Herzlich willkommen im Votetopic zum 6. Wettbewerb in der Saison '11.
([Information] Wettbewerb Nr.6: Traumszene)
Mit dem neuen Jahr kamen auch einige Veränderungen. Besonders das Votesystem hat sich gewandelt. So ist es nun nicht mehr möglich nur einen Punkt an einen Text zu vergeben, sondern beliebig viele. Nähere Informationen findet ihr in folgendem Topic:
Regeln, Information und Punkteliste der Saison '11
Wir bitten euch besonders den Punkt "Die Votes" durchzulesen.
Bitte verteilt eure Punkte nicht nur auf einen Text, sondern teilt sie mindestens zwischen drei Texten auf!
Außerdem schreibt zu jedem Vote eine Begründung! 1-2 Sätze genügen!
Votes, die nicht alle verfügbaren Punkte ausnutzen werden als ungültig erklärt
Die Deadline des Votes ist am 9.4.2011 um 23:59 Uhr.
Da wir 11 Abgaben erhalten haben, habt ihr die Möglichkeit 8 Punkte zu verteilen!
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Die Phantasie sagt niemals „nie“
Ich falle gerade aus einem rosaraten Zuckerwattenwolkenhimmel, doch bevor ich auf dem bananenharten Boden lande, falle ich in einen Schokopool, gemischt mit Karamell, einem Spritzer Vanille und einem Sahnehäubchen mit einer Kirsche oben drauf, die aber aus irgendeinem Grund eher wie Maracuja schmeckt. Doch ich kann das Bad nur kurz genießen, denn ich habe meinen blau-gelb getupften Schwimmring nicht dabei und tauche unter. Faszinierend, was ich erblicke: Giftgrüne Heringsfische, weihnachtskugelleuchtende Kugelfische und nach Honiglotion riechende Forellen, was mich aber nur kaum interessiert, da ich heute schon ein Marmeladentoast zum Frühstück hatte. Also schwimme ich weiter vorbei, an umgarnenden Algen, trügenden Riffen, und mit Seide handelnden Quallen, bevor ich letztendlich zu einem aus siebenundneunzig Prozent Marmorkuchen bestehenden U-Boot komme, welches mich freundlich in seine Roboterpiratenmannschaft aufnimmt, und mir zugleich die wichtigsten Tätigkeiten für einen Bootsjungen beibringt: Stricken, Butterbrote streichen und das ‚R‘ rollen lassen (was wohl noch von den Vorfahren der Piraten abstammt). „Ahoi“, ruft Roboterpiratenkapitän Googlefox (Seriennummer: 00101100101) und lichtet den virtuellen Anker und schon befinden wir uns auf dem Weg nach Mexiko, dem Land der Sombreros und meisten Auswanderer der Welt. Doch ein gewaltig großer Strom rosaner Seesterne und gelber Schwämme auf dem Atlantischen Ozean bringt uns vom Kurs ab und wir landen in Frankreich, dem wohl klischeehaftesten Land, dem ich je begegnet bin, wo ich mich doch leider von meiner Crew trennen muss, jedoch würden mir Matrose Microkost (er hatte einen ziemlich guten Geschmack, was Vorspeisen anbelangt) und Poweroink (er hatte ein rosa Ringelschwänzchen) am meisten fehlen (worauf sich die anderen beschwerten, dass sie mir nicht so viel bedeuten würden und eine Protonenlaserschlacht ausbrach). Ich will zunächst eine Tour durch Neu Paris machen (das alte war inzwischen zu langweilig geworden), den Bleiffelturm anschauen, welcher tatsächlich aussieht wie die Spitze eines Bleistifts und auch aus diesem Material besteht (Man verzichtete auf Glas, da dies zu Komplikationen mit den Glasreinigungsfirmen geführt hätte). Danach wird mir irgendwie langweilig, denn ich habe auch schon die anderen