die soeben die Unterhaltung mit Professor Joy beendet hatte. Beide Erwachsenen wandten sich daraufhin wieder der Klasse zu; das Geplauder unter den Schülen blieb größtenteils davon unbeeindruckt. Mehr als nur ein laut ausgesprochenes Machtwort war nötig, um die Aufmerksamkeit der Schüler wieder gezielt nach vorne zu bündeln. Die letzten kleineren Tuscheleien gingen in dem nunmehr strengen Blick der Professorin unter.
    „Für das Kommende seid ihr gerüstet. Abschließend möchte ich euch noch einige Dinge mit auf den Weg geben.“ Wie ein unüberwindbares Bergmassiv hatte sie sich vor ihnen aufgebaut. Ein gewetztes Messer besaß auch nicht nur ansatzweise die Schärfe, mit der sich die Professorin eindringlich in jeden einzelnen Schüler bohrte. „Bitte geht diese Aufgabe mit allem Ernst und Sorgfalt an! Die Pflege, Aufzucht, ja überhaupt einem jungen, unerfahrenen Geschöpf die ersten Schritte in die weitere Welt zu ebnen, ist nichts, was man auf die leichte Schulter nehmen sollte. In aller Voraussicht sollte es eure erste Aufgabe sein, innerhalb der Gruppen strenge Zeitpläne zu erstellen und diese auch einhalten und das anwenden, was ihr in den letzten Wochen gelernt habt. Keine Experimente! Keine wilden Abenteuer! Und bei allem, was euch oder mit heilig ist: Lasst unter keinen Umständen euer Schutzbefohlenes aus den Augen! Falls innerhalb des unmittelbaren Freundeskreises auch nur ansatzweise Verwechslungsgefahr besteht, so trefft noch heute vorsorglich die nötigen Vorkehrungen.“
    „Sonst haben wir am Ende den Eiersalat“, schäkerte Ray leise. Nicht nur zu seiner, sondern auch zur Verblüffung der meisten anderen Schülern stimmte die Professorin ihm zu, wenn auch nicht so leichtfertig, sondern mit der üblichen Strenge eines Lehrers.
    „Hast du gehört, Faksen? Weil du so meschugge in der Birne bist, darfst du uns ein kleines Fähnchen basteln. Wenn du es nicht völlig vermasselst, kannst du damit dann Ende der Woche in See stechen. Das müsste dir Wasserkopf doch gefallen“, stichelte Eagle.
    „Was nützt eine Flagge ohne Schiff dazu, Kielschwein?“, hielt Skip als schlagfertige Antwort parat. Ein weiterer bedrohlicher Blick der Professorin brachte die Zankenden wieder zum Schweigen, so auch alle anderen, die sich wieder in leise Unterhaltungen gestürzt hatten.
    „Jeden einzelnen von euch beschwöre ich ausdrücklich: Sollten Probleme - von welcher Natur sie auch sein mögen - auftreten, so sucht mich, Mrs. oder Mr. Johnson auf oder konsultiert euren Hauslehrer. Des Weiteren biete ich nach Unterrichtsende abwechselnd mit Mrs. und Mr. Johnson Gesprächskreise an. Das erste Treffen findet heute um 16:30 Uhr im Klassenzimmer für Pokémon-Pflege statt. Macht davon regen Gebrauch, auch wenn ihr den Rest der Woche unterrichtsfrei habt. Solltet ihr von diesen Gelegenheiten absehen, treffen wir uns allesamt an diesem Freitag pünktlich um 8:00 Uhr hier in diesem Raum wieder zur Beurteilung. Von jeder Gruppe erwarte ich einen mindestens viertelstündigen Bericht über die gemachten Erfahrungen. Die Freiheit über die Aufmachung und Art der Präsentation ist euch gelassen, und zum wiederholten Mal, Mr. Foley, ja, es werden Noten darüber gemacht, und sie fließen mit aller Härte in das Zeugnis mit ein!“ Jake Foleys Arm sank so wie er seinen Kopf belämmert hängen ließ. „Begründend auf die ersten Eindrücke, baut das Pokémon unmittelbar nach dem Schlüpfen eine enge, sehr empfindliche Beziehung zu dem näheren Umfeld auf, insbesondere zu den ersten Gesichter, in die es blickt. Erschüttert dieses Vertrauen in seinen Grundpfeilern nicht. Tragt dafür Sorge, dass es ein sachter Übergang in die Wirklichkeit unserer Welt ist. Ein abgeschiedener Raum, alleinig die beiden Elternteile, ein stilles ...“
    „Da schlüpft was!“
    Ausnahmezustand im Saal. Um den Tisch der beiden Jakes liefen die Menschen auf. Erst eine Handvoll, dann befand sich ausnahmslos die gesamte Klasse auf den Beinen. Schulter an Schulter, Ellenbogen an Ellenbogen. Händeringend bahnte sich die Professorin ihren Weg durch die aufgewühlte Schülerschaft; Mrs. Johnson hatte es da leichter - sie blickte einfach über die Kinderköpfe hinweg. Mit versteinerten Mienen, als ob alles zuvor Gelernte restlos aus den Gedächtnissen getilgt worden wäre, starrten Jake Foley und Jake Miller auf das fünfundzwanzig Zentimeter große Ei auf ihrem Tisch. In periodischen Sekundenzyklen glühten die zum gleichen Teil gelben, weißen und grauen Farbstreifen hell strahlend auf. Beseelt von der inbrünstigen, ungebändigten Macht in seinem Inneren, begann das Ei zu zucken. Als Professor Joy sich endlich am letzten Schüler vorbeigezwängt hatte, bröckelte bereits das erste Stückchen Schale ... dann sprengte die ganze Hülle in einem grellen Lichtschein auseinander. Damit hatte niemand gerechnet. Einige Schüler wichen überrascht zurück und traten sich dabei gegenseitig auf die Füße. Manch eine Schülerin warf sich sogar verängstigt auf den Boden, hingegen Jake Miller beinahe von seinem Stuhl kippte.
    Auf dem Tisch der beiden Jakes, inmitten der Scherben gesprengter Ketten und noch immer zärtlich von einem restlichen Überbleibsel strahlenden Lichts gestreichelt, saß ein zusammengekauertes Geschöpf. Den Kopf mit den überdimensionalen Ohren hielt es in dieser Position verschränkt an dem Oberkörper. Der Rücken war von anthrazitgrauer Farbe und mündete in einen vom Aussehen her fast flügelförmigen Schwanz, das Gesicht und der restliche Oberkörper bis hin zu den winzigen Füßen waren von weißer Farbe. Die kleinen Arme waren direkt mit etwas verbunden, was wie ein großer Lappen aussah. Dessen Innenseite war von demselben Gelb bemalt wie die beiden Backentaschen. Keiner sagte etwas, noch nicht einmal glaubte man, ein Atmen zu hören. Selbst als aus dem zusammengekauerten Gesicht die schwarzen Knopfaugen plötzlich aufsahen, herrschte gespenstische Stille; eine Stille, die ihren Höhepunkt erreicht hatte.
    „Gwah!“
    „Köpfe runter!“
    Schepper!


    „Werden Sie das negativ bewerten?“
    „Seien Sie still!“
    Zwischen so manch einem kreidebleichen Gesicht blitzte auch stellenweise die ein oder andere Träne vor Lachen hindurch. Das mittlere der acht großen Fenster des Saals II war nicht mehr; nicht viel weniger ein Scherbenhaufen, als das Ei des eben geschlüpften Pokémons, das auf seinen Fluglappen unter den Armen kurz durch die Luft geritten und geradewegs durch die Scheibe hindurch gerast war. Leichter Herbstregen benetzte die Glassplitter auf dem Boden, kalte Böen griffen habgierig in das warme Innere des Raums. Von dem kleinen Luftikus fehlte bereits jede Spur.
    Nach dieser Aufregung die Klasse wieder in den Griff zu bekommen, wollte Professor Joy nicht mehr gelingen, auch bemühte sie sich angesichts der unangenehmen Wetterverhältnisse nicht sonderlich. Mit ihren Eiern im Arm und gemischten Gefühlen schwärmten die Suicunes, Enteis und ein Großteil der Raikous in ihre Projektwoche. Eine Handvoll blieb zurück: Ray und Sonja, die beiden Jakes, Eagle und Skip sowie Diana und deren Partnerin Alexa.
    „Haben Sie registriert, wie kraftvoll und schnell Emolga die Schale gesprengt hat? Die Kleine hat eine ordentliche Portion Temperament. Ein richtiger Kraftzwerg. Ein paar schlaflose Stunden werden uns sicher noch bevorstehen.“ Selbst dieser Vorfall konnte Mrs. Johnsons heiteres Mütchen nicht kühlen. Deutlich weniger begeistert und mit dem Schrecken noch immer in den Knochen schaute Professor Joy die Züchterin an.
    „Ein Emolga, Hertha? Was sollte das? Emolga gehören nicht zu den üblichen Partner-Pokémon, die wir für die Schüler heranziehen lassen. Außerdem war der Schlüpftermin ausdrücklich auf Mittwoch angesetzt. Erklären Sie das!“
    „Auch uns passieren Fehler“, zuckte Mrs. Johnson nachsehend mit ihren breiten Schultern. „Der zweite, wenn ich mich nicht täusche in ... einunddreißig Jahren. Mensch, ich bin alt geworden. Jedenfalls würde es mich nicht wundern, wenn wir versehentlich ein falsches Ei gegriffen haben. Also nur keine Sorge, ihr zwei. Auch ihr sollt euer Ei bekommen.“
    Weder Jake Miller noch Jake Foley erweckte den Eindruck, als ob einer von ihnen nach diesem Zwischenfall noch sonderlich Lust darauf hatte, jemals wieder ein Ei zu sehen, geschweige denn, eines auszubrüten. Bevor aber auch nur einer etwas dazu sagen konnte, hatte Mrs. Johnson bereits beide an den Oberarmen gepackt und zerrte sie so freundlich wie schwungvoll aus dem Raum.
    „Und bis zum Wochenende sind es noch weitere vier Tage ...“, seufzte Professor Joy schwer. Dann wandte sie sich den verbliebenen Schülern zu. „Sie können gehen, habe ich doch gesagt. Obwohl“, sie schaute in die Runde“, einer von Ihnen könnte so nett sein, bitte Sam... ich meine, Mr. Figo aufzusuchen - er möchte doch bitte die Scheibe ersetzen. Ich glaube, er meinte, er wolle an diesem Morgen die Fahrräder winterfest machen und wegsperren und ...“ - sie zögerte kurz - „ach, machen Sie sich keine Mühe. Ich suche Ihn selber auf.“
    Mit weiten Schritten entfernte sich die Professorin. Zurück blieben die restlichen Raikous.
    „Professor Joy macht sich an Samuel ran und ein rasendes Ungeheuer verwüstet die Schule. Wartet, bis ich das alles rumerzählt habe!“, strahlte Diana. Ihr Ei hätte sie beinahe vergessen. Zum Glück war zumindest ihre Partnerin Alexa bei der Sache und eilte ihr mit mitleidsvollem Gesichtsausdruck nach.
    „Für diese Freakshow sollten wir echt Eintritt kassieren“, schnaubte Eagle, warf seinen Rucksack über die Schulter und verschwand.
    „Machen wir die Schotten dicht und hauen auch ab“, schlug Skip vor seinen restlichen Freunden vor. „Hey, warte Kamerad! Du hast was vergessen!“
    Sonja wandte sich Ray zu. Voller Tatendrang lächelte sie ihn verschmitzt an. „Nun, packen wir es an. Ich habe es schon genau durchdacht. Wir erstellen erst einmal einen gut strukturierten Zeitplan, wie es Professor Joy vorgeschlagen hat. Schichten von je acht Stunden, wovon wir je eine Schicht zusammen machen. Hast du Einwände?“
    „Zukunftsplanung ist die Kunst sich zu kratzen, bevor es juckt. Lass mal lieber abhauen, bevor Diana noch rumerzählt, dass ich als letzter in der Klasse war. Übernimm du mal die erste Schicht, ja? Ich plündere derweil das Muffinbuffet.“
    „Hey, Ray! Hey!“

  • Part 2: In anderen Umständen


    Die allerletzten Spätzügler hasteten durch die größtenteils ausgestorbenen Flure des Schulgebäudes, teilweise sogar noch mit dem Orangensaft oder der Himbeermarmelade eines in aller Eile heruntergewürgten Frühstücks bekleckert. Deutlich weniger besorgte Gesichter bei den eher lässig durch die Korridore schlendernden Schüler der Grundstufe. Unbeschwert. Ohne jeglichen Zeitdruck. Und dennoch innerlich mit der schweren Bürde ihrer Verantwortung belastet, die spürbar schwerer auf deren Schultern saß als das kleine Ei in den Händen wog. Es war ein regnerischer Dienstag - der zweite Tag der Projektwoche. Nur ein weiterer Tag noch, dann sollte der Zeitpunkt des großen Ereignisses gekommen sein. Bis dahin vertrieben sich die kommenden Mütter und Väter auf unterschiedliche Art und Weise die Zeit, stets jedoch mit dem ovalen Freudenbündel anzutreffen, das sie jede Sekunde an die ihnen auferlegte Aufgabe und die mit sich bringenden Pflichten erinnern sollte. Selbst für Ray Valentine war es Zeit, sich dieser Verantwortung zu stellen.
    „Sieh da, sieh da. Seine Hohlheit, der Nachsitzkönig Ray Valentine höchstpersönlich erweist uns die Ehre einer Audienz.“ Eagles Gesicht wuchs amüsiert in die Breite. „Ist mir immer noch ein Rätsel, wie du es schaffen konntest, in einer freien Woche zum Nachsitzen verdonnert zu werden.“
    „Ich hätte es auch fast wieder vergessen. Dabei habe ich mir doch deinen Spruch von letzter Woche aufgeschrieben: Mathematiker machen mich morgens madig. Astrein!“, zitierte Skip. In Zeiten wie diesen gab er Ray gerne mit der Faust einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. Da aber sowohl er als auch sein Gegenüber Hüter des zerbrechlichen Nachwuchses waren, beließ er es mit einem gehobenen Daumen. Das vergleichsweise kleine Ei in seinen Händen nahm nur wenig Raum in Anspruch, hingegen Rays ausnahmslos beide seiner Hände füllte.
    „Sag ich doch, deutlich besser als Muster merken maximiert mentale Möglichkeiten. Finch fand es eben weniger witzig. Der hat mich sogar noch über die Frühstückspause hinweg nachsitzen lassen. Dementsprechend ausgehungert bin ich. Ihr habt nicht zufällig etwas mitgehen lassen, ja?“ Verneinendes Kopfschütteln veranlasste Rays strahlendes Gesicht langsam zu verblassen. „Oh man!“
    „Wo hast du Sonja gelassen? Sie sagte, sie wolle eigentlich auf dich warten“, fragte Skip.
    „Hat sie auch. Und dann hat sie mir das Ei aufgebrummt.“ Er hob das blaugraue Ding in seinen Händen betont ein Stückchen in die Höhe. „Jetzt amüsiert sie sich in der Bibliothek. Etwas Lesestoff, meinte sie vorhin. Etwaige Wissenslücken schließen. So wie ich sie kenne, kann man mit diesem Etwas ganze Datenbanken füllen.“
    „Du hast dich gestern den ganzen Tag davor gedrückt. Jetzt musst du halt mal ran. Also hör auf zu quengeln, Jammerlappen“, stellte Eagle klar.
    „Gutes Stichwort. Dann könntest du es ja mal halten“, sagte Skip und hielt seinem Gruppenpartner demonstrativ das bislang von ihm gehütete Ei hin.
    Deutliches Zögern ging Eagles Handbewegung voraus, mit der er schließlich missmutig die Bürde des gelben Eies mit den schwarzen Zacken schulterte. „Besser so“, grollte er anschließend, „du machst es ja doch nur kaputt.“
    „Sorry, Leute! Bin spät, ich weiß.“
    „Du willst sagen, du kommst nur schleppend voran?“, keuchte Ray vor Lachen. Er hatte mit seiner Vermutung Recht behalten. Die Bücher auf Sonjas Händen stapelten sich ihr hoch bis zur Nasenspitze, dass nur noch die mattblauen Augen und der gelbe Haarschopf darüber hinausragten. So wie es schien, musste sie mehr als die halbe Abteilung über Pokémonaufzucht leergeräumt haben. Der Rest befand sich allem Anschein nach in ihrem überquellenden Rucksack.
    „Du kannst sie doch nicht mehr alle haben; steh nicht so dumm rum, hilf ihr gefälligst. Jetzt hast du die Hände frei“, herrschte Eagle erst Sonja, dann Skip an, als der Raikouianerin bereits die ersten Bücher herunterpurzelten und ohrenbetäubend in dem leeren Gang widerhallten.


    * * *


    Wer in frühen Morgenstunden eine der sonst so raren, heißbegehrten Sitzmöglichkeiten in dem Wohnzimmerbereich eines der drei Schulhäuser füllte, der hatte entweder zu diesem Zeitpunkt schulfrei oder eine verdammt gute Ausrede auf Lager; meist eine leicht tropfende Nase, gepaart mit chronischer Unlust und ansteckender Müdigkeit, auch bekannt als Null-Bock-Syndrom. An diesem Dienstagmorgen war es im Raikou-Schulhaus vergleichsweise voll und dementsprechend laut ging es zu. Die Besetzer der Sessel, Sofas und Stühle gehörten ausnahmslos der Grundstufe an. Faul in den Tag hinein leben, lethargisch auf einem der beiden u-förmig verlaufenden Sofas räkeln und dabei desinteressiert auf die Mattscheibe des von der Decke hängenden Fernsehers glotzen, in dem gerade das Frühstücksfernsehen den jüngsten Promi-Klatsch breittrat. Andere lasen Magazine oder Comics (die neusten Abenteuer von Feurigel-Nimmersatt), wenige auch die Zeitung (heute auf Seite 3: Abfallkrimi im Johto-Nationalpark: Polizei tappt über mysteriöses Mülltonnenverschwinden weiterhin im Dunkeln) oder aber vertrieben sich die Zeit mit einem geselligen Brettspiel. Dann gab es noch die Minderheit, die ihre Freizeit zur Aufarbeitung und Vorbereitung anstehender Schulprojekte nutzten und dabei unbeabsichtigt vorwurfsvolle Blicke magnetisch anzogen.
    „Du bist dran, Sonja! Jetzt wirf schon!“
    „Huch! Ja, Moment.“ Sein heller Klang begleitete das Kullern des zwanzigseitigen Würfel über den Tisch. Noch einmal kippte er schwach nach vorne, dann wies er die Zahl sieben aus. „Sieben“, sagte Sonja.
    Skip, Spielleiter und gleichzeitig auch selbst Teilnehmer der Partie, las in dem Handlungsbogen: „Bei der Expedition der Ruinen bist du unachtsam und stolperst. Du rückst ein Feld vor. Den nächsten Kampf bestreitest du mit 5 Lebenspunkten weniger und dein nächster Angriff verursacht 3 Lebenspunkte weniger Schaden.“ Er notierte sich dies. „Jetzt bin ich wieder dran.“
    Sonja nahm kaum davon Kenntnis, wie Skips Würfel über den Tisch hüpfte. Kaum hatte sie ihre Spielfigur ein mageres Feld nach vorne geschoben, flüchtete sie sich wieder in eines der an diesem Morgen ausgeliehenen Lehrbücher. Alle thematisierten sie dasselbe Sachgebiet - natürlich ging es um die Aufzucht junger Pokémon. Von allen Kontinenten mochten die Autoren stammen, jung oder alt, schwarz oder weiß, Frau oder Mann. Letztendlich boten sie ihren Lesern doch recht identischen Informationsinhalt, schließlich konnten sie hieb- und stichfeste Gesetze der Natur nicht einfach neu schreiben. Es war wohl die Aufmachung der Buchumschläge, die die Wissenssuchenden dazu verleiteten, ausgerechnet dieses Buch den anderen vorzuziehen. Unspektakuläre Titel wie Kind und Kegel - Sie, Ihre Familie und Ihr Pokémon wurden trotz sorgfältiger Präsentation und Sachlichkeit des Lesestoffs gerne mal für den zerfledderten Einband mit dem verleiteten, in Goldbuchstaben gestanzten Titel Vom Ei zum Ligachampion unter den Tisch fallen gelassen. Sonja dagegen zog erstere Bücher vor. Schon seit über einer halben Stunde schmökerte sie fasziniert in Veronica Risbees Handbuch mit dem eher schlicht gehaltenen Titel Großer Zucht-Almanach. Dank seines Glückswurfes sammelte Skip derweil seinen Zauberbann-Buff ein. „Du bist dran. Streng dich an oder du rottest hier noch vor dich hin, lange nachdem ich den Boss erlegt habe und auf Stufe 8 aufsteige.“
    „Würfel her, und sag mir nicht, was ich zu tun habe! - Und du, komm mal endlich wieder klar!“ Ebenso gut hätte Eagle auch gegen eine Backsteinmauer sprechen können. Bei Staralili stießen die in Wut hinausgestoßenen Worte kein Gehör. Folgsam hatte sich das Vogel-Pokémon in dem Marsch fanatischer, bezirzter Weiber eingereiht. Ganz vorne: Zorua, einmal wieder von rostbraunen Fell ummantelt und mit einer diabolischen Grimasse auf dem Gesicht. Gleich dahinter das Original mit verträumt geöffneten Augen, wobei ihr leichter Sabber aus dem rechten Mundwinkel träufelte. Evolis buschiger Rute folgte die munter zwitschernde Staralili. Neas und Serinas Partnerinnen, Yorkleff und Eneco, die sich rein zufällig gerade zu diesem Zeitpunkt ebenfalls im Raum befunden hatten, als Zorua seinen Charme hatte spielen lassen, bildeten Nummer vier und fünf in der Reihe. Das Schlusslicht bildete Sheinux. Als einziger nicht von Zoruas heimtückischem Liebreiz beeinflusst, hatte er sich aus Spaß an der Freude freiwillig an die Fersen seiner Vorgängerinnen geheftet. Während Nea und Serina das Lustspiel von der Couch aus eher amüsiert verfolgten, litten die imaginären Gegner auf dem Spielbrett unter Eagles Wutausbrüchen. „Aktiviere Level 3 Blitzende-Klinge-Buff. Zusammen mit dem +9-Angriffsbonus könnte ich den Gegner gleich zweimal ausradieren. Overkill! Mach das erst einmal nach!“
    „Mach du besser endlich mal das Fenster zu! Hier zieht es wie Hechtsuppe. Reines Gift für unser Ei.“
    „Kann ich was dafür, dass Rays Kochkünste zum Himmel stinken? Wie Kartoffelpuffer nur so dermaßen abartig riechen kann, weiß ich auch nicht. Außerdem kriegen die da unten vielleicht so endlich wieder einen klaren Kopf. - Ich sagte, du sollst das lassen! Schnabel aus dem Ohr, aber dalli!“
    Schon seit Ray die Küche betreten hatte, polterten die Küchenutensilien nur so unnatürlich laut dahin. Seine bisher servierten Mahlzeiten gehörten nicht gerade zu den Höhepunkten gastronomischer Gaumenkitzel, schon gar nicht hatte er sich damit brüsten können. Und so wie das spritzende Fett nur wenige Zentimeter von der Zimmerdecke entfernt war, die Küchenabfälle gefährlich nahe bei dem Kartoffel-Teig-Gemisch lagen, die ersten Waffeln in der Mülltonne ihr verkohltes Dasein fristeten, ganz zu schweigen von dem penetranten Geruch, der in der Luft lag, war auch an diesem Tag kein blauer Streifen am wolkigen Horizont in Sichtweite.
    „Warum musstest du Zorua überhaupt wieder rauslassen?“, grollte Eagle. Gleichzeitig drückte er Sonja den Würfel wieder in die Hand.
    Geistesabwesend schreckte sie auf. Der daraufhin geworfene Würfel kullerte über den Tisch. „Habe ich doch gesagt: Die unmittelbare Anwesenweit weiterer Pokémon übt maßgeblich positiven Einfluss auf den ungeschlüpften Nachwuchs aus. Kannst es gerne nachlesen. - Eine neun.“
    „Verschon mich damit“, sagte Eagle.
    „Sonja, du bist ganz knapp an einer weiteren Oger-Begegnung vorbeigeschrammt. Ein plötzlicher, kalter Luftzug erlöscht den Schein deiner Fackel. Im Rausch übermäßigen Zwergenbierkonsums schenken dir die feiernden Oger keine Beachtung. Im Schutze der Dunkelheit gelingt es dir, dich klammheimlich an ihnen vorbeizustehlen. Rücke 3 Felder vor“, las Skip vor.
    Unterdessen Sonjas Figur noch tiefer in das Labyrinth vorstieß, überdeckte das Geräusch knallender Schranktüren sogar das Fettbrutzeln. „Habt ihr noch was zu knabbern? Da lagen vor ein paar Tagen noch Käsebällchen rum“, brülle Ray aus der Küche seinen Freunden zu.
    Schuldbewusst sank Sonjas Kopf zwischen ihre Schulterblätter. Mit gesenkter Stimme flüsterte sie: „Sagt es ihm nicht - Zorua hat sich gestern daran zu schaffen gemacht. Ratzeputz alle.“
    „Keine Ahnung“, logen Skip und Eagle aus einem Mund.
    Rays frustriertes Stöhnen folgte einer Reihe weiterer auf- und zugeschlagener Schranktüren. Fündig wurde er jedoch nicht.


    Mehr oder weniger ereignisreiche Runden folgten. Nach seiner anfänglichen Glückssträhne war ihm der Würfel nicht mehr wohlgesinnt, sodass Skip immer weiter zurück fiel. Eagle durfte seinen blutigen Pfad weiterer Massakers straffrei fortsetzen und machte zwei weitere Hausfrauen frühzeitig zu Witwen; sehr zu Lasten seiner Reserven, die durch diese Zwischenbegegnungen immer weiter aufgezehrt wurden.
    „Muss ich dir eigentlich die Bücher aus der Hand reißen oder würfelst du endlich?“
    „Ja, ja, ist ja gut.“
    „Du machst dir wieder wegen nichts oder wieder nichts einen Kopf, weißt du das eigentlich? Du hast doch Joy gestern gehört: Wir haben alles, was wir brauchen, längst intus.“ Die wiederholte Langsamkeit ihrer Spielzüge hatte Eagle veranlasst, einmal wieder seine Stimme in Zorn zu erheben. Vielleicht nagte aber auch nur die Furcht an ihm, dass Sonja - dank glücklichem Würfeln - ihn überholen könnte. Nicht ganz unbegründet, denn sein Vorsprung schrumpfte mit Sonjas nächster Handlung weiter dahin.
    „Da wäre ich mir nicht so sicher“, schüttelte Sonja den Kopf. Den Zucht-Almanach hatte sie zwischenzeitlich zur Seite gelegt; ein nicht weniger dickes Lehrbuch lag nun vor ihr. „Ihr habt es doch auch gemerkt, wie überrascht Mrs. Johnson war, als dieses Pokémon - Emolga oder so - durch das Fenster gerauscht ist. Was, wenn alle frisch geschlüpften Pokémon so flügge sind? Und wie sollte man sich dann verhalten? Darauf sollte man vorbereitet sein. Nur finde ich keine eindeutige Antwort darauf ...“ Missvergnügt schloss Sonja das Buch wieder, legte es zur Seite, griff sein ein neues von dem Stapel auf dem Boden und breitete es vor sich aus.
    „Darauf kann sogar ich dir eine Antwort geben. Und sie liegt sogar verdammt nahe“, sagte Skip. Er deutete auf die von Zorua angeführte Pokémon-Karawane. „Warum du zu dem Thema nichts findest, ist doch klar: Das Verhalten ist unvorhersehbar. Sie alle haben ihren eigenen Charakter, so wie du und ich. Evoli ist distanziert. Zorua dagegen eher frecher Natur. Ich wette, Zorua war schon immer so ein Schelm.“
    „Dein Mundgeruch ist scheinbar auch angeboren, Fischgesicht“, spottete Eagle. „Und Ray war schon immer so eine Knalltüte. Gerade darum haben wir seine Figur ja auch draußen in der hiesigen Irrenanstalt geparkt.“ Demonstrativ und hässlich grinsend hob er Rays bislang unangetastete Spielfigur von dem Startfeld in die Höhe, bevor er sie wieder dort hin platzierte.
    „Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Hast du dich eigentlich schon einmal morgens gerochen? Als ob du dir gerade mit einer Klobürste die Zähne geschrubbt hättest“, schallte Rays spitze Stimme aus der Küche heraus. „Klapsmühle, hm? Warum nicht? Vielleicht haben die ja was zum Essen.“
    „Manche Babys schreien mehr als andere. Andere lernen früher das Laufen. Warum sollte es bei Pokémon also anders sein?“, sagte Skip.
    „Du kommst mit Zorua klar und schaffst es gleichzeitig, diese Knalltüte in der Küche babyzusitten. Noch härter gesotten kannst du eigentlich gar nicht sein“, ergänzte Eagle.
    Müde seufzte Sonja auf. Ihre Bemühungen, eine Antwort schwarz auf weiß zu finden, blieben von den aufbauenden Worten ihrer Freunde nahezu unangetastet. Beiläufig erregte ein Schaubild in Horvaths Züchter-Einmaleins ihre Aufmerksamkeit, wo Bilder geschlüpfter Pokémon die Ähnlichkeit mit den jeweiligen Eiern erläuterten. Keines der dort abgebildeten Eiern besaß jedoch Ähnlichkeit mit ihrem oder dem von Eagle und Skip. „Was ist eigentlich mit euch? Zuversichtlich oder eher nervös?“
    „Wenn wir mit dem Kleinen am Freitag fertig sind, kann er gar nicht mehr anders als in einer Hängematte zu schlafen“, grinste Skip.
    „Beantwortet das deine Frage?“, schaute Eagle Sonja ernst an. „Ich weiß nicht, was mich nervöser macht: Mama-Knalltüte oder was auch immer da morgen schlüpfen soll.“
    „Ich dachte, ich sei die Knalltüte?“
    „Der Würfel hat dich von der Knalltüte zum Freak aufgelevelt. Ab sofort also nur noch Freak, du Freak“, polterte Eagle über die Schulter Richtung Küche. Kurz stand er auf und öffnete - zum großen Protest der anderen - ein weiteres Fenster. Rays jüngste Versuche, etwas Essbares herzustellen, hatten in Form weißen Rauchs die Küche mittlerweile völlig verschluckt. Die ersten Schwaden waberten bereits in den Wohnzimmerbereich.
    „Ist ja ziemlich klein “, merkte Sonja nebenbei an. „Ich glaube, ihr habt so ziemlich das kleinste Ei. Und ... äh, schon gut ...“ Als sie Eagles teils beleidigten, teils angriffslustigen Blick auffing, widmete sich Sonja wieder Horvaths Ausfertigungen. Zwischenzeitlich war sie wieder mit dem Würfeln an der Reihe.
    „Wow! Jackpott! Ein missglückter Zauber reißt ein Loch in die feuchte Granitwand. Dir öffnet sich ein Pfad, der dich zum nächsten Spieler vorrücken lässt. Falls du der am weitesten vorangeschrittene Spieler bist, so befreit dein Zauber stattdessen einen Level 7 Höhlentroll.
    „Mein Weg pflastert Leichen und sie sprengt sich einfach durch die nächstbeste Wand ...“, grollte Eagle. Seine und Sonjas Figur waren nun gleichauf, mit ein wenig Rückstand auf Skip.
    „Sonja jagt Sachen in die Luft?“, rief Ray ungläubig. „Hat meine Figur das gesehen?“
    „Nein, verdammt! Du parkst immer noch in der Irrenanstalt, schon vergessen?“, brüllte Eagle zurück, wobei er nicht wusste, ob ihn Ray überhaupt gehört hatte. Nachdem was in der Küche vorging, mussten sich die Niagarafälle neuerdings dort befinden.
    „Rollenspiel! Rollenspiel!“, jubelte der Suicune.
    „Vergiss es!“
    „Och, ich finde das eigentlich sogar recht niedlich“, kicherte Sonja. Ein leichtes Erröten überdeckte ihre farblosen Wangen. Zum ersten Mal seit Spielbeginn schenkte sie den Figuren mehr Aufmerksamkeit als ihrem Schmöker.
    „Rollenspiel! Rollenspiel!“, wiederholte Skip.
    Der Saum ihres zartblauen Umhangs streifte sanft die letzten Auswüchse zerstörten Mauerwerks, als Sylvana Silberlocke dem Maul der lüsternen Schatten entstieg. Der Griff um ihren weißen Elfenbeinstab verhärtete sich - sie war nicht allein. Aus seinem fahlen, unergründlichen Gesicht blickte ein Mann in schwarzer Robe ihr entgegen. Unerschrocken trat ihm die Halb-Elfin entgegen. ,Sagt an: Wer seid Ihr und nach was verlangt es Euch?’, fragte Sylvana den Fremden nach dessen Gesinnung.
    „Ich heiße Eagle, der Witwenmacher. Und wer ist dein Schneider, du Gnom?“
    „Halb-Elfin!“, beschwerte sich Sonja so erbost wie laut.
    „Der hätte von mir sein können.“ Kauend und in der Hand ein verstümmeltes Etwas haltend, das vage Ähnlichkeit mit einer Kartoffelwaffel besaß, war Ray an den Tisch seiner Freunde getreten. Ausnahmslos jeder musterte das Werk in seinen fettigen Händen mit äußerster Vorsicht. Sich überreden lassen, davon zu kosten, wollte niemand. „Kann ich jetzt mitspielen?“
    „Bring erst einmal die Küche wieder auf Vordermann“, forderte Eagle, „und wasch dir deine fettigen Finger! Dann reden wir weiter.“
    „Das kann ich gleich in einem Rutsch“, schulterzuckte Ray. Sonst rührte er keine Finger.
    „Also?“, hakte Eagle grimmig nach.
    „Das mit der Küche ist bereits erledigt. Der Rest kommt von alleine. Wir haben nämlich keine Küche mehr - ab sofort haben wir ein neues Badezimmer.“
    „Bist du bekloppt?! Dreh das Wasser ab!“

  • Part 3: Kuck mal, wer da schlüpft!


    Länger als es sonst üblich war, machten die Grundstüfler die Dienstagnacht zum Tag. Aus exzentrischer Sicht konnte man behaupten, sie feierten ihren Abschied, die letzten Stunden in Freiheit. Denn schon morgen sollte Schluss mit lustig sein. Fortan - oder zumindest bis zum Rest der Woche - sollte die Ära schlafloser Nächte und warmer Fläschchen angebrochen sein. Noch als endlich der letzte Kampfwille und das letzte Licht erlosch, gingen die sinnflutartigen Regenfälle jenseits der verschlossenen Fenster unverhindert weiter und klangen erst bei dem Einbruch eines trüben, kalten und windigen Mittwochmorgen ab. Die Uhr schlug 9:00 Uhr - richtig hell wollte es einfach nicht werden. Bis zur allerletzten Sekunde weigerte sich Ray, seiner warmen, kuscheligen Decke zu entsagen. Die Aussicht auf ein üppiges Frühstück allein reichte als Anreiz nicht aus. Erst als Skip - er hatte die vergangene Nacht auf seiner Isomatte in dem Zimmer seiner Klassenkameraden bequem gemacht, sehr zur Verdrossenheit des Letzteren - androhte, Ray kübelweise kaltes Wasser überzuschütten, streckte der Langschläfer endgültig die Waffen und quälte sich geschlagen aus den Federn. Elender und mitleiderregender schauten nur Sonja samt ihrer Stubenkameradinnen aus ihren stark verkrusteten, ausgehöhlten Augen drein. Zwischen den beiden vergangenen Schlafperioden hatten sich Lindsay und deren Partnerin Elli abwechselnd um ihr gemeinsames Ei gekümmert. Und genau in der Nacht, Dienstag auf Mittwoch, war es dann soweit gewesen: Punkt 1:52 Uhr entschlüpfte ihrem Ei ein aufgeweckter, quicklebendiger, kleiner Racker, der mit seiner Ruhelosigkeit die Damen die restliche Nacht über wachgehalten hatte. So nüchtern und neutral berichteten sie es jedenfalls ihren Klassenkameraden am nächsten Morgen. Darüber, dass fast drei Meter Tapete den nur schwer zu bändigenden Krallen des verspielten Pokémons zum Opfer gefallen waren, verloren sie kein Wort; zumindest, bis sich Sonja endlich breitschlagen ließ.
    „Wenigstens riecht eure Bude jetzt nicht nach einer fischigen Suicune-Trantüte.“ Von der schwarzen Couch löste sich ein knarzendes Geräusch. Nachdem Sonja ihre Geschichte über die Ereignisse der vergangenen Nacht beendet hatte, hatte sich Eagle desinteressiert abgewandt. Noch ging es im Raikou-Wohnbereich deutlich geruhsamer zu als es am vergangenen Tag der Fall gewesen war. Keine Pokémon, die sich im Raum tummelten, kein Lärm quoll aus der mittlerweile wieder trocken gelegten Küche hervor. Neben Ray, Skip, Eagle und Sonja befanden sich noch drei weitere Raikou-Grundstüfler im Raum wie auch die Wettertante vom zweiten Kanal, deren affektiertes Lächeln die von ihr prophezeiten Tage schlechten Wetters Lügen strafte.
    „Und ich dachte, du machst Witze, als du gesagt hast, du willst bei den Jungs übernachten“, sagte Sonja beeindruckt. Das tat sie nicht ohne Grund, denn die meisten legten einen großen Bogen um Rays und Eagles Zimmer ein. Dieser Verruf war einerseits dem aufbrausenden, muffeligen Gemüt und andererseits dem exzentrischen Musikgeschmack der beiden Bewohner geschuldet.
    „Es hätte bei uns ebenso ausgehen können wie bei Linsey. Ist doch klar, dass ich dabei sein will, wenn es soweit ist. Wer weiß, wann man so etwas das nächste Mal sieht. Außerdem ...“ So abwägend wie Skip in Eagles Richtung schaute, bedurfte es keiner weiteren Worte mehr. Es lag kein Misstrauen darin, dennoch war offensichtlich, dass er Eagle nicht mit dem frisch geschlüpften Pokémon allein lassen wollte.
    „Ich hätte das Kleine schon nicht gefressen“, brummte Eagle, der alles mitgehört hatte.
    „Aber ich vielleicht“, grinste Ray. „Nachdem mir schon jemand Dianas Käsebällchen weggeschnappt hat, bevor ich es konnte.“
    Sonja schaute betroffen zur Seite. Sie sagte nichts.
    „Was ist jetzt mit den Strohhalmen, Ray? Hast du sie?“, fragte Eagle.
    „Jap!“
    „Ich finde immer noch, das ist eine Schnapsidee ...“, maulte Sonja.
    „Wenn du ’nen besseren Vorschlag hast, dann raus damit! Ansonsten hinsetzen, Strohhalm ziehen und fertig!“
    Irgendwie mussten sie das Unmögliche möglich machen; das Privatleben und ihre pädagogische Verantwortung unter einen Hut bringen. Wohl oder übel diktierte die Vernunft, Abstriche im Privatleben in Kauf zu nehmen, als dass man ein lebendes, atmendes Geschöpf aufgrund trivialer Dinge vernachlässigte. Noch bestand der Zustand des Ungleichgewichts nicht. Doch konnte und würde er aus heiteren Himmel über sie hereinbrechen; wahrscheinlich gerade dann, wenn man am allerwenigsten damit rechnete. Und um gewappnet zu sein, dass eben dieser Augenblick sie nicht gerade beim Schlangestehen in der Schulkantine kalt erwischen würde, mussten Präventivmaßnahmen ergriffen werden. Es war einfach: Ein Elternteil hielt die Stellung, während der andere Elternteil sich um die Vorratshaltung kümmerte - babysitten und einkaufen gehen sozusagen. Das Los sollte darüber entscheiden, besser gesagt Strohhalme. Es auszuknobeln, war nicht aus ihrem eigenen Mist gewachsen. Tatsächlich hatte es sich Eagle von Jake Foley abgekupfert und so die die Entscheidung für seine Freunde abgenommen, ob diese dem nun zustimmten oder auch nicht. Ray hielt die Strohhalme in seiner Hand. Erst Eagle, dann Skip, zögerlich und mit deutlichem Unbehagen über dieser Vorgehensweise griff dann auch Sonja zu. Einer nach dem anderen öffnete die Handfläche und präsentierte so sein Los. Ray hatte einen langen Strohhalm. Auch Skip. Sonjas Strohhalm war ebenfalls lang. Und Eagles ... auch.
    Sie sahen einander reichlich verdutzt an, ohne dass jemand etwas sagte. „Wieso vier lange? Da muss ein kurzer dabei sein“, schnaubte Eagle Ray an.
    „Ach so? So haben wir das aber daheim nie gespielt.“
    „Sonst ergibt es doch kein Sinn, Weichbirne! Einer muss verlieren. Eben halt der, mit dem kurzen Strohhalm.“
    „Gerade deshalb. Bei uns daheim verliert niemand gerne. Deshalb waren immer alle gleich lang.“
    „Wie kann man nur so gehirnamputiert sein? Strohhalme her!“
    Statt dass er Ray einen Kopf kürzer machte, stutzte Eagle einen Strohhalm zurecht. Bei dem zweiten Versuch war er es, der die vier Strohhalme in der geschlossenen Faust seinen Freunden hin hielt. Der Reihe nach zogen sie. Ray und Skip langten freimütig zu, dann kam Sonja, der verbliebene gehörte Eagle. Vier Fäuste wurden geöffnet. Drei lange, ein kurzer.
    „Na-hein! Das ist nicht fair!“
    Mit einem Schlag war die letzte Morgenmüdigkeit verflogen. Sonjas letztes Wort zu dem eben über sie verhängten Urteil erregte selbst die Aufmerksamkeit der anderen Raikous im Raum, die sich unlängst mit dem Richterspruch ihres eigenen Strohhalms abgefunden hatten und jetzt interessiert zu der Verurteilten schauten. Geknickt sank Sonja neben Eagle auf die Couch. Aus ihrem leeren, ausdruckslosen Gesicht starrte sie geradewegs ins Nichts. Wo sie doch so viel Hingabe aufgebracht und so viel Schweiß vergossen hatte ... Ausgerechnet sie sollte jetzt ihren so sorgfältig gehüteten Augapfel aus dem Blick verlieren? Ausgerechnet heute? Das Schicksal besaß einen Sinn für Ironie; mit nichts weniger vergleichbar als ein Tritt geradewegs Mitten in den Schritt.
    „Jetzt sei mal nicht so ein Weichspüler. Einen musste es eben treffen. Du besorgst die Fressalien und kommst hierher zurück. Zwanzig Minuten. Fünfzehn, wenn du dich beeilst.“
    „Ich hab es genau gewusst, dass es mich trifft ... Es konnte gar nicht anders sein ...“, sagte Sonja. Unter ihrer tonlosen Stimme bewegten sich ihre Lippen kaum.
    „Was ist jetzt? Die müssten jeden Moment die Mensa öffnen“, bohrte Eagle weiter.
    „Ist ja gut verdammt! Ich mach es ja!“ Erregt riss sich Sonja mit einem derartig gewaltigen Ruck in die Höhe, dass die Couch erbebte. Ihr plötzlich zitternder Mund formte einen dünnen Strich, vergleichbar mit dem, wenn Professor Cenra jemanden maßregelte.
    „Ein Glück! Ich dachte schon, ich müsste verhungern. Also, ich nehme ... öhm, ja ...“
    „Ich brauche etwas zum Schreiben ...“
    Die ihr auferlegte Rolle stand Sonja nur schlecht. Als sie nacheinander die Herzenswünsche ihrer Freunde notierte („Ich will einen Vanillekrapfen! Nein, besser gleich zwei!“) suchte man das übliche Lächeln, mit dem der Kellner seinen Gästen Aufwartung machte, vergeblich. Es stellte sich als deutlich zeitintensiver heraus als es üblich der Fall war. Die sich rasch leerenden Körbe und Behälter mit den besonders begehrten Leckerbissen, die zappeligen, nicht weniger hungrigen Nachfolger sowie die sich heranschleichende, nächste Unterrichtsstunde sorgten in der stark bevölkerten Mensa für die notwendige Motivation, nicht lange zu trödeln, sondern zuzugreifen. Diesem Druck war man jedoch hier, abseits des Gedrängels und des Lärms, nicht ausgesetzt, sodass man diesen Spielraum ausgiebig nutzte. Erst als Sonja irgendwann bissig fragte, ob sie noch einen Klecks Du-kannst-mich-mal zu ihrer bereits üppigen Bestellung haben wollten, waren sich die drei Jungs einig, die Gutherzigkeit ihrer sonst so reservierten Freundin genug geschröpft zu haben. Dann, als Sonja schon auf halbem Wege draußen war, drehte sie sich noch einmal Ray zu.
    „Mir kommt da noch was, Ray. Bitte schotte dich etwas von der Allgemeinheit ab. Das hatte ich ohnehin heute mit dir vor.“
    Ray runzelte die Stirn. „Häh? Warum?“
    „Weil es Professor Joy am Montag gesagt hat.“ Das abschließende, fast ausgesprochene „Schon vergessen“ hielt sie im letzten Moment zurück.
    „Und was soll ich so lange machen? Däumchen drehen?“
    „Mach, was du willst, aber alleine.“
    „Das ist aber langweilig.“
    „Es soll aber ruhig sein, wenn das Kleine schlüpft - was hoffentlich nicht gerade dann der Fall ist, wenn ich nicht da bin.“
    „Und wenn bei den anderen etwas schlüpft? Da will ich dabei sein ...“
    „Das Kleine soll sich nicht erschrecken.“
    „Ich pass schon auf.“
    „Der Übergang soll sanft sein.“
    „Wir seine keine zehn Leute im Raum, das passt schon.“
    „Immer noch zu viele.“
    „Du übertreibst.“
    „Ich übertreibe nicht!“
    „Etwas Stimmung ist schon nicht zu wild.“
    „Tu es einfach, in drei Teufels Namen!“
    Ihr letzter Ausbruch aufgestauter Wut hatte etwas Endgültiges, vor dem sogar Ray die Waffen streckte. „Also gut ...“, gab er resignierend nach. „Nur ich, das Ei und Sheinux. Das vereinsame ich noch.“
    Sonja schürzte ihre Lippen. Kurz zögerte sie. „Okay“, beugte auch sie sich schließlich.
    „Es nieselt nicht mehr“, merkte Skip beiläufig an; ein Hinweis darauf, dass ein günstiger Zeitpunkt zum Aufbrechen gekommen war.
    Erst als sie die Gewissheit hatte, dass Ray tatsächlich den ausgehandelten Kompromiss Folge leistete und auf seinem Zimmer verschwand, kehrte Sonja auch Skip und Eagle mit den Worten „Es ist deine Aufgabe, die erhaltene Rolle gut durchzuführen. Die Rolle auszuwählen kommt einem anderen zu“ den Rücken zu.