Sehenswürdigkeiten besichtigt, darunter auch den Arc de Strumpf, sowie das Centre Was-willsch-du. Nach einigen Stunden Akkordeonmusik und Shopping in den Champs pas-de-musées, entschließe ich mich also wieder etwas Eskapismus betreiben (einer objektiven Person bleibt es an dieser Stelle selbst überlassen, wie er dies interpretiert). Also komme ich in die Stadt der manisch depressiven und zugleich suizidgefährdeten Menschen, welche zum größten Teil wegen der gescheiterten Politik der PzEvW (Partei zur Enthaltung von Wahlen) hier sind, was wohl auch den Untergang des VzVvA (Verein zur Vermeidung von Abkürzungen) erklärte. Durch eine spontan ausgelöste Streitdebatte der Regierung schickt uns das Land durch braun-weiß gestreifte Segelflugzeuge nach Weit-weit-weg-Land, doch wir stürzen über Nicht-so-weit-weg-wie-erwartet-Land ab und sehe zum ersten Mal in meinem ohne einen wirklichen Sinn habendem Leben eine Hackfleischplantage, worüber sich die Gewerkschaften zur Entscheidung über Moral und Normal noch immer streiten, und auf noch keinen grünen Zweig gelangt sind, oder auf keinen saftigen Schenkel, wie die Chickenwingfarmer zu sagen pflegen. Nach einigen unangehmen Gesprächen über Genforschung und Körperpflegeprodukten reite ich auf meinem Goldbär gen Westen, dem regenbogenfarbenen Sonnenuntergang entgegen. Doch schon bald fängt es an in lilablassblauen Tropfen (mit einem Durchmesser von Tennisbällen) zu regnen, worauf ich jedoch meinen Regenschirm aus Carry Poppins aufspanne, welcher mich jedoch nicht nur vor dem Regen schützt, sondern mich sogar noch in die Höhe steigen lässt, in stratosphärische Höhen, über den Wolken, doch ganz weit oben trifft meinen Schirm plötzlich ein Blitz und ich falle aus einem rosaraten Zuckerwattenwolkenhimmel, doch bevor ich auf dem bananenharten Boden lande - … wache ich auf…
Süßkram, Süßkram - Ich seh nur Süßkram!
Endlich ist ein langer, anstrengender Tag zuende gegangen. Bin ich froh, dass ich mich nun endlich in mein warmes, gemütliches Bett legen kann, denn morgen wartet ein weiterer, anstrengender Tag als Süßwaren-Verkäufer auf mich.
Wow! Schaut euch diese rosa Wolken an, unglaublich, oder? Ist das ein Traum? Egal, wenn es einer ist, dann lebe ich ihn als wäre es keiner. Überall bin ich umgeben von rosa Wolken und Lollipops von den Farben Aquamarin bis Zementgrau, alles ist mitdabei. Oh, was ist denn das? Ein Tor aus rosaroter Zuckerwatte? Dieser Weg führt mich bestimmt zu einem endlosen Paradies. Nun denn, auf zum Paradies, was kann schon schiefgehen? Langsam beschreite ich das Tor, und werde von einem hellen Licht geblendet, bis ich dann endlich das mit Zuckerwatte geschmückte Tor betreten kann. Eigentlich fühlte ich mich schon vor dem Tor im Paradies, doch das hier übertrifft echt alles. Bäume aus Eiscreme, Pudding als Verkehrsmittel um von einem zum anderen Ort zu gelangen, Schlagsahne soweit das Auge reicht und überall übergroße, reichlich gezuckerte Erdbeeren, ein Traum wie ihn sich jeder Teenager vorstellt, wahnsinn!
Doch dann werde ich tatsächlich von einem schrill-piependen Geräusch geweckt, das einzig Gute daran ist, dass ich nun mit einem wunderschönen Hintergedanke in den Tag gehen kann.
InternatDR
Ich hasste diese Schule schon am ersten Tag.