    * * *



    Sein Quartier fand Ray so vor wie er es verlassen hatte: Die beiden Jungenbetten waren verwühlt, die zwei gestern von Ray getragenen Socken lagen noch immer achtlos vor seinem Bett, aus der ein Stück weit geöffneten Schranktür lugte ein schwarzer Hemdärmel hervor. Nur die eben flüchtig geöffnete Tür durchbohrte kurzzeitig den frühmorgentlichen Mief im Raum. Vergeblich suchte ein Windhauch einen Spalt durch das geschlossene Fenster, hinter dem der nur kurz abgeklungene Nieselregen wieder eingesetzt hatte.
    Ein-, zweimal am Laken gezupft, eine flüchtige Handbewegung - das Bett war gemacht. Ohne jede Leidenschaft ließ sich Ray auf die Kante nieder. Sein Blick auf das Ei in den Händen gerichtet, versank er kurzzeitig in Gedanken. Er mochte sie nicht, diese Stille. Abgeschieden von seinen Freunden. Keine Stimmung. Kein Fun. Das Gesicht des Teenagers verfinsterte sich bei den Gedanken, wo er jetzt sein könnte und was er dort machen könnte, wenn nur nicht ... Rays tiefes Seufzen erschütterte den Frieden im Raum, der bislang nur von dem Ächzen kurzzeitig unterbrochen worden war. Was half es? Inzwischen steckte er schon viel zu tief in der Affäre, als dass er seine Lage irgendwie noch zu seinen Gunsten ändern konnte, gleichgültig wie sehr er sich auch darüber den Kopf zerbrach. Außerdem musste er ohnehin nur so lange ausharren, bis Sonja ihm diese Bürde wieder abnahm. Richtig. Und später, wenn der große Zeitpunkt dann endlich kommen sollte, dieses mühselige Vorgeplänkel endlich vorbei sein würde, dann, ja dann ...
    „... dann bekommst du ein kleines Brüderchen oder Schwesterchen - das sehen wir denn, wenn es soweit ist. Auf jeden Fall machen wir dann eine Sause. Ist das was?“
    „Shuww!“
    Sheinux’ Elan war regelrecht ansteckend. Feuer und Flamme schlugen rasch auf Ray über, bis seine ursprüngliche schlechte Laune eingeäschert war. Was war schon dabei, ein wenig auf das Ei aufzupassen? Im Ausgleich durfte er im entscheidenden Moment in der ersten Reihe sitzen. Eigentlich ein Witz, dass er sich vor wenigen Minuten noch insgeheim gewünscht hatte, mit Sonja Platz tauschen zu dürfen. Bei dem Dreckswetter durch knöcheltiefe Pfützen zu stiefeln, den aufmüpfigen Wind im Gesicht zu spüren, in der Mensa Schlangestehen, den Weg zurück antreten ... Bah!
    Eine kräftige Böe rüttelte an dem kleinen Fenster. Buntes Herbstlaub klatschte dagegen oder sauste einfach daran vorbei. So verbissen der Wind auch Bemühungen anstrebte - einen Weg ins Gebäude-Innere fand er nicht, noch nicht einmal einen kleinen Spalt, durch den er sich hätte zwängen können. Der Boden knarrte hörbar auf, als sich Ray dem Fenster näherte. Beide Hände stützten sich auf dem Fensterbrett ab. Schier voller Abneigung spie das Wetter neugeborene Regenstropfen lieblos auf das durchsichtige Fensterglas. Schon kurz nach ihrer Geburt trat das Wasser seine Reise an. Ein steiler Lebensweg bergab. Mal begegnete es andere seiner Art, mal machte es einen weiten Bogen um altersschwachen Tropfen. Im Wettlauf gegen die Zeit schmiedeten einige von ihnen Bündnisse, wuchsen über sich selbst heraus, nahmen gewaltige Proportionen an, die es scheinbar mit der ganzen Welt hätten aufnehmen können. Unzählige Schlachten schlugen sie, bezwangen alle, die sich ihrer gewaltigen Macht entgegenzusetzen wagten, andere schlossen sich ihrer Sache freiwillig an, nur um letzten Endes das unweigerlich gleiche Schicksal zu erleiden wie ihre unbesiegbar geglaubten Vorgänger: über die Kante in den Tod zu stürzen. Eine sich endlos wiederholende Prozedur. Geburt. Leben. Tod.
    „Dreckswetter!“ Mit gerümpfter Nase verfolgte Ray eine Weile das Schauspiel. Die gute Laune, die er vor keiner Minute noch empfunden hatte, entglitt ihm wie Sand, der durch den Griff ausgestreckter Finger rieselte. Gewissensbisse - dafür war es jetzt reichlich spät. Wie Gentlemen hatte sich keiner von ihnen benommen, aber einer hatte sich eben aufopfern müssen. Dass es nun eben das schwächste Glied der Kette getroffen hatte, nämlich ausgerechnet Sonja, war eben nichts weiter als der Tyrannei eines unglücklichen Zufalls geschuldet. Das verstand sie hoffentlich ... oder nicht?
    „Sh-Ei! Ruwwf!“
    Verzagende Atemlosigkeit. Eine Schlinge schnürte sich um Rays Kehle, kälter und Knochen berstender als der strengste Winter es hätte bewerkstelligen können, bis ihm selbst jede einzelne Rippe wehtat. Das Augenlicht flatterte, als er nicht nur das plötzliche Taubheitsgefühl in seinen Beinen überwunden hatte, sondern auch endlich überhaupt den Mut gefunden hatte, sich Sheinux’ hysterisch klingender Stimme zuzuwenden. Im Würgegriff seiner Hilflosigkeit löste sich ein erstickendes Gurgeln in Höhe seines Kehlkopfes. Befürchtet hatte es Ray. Auf die Bestätigung hätte er aber gut und gern verzichten können; zumindest so lange, bis Sonja zurück war. Doch vorbereitet oder nicht, mit oder ohne zweiten Elternteil: es war soweit. Im Inneren des Eies ... rührte sich etwas.



    * * *



    Noch aus zehn Metern Entfernung konnte man deutlich die Worte „Richter und Henker“ von Sonjas regenbenetzten, bibbernden Lippen ablesen. Obwohl der Weg geschottert war, fühle sie sich, als ob sie schwerfällig durch zentimetertiefen Schlick watete; der Sumpf ihres Selbstmitleids, wie eine gemeine Stimme in ihrem Kopf ihr einzureden versuchte. Vielleicht hatte aber auch eine von Eagles Kugeln ihr den anfälligen Knöchel zertrümmert; so lange hatte er schließlich blindwütig um sich geschossen, bis eine seiner verbalen Schrotkugeln endlich ein Ziel gefunden hatten. War es die Enttäuschung über den Mangel an Rückendeckung, die das Mädchen zum Erlahmen brachte? Oder machte ihr schlichtweg das wüste Wetter einfach nur zu schaffen? Womöglich auch alles gemeinsam. Was es aber auch war - die sonst so mühelose Wanderung zur Schule zehrte massiv an Körper und Geist.
    Die lange Brücke lag inzwischen hinter Sonja. Auf der unfreiwillig angetretenen Odyssee hatte bislang niemand ihren Weg gekreuzt, was ihrer schlechten Laune nicht gerade positiv entgegengewirkt hatte. Das u-förmige Schulhaus türmte sich immer weiter vor ihr auf und gewann zunehmend an Größe. Der sonst so imposante Anblick verschwamm dieser Tage jedoch in dem trüben, dunstigen Herbstwetter. Das ging fast sogar so weit, dass man nur noch nach steil emporragende Zinnen, Fratzen schneidende Wasserspeier und am Himmel zuckende Blitze Ausschau hielt, um die Illusion eines gottverlassenen Spukschlosses zu vervollständigen. Erschöpft stöhnte Sonja leise auf. Nicht, dass sie von irgendwo her tröstende Worte erwartet hätte. Nein. Auch wenn es vielleicht einen anderen Eindruck erweckte, hatte sie sich wirklich beeilt. So unwahrscheinlich es auch war, dass ihr baldiges Pflegekind ausgerechnet jetzt das Licht der Welt erblicken könnte, fern der mütterlichen Fürsorge und Obhut ... diese tief sitzende Sorge hatte Sonjas Schritte mit Eile beseelt.
    „Fast geschafft ...“ Noch nie zuvor hegten die wenigen Treppenstufen einen solchen Groll. Das Gewicht zentnerschwerer Steine, in denen Sonja glaubte, ihre Füße müssten darin einbetoniert worden sein, machten den Aufstieg zu einer endlosen Qual; Wind und Wetter erleichterten das Emporkommen auch nicht gerade. Und dennoch war sie, nun, da sie den halben Weg fast gemeistert hatte, voller Zuversicht. Sonja ahnte nicht, dass jenes Ereignis, das ihr überhaupt die Kraft gab, diese Tortouren zu meistern, gerade im Begriff war, hereinzubrechen.



    * * *



    Das Schauspiel glich dem des vergangenen Montags. Der einzige Unterschied bestand darin, dass das Kleine es nicht sonderlich eilig zu haben schien, seine Gefängnishülle zu durchbrechen. Anders als es bei Emolga der Fall gewesen war, das die Eierschale in kaum mehr als zehn Sekunden gesprengt hatte, rang das eben schlüpfende Pokémon nämlich bereits seit mehreren Minuten verbittert mit seinen Ketten. Einmal, so hatte es den Eindruck erweckt, hatte das Schlüpfende die Hoffnung wieder fallen gelassen, auf die Welt zu kommen, und seine Bemühungen gestoppt, nur um wenige Sekunden später den Kampf mit unverminderter Härte wieder aufzunehmen. Die halb offenen Münder beider Anwesenden hielten Einklang mit den ruckartigen Bewegungen des Eies. Seit Kampfbeginn waren weder Ray noch Sheinux von der Seite ihres Schützlings gewichen. Anfängliche Skepsis und Bedenken, dieser Sache möglicherweise nicht gewachsen zu sein, waren unlängst von beider unbändiger Neugierde abgelöst worden. Jetzt klebten die Nasen beinahe an den grauen Flecken des Eies. Stückchenweise lösten sich mittlerweile kleine Stellen der pastellfarbenen Hülle. Ein wirkliches Ende war bei diesem Tempo allerdings nicht in Sicht.
    „Was meinst du, kann man da vielleicht durchlinsen?“ Das eine Auge geschlossen, das andere bis zum Äußersten fokussiert, kam Ray dem Ei immer näher, berührte es schon fast. „Lug, lug.“
    Knack!
    „Hu-huch!“ So überrascht, dass ihm eine einzige Schweißperle von der Nasenspitze tropfte und im Stoff des Lakens versickerte, schreckte Ray ruckartig zurück. Ein Wirrwarr einer dünnen Linie bildete sich mit einem Mal auf der Schale. Erst kaum einen halben Finger weit, zog sich der Riss bald zickzackförmig von unten nach oben durch das vordere Gehäuse. Das erste münzgroße Stück Eierschale löste sich und gesellte sich zu seinen deutlich kleineren Vorgängern, die in kurzen Abständen zueinander auf der Bettdecke lagen. Mittlerweile knackte und schabte es an allen Enden und Ecken. Nichts konnte mehr das Wesen im Inneren bändigen. Für einen Sekundenbruchteil glaubte Ray, ein lavafarbenes Rot aus dem Inneren Aufblitzen zu sehen, bevor es wieder verschwand. Ein Auge?
    Zwei weitere Stückchen Schale, nicht weniger groß als das erste, bröckelten von der Hülle und fielen lautlos auf die Bettdecke - die Fanfare, die den Endspurt einleitete. Das, was noch von dem Ei übrig war, wurde verschluckte ein blendender, blassblauer Lichtschleier restlos.
    Als Ray und Sheinux nach knapp zehn Sekunden ihre Augen einen Spalt weit öffneten, war das Ei verschwunden ... und dafür ein neues Leben auf der Welt.

  • Part 4: Nestflüchter und Nesthocker


    „Halt es auf!“
    „Was meinst du, was ich hier gerade mache, Kaffeekränzchen oder was?!“ Wut und Schmerz befleckten den Ausdruck in seinem Gesicht, als sich Eagle vom Boden des Raikou-Wohnbereichs aufrappelte. Die schwachen Anzeichen eines blauen Flecks machten sich an seinem rechten Ellenbogen bemerkbar, genau dort, wo er vor wenigen Augenblicken unfreiwillig auf Konfrontationskurs mit der Tischplatte gegangen war. Frust und Zorn schürten die Hitze auf seiner Stirn und wetteiferten mit der anschwellenden Beule an seinem Arm nach Aufmerksamkeit. Aufeinander abstimmend kreisten er und Skip den Unruheherd ein.
    Ein Inferno hatte in der kurzen Zeit gewütet, die seit Sonjas Aufbruch verstrichen war. Der Raum, den sie arglos zurückgelassen hatte, stank nach Anarchie und Rebellion. Der Tisch, der etwa den Mittelpunkt des Raumes bildete, versprühte den Charme einer öffentlichen Toilette nach einer Chilli-Happy-Hour. Magazine, darunter die Ausgabe „Pokémon heute“, Kaugummipapierchen, kaputte Füllfederhalter, Kugelschreiber oder verkaute Bleistifte, zerknüllte Hausaufgabenmanuskripte und einige Knursp, einer Pokémon-Köstlichkeit. Das allerdings gehörte zum gängigen Alltag. Ungewöhnlich dagegen der Anblick kleiner und größerer Bruchstücke dazwischen, die vor Kurzem noch das von Eagle und Skip gehütete gelbe Ei mit den schwarzen Zacken geformt hatten. Das der harten Schale seines Gefängnis entronnene Pokémon befand sich inmitten alledem, dem Schmelztiegel jugendlicher Nachlässigkeit, welchen es größentechnisch kaum überragte. Das kleine Kerlchen war von possierlicher Statur. Zwei kurz geratene Beinchen stemmten den kleinen Körper kaum mehr als zwanzig Zentimeter in die Höhe. Über dem quasi nicht vorhandenen Hals glänzte ein Paar schwarzer Knopfaugen. Die pausbäckigen Wangen waren mit einem sanften Rosarot betupft, was den spitzbübischen Eindruck unmittelbar verstärkte. Nur an wenigen weiteren Stellen unterbrachen rußige Schwarztöne das sonst maisgelbe, glatte Fell, darunter der kaum vorhandene Kragen einer Fliege ähnlich, die spitzen, fast dreieckigen Ohren sowie der winzige, l-förmige Schwanz. Dafür, dass das kleine Kerlchen keine fünf Minuten alt war, besaß es mit der schwerwiegenden Verwüstung des Raikou-Wohnbereichs, Ruhestörung und dreisten Knursp-Diebstahl bereits ein beachtliches Strafregister, sehr zum Leidwesen der geplagten Leiheltern. Fast schon gleichgültig entgegnete der Unruhestifter mit den unschuldigen Augen die Drohgebärden des einen Menschen, auch der immer enger werdende Kreis, den die beiden felllosen Zweibeiner zogen, ließen ihn kalt. Noch nicht einmal zu Ende gekaut, fand sich ein weiterer Knursp in den winzigen Händchen des Pokémons wieder. Herausfordernd, so mochte man fast glauben, suchte es den direkten Augenkontakt mit den näher kommenden Eltern. Auf der Suche nach Grenzen, dem Punkt, wo der eigenen Gesetzlosigkeit endgültig einen Riegel vorgeschoben und wo man die bittere Strenge von Disziplin zu schmecken bekommen würde, lachte das schelmische Pokémon den Eltern mitten ins Gesicht. Erst dann stopfte es sich den Knursp in den Mund. Ein Spiel mochte das alles es für den kleinen Nestflüchter sein, er es in seiner kindlichen Unschuld einfach nicht besser wissen oder verstehen können. Doch das auch so schon angespannte Verhältnis welkte in dem Gift dieses einfachen Spiels rapide dahin. Aus Eagles von Rage getrübter Perspektive war es einfach nur dreist, ein Hohn. Kein Spiel. Öffentliche Demütigung, das war es. Diese Farce musste enden, auf der Stelle!
    Eagles rechte Schulter zuckte, eine weitere Warnung gab es nicht. Mit der Geschwindigkeit eines fahrenden Zuges raste Eagles zu Vogelklauen geformte Hand Richtung Tischmitte; eine Bewegung, der solche Kraft inne saß, dass sie Glas hätte zerschmettern können. Seine neckische Art bewahrend, sprang das Pokémon leichtfüßig über einige Magazine hinweg, wirbelte um die eigene Achse und setzte elegant und auch keinen Zentimeter zu weit vor der Tischkante auf, keinen halben Meter von Skip entfernt. Arglos schaute der Gejagte an dem Berg Mensch hinauf, der sich vor ihm auftürmte. Statt bestürzt darüber zu sein, dem Jäger direkt in die offenen Arme gelaufen zu sein, lachte das Pokémon dem Suicune mitten in dessen verdutztes Gesicht.
    „Glotz nicht so blöd, du Trantüte! Fang es ein!“
    Die Ohren des Pokémons zuckten alarmierend auf. Auch Skip erwachte aus dem Klammergriff seiner Fassungslosigkeit, zu langsam allerdings. Noch war er nicht völlig Herr seiner Glieder, schon war das Flüchtige wieder auf und davon, in unerreichbare Weite gerückt. Das Heulen von Eagles Wutausbruch dröhnte noch unangenehm in Skips Ohren, die Welle wüster Beschimpfungen kalt kribbelnd auf der Haut, als der Suicune bereits dem Fliehenden auf den Fersen war. Das Pokémon besaß einen knappen Vorsprung, den es allerdings rasch aufbaute. Obwohl es den Anschein erweckte, dass es den aufrechten Gang auf zwei Beinen bereits problemlos beherrschte, zog es zum schnellen Vorankommen den Einsatz aller viere vor. Wenig elegant dagegen stolperte Skip auf der Verfolgung zum zweiten Mal über dieselbe Teppichwölbung, Sessel und Stühle straften den Jäger mit aufdringlichen Hürden auf diesem Parcours. Wiederholt gab es Momente, bei denen Skip mehr und mehr aufschließen konnte. Im gleichen Augenblick bremste ein unglücklich gestelltes Mobiliar ihn dann aber wieder aus. Der Tisch, Ausgangspunkt der Verfolgung, kam nach einer abgeschlossenen Runde durch den Raum wieder näher. Intuitiv verlangsamte Skip sein Tempo. Eagle kam von der anderen Seite. Siegessicher baute er sich auf der anderen Seite auf, darauf wartend, im richtigen Moment zuzupacken, nämlich dann, wenn dir Gier auf weitere Knurspe das Pokémon dazu bewegen sollte, erneut den Tisch zu erklimmen. Skips Zögern blieb nicht lange unbemerkt. So wie die eigene Vorsicht in den Schritten des Suicunes Verrat übte, wurde auch das Junge langsamer. Frech schaute es über die Schulter, lachte dem Verfolger provozierend ins Gesicht - und verschwand unter dem Tisch.
    Wie Skip und Eagle begannen, auf den Knien um den Tisch zu rutschen und dramatisch gestikulierend das kichernde Pokémon darunter in die Richtung des anderen zu scheuchen, meinte am anderen Ende des Raumes einer der unbeteiligten Zaungäste, einen überflüssigen Witz reißen zu müssen. Ein folgeschwerer Fehler.
    „Ich glaub, mein Schwein pfeift! Bewegt eure stacheligen Ärsche, oder muss ich euch Ölgötzen erst auf die Füße treten?!“ So musste sich ein ausgewachsenes Drachen-Pokémon anhören, das man soeben um eine Mahlzeit betrogen hatte, nur dass aus dessen Rachen wohl Flammen geschlagen wären und nicht wie in Eagles Fall ein Sperrfeuer aus Speichel. Die Höchstleistung des amtierenden Rekordhalters der Celebi-High, der Spucklegende Eric Hill, sollte Eagle zwar an diesem Tag nicht brechen, jedoch konnte er die verbliebenen Raikous im Raum mobilisieren - wenn auch widerwillig. Kurze Zeit darauf war die geballte Schlagkraft von fünf Raikous und einem Suicune um den Tisch herum versammelt.
    „Meint ihr nicht, ihr übertreibt?“ Sonja sah sich außerstande, wie sie anders als mit dieser simplen Frage hätte reagieren sollen. Der Appetit war ihr schlagartig vergangen. Gerade hatte sie die verrammelte Türe wieder hinter sich geschlossen, als die Bilder von Chaos und Verwüstung ihre klaren, keine dreißig Minuten alten Erinnerungen an den halbwegs ordentlichen Wohnbereich regelrecht erschlugen. Das Pokémon unter dem Tisch verschränkte den Kopf, um den Neuankömmling besser in Augenschein nehmen zu können - und schnitt ihr sofort eine Grimasse. Wohl nicht böswillig, wie Sonja annahm, eher neckend. „Da habt ihr ja eine grauenhafte Bestie in die Ecke getrieben. Wirklich. Seht euch ja vor. Sie könnte euch zu Tode kitzeln.“
    „Spar dir die Gardinenpredigt!“ Mit einer ruppigen Handbewegung forderte Eagle Sonja an, die Lücke zwischen Jake Foley und Alexa Catterfield zu füllen.
    Mit einer selten gehässigen Maske auf dem Gesicht kehrte sie ihren Schulkameraden den Rücken zu und stolzierte wieder aus dem Raum. Die Papiertüte mit Backwaren ließ sie raschelnd in der Luft pendeln. „Mami muss Papi füttern gehen. Ihr könnt ja dann nachkommen“, rief sie über die Schulter und schlug die Tür mit tiefer Genugtuung hinter sich zu.



    * * *


    Der Welpe stand aufrecht auf zwei Beinen - das Krabbelalter hatte er einfach übersprungen. Auffällig hohe Gliedmaßen stemmten das Junge auf stattliche dreißig bis vierzig Zentimeter in die Höhe. Petrolfarbenes Fell kleidete Oberkörper, Arme, Kopf und den strammen Schwanz ein. Die unteren Extremitäten und die Schlappohren waren grau geraten, so auch die Färbung unmittelbar um die Augen herum bis zur Nasenspitze, was das Illusion eines kämpferischen Eindrucks erschuf. Zwischen dieser Maskierung spähten zwei blassorangefarbene Augen die kleine, heile Welt ab, in der man vor wenigen Minuten erwacht war; von Vorsicht ummantelt, aber auch von Neugierde, vor der es nur so strotzte. Bereits zum dritten Mal in kurzen Zeitabständen blieb dabei das Interesse an den einzig beiden anderen Anwesenden im Raum haften.
    „Hammer ... Das ist ... der Hammer.“
    Kein frischgebackenes Elternpaar der Welt konnte größeren Stolz empfinden als der, der gerade in Rays Brust zu übermäßiger Größe anschwoll. Urteilte man Sheinux’ kommentierenden Gesichtsausdruck richtig, empfand er nicht weniger als Ray neben ihm. Es war geschafft - neues Leben. Besser, als es nicht besser hätte laufen können. Keine Komplikationen, kein Geplärre, kein völlig überforderter Ehegatte kurz vor dem Ohnmachtsanfall, wie man es aus jeder schlechten Krankenhaus-Soap her kannte. Bislang hatte Ray keine weiteren Schritte unternommen. Zu sehr rang er mit der Entscheidung, wie nun am besten vorzugehen war. Gefühlte Stunden saß er nun bereits mit dem Gesicht zur Seite geneigt auf dem Bettrand, unfähig auch nur den kleinen Finger zu bewegen.
    Noch immer schaute sich das Kleine derweil um. Ruhig und regelmäßig drang der Atem dabei aus seinem vor Erstaunen halb geöffneten Mund. Die strammen Beine tasteten nun verstärkt den seltsam weichen Untergrund des Bettes ab, begleitet von den prüfenden Blicken. Wie die Matratze federte und immer wieder nachgab, die losen Eierschalenstücke vibrierten und sprangen. Verblüffend.
    „Öhm, hi auch. Alles ... alles klar und so?“
    Rays Mund war trocken, die Zunge dagegen buttrig weich, dass nur fremdartiges Lallen über die Lippen kommen wollte. Wie ein unbedarfter Schiffbrüchiger stolperte er nach einer endlosen Odyssee über dieses Neuland, so zumindest kam er sich vor. Eine vergleichbare Situation, an der er sich vielleicht hätte orientieren können, wollte ihm nicht in den Sinn kommen. Das Kennenlernen von Sheinux war ähnlich, und doch wieder grundverschieden, schließlich war diese Begegnung, von langer Hand geplant gewesen. So einmal es einem auch vorgekommen war, die Seelenverbundenheit war kein Teil einer schicksalhaften Fügung oder göttlichen Plans gewesen, sondern nichts weiter als das Ergebnis von Auswertungen von Persönlichkeitsprofilen und stinklangweiligen Diagrammen. Damals konnte einfach gar nichts schiefgehen. Gleich und Gleich gesellt sich gern, wie man eben so sagt. Das hier aber war anders. Ganz anders. Alles, wirklich alles konnte passieren. Und plötzlich trat es ein - das Wunder, an das Ray schon gar nicht mehr geglaubt hatte. Der brüchige Augenkontakt ging in eine unerwartete Geste über: Ohne den Anschein eines weiteren Zögerns sank der Welpe langsam auf die Knie, dann auf die Seite, bis er den Kopf auf Rays flache, auf dem Oberschenkel abgelegte Hand sachte bettete. Ein sanftes, warmes Glühen ging noch von den blassorangefarbenen Augen aus, voll von Vertrauen und Zufriedenheit, dann sperrten die sinkenden Augenlider die verbliebene Welt langsam aus.
    Das warme Kopffell streichelte sanft über Rays rechten Handrücken, von wo aus er deutlich das stetige Auf und Ab jedes Atemzugs spürte und den leisen Herzschlag, der sich, so glaubte er fast, nahtlos dem seinen anpasste. Rays stetig schneller werdender Puls begann bald zu rasen, bis die bald von lauter Erfurcht erfüllten Muskeln beinahe schon schmerzten. Seine Gedanken kreisten. Konnte er den nächsten Schritt wagen? Deutlich kräftiger als üblich atmete er aus. Die Entscheidung hatte man ihm doch ohnehin bereits abgenommen. Weiteres Zögern war im Grunde überflüssig. Behutsamkeit kontrollierte den langsamen Annäherungsversuch seiner freier Hand. Er realisierte, dass sie mehr und mehr zu zittern begann, je näher sie ihrem Ziel kam. Die letzten Zentimeter. Er schluckte so heftig den faustdicken Panik-Kloß in seinem Hals herunter, dass seine Augen tränten; entweder deshalb oder weil er seit mindestens einer Minute nicht mehr geblinzelt hatte. Ray rang noch mit Erstickungsgefühlen, als seine Hand zwischenzeitlich den Kopf des vor sich hinträumenden Pokémons erreicht hatte und diesen bereits vorsichtig tätschelte. Warme, befreiende Gefühle bis hin zu einem angenehmen Kribbeln in den Fingerspitzen lösten endgültig die letzte Unsicherheit ab. Auch Sheinux hatte zwischenzeitlich seine Hemmschwelle überwunden und seinen Posten endlich verwaist. Schnurrend wachte das Luchs-Pokémon nun an der Seite des Nachwuchses, kurzzeitig von einem Augenzwinkern in Rays Richtung unterbrochen.
    Noch bevor überhaupt die Zimmertürklinke nach unten gedrückt wurde, erschütterte Sheinux’ alarmierendes Ohrzucken und Schnurhaarvibrieren die friedvolle Szenerie. Auch das Neugeborene schreckte plötzlich nervös auf und verhärtete den bislang weichen Griff um das Handgelenk des Menschen. Es war mehr als nur eine Ahnung. Die sensiblen Pokémon-Sinne witterten etwas. Einen Eindringling, nur Sekundenbruchteile von dem Refugium der Geborgenheit entfernt. Die Türklinke ging. Jemand - allem Anschein nach in großer Eile - trat ein.


    „Nux-Nux!“
    „Was hat dich aufgehalten? Vor lauter Hunger musste ich mir schon haufenweise neue E-Mail-Konten anlegen und den Spam essen.“
    Die langen, blonden Haare brachten die Entwarnung. Als Sonja die Türschwelle passierte, glänzten noch vereinzelte Regentropfen auf dem leicht purpurroten Gesicht. Eine Papiertüte knisterte in der rechten Hand, ebenfalls von dunklen Regentropfen gezeichnet. Von der ursprünglichen Eile, mit der sie beinahe die Tür eingetreten hatte, war plötzlich nicht mehr viel übrig. Sie stand einfach nur noch da. Starr. Zwischen Tür und Angel.
    „Vor knapp zehn Minuten“, unterbrach Ray die unausgesprochenen Gedanken seiner Freundin. Es lag nahe, dass unendlich viele offene Fragen mit dem Türöffnen den Raum betreten hatten. Gleichgültig, mit welcher Information Ray zuerst rausrückte, daneben liegen konnte er kaum. Als von Sonjas Seite nichts weiter geschah - mit Ausnahme vielleicht einer sporadisch zuckenden Unterlippe -, fügte er vorsichtig hinzu: „Du bist mir jetzt aber nicht böse, oder?“
    Brüchig wie jahrhundertealtes Pergament klang die Antwort „Nein, natürlich nicht“ und ungefähr genau so trocken, dass Ray seine Frage im Nachhinein bereute.
    Hätte ich bloß nichts gesagt ...
    „Schon okay, ist ja alles irgendwie doch gut gegangen, ich meine, klar, ist es gut gegangen, warum auch nicht? Ist auch nicht deine Schuld, oder Malcoms ... Ähm, was ich sagen will ...“ Sonja hatte sich ungefähr so in ihrem Satz verhakt wie ihre Finger, die sich nach einer ursprünglich kurz geplanten Handbewegung in dem nassen Blondschopf verfangen hatten. „Früher oder später musste es halt passieren. Dumm eben, dass ich es verpasst habe. Was solls ...“
    Ray fand, dass es ungefähr so ehrlich klang wie zufriedenstellend war. Für den Augenblick aber konnte er sich zumindest damit glücklich schätzen, dass Sonja doch nicht an die Decke gegangen war. Ein schneller Themenwechsel war angesagt. Und der Anlass hätte können kein besserer sein.
    „Schau dir unseren Wonneproppen an“, verkündete er stolz. „Ich hab sogar schon ein paar Namen - natürlich nur Vorschläge. Was hältst du von Magneto? Oder Wolverine? Oder einfach nur so etwas Langweiliges wie Scott?“ Beim letzten Namen verzog er unnatürlich den Mund nach unten. Es amüsierte ihn ungemein, da der Klang seinem künstlichen Übergeben unglaublich ähnelte; seine Allzweckwaffe, um langweilige Schultage bereits im Keim zu ersticken. Auch Sheinux gluckste. Bloß das Neugeborene blieb von der überraschenden Heiterkeit völlig unbeeindruckt. Seine Aufmerksamkeit ruhte ganz auf dem Neuankömmling mit der blonden Haarpracht. Doch es war irgendwie anders als das Interesse, mit dem der Raum und dessen Bewohner vorher abgeschätzt worden waren. Es war deutlich misstrauischer.
    „Schön langsam, Namingway. Er könnte auch eine Sie sein.“ Neugierde obsiegte schließlich doch gegenüber der bereits viel zu lang angehaltenen Wut, sodass sich Sonja endlich von der Tür loseisen konnte. Zu sehr schmeichelte das auffallend petrolfarbene Fell den Augen der Schülerin, als dass sie es noch länger ignorieren konnte. Die Tür fiel in ihre Angeln; etwas lauter als sonst, was wahrscheinlich der Aufregung geschuldet war. Ray verzog das Gesicht, diesmal vor Schmerz. Er sah hinab, wollte die Handfläche betrachten, die bisweilen als Kopfkissen für das junge Pokémon hergehalten hatte. Viel bekam er davon nicht zu Gesicht. Das Pokémon verdeckte sie nun völlig, bebend vor Furcht, wimmernd, mit dem Gesicht voraus und somit mit der stumpfen aber stumpfen, aber kräftigen Nasenspitze. Der Beginn von Taubheit machte sich bereits in dem Gelenk bemerkbar. Verunsichert tätschelte Ray mit seiner freien Hand den Kopf des Pokémons.
    „Sieht so aus, als ob er oder sie Angst hätte.“
    Sonja, auf halbem Weg zur Salzsäule erstarrt, machte ein erstickendes Geräusch. „A-Angst?“ Eine halbe Schweigeminute setzte ein, in der sich an der Ausgangssituation jedoch nichts änderte. Ray erwiderte Sonjas entsetzten Gesichtsausdruck ratlos. „Das ist doch Quatsch ...“, meinte Sonja, wobei ihre Stimme ähnlich zitterte wie der Leib des Pokémons, dem sie wieder näher rückte, diesmal noch deutlich behutsamer als zu Beginn. „Das - das haben wir gleich.“
    Als das Mädchen ihr Ziel erreichte, glich das Bett einem Epizentrum. Ein letztes Mal knisterte die Papiertüte noch, dann platzierte Sonja diese auf dem Nachttisch. Das Geräusch nächst zu dem ängstlichen Wesen musste ihm wie ein Paukenschlag vorkommen. So ähnlich jedenfalls erbebte es plötzlich. Ray wusste nicht weiter. Er sah zu Sonja auf, zuckte die Schulter. Ein letztes Mal noch tauschten die Freunde verunsichert Blicke, dann ließ er mit seiner freien Hand von dem Kopffell ab. Sonja nahm neben Ray Platz, wollte es ihm gleichtun. Es bestand kein nennenswerter Unterschied zwischen der zitternden Menschenhand und dem Schopf, den diese vorsichtig anpeilte.
    „Iiek!“
    Eine blaue Pfote zischte heran und schüttelte Sonjas Hand ab, noch ehe diese auch nur ansatzweise das Fell berührte.


    Wer von den Beiden in diesem Augenblick mehr Angst hegte, das kauernde Pokémon oder aber das ängstlich aufgesprungene Menschenmädchen, blieb offen. Was Sonja zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnte, war, dass diesem Versuch noch etliche weitere folgen sollten - jeder mit dem gleichen Resultat.

  • Part 5: Sag mir, wie du heißt ...