Länger hat es nicht gebraucht. Ich kann mich genau an den Moment erinnern, in dem sich das Wort "Hass" in meinen Gedanken materialisierte: Ich stand vor dem Übersichtsplan und versuchte, den Raum zu finden, dessen Nummer auf einem Zettel in meiner Hand stand.
Bis dahin hoffte ich noch, dass ich lediglich einen schlechten Start erwischt hätte und dass im Laufe der nächsten Tage der Regen aufhören und die Wolken sich lichten würden. Mit ein wenig Sonne könnte die Welt schon wieder viel schöner aussehen.
In dieser Sekunde aber wurde mir klar, dass es kein "aufwärts" geben könnte und alles Niederschlagende kein unschöner Zufall, sondern lediglich Ergebnis des Normalzustandes hier war.
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Als ich völlig durchnässt mit Koffer und Rucksack an der Schule eintraf, war ein strenges "Wer bist Du?" die wenig freundliche Begrüßung.
"Tobi Schmelter", erwiderte ich kurz. Ich wollte möglichst bald auf mein Zimmer und mich wenigstens ein bisschen abtrocknen - aber die Handtücher waren im Koffer.
Der Mann sah über eine Liste.
"Tobias", betonte er die letzte Silbe so dunkel, dass ich sofort beschloss, mit meinem Spitznamen in Zukunft vorsichtiger zu sein. Er fuhr fort, "Du bist spät."
Ich sah auf meine Uhr. "Es hieß, man solle vor achtzehn uhr hier sein", antwortete ich überrascht. Es war halb fünf.
"Ankunft: Drei Uhr", zitierte er aus irgendeinem mir unbekannten Dokument. Ich wusste genau, dass es "Anreise zwischen fünfzehn und achtzehn Uhr" hieß, aber der Mann schien mir nicht in der Stimmung zu sein, Fehler einzusehen.
Ich hatte ohnehin mit drei Uhr geplant. Der Rest war nur Sicherheitspuffer. "Die Bahn...", ich zögerte, "... fiel aus." Das war im Prinzip die Wahrheit. Die weitergehende Wahrheit war, dass wegen eines "Personenunfalls" die Strecke gesperrt wurde und dass ich deswegen zwei Stunden lang im örtlichen Regen stand. Die ausführliche Wahrheit war, dass ich mich mit anderen Fahrgästen unterhalten hatte und mir die Ortskundigen erklärten, das wäre hier - in der Nähe des Internates - an der Tagesordnung. Ich glaubte allerdings nicht, dass eine ausführliche Schilderung meine Situation verbessern könnte.
Er musterte mich und schien mich zum ersten Mal wirklich anzusehen, zum ersten Mal festzustellen, dass mir noch Regen aus den Haaren, dem Gesicht und der Kleidung tropfte. "Hast Du keinen Schirm?" fragte er fast angewidert.
"Ich hatte einen", bloß keinen Humor in die Stimme legen, "ging heute kaputt". Auch hier war die komplette Wahrheit länger. Als der Zug endlich in der Stadt eintraf, regnete es in Strömen. Es hatte ziemlich exakt bei der Stadtgrenze angefangen und ich dachte mir schon, dass der plötzliche Start wie aus einem schlechten Film wäre. Als ich probierte, meinen Regenschirm aufzuspannen, riss der Sturm ihn mir aus den Händen. Bevor ich hinterherrennen konnte, war er auch schon verschwunden und ich fühlte mich dem sintflutartigen Wasser ausgeliefert.
Es schien, als hätte er jetzt nichts mehr zu makeln. Er öffnete die Tür hinter sich und bat - nein, befahl dort "Frau Keller, bringen sie Tobias Schmelter", er sprach meinen Namen aus, als wäre er verachtenswert, "zu seinem Zimmer."