    Sonjas Gesicht lag in nachdenklichen Falten gehüllt. Eine Hand stützte die rechte Stirnhälfte, mit der andern hielt sie eine Buchseite fest in der Mangel. Die Schülerin sog die Bibliotheksluft ein - eine strenge Note. Papier, Staub und Unmengen Wissen; zu viel, als dass es jemals in dem Kopf eines Sterblichen Platz hätte finden können. Es war still. Keine Musik, kaum Geräusche, höchstens das Rascheln von Papier. Nur selten erhob einer der anwesenden Besucher die Stimme zu einem gedämpften Flüstern. Ein guter Ort zum Nachdenken. Oder zum Langweilen. Je nachdem, aus welcher Perspektive man es eben betrachtete. Über die Jahrzehnte hinweg angehäuftes Wissen lagerte in schmalen Korridoren, kaum mehr als zwei Meter breit. Regale so hoch wie üblicherweise eine Zimmerdecke begann, in schnurgeraden Linien angeordnet. Jedes denkbare Wissengebiet wurde abgedeckt, insbesondere natürlich Fachliteratur zu allen Themen, die auf dem Lehrplan standen. Schwere Kost von topaktuell bis hin zu lange hinfällig; eine Säuberung war leider lange angebracht. Stammgäste der Bibliothek beherrschten die Faustregel blind: Je abgegriffelter und zerfetzter der Schmöker, desto höher das Risiko zur Unzuverlässigkeit. Speziell im Bezug auf alles, was mit Pokémon in Verbindung stand, konnte man sich auf diese These meist verlassen. Studien kommen und gehen - das war schon immer so. Und gerade in Sachen Pokémon neigten die Menschen ganz besonders dazu, vor fünf Minuten Gesagtes zu revidieren oder sogar gänzlich zu widerrufen. Eben erst Gelerntes konnte vom einen auf den anderen Augenblick reif für einen Trip ins Seniorenheim ohne Rückfahrkarte sein. Pokémon waren eben etwas komplexer als eine mathematische Gleichung oder die Naturgesetze, die man drehen und wenden konnte, wie man wollte, und doch keine Änderung am Endergebnis zuließen. Sonja seufzte schwer, blätterte dann um auf die nächste Seite. Noch wahrte sie äußerlich den Anschein auf Hoffnung, doch vielleicht eine Antwort auf ihr aktuelles Dilemma zu finden. Ihre Maskerade aber bröckelte zunehmend. Mit jeder Seite, die ihren schmalen Fingern entglitt, verfinsterte sich das Gesicht der Raikou-Schülerin mehr und mehr. Sie saß an einem der rechteckigen Vierer-Tische, die am äußeren Rand jedes dritten Regal-Korridors aufgebaut waren. Allein. Es war ihr Wunsch gewesen. Sie brauchte Distanz. Zeit, zum Nachdenken. Das jedenfalls redete sie sich immer wieder ein, obwohl sie es in ihrer verborgenen Einsamkeit genau wusste, dass es nicht stimmte. Sie schüttelte den Kopf, der sachte Griff zu dem Buch in ihrer Hand verhärtete sich wieder.
    Kämpf dagegen an!
    Vehement stemmte sie sich gegen den Gedanken, die Verlockung, die nur zwei Tische weiter auf sie wartete, wo Ray gerade leise, aber hörbar über einen Scherz kicherte. Das Ende ihrer Einsamkeit.




    * * *



    Der blaue Ladebalken kam seinem Ziel beharrlich näher. Dann, mit einem Mal, holte er schlagartig aus. Eine neue Seite öffnete sich. Erst eine leere, trostlose Schneeeinöde, dann meißelten sich die ersten Buchstaben und bunte Grafiken im Zeitraffer in das Eis. Ekstatisch schnippte Rays Zeigerfinger über den mit unansehnlichen Fingerabdrücken gesprenkelten Bildschirm. Ein lästiges Popup-Fenster am rechten Bildschirmrand folgte dem Besucher beharrlich, doch das kümmerte Ray nicht weiter. Seine Pupillen weiteten sich, auf den Handflächen stand der Schweiß. Da waren sie - die kommenden Highlights in Sachen Computer-Spiele des kommenden Jahres, jüngst vorgestellt in der weltgrößten Messe für Video- und Computerspiele. Er hatte sie nicht besuchen können, aber warum sollte er dem nachtrauern? Schließlich bekam er auch so alle notwendigen Infos auf einem Silbertablett serviert. Nun, wenn man eines der schuleigenen Tablet-PCs so nennen durfte. Kritikresistent und frei von Skrupel für mögliche Konsequenzen seiner Handlung, hatte Ray die Sicherheitsmaßnahmen des Bibliothek-Inventars überbrückt und zweckentfremdete nun die ursprünglich als weitere Nachschlagewerke vorgesehene Technologie für private Zwecke. Die Augen huschten hastig von links nach rechts. Durstig nach mehr überflog er die ersten Titel. Weiter unten wartete es bereits auf ihn. Es war ein Glück, wie er eingestehen musste. Als er widerwillig Sonja zustimmte, sie in den Quell der Langeweile zu begleiten, hatte er niemals damit gerechnet, ausgerechnet in dieser staubtrockenen Wüste vergleichbare und überaus willkommene Kurzweil vorzufinden. Aber so wie es den Anschein erweckte, boten Büchereien der Moderne inzwischen doch etwas mehr an als einschläfernde Brandbeschleuniger.
    Außer ihm saß noch Skip am gleichen Tisch. Dann waren da noch Sheinux und Rays Schutzbefohlenes auf der Tischplatte.
    Ausnahmsweise teilte Sheinux die Sympathie seines menschlichen Freundes für die Dinge, die auf dem Monitor abliefen, nicht. Wie Ray überflüssigerweise anmerkte, konnte sein kleiner Freund schließlich nicht lesen, ansonsten, so war er sich sicher, würde es wohl anders aussehen. Nach den Vorfällen im Jungenquartier an diesem Morgen und auch noch lange Zeit danach war Sheinux umfangreich am Veranschaulichen der wundersamen Welt beteiligt gewesen, in der sich sein junger Freund nun irgendwie zurechtfinden musste.
    Der aufgeschlossene Zuhörer hatte nur gelegentlich Sheinux’ fast zweistündigen Monolog in der für Menschen unverständlichen Sprache unterbrochen. Zu umfangreich war das facettenreiche Leben, zu detailliert und vor allem: zu kompliziert. Hin und wieder meldete sich das Junge, während die beiden Pokémon in der Bibliothek vor sich hindösten, leise zu Wort. Eine weitere Frage, auf die Sheinux meist, so glaubte man seinen energische Mimik zu verstehen, eine passende Antwort parat hatte. Die Reaktion von dem Lauschenden war stets dieselbe: ein von einem ungläubigen Gesichtsausdruck begleitendes Innehalten. Ansonsten waren sie eher still.
    In weit entfernten Gedanken und somit der wohl ideale Bibliotheksbesucher blätterte Skip währenddessen durch einen dicken Schmöker mit dem Titel „Wunder der Tiefe“. Er hatte Ray und Sonja begleitet, nachdem er sich auf ein weiteres Spielchen Strohhalmziehen mit Eagle eingelassen hatte. Der Verlierer musste babysitten. Nachdem er nicht nur eine, sondern ganze drei Runden hintereinander gewonnen hatte und so Eagle, ein sehr schlechter Verlierer, im wahrsten Sinne den Kürzeren gezogen hatte, nahm der Suicune diese Gelegenheit nur zu gerne wahr. Wie Ray beiläufig anmerkte, fand er diesen Deal doch äußerst seltsam. Er hätte ihren kleinen Wirbelwind liebend gerne beaufsichtigt; unbeaufsichtigt im Mathematik-Unterrichtssaal vorliebweise. Aber auch in der Bibliothek hätte es natürlich auch genügend Platz zum Austoben gegeben. Aber es hatte eben nicht sollen sein ... Zunächst hatte Skip darauf beharrt, Sonja bei ihren Nachforschungen zu assistieren.
    „Glaubst du, mich interessiert nicht, mit wem wir es die nächsten Tage zu tun haben?“
    Das war eines der Ziele, das Sonja verfolgte: die Identität ihres Nachwuchses festzustellen und anschließend eine Erklärung für das ihr gegenüber verschlossene Verhalten zu finden. Wie es sich für eine Bibliothek in einer auf Pokémon spezialisierten Schule gehörte, gab es umfangreiche Nachschlagewerke zum Thema Pokémon-Arten und -kategorien. Widersprüchlich bei der konkreten Anzahl, gab es mehr oder weniger verlässliche Quellen. Ältere Bücher sprachen wiederholt von 150 Arten. Es folgten etliche unstimmige Angaben. Manchmal lautete die Anzahl auf 250, dann wieder auf 151. Neuere Abhandlungen sprachen sogar von bis zu 720 bekannten Pokémonarten, worauf sich inzwischen viele renommierten Forscher des 21. Jahrhunderts festlegten. Dagegen stand in einigen Büchern die oft zitierte Behauptung eines R. Ingersoll aus dem Jahre 1872, man könne unmöglich die genaue Artenvielzahl feststellen, ebenso wenig wie man die Existenz eines fliegenden Spaghettimonsters widerlegen oder beweisen könne. Ingersolls nächste festgehaltene Aufzeichnung stammte drei Jahre nach seiner ersten Behauptung - in einer Klinik für geistig labile Menschen, wo er die Existenz von über 1.000 Pokémonarten nicht ausschloss. Nach so mach einer Aussortierung war den Schülern dann aber doch eine Abhandlung mit zuverlässigem Einband und fern von Nudelmonstern in die Hand gefallen. Nur über die äußerlichen Merkmale galt es, die Pokémonart festzustellen. Wie sich nach ermüdender Suche schließlich herausgestellt hatte, war Skips ursprüngliche Annahme, dass es sich bei Rays und Sonjas Nachwuchs um ein Wasser-Pokémon handeln könnte, leider falsch; entweder das oder die Lektüre war nicht aktuell genug. Man hatte sich schließlich darauf geeinigt, zuerst Skips und Eagles kleinen Satansbraten zu identifizieren. In der Bücherkategorie Elektro-Pokémon waren sie nach nur zweiminütiger Suche fündig geworden. Alle Anhaltspunkte deuteten auf Pichu, ein Babymaus-Pokémon, hin, bestätigt von einer authentischen Momentaufnahme in freier Wildbahn, festgehalten von einem T. Snap. In dem zehn Buchzeilen langen Artikel wurde dieser Pokémon-Spezies gleich dreimal mangelnde Selbstkontrolle vorgeworfen. Ergänzend dazu die unangenehme Eigenschaft, geringe Mengen von Elektrizität zu speichern und in Augenblicken großer Freude oder Erstaunens, aber auch ganz spontan zu entladen. Allgemein vereinten Pokémon des Typs Elektro eine Neigung zur Spontaneität, impulsives und schnelles Fällen von Entscheidungen, unbeherrscht und leider auch oft beobachteter Jähzorn. Keine allzu gesunde Mischung, wie Sonja daraufhin mit gerümpfter Nase angemerkt hatte. Sonderliches Mitleid mit Eagle und dessen aktuellen Rolle als Babysitter hatte sie dabei jedoch keines an den Tag gelegt. Inwieweit der Inhalt der Abhandlung der Wahrheit entsprach, galt es noch herauszufinden. Zwanzig Minuten des Suchens und der Verzweiflung nahe, stolperte man mehr oder weniger zufällig endlich im Fall Ray und Sonja ebenfalls auf eine Antwort. In der Rubrik Kampf-Pokémon war von einer Pokémon Spezies die Rede, die einzigartige empathische Fähigkeiten aufwies, mit der sogar eine nonverbale Kommunikation unter dessen Artgenossen möglich sei. Seine Fähigkeit reiche sogar so weit, dass diese bei einem enormen Ausbruch von Trauer, Freude oder Wut sichtbare Formen annehmen und eine Art Aura bilden könne. Auch hier beseitigte eine Fotografie - abermals abgelichtet von T. Snap - den letzten Zweifel. Bei Rays und Sonjas Schützling handelte es sich um Riolu, dem Wellenspiel-Pokémon. Kampf-Pokémon, so hieß es in dem einleitenden Artikel, waren bekannt für ihre Loyalität, ihre Rechtschaffenheit und besaßen ein ebenso hohes Ehrgefühl wie in ihnen eine gewaltige Körperkraft schlummerte. Gleichzeitig galten sie allerdings auch manchmal als anmaßend und in ihrer Art leicht zu provozieren. Kein Wort allerdings darüber, warum Riolu auf jeden noch so kleinen Kontaktversuch seiner Leihmutter mit Angst und Panik reagierte; mehr noch, ihr sogar ein bloßes Lächeln verwehrte. Unerklärlicherweise hatte Riolu kein sichtbares Problem mit Skips Präsenz am Tisch. Nicht ganz so harmonisch wie es bei Ray und Sheinux der Fall war, doch die Beziehung zwischen Skip und Riolu ging deutlich über ein einfaches Dulden des anderen hinaus. Selbst Eagles gelegentlich doch sehr einschüchterndes, aufbrausendes Temperament hatte dem Wellenspiel-Pokémon kurz vor dem Aufbruch zur Bibliothek keine nennenswerten Probleme bereitet. Weiteres Recherchieren wollte Sonja selbst in die Hand nehmen. Alleine, wie sie ausdrücklich betont hatte. Ihre Begleitung hatten dem Folge geleistet. Widerwillig. Aber als Gentlemen respektierte man natürlich den Wunsch einer Dame - oder lernte eben die Konsequenzen kennen.


    Skip horchte auf. Wie schon die letzten Male zuvor, wenn sich zwei Tische weiter Sonjas sonst ruhige Stimme zu einem gut hörbaren gequälten Klagen raufte, blickte er ein wenig über den Rand seines Buches hinweg. Es war kurz genug, um das Mädchen in flagranti beim Haareraufen zu ertappen, bevor sie sich wieder mit hängender Stirn über ihr Buch beugte. Seit ihrem Entschluss, vorläufig ein Einsiedlerdasein zu fristen, hatte der gewaltige Stapel noch ungelesener Lektüre zu ihrer Linken etwas abgenommen. Es würde allerdings noch etwas Zeit in Anspruch nehmen, bis der zweite Turm, der des ausgedienten Lesestoffs, den ersten überragen würde.
    „Das geht ihr mächtig auf die Nieren ...“, sagte Skip. Mit seinem Kopf gestikulierte er hinweisend in Sonjas Richtung.
    „Ich kann es ja verstehen“, antwortete Ray. Seit Minuten wandte er sich zum ersten Mal von dem Bildschirm vor ihm ab und lehnte sich entspannt auf seinem Stuhl zurück, die Arme um den Hinterkopf geschlungen. „Wenn ich es ändern könnte, hätte ich es schon getan, das weißt du.“ Tatsächlich hatte Ray alles in seiner Macht getan, Riolu zu motivieren, sich Sonja gegenüber zu öffnen, und das nicht nur einmal. Gerade in diesem Augenblick beugte er sich noch einmal in Riolus Richtung und flüsterte ihm zu. Das Kleine schaute neugierig auf, dann in die Richtung, in die der Zeigefinger des Menschen deutete. Das erwarte Ergebnis trat zum x-ten Mal ein: Riolu erschauderte merklich und drehte sich schnell wieder weg. „Siehst du?“, schulterzuckte Ray. „Wenn du einen Plan hast, dann raus damit.“
    Skip schüttelte den Kopf. „Ich wäre ihr ein ziemlich mieser Freund, wenn ich ihr so lange etwas vorenthalten würde. Aber ...“
    „Aber was?“
    Skip schaute Ray beschwörend an. „Du könntest ihr zumindest beim Abwälzen der Bücher helfen.“
    „Sie will ja nicht“, erwiderte er. „Du hast sie ja selbst gehört. Hatte gerade noch gefehlt, dass sie uns schriftlich ’nen Platzverweis erteilt hätte. Eagle wäre sicherlich an die Decke gegangen.“
    „Aber du bist nicht Eagle, und du lässt Sonja im Trüben fischen. Nicht gerade ein feiner Zug von dir.“
    Es gefiel Ray nicht, wie sich das Gespräch entwickelte. Allmählich kam er sich in Skips Augen als faul, beinahe sogar als ein Kameradenschwein vor. Jetzt mit etwas lauterer Stimme, doch noch immer leise genug, damit Sonja nichts aufschnappen konnte, stellte er klar: „Ich darf dich erinnern, dass sie mir ja gar keine Gelegenheit gegeben hat, ganz zu schweigen davon, dass sie sich alle Bücher unter den Nagel gerissen hat. Und als ich mir eines leihen wollte, hat sie ...“
    „Rumgezickt, ja, ich weiß“, beendete Skip Rays Plädoyer.
    „Und das nicht zu knapp“, ergänzte Ray.
    „... nicht zu knapp“, wiederholte Skip nickend. „Aber“, fügte er hinzu, wieder mit einem belastenden Unterton in der Stimme, „das sollte dich bestimmt nicht davon abhalten, von dem Tablet Gebrauch zu machen, oder?“
    Spürbar heiß brandete Skips Strafpredigt gegen Rays Gesicht. Selbst die Pokémon am Tisch - bislang nicht an dem Gespräch beteiligt - ging es nicht vorbei, dass ihr Freund mächtig Schlagseite erlitten hatte. Selbst wenn man den Verlust sämtlicher Sinne zu beklagen hätte, so musste man am Ende doch das Unwiderlegbare in Skips Worten erkennen. So erging es auch Ray, an dem die Wirkung nicht ohne Folgen vorbeigegangen war. Es brauchte einen kurzen Augenblick, bis sich Ray - in dem überraschenden Anflug von Gewissensbissen - von seinem Elend erholen konnte. Ein wenig schwerfällig richtete er sich auf, nachdem er auf seinem Stuhl ein gutes Stück zusammengesackt war.
    „Vielleicht ...“, gestand Ray einsichtig. „Zumindest wäre das angebracht.“ Ihm war ohnehin bereits langweilig geworden. Die Rubrik der Sportspiele, bei der er zu guter Letzt angelangt war, hatte mal wieder vor Langeweile und Einfallslosigkeit gestrotzt. Auf recycelte Fußballspiele, bei denen der einzige Unterschied in der Mannschaftsaufstellung und den Sprüchen der Kommentatoren bestand, konnte er gerne verzichten. Mit dieser Einsicht und der Bereitschaft, seiner Freundin, ob sie nun wollte oder nicht, unter die Arme zu greifen, kehrten Rays Kräfte zurück - und damit auch sein spitzes Mundwerk. Die Waffen waren feuerbereit. Er legte an. Und schoss.
    „Wenn du so schlau bist, warum hast du dir dann noch kein Tablet geschnappt und selbst Hand angelegt?“
    Skip schmolz regelrecht unter dem spitzbübischen Grinsen seines Freundes dahin. Überwältigt, wie bereits sein Gesprächspartner vor ihm, vermochte er sich nicht gegen das ihm aufdringlich aufgedrängte Stück Elektronik zu wehren. „Du weißt doch, dass ich mich mit den Dingern nicht auskenne ...“, murrte Skip, als Ray mit einem zweiten Tablet-PC zurückkam.
    Rays Grinsen wuchs in die Breite. „Kein Problem, ich zeig’ es dir. Noch einmal.“


    Skip wurde im Umgang mit der Technologie eingeweiht, gegen die er sich im Normalfall vehement sträubte, ob nun privat oder auch im Unterricht. Damit brach der Beginn eines heillosen Unterfangens an: das Rätsel um Riolus Verhalten zu lüften. Sonja zuliebe. Genau diese Tatsache musste er sich der Suicune stets vor Augen halten, anderenfalls hätte er wohl das unsympathische Gerät längst in den tiefsten Tiefen des Schul-Sees versenkt. Seine Laune wollte einfach nicht besser werden, schon gar nicht, während seine Finger das Buchstaben-Wirrwarr des Tablets ungeschickt überquerten, und auch dann nicht, als er es endlich geschafft hatte, die erste Themenrubrik abzurufen.
    Für Sonja ...
    Auch Ray tat sich schwer. Natürlich nicht im Umgang mit seinem Arbeitsmittel - das war für den technik-geschulten Raikou die leichteste Übung. Lernen während unterrichtsfreier Zeit gehörte nicht gerade zu seinen Stärken. Es widerstrebte ihm. Allein der bloße Gedanken daran war wie eine unsichtbare Blockade zwischen seinem Geist und dem Wissen unter seiner Nase. Jetzt, wo er unfreiwillig an diesem Punkt angelangt war, wäre sogar die vorhin noch verpönte Welt von Fifa 2015 - Champions League eine willkommene Zerstreuung gewesen. Dafür aber war es leider zu spät. Ersatzhalber nahm er dafür jede noch so kleine Gelegenheit für etwas Ablenkung wahr, worunter der Fortschritt seiner Recherche schwer litt. Träge klickte Rays Zeigefinger auf das dritte Suchergebnis - die ersten beiden hatte er einfach übersprungen. Zwischen den wenigen Sekunden des Wartens fand Ray überaus Interesse an dem chaotischen Hin und Her einer Stubenfliege, selbst dann noch, als der Artikel schon längst zum Lesen bereit war. Die Überschrift „Wesen: mehr als nur Persönlichkeit“ übersprang er, ebenso die Einleitung. Irgendwann nach dem ersten Viertel des Artikels fing er zu lesen an. Dreimal hintereinander überflog er den ersten Satz, bis Ray dessen Inhalt halbwegs begriff. Ähnlich erging es ihm mit den zwei darauffolgenden Sätzen, die von fragwürdigen Fremdwörtern nur so strotzten. Lustlos lehnte sich Ray auf seinem Stuhl zurück, schaukelte ein-, zweimal zurück, seufzte dann und begann an einer wahllosen Stelle wieder zu lesen.
    Skip konnte ebenfalls keine nennenswerten Fortschritte verzeichnen. Nachdem bereits zwei Systemvollabstürze auf das Konto des Suicunes gegangen waren, kapitulierte er endgültig vor Groß- und Kleinschreibung. So wie Skip irgendwann die Tasten bearbeitete, konnte man meinen, er führte einen blutigen Krieg; einen Krieg, den er außerstande zu gewinnen war. Die Rettung kam von Rays Seite, wodurch dessen weitere Studien allerdings zwangsläufig erlahmten.


    Bereits als um 16:00 Uhr die Schulglocke das Ende der letzten Schulstunde ankündigte, gehörte Licht zum unverzichtbaren Gut in der Bibliothek. Sonnenaussperrende Regenwolken hingen schwer am Horizont, so wie sie es schon den ganzen Tag getan hatten, nur deutlich finsterer und unheilvoller als zuvor. Sonjas gelesener und ungelesener Bücherstapel konkurrierte mittlerweile auf etwa der gleichen Höhe. Viel mehr Schüler gingen jetzt in der Bücherei ein und aus. Nicht so viele, um sie zu füllen, aber man spürte den Unterschied. Die Atmosphäre wirkte weniger steif, deutlich lockerer, hier und da sogar gelegentlich ein Witz. Man lief sich über den Weg, gewollt oder zufällig, sprach über dies und das, stänkerte über Lehrer, Schulkameraden oder das Mittagessen, bildete unverhofft Lerngruppen und verabschiedete sich wieder. Ray schnappte den ein oder anderen kurzweiligen Gesprächsfetzen auf und fand es insbesondere sehr belustigend, wenn jemand Professor Finch durch den Kakao zog. Das ohnehin bereits zweitrangige Recherchieren rückte somit auf seiner Prioritätenliste auf einen der abgeschlagenen hinteren Plätze. Die Absichten gerieten endgültig in Vergessenheit, als plötzlich er in der Bibliothek auftauchte. Er.
    „Au! Was soll das?“
    Verschreckt zog Skip seinen Arm zurück, dem Ray gerade einen Klaps verpasst hatte. Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern folgte dem Fingerzeig seines Kameraden. Ein Jungendlicher der dritten Jahrgangsstufe aus dem Hause Entei hatte die Bibliothek betreten. Viel mehr oder jemand anderen konnte Skip nicht ausmachen.
    „Wer soll das sein?“
    „Wer das sein soll?“ Ray schaute ungläubig. „Markis Tarmur natürlich.“
    „Wer?“, wiederholte Skip und runzelte die Stirn. „Muss ich den kennen?“
    Ray seufzte. „Markis Tarmur, unangefochtener Schulchampion, Schulsprecher und ... da war doch noch was ... ach ja, summa cum laude in allen Unterrichtsfächern. Hat es jetzt Klick gemacht?“
    Jetzt musste Skip grinsen. „Seit wann machst du einen auf Bildung oder warum bist du von ihm so angetan?“
    „Man! Unangefochtener Schulchampion! Der Typ hat noch nie einen Pokémon-Kampf verloren.“
    „Noch nie?“
    „Noch nie!“
    Allmählich dämmerte es Skip, was allerdings nicht zwangsläufig dazu führte, dass er die Aufregung seines Freundes teilte. Ein Schüler wie jeder andere eben, nur eben mit besseren Noten. Und außerdem ein solider Trainer.
    Markis durchquerte derweil den Raum. Er war groß, sportlich gebaut und trug sein schwarzes, schulterlanges Haar offen, dazu die rote Entei-Uniform. Eine silberne Kette hing um seinen Hals. Daran schien etwas befestigt zu sein, das wie ein ziemlich großer Zahn aussah, zweifelsohne der eines Pokémons. Der Blick aus den dunkelblauen Augen des Enteis wirkte drakonisch, fast wie eingemeißelt, als ob er zu keiner anderen Emotion in der Lage war. Im krassen Widerspruch dazu - die unsichtbare Aura, die ihn zu umgeben schien. Markus’ Präsenz war regelrecht spürbar, die Ausstrahlungskraft eines Drachen-Pokémons. Ergänzend dazu sein Gang, seine Körpersprache, ja sein bloßes Auftreten. Die Art, wie sich bewegte, war ... eindrucksvoll, das musste selbst Skip eingestehen. Der Suicune vermutete, dass eine Persönlichkeit wie Markis, eine derartige Prominenz, sicherlich viele Freunde haben musste, Anhänger und wahrscheinlich auch jede Menge Speichellecker. Auch nicht auszuschließen war, dass er ein Schwarm beim anderen Geschlecht war. Mädchen standen eben auf coole, verschlossene Eigenbrödler, die noch dazu gut aussahen. Doch Markis kam allein. Niemand begleitete ihn, sofern ihm niemand schamlos hinter den Regalen auflauerte und heimlich Photos schoss. Der Oberstufenschüler schien sich bestens in den Räumlichkeiten der Schulbibliothek auszukennen. Das Gefühl des Verlorenseins konnte man bei ihm nicht feststellen, während er zielstrebig durch den Flur abseits der Bücherregale wanderte. Ray wurde zappeliger. Auf seinem Weg würde Markis jeden Moment den Tisch seiner Grundstufen-Schulkameraden kreuzen. Und noch jemand am Tisch reagierte ungewöhnlich. Doch nicht Skip. Auch Riolu ließ sich nichts Außergewöhnliches anmerken, außer das er Sheinux’ bizarres Auf und Ab auf dem Tisch verunsichert musterte.
    „Äh, Sheinux?“ Ray fand keine weiteren Worte für das seltsame Verhalten seines kleinen Freundes. Sheinux hüpfte jubelnd und schwanzwedelnd auf der Stelle, dass der Tisch bereits ins Wackeln geriet. Sonja und viele andere Bibliotheksbesucher beäugten die infernale Geräuschkulisse bereits sehr kritisch. „Komm mal wieder runter ...“
    „Ich glaub es ja nicht! Sheinux?“
    Seit dem Beginn des Radaus hatte niemand mehr Markis Beachtung geschenkt. Bis zu dem Moment, als eben der Schulchampion selbst das Wort ergriffen hatte. Ray klappte der Kiefer steil nach unten. Ungläubig schaute er abwechselnd Sheinux und Markis an. Der Entei trat nun direkt an den Tisch. Das harte, steife Gesicht blieb unverändert, doch seine Mundwinkel verformten sich zu etwas, das vage Ähnlichkeit mit einem Lächeln hatte. Am Tischrand angekommen, wo Sheinux ihn bereits freudig erwartete, begrüßte er das Elektro-Pokémon mit einer Streicheleinheit. Da aus Rays Richtung nichts weiter als ein wässriges Gurgeln kam, ergriff Skip das Wort.
    „Ihr beide kennt Euch?“
    „Kennen ist etwas untertrieben“, sagte Markis. Seine Stimme klang tief und melancholisch, passend zu seiner übrigen Art. „Man darf wohl behaupten, es geht über eine gewöhnliche Bekanntschaft hinaus, wenn man einige Tage der Adoptivvater war.“
    „Du - er - ihr ...“, würgte Ray und deutete abwechselnd auf Markis und Sheinux.
    Mit seiner freien, nicht Sheinux’ Nacken verwöhnenden Hand machte der Entei eine belanglose Handbewegung zur Seite. „Warum so erstaunt? Wie ich gehört habe, geht ihr im Moment selbst eurem kleinen Rollenspiel nach. Und die Pokémon, die ausgebrütet werden, sind für kommende Schülergenerationen bestimmt, das wurde euch sicherlich gesagt. Ich nehme an, du bist die Mama und du der Papa? Und Riolu“, er nickte dem Genannten zu, „ist euer kleines Ziehkind?“
    „Fast“, antwortete Ray, jetzt etwas mehr bei der Sache. „Die Mama sitzt zwei Tische weiter.“ Im selben Moment schreckte Sonja, als Ray, Skip und Markis zu ihr herübersahen, fahrig zusammen. Alles andere als unauffällig riss sie das Buch, das sie die ganze Zeit über auf dem Tisch offen liegen hatte, in die Höhe und versteckte ihr purpurrotes Gesicht dahinter. „Sheinux gibt aber ersatzhalber auch eine prima Mama ab“, ergänzte Ray sowohl flüsternd als auch augenzwinkernd. Sheinux strahlte. Rays Ohren fühlten sich derweil nicht mehr ganz so heiß an wie zu Beginn der Unterhaltung. Wow! Ich rede tatsächlich mit ihm! Mit ihm!
    Markis nickte Sheinux zu. „Alle Achtung. Hast dich also endlich doch gemausert, Kleiner. Dafür, dass du mir fast meinen Notendurchschnitt versaut hast.“
    „Hat er?“, fragte Ray. Er begann zu grinsen. „Wie?“
    „Sagen wir, es hat mit einem unerlaubten Abstecher in die Schulküche zu tun. Seitdem wurde Erbsensuppe von der Karte verbannt. Den Rest überlasse ich eurer Phantasie.“
    „Hat unser Sheinux heimlich ein Süppchen geschlabbert? Böser Bub, du, du, du!“ Ray hatte Sheinux an der Hüfte geschnappt und das kleine Kerlchen auf die eigene Augenhöhe in die Luft gehoben. Sie grinsten einander an.
    „Nicht direkt“, meinte Markis tonlos. „Am Ende bestand die Suppe mehr aus Fell als aus Erbsen.“
    Schallendes Gelächter brach an dem kleinen Tisch aus. Bibliothek hin oder her: Die Vorstellung einer Erbsensuppe mit Sheinux-Einlage war zu viel, als dass man noch sonderlich der Pietät bedachte. Ray ließ seinen felltragenen Freund gleich fünfmal hintereinander für diese Glanzleistung eines meisterhaften Schulstreiches feierlich hochleben.
    „Der Lehrkörper war nur mäßig begeistert. Verständlich. Aber irgendwie machte meine Endpräsentation die Eskapade wieder wett.“
    „Konntest deinen Einserschnitt also noch einmal retten?“, fragte Ray abschließend.
    „Knapp.“
    Rays eigene Bemerkung brachte ihn plötzlich auf eine Idee. In ungewohnter Manier überlegte er. Warum eigentlich nicht? Die Gelegenheit konnte günstiger nicht sein.
    „Du, hör mal, wir haben ein kleines Problem. Womöglich kannst du uns ja bei einer kleinen Sache?“
    Markis schaute nicht sonderlich interessiert, hörte aber zu. Wahrscheinlich gehörte es bereits zu seinem Alltag, dass ihn andere Schüler um Ratschläge baten. „Worum gehts?“
    „Riolu will sich partout nicht mit Sonja abgeben - unsere Mama in spe da hinten“, ergänzte Ray. Auch ohne Augen im Hinterkopf zu besitzen, konnte er darauf wetten, dass sie aufmerksam lauschte. „Wir haben schon alles Erdenkliche versucht. Ohne Erfolg. Keine Ahnung, was los ist, aber er hat panische Angst vor ihr.“
    Markis betrachtete Riolu. Das Pokémon erwiderte den Blickkontakt neugierig. „Vor mir scheint er keinen Bammel zu haben“, sagte Markis. Er hielt Riolu seine geöffnete Handfläche zum Gruße hin. Der Welpe schaute etwas unschlüssig. Nach einigen Sekunden aber, und nachdem Sheinux ihm ermutigend zugenickt hatte - drückte er seine Pfote vorsichtig auf die menschliche Hand, stets den Blickkontakt mit Markis wahrend. Sein halb geöffneter Mund formte einen verlegenen, keinesfalls aber ängstlichen Eindruck. Markis’ Hand schloss sich sanft. Eine weitere Reaktion, ein ängstliches Zurückzucken oder irgendetwas anderes seitens Riolu blieb aus.
    „Bei Skip gab es auch keine Probleme. Selbst nicht bei unserem Hausdrachen. Nur bei Sonja.“
    „Zwischenfälle gab es keine? Irgendetwas, das Riolu verängstigt haben könnte“, fragte Markis.
    „Absolut nichts“, sagte Ray. „Sie hat den Raum betreten, keine zehn Minuten, nachdem Riolu geschlüpft ist. Und bereits da ist er in Panik ausgebrochen.“
    „Was war während der Inkubation? Dem Ausbrüten“, ergänzte Markis auf Rays überforderten Gesichtsausdruck hin.
    Nicht grundlos überlegte Ray länger als es sonst seine Art war. Die Rolle des nutzlosen Vaters, ständig von einer Alkoholfahne begleitet, nicht einmal die Augenfarbe der eigenen Frau oder die Geburtstage seiner Kinder kennend, stand ihm in gewisser Weise ziemlich gut auf den Leib geschneidert. Aber Markis brauchte nicht unbedingt etwas von der bislang nur sehr dürftigen Mithilfe bei Riolus Aufzucht wissen.
    Ray konnte nur mutmaßen, doch schloss er es kategorisch aus, dass Sonja mit dem Ei Schindluder getrieben hatte. Das passte einfach nicht zu seiner pflichtbewussten Freundin. Daher schüttelte er verneinend den Kopf.
    Markis zögerte ein wenig. „Und sonst? Mit wem trat Riolu sonst noch in Kontakt?“
    „Eigentlich ...“, Ray und Skip tauschten untereinander Blicke, „sonst niemand.“
    „Verstehe ...“
    Jetzt wurde es langsam heikel. Sollte tatsächlich der Schulbeste keine Antwort auf das Problem wissen, war die Lage wohl aussichtslos. Ray sah bereits viele unerträglich lange Stunden des Bücherwälzens auf sich zukommen. Ganze Nächte! „Gibt es da nichts mehr? Irgendetwas, was wir vergessen haben? Es muss doch was geben. Irgendetwas?“, redete Ray auf den Entei unruhig ein. Der aber schien mit seinen Gedanken meilenweit entfernt zu sein.
    Markis kehrte dem Tisch den Rücken zu. Das war wohl das Aus. Die Blöße wollte er sich bestimmt nicht geben, daher wollte er sie ahnungslos zurücklassen. Doch stattdessen schien Markis nur Ausschau nach jemandem zu halten, denn während er die Bibliothek absuchte, rührte er sich keinen Millimeter. „Sue, kommst du mal bitte?“
    Eine Gruppe Entei-Mädchen schauten einander an. Dann löste sich eine von ihnen. Ray kannte sie nur vom Sehen. Sie gehörte der Oberstufe an, so wie Markis. Und hatte obendrein einen festen Freund. Wieso also zitierte Markis sie heran, wenn er doch wusste, dass er nicht bei ihr landen konnte? Und was hatte es mit ihrem Problem zu tun?
    „Ja, was gibts? Ach du Schreck!“
    Im selben Moment, als Sue zu Markis an den Tisch herangetreten war, fuhr Riolu ruckartig auf. Ray konnte gar nicht so schnell reagieren, da hatte ihn Riolu bereits angesprungen. Die Wucht war zu heftig: Der Stuhl kippte. Ray ruderte mit den Armen, stürzte dann aber am Ende schreiend und mitsamt Riolu an seinen Hals klebend auf dem Boden. Skip wollte ihm sofort wieder auf die Beine helfen, doch Riolu machte es nicht einfach, so sehr leistete das Pokémon - am ganzen Leib zitternd - Widerstand.
    „Das wäre alles. Danke, Sue“, nickte Markis seiner Klassenkameradin zu. Diese wirkte völlig fassungslos. Unter ihrem entsetzten Gesichtsausdruck eilte sie zurück zu ihren Freundinnen, die bereits heftig tuschelten. „Tja, das ist es“, sagte Markis. Etwas Triumphierendes hatte sich in seine sonst so schweren Stimme geschoben.
    Verdattert lugte Ray unter dem Tisch hervor. Lag es am Sauerstoffmangel, den Riolus Klammergriff herbeigeführt hatte, oder hatte er etwas Entscheidendes verpasst?
    „Da hättet ihr alle Büchereien der Welt absuchen können, und wärt am Ende doch keinen Deut schlauer gewesen.“ Ob es seine Absicht war oder nicht - Markis machte es spannend bis auf die letzte Sekunde. „Riolu ist einfach nur schüchtern. Er hat Angst vor dem anderen Geschlecht.“
    Zwei Tische weiter knallte Sonja ihren Kopf gut hörbar gegen die Tischplatte. Einmal. Zweimal. Dreimal. Es nahm gar kein Ende.

  • Part 6: Die Terror-Therapie


    „So leid es mir tut, in dieser Angelegenheit kann ich Ihnen beiden nicht weiterhelfen.“ Professor Cenras Hände verschlangen einander, bis sie eine massive Form annahmen, so fest und unerschütterlich wie die Überzeugung in ihrem Gesicht. Es war schwierig, dazwischen noch die ehrliche Anteilnahme zu erkennen, mit der die Professorin ihrer kleinmütigen Schülerin mit dem eingesenkten Kopf begegnete. „Der Geist oder auch die Seele eines jeden Individuums ist vielschichtig. Wir können in ihn nicht einfach hineinschauen wie durch Glas. Ebenso wenig durch ihn hindurchblättern und eine Seite aus dem Buch dieses komplexen Gebildes herausreisen, die uns gerade nicht anspricht. Hineinversetzen - vielleicht. Im Ansatz. Ihn frei nach unserem Willen formen - niemals.“ Ihr Ton wurde von ein auf den anderen Satz hörbar strenger. „Überhaupt rate ich von krampfhaftem Indoktrinieren ab. Ich nehme an, Ihnen, Miss Lynn, würde es auch missfallen, zwänge Ihnen jemand gewaltsam seinen unvereinbaren Willen auf. Gleichermaßen kann ich Mr. Valentine nicht dazu zwingen, meine persönliche Ideologie einer höflichen Kinderstube, so zum Beispiel aufmerksames Zuhören, zu teilen. Auch wenn er wirklich gut daran täte, seinen Geist öfter für unwiderlegbare Wertvorstellungen zu öffnen. Hören Sie mich, Mr. Valentine?“ Kaum einen ungünstigeren Moment hatte die Suicune-Hauslehrerin abpassen können. Ray war gerade dabei, Riolu feierlich hochleben zu lassen, dafür, dass sein kleiner Schützling einen weiteren Ton der klassischen Tetris-A-Melodie nachsummen konnte.
    Es wurde ruhig im Klassenzimmer für Pokémon-Studien. Vielleicht nicht die Ruhe vor dem Sturm; ein solcher, der mehr und mehr am Horizont hinter den verschlossenen Fenstern böse Formen annahm. Dafür aber kaum weniger unangenehm. Das Studierzimmer wirkte mit seinen gerade mal vier Besuchern deutlich zu groß. Sonja saß an dem Tisch direkt vor dem Lehrerpult. Professor Cenra befand sich ihr gegenüber. Da Riolu auch weiterhin die unmittelbare Präsenz des anderen Geschlechts nicht ohne Schweißausbrüche akzeptierte, belegte Ray seinen Lieblingsplatz in der hinteren Reihe, im Normalfall also weit weg von den wachsamen Augen der Lehrkraft. In dem fast ausgestorbenen Saal aber fühlte man sich eher auf dem Präsentierteller, gleichgültig, wo man nun gerade saß. Nach der indirekten Moralpredigt seiner Lehrerin verlor Rays Lächeln über Riolus Fortschritte etwas an Wirkung. Langsam füllten leere Plattitüden die Grübchen auf seinen Wangen. „Ja, Professor.“ Oder hätte er eher mit „Nein, Professor“ antworten sollen? Seine Ohren standen auf Durchzug, bereits seit er mit seiner Freundin den Saal betreten hatte. Ergo hatte er außer dem barschen „Valentine“ nichts vernommen.
    Der vorherige Besuch bei Professor Joy hatte deutlich gemacht, die Erwartungen eher in Grenzen zu halten. Umso sanfter dann die Landung, wenn man erst auf den Boden der harten Tatsachen gebracht wird. Eben das war Professor Joy bereits sehr gut gelungen, indem sie ihre Machtlosigkeit im Bezug auf Riolus Hemmblockade eingestanden hatte. Eine niederschmetternde Niederlage für Sonja. Doch hatte sie die Hoffnung nicht aufgegeben, auch nachdem die sonst so zuverlässige Literatur sie dieses Mal im Stich ließ. Professor Cenras kühler, zuverlässiger Intellekt war die letzte Hoffnung. Glücklicherweise verstand es die Suicune-Hauslehrerin, die Sache gleich auf den Punkt zu bringen, anders als Professor Joy vorher mit ihrer einschläfernden halbstündigen Fachchinesisch-Predigt.
    Man konnte nicht unbedingt behaupten, Rays entschuldigendes Lächeln beschwichtigte sonderlich das schwierige Verhältnis, in dem sich er und Professor Cenra befanden. Auch weiterhin taxierte die Lehrerin ihren Schüler wie eine kochlöffelschwingende Mutter, die gerade ihren Sohn beim Lügen erwischt hatte.
    „Wie ich bereits zum Ausdruck brachte“, fuhr Professor Cenra ungehindert fort, als ob nichts gewesen wäre, „ist es mit der Individualität unvereinbar, dieser rein psychologischen Störung mit gewaltsamer Suggestion zu begegnen. Wobei ich mir als Nicht-Psychologin streng genommen gar kein bindendes Urteil bilden dürfte, sondern lediglich und von nichts anderem als von Persönlichkeit reden dürfte.“
    „Suggestion?“, hakte Ray nach. Es war das erste Mal, dass er sich zu Wort gemeldet hatte. Überhaupt fiel es ihm sehr schwer, den Ausfertigungen seiner Professorin zu folgen. Doch von seiner entmutigten Freundin, die seit Beginn des Monologs nur noch damit beschäftigt war, mit hängendem Kopf den Dreck unter dem Tisch zu inspizieren, konnte er kein abschließendes Ergebnis des Gesprächs erwarten.
    „Mit anderen Worten, sie sollen Riolu keiner Gehirnwäsche unterziehen“, mahnte Professor Cenra. „Es ist ganz einfach: Gewinnen sie das Vertrauen ihres Patenkindes auf natürliche Weise, dann ergibt sich der Rest ganz von alleine. Das aber ist etwas, wobei ich ihnen beiden unmöglich helfen kann. Das obliegt allein ihrer Verantwortung; der Verantwortung der Eltern. Noch Fragen?“
    Selbst Ray hatte es verstanden. Insbesondere natürlich den letzten Teil. Antwortete man nun richtig, wurde man der Freiheit entlassen. „Nein, Professor“, schoss es ihm zum gleichen Teil wahrheitsgetreu als auch erleichtert aus dem Mund. Sonja bestätigte es mit einem Kopfschütteln.


    Zufrieden trottete Ray über den azurfarbenen, nach oben hinaus perforierten Kunststoffboden des Schulhaus-Erdgeschosses, an seiner Hand Riolus rechte Pfote haltend. Das Pokémon klebte ihm im wahrsten Sinne des Wortes am Bein, was nur sehr langsames, vorsichtiges Gehen erlaubte. Ihnen folgte - in einigem Abstand und stets von Riolus besorgtem Schulterblick begleitet - Sonja mitsamt deren leisen und äußerst geringschätzigen Selbstauslegungen von Professor Cenras Worten.
    „Sollen wir uns irgendwo hinsetzen? Alleine?“
    Sonja war froh, dass Ray den Vorschlag gemacht hatte. Ihre Erleichterung half ihr dabei, den schlimmsten Teil ihrer zynischen Bemerkung über Professor Cenras pädagogische Kompetenz noch einmal im letzten Moment zu überdenken. Zu ihrer gewohnten Besonnenheit fand sie allerdings auch dann noch nicht zurück, als man eine gemütliche Sitzgruppe nahe dem Eingangbereich in Beschlag nahm. Draußen hörte man das Grollen eines unmittelbar bevorstehenden Gewitters. Ähnlich düster sah es in Sonjas Kopf aus. Morgen, am letzten Tag der Projektwoche, mochte der Spuk zwar vorbei sein, was aber konnte sie vorweisen? Ein Kind, das seiner eigenen Mutter nicht über den Weg traute. Hinzu kam, dass ihr das noch nicht einmal ansatzweise begonnene Essay im Genick saß wie der Schweiß nach einer doppelten Sportstunde im Sommer. Um sich abzulenken, suchte Sonja die nähere Umgebung ab; irgendetwas, um nicht neidend die glückliche Paarung zwischen Vater und Kind ein paar Tische weiter betrachten zu müssen. Die Decke, den Boden, die Tischplatte. Viel mehr Möglichkeiten bestanden nicht. Es gab keine Illustrierten. Auch niemand anderes, mit dem sie sich unterhalten konnte. Sie hatte noch nicht einmal ein Blatt Papier und einen Bleistift parat, mit dem sie vielleicht zumindest ein vages Grundgestell für den morgen fälligen Aufsatz hätte erstellen können. Der Wind wurde lauter. Zum ersten und wahrscheinlich nicht zum letzten Mal donnerte es. Riolu schaute sich neugierig nach der neuen Geräuschquelle um.
    „Wir können auch gerne gehen, wenn du willst?“, schlug Ray vor. „Bevor es draußen richtig zur Sache geht.“
    „Dann haben wir den Rest des Tages keine ruhige Minute mehr.“ Sonjas Ellenbogen stützten ihr Gesicht ab, das sie hinter ihren Händen begruben hatte. Ihre gedämpfte Stimme fuhr fort: „Sympathiepunkte kann ich bei Riolu ganz bestimmt sammeln, wenn wir mit dem Rest der Meute eine Party schmeißen.“
    Rasch betätigte Ray den Auflegenknopf seines Handys und ließ es in seine Hosentasche verschwinden. Ohnehin hatte Eagle nicht abgenommen, wo immer er auch gerade steckte. Damit begrub Ray sein gerade von Sonja missbilligtes Vorhaben eines kleinen Chill-outs.
    Unangenehme Sekunden setzten ein. Rays innere Stimme riet ihm zu äußerster Vorsicht. Daher überlegte er gleich zweimal, bevor er einige konstruktive Dinge aufzählte, die sie tun konnten. Zwar verhaspelte er sich bei dem Wort, aber selbst die Bibliothek nannte er - natürlich ganz zum Schluss.
    „Lass mal ...“, lehnte Sonja ab.
    Wieder war ein Donnern zu hören. Es war der Startschuss des erwarten Platzregens, der schon kurz darauf in Strömen an den Fensterscheiben herablief. Unentwegt richtete Riolu seinen Kopf der weit entfernten Raumdecke entgegen, die hoch bis ins zweite Geschoss der Aula ragte. Irgendwo dort musste etwas oder jemand sein, der Schuld an diesem höllischen Lärm zweckte. Und wer oder was es auch war - er oder es schien nicht sonderlich gut gelaunt.
    Ray kraulte seinem Schützling liebevoll den Kopf. „Tja, warum hat die eine Kirche ein rotes und die andere ein blaues Dach? Damit es nicht reinregnet natürlich.“
    Sonja konnte nicht lachen. Sie murrte nur.
    Aus der Ferne war die zweiflüglige Eingangstür zu hören. Einer der Türöffner fluchte, als ob ihn das Wetter völlig überraschend getroffen hätte. Im gleichen Moment griffen wehklagende Windböen um sich, das sogar Ray, Sonja und Riolu sie in ihrer abgeschiedenen Ecke jenseits des Eingansbereiches zu spüren bekamen. Schnelle Schritte verhalten in Richtung des zweiten Stockwerks. Man hatte es offenbar sehr eilig.
    „Na, na, nur der Wind“, sprach Ray lächelnd dem Pokémon Trost zu, das sich krampfhaft und zitternd an seinem Brustkorb festklammerte. Rays besonnene Aufrichtigkeit verhalf Riolu bereits nach kurzer Zeit wieder zu einem dankbaren Lächeln. Sie strahlten einander an. „Na, siehst du? Alles nicht so schlimm.“
    „Weißt du, was wir machen sollten?“, meldete sich Sonja unerwartet laut zu Wort.
    Ray drehte sich verdutzt in ihre Richtung. „Öhm, nein, aber ich weiß, was man nicht machen sollte: In einen Ventilator niesen zum Beispiel. Oder gelben Schnee lutschen. Oder Eagle kochen lassen.“
    Die letzte Bemerkung förderte ein diskretes Schmunzeln bei Sonja. „Ja, das auch.“
    „Ehrlich. Du hättest dabei sein sollen.“ Ray lachte. „Das letzte Mal musste ich mir den Magen auspumpen lassen. Habe mir dann noch die Reste eingepackt, um mich vor der Mathearbeit zu drücken. Die war zwar erst ’ne Woche später, aber umso ranziger der Fraß, desto besser.“
    „Ich meine eigentlich, dass wir das völlig falsch angegangen sind“, erwiderte Sonja trocken. Der Stuhl kippte beinahe um, so schwungvoll schoss die Schülerin nach oben. Die Nachwirkung ihres überstürzten Aktes spürte sie noch sekundenlang als unangenehmes Ziepen in den Beinen. Sie ignorierte den Schmerz. Riolu dagegen suchte kauernd in Rays Jacke Deckung vor der überschwänglichen Begeisterung, mit der die Raikou energisch vor den Tisch trat. „Riolu hat panische Angst vor allem, was er nicht kennt. Also nehmen wir ihm die Angst. Wenn du dich im Dunkeln fürchtest, dann mach das Licht an, so einfach ist das. Wir waren einfach nicht sensibel genug.“
    „Du meinst, du warst nicht sensibel genug“, korrigierte Ray. Gleichzeitig tat er sein Bestmöglichtes, das klammernde Pokémon wieder zu beruhigen. „Also, auf was willst du hinaus? Du hast es schon zig Mal versucht, schon vergessen?“
    „Ja, ja, bin nicht von vorgestern.“ Unruhig rollte sich Sonja auf ihren Fußballen auf und ab, während sie hastig fortsetzte. „Wir machen dasselbe. Wir nehmen ihm seine Angst.“
    Ray schaute seiner Freundin verunsichert nach, wie diese aufgescheucht zwischen den einzelnen Tischen herumhuschte. Er fand keine Worte für das seltsame Verhalten seiner Freundin. Sogar ihm flößte dieses wölfische Grinsen ein wenig Angst ein.
    „Riolu kennt Sheinux bereits zu gut. Versuch es mal mit Geckarbor“, forderte Sonja ihn auf.
    Ray tat wie geheißen, auch wenn er längst den Faden verloren hatte, dafür aber bereits in Gedanken ein Zimmer mit Sonjas Namen in der nächsten Klapsmühle reserviert hatte. „Wenn du meinst ...“


    Das Plopp des Pokéballs ging beinahe restlos in dem simultanen Donnergrollen und dem unaufhörlichen Wasserschwallen unter. Kein zackiger Blitz, nur ein einziger flüchtiger Lichtstoß flackerte kurz an der Wand auf. Im krassen Widerspruch zu der effektangereicherten Lichtshow entstieg Geckarbor auf seine unberührte, coole Art dem Pokéball. Betrachtete man dieses Schauspiel nun zum ersten Mal, lag es ganz im Auge des Betrachters, sich ein eigenes Urteil zwischen spektakulär, bizarr und dem gewaltigen Loch, das irgendwo zwischen den Begriffen klaffte, zu bilden. Riolu blinzelte ungläubig. Anders als bei einer bevorstehenden Kontaktaufnahme mit dem anderen Geschlecht, verlor er nicht Hals über Kopf die Fassung. Stattdessen suchte das Neugeborene zielstrebig eine Reaktion des interessanten Neuankömmlings, eine kurze Bewegung, ein Zeichen. Etwas, was auf eine etwaige freundschaftliche Geselligkeit des seltsamen, grünen Besuchers deutete. Für das junge Pokémon war es allerdings ein Unmögliches, Geckarbors kühle Reserviertheit einzuordnen, hingegen das stille Laub-Pokémon längst sein Urteil gebildet hatte. Nur mäßig an dem jungen Fremden interessiert, der seinen Zufluchtsort an Rays Schulter versperrte, verrenkte Geckarbor den Kopf einmal zur rechten, dann zur linken Seite, woraufhin seine Gelenke schauerlich knackten. Dasselbe Geräusch kehrte wieder, als er seine beiden dreifingrigen Hände ineinander verkeilte und kräftig ausholte. Auf Order oder Erklärungen, warum man ihn gerufen hatte, verzichtete er. Da man ihm seinen gewohnten Stammplatz streitig machte, lehnte sich Geckarbor gelangweilt gegen einen x-beliebigen Stuhl in der Nähe und lauschte, die Augen geschlossen, dem unberechenbaren Unwetter beim Wüten.
    Ray war verunsichert, welche Reaktion Sonja erhoffte. Wiederholt gestikulierte er mit schnellen Kopfbewegungen in ihre Richtung, aber seine Freundin war viel zu sehr damit beschäftigt, die Luft vor Erwartungen anzuhalten. Grummelnd wog er seinen nächsten Schritt ab, was ihm aber sehr schnell viel zu anstrengend wurde. Stattdessen gab er einfach Riolus zögerliches Drängen nach ein wenig Bewegungsfreiheit - Riolu hatte sanft an Rays Jacke gezupft - nach und entließ das Schoßkind seiner Obhut. Ohnehin bedurfte Riolus offensichtlicher Interesse an Geckarbor keiner weiteren Erklärung mehr. Als Ray seinen Schützling mit einem zustimmenden Nicken ermutigte, obsiegte die unbändige Neugierde über die letzten Zweifel. Vorsichtig, doch ungewöhnlich zielstrebig näherte sich der Welpe seinem Ziel.
    Sonja, einen spannungsgeladenen Blitz mimend, kurz bevor er in eine überteuerte Sattelitenanlage einschlug, beobachtete die Annäherungsversuche ungeduldig. Der Kunststoffboden quiekte bei jeder Berührung mit den barfüßigen Pratzen grell auf, einem neckischen Kichern ähnlich. Geckarbor hatte begonnen, die Bewegungen des Näherkommenden zu studieren. Ein Auge, das geschlossene, leistete dem Regenprasseln weiterhin Beachtung, das andere dagegen taxierte aus schrägem Blickwinkel das Junge aufmerksam. Ein letztes Mal noch warf Ray seinem jungen Freund ein bekräftigendes Lächeln zu, dann standen sich beide Pokémon gegenüber.
    Selbst mit seinem gesenkten Kopf und dem Kinn, das auf dem Brustkorb ruhte, überragte Geckarbor mit seinen knapp fünfzig Zentimetern seinen Gegenüber um ein kleines Stückchen. Kein Wunder allerdings, zog man in diesen Vergleich den Umstand ein, dass Riolu bislang lediglich einen einzigen Tag seines Lebens abgeschlossen hatte.
    Selbst ohne umfangreiche Pokémon-Sprachkenntnisse zu besitzen, hörte man deutlich ein hohes Maß von Verlegenheit aus Riolus holpriger Kontaktaufnahme heraus. Er stammelte wie ein schamerfüllter Junge, der seinem Mädchen gerade einen Antrag machte, oder es zumindest versuchte. In seiner Körperhaltung dagegen strauchelte er, dass man befürchten musste, die weichen Knie müssten jeden Moment vor Unsicherheit nachgeben. Geckarbor hatte sich keinen Millimeter von der Stelle bewegt, auch nicht seine Haltung irgendwie auf seinen Gegenüber angepasst, noch rührte er einen Muskel. Das Gesicht ausdruckslos verharrend, hörte er zu. Oder auch nicht. Vielleicht langweilte er sich oder lauschte interessiert. Aufgrund Geckarbors nicht vorhandenen Minenspiels war eine Aussage über dessen Standpunkt schlichtweg unmöglich. Vielleicht zehrte gerade das an Riolus ohnehin sehr brüchiger Courage. Zwischenzeitlich war sein Monolog zu einem bescheidenen Wispern zusammengeschrumpft. In seiner Not stolperte er beinahe über seine eigenen Füße, während er sich hilfesuchend Ray zuwandte.
    Riolu bemerkte ein Geräusch zu seinem Rücken, gerade als er sich umgedreht hatte - eine Mischung aus Quietschen und Schaben. Eine grüne Hand ruhte plötzlich kameradschaftlich auf seiner rechten Schulter, stark genug, um ihn mit spielender Leichtigkeit in die Knie zu zwingen, und doch gleichzeitig sanftmütig wie Daunen auf der Haut. Dahinter tauchte Geckarbor auf, nicht mehr am Stuhlbein lehnend, sondern zu voller Größe aufgerichtet. Die ovalen, gelben Schlitzaugen hatten etwas Väterliches angenommen. Deutlich mehr als Riolu erwartet hatte, brachte er keinen Ton mehr zustande, dafür auffallend größere Pupillen als sonst. Seine Überwältigung überdauerte zweimaliges Donnergrollen und hielt noch an, als er sich allmählich zusammenraffen konnte und seine bebenden Lippen ein an Geckarbor gerichtetes schwachbrüstiges Lächeln formten.
    „Siehst du? Ich wusste es! Ich wusste es!“ Sonja brach in helle Begeisterung aus. Der von ihr erhoffte, nein, der erwartete Sinneswandel war tatsächlich eingetreten. Dabei störte es sie nicht, dass ihr schrilles Jubeln Riolu auf brutale Art rückfällig werden ließ. Verängstigt suchte das Junge Hals über Kopf hinter dem starken Rückrat seines neuen Freundes Schutz. Geckarbor, erst mit der Situation leicht überfordert, funkelte Sonja böse an, dabei schirmte er mit gespreizten Armen seinen Hintermann schützend ab, als erwartete er sogleich einen Angriff.
    „Und wo war da jetzt die Überraschung?“ Die Arme verschränkend und auf die ausstehende Erklärung wartend, sah Ray zu der Mitschülerin herüber.
    „Keine Überraschung. Nicht wirklich“, bejahte Sonja. „Nur eine Bestätigung dessen, was wir bereits wissen.“
    „Also? Jetzt mal Klartext, für die ganz Langsamen, ja?“, hakte Ray nach, die Stirn in bei ihm selten zu beobachtende tiefe Falten gelegt.
    Sonja lächelte breit. „Ich sehe das so: Vertrauen kann Riolu immer dann schöpfen, wenn er es mit Mannsbildern zu tun bekommt. Sheinux, Skip, Markis“, sie zählte die Genannten an einer Hand ab, „Geckarbor, sogar mit Eagle, unserem Hausdrachen, kommt er auf wundersame Weise klar. Aber auf Teufel kommt raus - wehe er bekommt es mit einem Mädchen zu tun, dann ist es vorbei. Also brauchen wir jemanden, der beruhigend auf ihn einwirkt. Jemanden, der ihm klar machen kann, dass ich ... das heißt, wir ihm nichts Böses tun wollen. Eine Friedensstifterin sozusagen. Oder nennen wir es eine Vermittlerin.“
    „Eine ... Vermittlerin? Und wer ...? Oh, klar!“ Ein beherzter Griff der eigenen Hand in ihre Hosentasche, dünne Finger, die sich um rotes, filigran geschmiedetes Metall schlossen, beendeten Rays halb ausgesprochene Gedanken, in denen er gerade noch die Existenz einer solchen Persönlichkeit arg angezweifelt hatte. Triumphierend grinsend reckte Sonja einen Pokéball in die Höhe. Da auch Ray nun verstanden hatte, teilte er das Grinsen seiner Freundin.
    „Evoli ist genau die Richtige für den Job. Sie ist dezent und zurückhaltend, höflich und zuvorkommend, vielleicht sogar ein bisschen zu genierlich, aber für gerade unsere Zwecke einfach nur perfekt“, sagte Sonja überquellend vor Stolz.
    „Wie du, wenn du es mit anderen Leuten zu tun bekommst. Ihr seid aus dem gleichen Holz geschnitzt, ob du es hören willst oder nicht“, feixte Ray.
    „Jaah, kann sein“, winkte Sonja rasch ab. „Fakt ist und bleibt, dass Evoli unsere Botschaft viel besser übermitteln kann als ich je dazu in der Lage wäre, allein schon wegen der sprachlichen Barrieren. Und wenn sie diesen ersten Schritt meistern kann, woran ich gar nicht zweifle, dann wird Riolu auch mich akzeptieren, ganz sicher.“
    Zu ungeduldig, um noch auf einen zustimmenden Kommentar ihres Freundes zu warten, entfesselte Sonja die Kraft des Pokéballs und befreite das Wesen darin, auf das sie alle Hoffnung setzte.


    Der Knall des Pokéballs hatte minder Riolus Interesse geweckt, so wie es bereits bei Geckarbors Erscheinen der Fall gewesen war. Wenig geheuer lugte der Welpe über die schützende Schulter seines Vordermanns hinweg, ein misstrauischer Ausdruck auf dem Gesicht. Die vierbeinige Fremde war wie aus dem Nichts erschienen. Das fahle, künstliche Licht des Schulgebäudes verschwamm mit ihrem buschigen, rost- bis kastanienbraunen Fell zu einer warmen Einheit. Die Augen hatten fast dieselbe Farbe wie der Großteil des Fells: Sie waren von einem ähnlichen Braun. Irgendwie besaßen sie etwas Warmes, etwas Vertrauenswürdiges, aber auch etwas, was überhaupt nicht zu dem irgendwie uninteressierten Gesichtsausdruck passte. Äußerlich ein glänzender Bernstein, im Inneren aschfahl vergoren. Für Riolus Geschmack zwinkerte die Unbekannte ein wenig zu oft in seine Richtung, während das gruselige Menschenmädchen auf sie einsprach. Überhaupt schien das fremde Pokémon mit nur einem ihrer lang gezogenen Ohren dem mühsamen Geschwätz halbherzig zu folgen. Alle anderen Sinne wirkten abgedriftet, weit von der Wirklichkeit des Gesprächs entfernt.
    „Jetzt liegt es an dir. Sei bloß einfühlsam, ja?“ Erwartungsvoll richtete sich Sonja wieder zu voller Größe auf, nachdem sie ihrer kleinen Freundin einige Minuten lang den Sachverhalt in Augenhöhe geschildert hatte. Evoli hatte zugehört, und, wie es eben ihre Art war, auch keine Fragen gestellt, dafür in den passenden Momenten immer mal wieder kurz in Riolus Richtung geschielt, noch immer durch Geckarbor von dem Rest der Anwesenden isoliert. Abgesehen von diesen lichten Momenten schien Evoli insgesamt etwas unkonzentriert, nicht ganz bei der Sache, vielleicht auch nur etwas müde. Konnte dem schlechten Wetter geschuldet sein. Die Stimmung war an solchen Tagen dieselbe: grau. Trotzdem vertraute Sonja fest darauf, dass Evoli ihrer bevorstehenden Aufgabe gewachsen war.
    Zielbewusst setzte sich das Pokémon in Gang. Trottend. Eilig hatte sie es nicht, die Richtung aber stimmte. Sehr galant bewegte sie sich über den nach oben hinaus perforierten Kunststoffbelag. Lautlose Schritte, ganz anders zu Riolu davor. Die kurzen Beine berührten kaum den Boden. Stünde er lichterloh in Flammen - Evoli würde sich wohl nicht einmal verbrennen. Man mochte meinen, sie schwebte einfach darüber hinweg. Erst als sie die unüberwindbare, grünschuppige Barriere erreichte, hinter der sich das eigentliche Ziel verbarg, hielt Evoli inne. Beide Pokémon standen einander direkt gegenüber. Geckarbor hatte sich nicht von der Stelle bewegt, noch machte er irgendwelche Anstalten, seinen Posten zu verlassen. Evoli erwiderte, die Unschuld mimend, den starren Gesichtsausdruck des Laub-Pokémons, als erwartete sie jeden Moment eine triftige Erklärung, warum man ihr so unwirsch den Weg versperrte. Geckarbor wich nicht zurück, keinen Millimeter. Die nach links und rechts ausgestreckten Arme bildeten noch dasselbe abwehrende Kreuz, mit dem er bereits den dahinter Kauernden vor Sonja Schutz gewährt hatte. Die schlitzförmigen Augen funkelten im Licht wie auf Hochglanz polierte Schwerter. Eine einzigartige Art, die Muskeln spielen zu lassen, aber auch eine völlig überflüssige, wie Ray und Sonja einstimmig fanden und ihm mit ihren Rufen klar zu machen versuchten. Von ihrer Randperspektive bemerkten sie nicht, was sich mittlerweile tatsächlich zwischen den beiden Pokémon abspielte. Hinter dem Fenster leuchtete es auf. Ein Blitz bohrte sich im Zickzack durch Wind und Regen. Evolis Gesicht flammte in dem kurzen Lichtstoß auf, die Lefzen unlängst zu einer diabolischen Fratze gekräuselt. Draußen wie auch drinnen donnerte es.
    Mit chirurgischer Präzision jagte Evoli die eigene Schulter in Geckarbors weiche Magengegend. Dem dumpfen Aufprall folgten Rays und Sonjas entsetzte Schreie. Geckarbor taumelte einige Schritte rückwärts, entging dabei nur knapp einer Kollision mit Riolu hinter ihm, sackte dann sofort auf die Knie, die vor Schmerz geschlossenen Augen tränend und beide Hände auf den Ausgangspunkt seiner Qual pressend. Er keuchte, rang nach Luft. Der strenge Geschmack von Halbverdautem brannte ihm ekelerregend in Kehle und Nase. Seine Augenlider verweigerten ihm den Gehorsam, also blieb er blind für das, was um ihn herum geschah: Riolus panische Schreie, Sonja, wie sie entsetzt feststellte, dass sie in ihrem Übereifer den falschen Pokéball verwendet hatte, den, den sie ausgerechnet noch vor wenigen Tagen mit einem großen Z versehen hatte, Zoruas schadenfrohes Gelächter während der Verfolgung seines auf Gedeih und Verderb ausgelieferten Opfers.
    „Ich hab es vergeigt! Ich hab es vergeigt!“
    „Scheiß doch drauf! Reiß dich zusammen und pfeif ihn zurück, aber dalli!“
    Die untypisch aufgewühlte, laute Stimme ihres Freundes riss Sonja zurück in die bittere Wirklichkeit, in der Zorua in seiner Evoli-Verkleidung, zwischen Stühlen und Tischen Jagd auf Riolu machte. Sonjas Finger waren wie ihr Gesicht: taub und versteinert. Fahrig wühlte sie in ihren Hosentaschen, bis endlich der Pokéball mit dem mahnenden Z zum Vorschein kam. Sie legte an und zielte. Aus dem Kern der Kugel löste sich der purpurrote Fangstrahl. Er verfehlte das Ziel gleich um mehrere Meter. Wieder versuchte sie es, dabei flüchtete sie sich wieder in Verwünschungen gegen sich selbst. Auch dieser Versuch missglückte, nicht weniger zielsicherer als der vorherige. Wieder und wieder kostete Sonja den bitteren Geschmack des Versagens. Alles traf sie: Tische, Stühle, vor allem aber den nutzlosen Boden. Nur nicht ihr eigentliches Ziel.
    Jetzt setzte Ray sich in Bewegung - ein fataler Fehler. Im gleichen Moment wollte er Riolu zu Hilfe eilen wie auch Sonja beabsichtigte, die Entfernung zwischen Pokéball und Zorua zu verringern. Beide rempelten ineinander. Der Pokéball entglitt Sonjas tauben Fingern. Schreie halfen nicht. Beide fanden sich nach einer sehr harten Bruchlandung zwischen zwei Stühlen begraben wieder. Sonjas Fußknöchel federte Rays Landung nicht gerade sonderlich ab. Für beide war es keine besonders angenehme, und insbesondere für Sonja keine schmerzfreie Erfahrung.


    Hoch mit dir!
    Ray gelang es als Erstes, wieder auf die Beine zu kommen. Nur wenig später folgte auch seine Freundin, deren Gesicht schmerzverzerrt war. Sie stützte sich auf ihr gesundes linkes Bein, das rechte bereitete ihr unsägliche Pein. Durch die ungewollte, kurze Auszeit war auch das letzte bisschen Kontrolle der verqueren Lage verloren gegangen. Zorua, Riolu, auch Geckarbor - sie alle waren verschwunden. Weg. Schwach hörte man noch Riolus Wehklagen sowie das wahnsinnige Gickeln des Aggressors, doch entfernte die Laute sich zunehmend. Ein heftiger Windstoß rüttelte an den Fenstern, während Sonja hinkend zu dem fallen gelassenen Pokéball eilte.
    „Zorua.“ Als Sonja in die Hocke ging und ihren Pokéball aufsammelte, entstellte ein stechender Schmerz ihr Gesicht. Sie schluckte heftig.
    „So schlau bin ich auch. Aber warum?“
    Sonja antwortete nicht sofort. Auf der Suche nach einem Anhaltspunkt spähte sie den Gang hinunter. Wenn ihre Sinne sie aber nicht täuschten, hatte Riolus letztes Aufklingen in Richtung des darüberliegenden Stockwerks gelegen. „Er meint es bestimmt nicht böse. Zorua neckt nur gerne“, antwortete Sonja und klang dabei sehr bitter. „Mir wurde gesagt, Unlicht-Pokémon hätten oft einen sehr eigenen, einen bösen Charakter. Zwanghafte Neigung, Streiche zu spielen. Manche zehren an dem Leid anderer. Sie intrigieren, manipulieren und betrügen. Alles für ihre eigenen egoistischen Zwecke, alles für den einen Moment. Gefallen daran finden, wie andere leiden ... Ekelhaft. Aber Zorua ... ich glaube nicht ... ich meine, er sieht es eher wie ein Spiel. Seine Chance, das große, böse Pokémon rauszulassen, vor dem die Kleinen ausreisen müssen.“ Sonjas unsichere Schritte führten sie an Ray vorbei.
    „Geht es?“, gab er sich besorgt um den Zustand seiner Freundin.
    „Es muss. Es muss.“
    Sie bogen um die Ecke, wo die weite Eingangshalle sich vor ihnen erstreckte. Drei Schülerinnen mit langer, wallender Haarpracht waren gerade dabei, die große Treppe ins zweite Stockwerk hinaufzusteigen. Entsetzt packte Sonja Ray am Kragen und zerrte ihn zurück. Der entsetzlich grässliche Parfüm-Gestank - eigentlich hätte Sonja ihn bereits zehn Meilen gegen den Wind riechen müssen. Ray hatte die drei Suicunes ebenfalls bemerkt, daher ließ er sich widerstandslos abführen.
    „Das hat gerade noch ... Was wollen die hier?“ Sonja war den Tränen nahe, ob durch ihr pochendes Bein oder durch die Gewissheit, dass sie nur haarscharf einer unfreiwilligen Begegnung mit Fabien, Julia und Marina entgangen war, vielleicht auch beides.
    „Weiß nicht. Aber was machen wir überhaupt hier, hm?“ Ray spähte um die Ecke. „Die sitzen wohl bei dem Sauwetter genau so fest wie wir. Wenn wir Pech haben und Zorua oben ist dann ...“ Seinen Satz wagte er gar nicht zu Ende zu führen. „Die Mädels hatten nicht gerade die beste Meinung von Zorua, oder?“
    Sonja schnaubte verdrießlich. „Sie glauben, ich würde ihnen absichtlich die Show stehlen wollen. Hirnrissig.“
    „Aber im Moment sieht er eher wie Evoli aus“, bemerkte Ray.
    „Nicht weniger schlimm. Sie kennen beide.“
    „Und? Was sollen sie tun? Mit Lippenstift und Nagellack auf ihn losgehen?“ Ray wollte am liebsten lachen, doch irgendwie war der Gedanke daran gar nicht so unabwegig. Fast schon gruselte ihn die Vorstellung, wie drei monströse, irrsinnig grinsende Suicunes ein armes Pokémon in die Ecke drängten und mit ihren Buntstiften traktierten. „Wir müssen hoch. Ich glaube, ich habe Riolu vorhin oben gehört. Packst du das?“, sagte er stattdessen. Die plumpen Versuche seiner Freundin, einige zu beherzte Schritte in die richtige Richtung zu setzen, beantworteten jedoch seine Frage, bevor diese zu einer durchschaubaren Lüge ansetzen konnte. „Hat wenig Sinn. Dann geh ich.“
    „Aber ich ... D-danke ...“ Am Ende erkannte Sonja, dass es sinnlos war, sich gegen Rays Willen aufbäumen zu wollen. Außerdem war ihr bewusst, gerade keine sonderlich große Hilfe zu sein. Wahrscheinlich würde sie die Lage sogar nur noch in die Länge ziehen oder verkomplizieren. „Ich ... dann bleibe ich unten. Halte die Stellung. Vielleicht kommen sie ja vorbei.“
    „Du kannst vielleicht noch was tun.“ Ray kramte in seiner Hosentasche. Sein Handy kam zum Vorschein. Er reichte es seiner Freundin weiter. „Er wollte zwar partout nicht damit rausrücken wo, aber Eagle treibt sich wohl auch irgendwo hier rum. Bestell ihm einen Gruß von mir, er soll seinen stacheligen Hintern hier runter bewegen und suchen helfen.“
    „Äh, okay ...“ Sonja zeigte sich sehr verblüfft. Einerseits, dass Eagle ein Handy besaß, die eigentlich an der Schule verboten waren, und zum anderen, dass Ray dessen Nummer kannte. Wohl der Preis, wenn man mit einem Techno-Freak in einem Zimmer hauste.
    Kurz noch erhaschte Ray die ihm vertrauten Klänge seines Handys, wie unsichere Finger sich über die fremden Tasten quälten, als er bereits um die Ecke gebogen war.


    Die Eingangshalle erstreckte sich völlig verlassen vor ihm. Lautlos setzte er einen Fuß vor den anderen und spähte in alle Richtungen, bis er die absolute Gewissheit hatte: Niemand war da. Keine Suicunes, damit aber auch kein Zorua oder Riolu. In der Hoffnung, vertraute Stimmen zu hören, versuchte er seinen überlauten, rasenden Herzschlag zu überhören. Als er die Vergeblichkeit seiner Bemühungen erkannte, spurtete er los. In Rekordzeit erreichte er die Treppe, nahm je zwei der mit dem gleichen azurfarbenen Bodenbelag versehenen Stufen gleichzeitig und erreichte das zweite Stockwerk. Scharfer Parfümgestank hing schwer wie Blei in der Luft. Die Einbalsamierten konnten ganz in der Nähe sein oder aber auch bereits weit entfernt. Die entscheidende Frage allerdings war: Wo steckte Riolu? Links oder rechts?
    „Hey, Ray!“
    Ray drehte sich nach links, wo ihm Skip freundlich entgegen grinste. „Oh, hi!“ Langsam ging er auf ihn zu. „Gut, dass du ...“
    Mit der Durchschlagskraft einer geladenen Karabiner durchlöcherte ein Knall die friedliche Szenerie. Schreie. Hysterie. Ray bekam erst gar keine Zeit, den überraschten Ahnungslosen zu mimen. Eine Flut aus Erwachsenen, die meisten von ihnen Frauen, adrett rausgeputzt mit feinen Damenanzügen, schoss aus einer aufgeschlagenen Tür. Verstört und verängstigt. Geistesgegenwärtig drückte sich Ray rücklings gegen die nächstbeste Wand - ein, zwei Sekunden später und man hätte ihn mit einem Teigschaber vom Boden aufkratzen können. Nur die hysterischen Schreie überstimmten noch das markerschütternde Trommelfeuer der glänzenden Lackschuhe mit teils pervers hohen Absätzen, mit denen ein Großteil der Frauen den Boden malträtierten. Einige der wenigen Männer wollten es Ray gleichtun und die Flutwelle ebenfalls an der Wand abwarten, doch der nicht abreißende Strom von weiteren Nachrückenden zwang auch sie die Treppe hinunter. Die Geräuschkulisse verlagerte sich langsam auf das untere Stockwerk. Kaum jemand blieb oben. Die, die noch da waren, konnte Ray an einer Hand abzählen. Ein Mann mit Anzug und Krawatte und kurzem, schwarzen Haar tauchte an der sperrangelweit geöffneten Tür auf, die straffen Gesichtszüge pulsierten vor Zorn. Mit einem Donnern, der dem vorherigen in keiner Hinsicht unterlag, knallte er die Tür zu.
    „Was - was war das?“ Obwohl sich Ray kaum bewegt hatte, geschweige denn, es überhaupt hätte tun können, war er atemlos. Schlimmer als ihn hatte es Skip erwischt, der den Strom auf der zur Tür abgelegenen Seite abgewartet hatte. Das ursprünglich sonnengegerbte Gesicht des Suicunes war zu weißem Marmor versteinert. Ray ordnete seine Gedanken, was angesichts der letzten Minute als ein äußerst schwieriges Unterfangen herausstellte.
    „Frag besser nicht. Lange Geschichte. Später“, schluckte Skip kurz angebunden.
    „Riolu! Hast du Riolu gesehen? Ist er vorbeigekommen? Sag schon. Ich hab es verdammt eilig.“
    Skip erweckte mehr und mehr den Eindruck, als müsste er sich jeden Moment auf offenem Flur erbrechen. Er brachte kaum einen Ton heraus, nickte nur ganz knapp und deutete den Gang hinunter. „Dort lang. Gerade eben. Da war noch Evoli bei ihm und Geckarbor. Und nur, falls es dich interessiert: Fabien, Julia und Marina auch. Und ein paar andere Frauen danach. Nicht lange her.“
    Ray wollte am liebsten auf der Stelle losheulen. Die Kotzkrücken ... ausgerechnet jetzt. Wieder manifestierten sich vor seinem inneren Auge die gleichen Bilder der mit Make-up bewaffneten Suicune-Meute, wie er sie bereits ein Stockwerk tiefer gehabt hatte. Aber warum waren sie dahin unterwegs? Hatten sie Zorua gesehen?
    „Was gibt es da? Warum sind die da runter? Haben sie was gesagt?“, redete Ray eindringlich auf Skip ein. Der aber brachte nur noch ein schwaches Würgen heraus: „Mädchenklo.“
    „Mädchenklo!“
    Donnerhall. Die nächste Explosion stellte alles bisher Dagewesene in den Schatten. Rauch, Glas- und Betonsplitter, Schreie, Panik.



    * * *


    Noch am selben Abend jagten sensationsgeile Fernseh- und Radiosprecher die schauerlichsten Szenarien über den Äther. Verstümmelte Menschen, die sich aus schwelenden Trümmern befreiten, ein Sprengstoffanschlag auf das Schulgebäude der renommierten Celebi-High, ein missglücktes Physik-Projekt, bei dem ein schwarzes Loch einen Riss in das Raum-Zeitgefüge gerissen und das Tor zu einer anderen Welt geöffnet hatte. Falschmeldungen revidierten einander halbstündig. Ansatzweise in die Nähe der Wahrheit tastete man sich gegen 21:00 Uhr desselben Abends. Doch erst am nächsten Morgen - die ganze Wahrheit. Hübsch mit reißerischen Schlagzeilen verpackt, berichtete jedes noch so kleine Käseblatt über das kleine, noch keine Woche alte Pokémon, das im Alleingang die Mädchentoilette im zweiten Stockwerk der Celebi-High dem Erdboden gleichgemacht hatte. Wie durch ein Wunder war niemand ernsthaft verletzt worden. Weder Pokémon noch Mensch. Zumindest nicht körperlich. Hier und da ein verstauchter Knöchel, Schrammen, ein paar kleinere Blessuren, psychiatrische Betreuung für rund zwei Dutzend Frauen. Am verhängnisvollsten hatte es eine einzige Schülerin des Raikou-Hauses getroffen, deren kürzlich gehegte Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang der Projektwoche jetzt unter dem Schutt der Mädchentoilette begraben lag. Noch nie zuvor hatte sie eine solche Strafpredigt über sich ergehen lassen müssen. Dass sie sich so dreist über strickte Anweisungen hinweggesetzt hatte, sie von Glück sprechen könne, dass niemand ernsthaft zu Schaden gekommen war, und wie enttäuscht doch der Großteil des Lehrkörpers über die bislang so vorbildliche Schülerin sei. Der Galgenhumor ihres Freundes, während sie am darauffolgenden Freitag ihren Abschlussvortrag hielten (Sonjas Kopf baumelte die ganze Zeit über steil nach unten, selbst während sie mit trockener Stimme ihr monotones Résumé herunterratterte), half ihr nicht einmal ansatzweise über ihre Scham hinweg.
    Den restlichen Tag über feierte Ray die erhaltene Gesamtnote, eine 3-, wie den Sieg einer Fußballweltmeisterschaft. Wehmut, und das nicht zu knapp, empfand er erst, als er sich am späten Nachmittag von Riolu trennen musste. In ein, zwei Jahren sollte sein kleiner Schützling einen Schüler zum glücklichsten Menschen auf der Welt machen, so wie es Sheinux bei ihm getan hatte. Und bis zu diesem Zeitpunkt, das schwor sich Ray, würde er Riolu noch viele Besuche in der Pension abstatten.