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Frau Keller hatte ein langes, strenges Gesicht und marschierte durch die Gänge, dass ich Probleme hatte, nachzukommen. Ich hätte sie gerne gefragt, ob der Mann am Eingang immer so mürrisch war, aber ich hatte seinen Namen nicht mitbekommen und sie schien mir nicht wirklich anders zu sein. Außerdem war ich auch schon so von ihrem Schritttempo außer Atem und so verzichtete ich auf das Gespräch.
Nach gefühlten zehn Minuten Gewaltmarsch erreichten wir einen grauen Flur. Türen gab es In regelmäßigen Abständen und jede Tür hatte eine Nummer. Sie nahm einen Zettel aus der Tasche, marchierte noch etwa acht oder neun Türen weit - ich kam nicht dazu, sie zu zählen -, zog dann einen Schlüsselbund aus der Tasche, löste einen Schlüssel davon und drückte ihn mir in die Hand.
Der Schlüssel hatte keine Nummer; die Türe war von den anderen nicht zu unterscheiden - keine Namen, nur eine Nummer. Ich wunderte mich, wie Frau Keller den richtigen Schlüssel identifizieren konnte und beschloss, mir die Türnummer gut einzuprägen - besser noch einen Spickzettel zu basteln.
Sie rasselte eine kurze Belehrung herunter: "Du bist verpflichtet, immer hinter Dir abzuschließen. Du bist verpflichtet, auf den Schlüssel aufzupassen. Wenn Du ihn verlierst, wird's teuer. Schlimmer, wenn Du es nicht sofort meldest. Deine Zimmergenossen sind schon länger hier, können Dir also erklären, wie's hier läuft."
Offenbar hatte sie nicht vor, den Raum aufzuschließen, schien stattdessen kurz davor, wieder zu verschwinden. Ich wollte zumindest sicher sein, dass der Schlüssel auch passte und schloss auf; Es war zweimal abgeschlossen und der Raum war leer. Niemand war darin, der mir hätte helfen können.
"Gibt es sowas wie eine Anfängerveranstaltung, wo ich meinen Stundenplan bekomme?" fragte ich vorsichtig.
"Du hättest Dir den Stundenplan schon vor Deiner Abfahrt zusammensuchen müssen", erwiderte sie kalt. Jetzt fühlte ich mich völlig verloren.
Sie muss mir das angesehen haben. Ein kleines Wunder geschah und ich hatte das erste Mal das Gefühl, hier etwas Menschlichkeit zu finden: Sie sah in ihre Liste und meinte dann trocken: "Du hast schon eine ganze Stunde verpasst. Als Erstling solltest Du jetzt in Mathe sitzen, aber das kannst Du auch knicken. Wenn Du nicht trödelst, bekommst Du noch Deutsch mit."
Stand ich eben noch im kalten Regen, so fühlte ich mich jetzt ins kalte Wasser geworfen. Es war Freitag und ich hatte erwartet, zumindest das Wochenende zur Eingewöhnung zu haben. Widersprechen konnte ich nicht, offenbar hatte sie mir schon weit mehr gegeben, als sie sollte. So fragte ich nur resigniert: "Wo?"
Sie sah mich fast mitleidig an und meinte trocken: "Sieh' zu, dass du bis Montag deinen eigenen Stundenplan fertig hast! C-Vier-Zwei-Fünf. Trödel nicht!"
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"C425" kopierte ich von meiner Hand in mein Notizbuch, bevor der Schriftzug verschwinden konnte. Erst im Zimmer traute ich mich, den Rucksack abzunehmen und das Notizbuch herauszuholen.
Das Zimmer war nicht sehr groß. Es gab vier Betten - zwei Hochbetten. Als Kind fand ich das immer abenteuerlich, jetzt dachte ich nur "Platzeffizienz". Ein Bett war nicht bezogen; ich stellte meinen Koffer davor.
"C425" - diese Zahl war alles, was ich in dem Moment hatte. Ich schrieb noch "deutsch, freitag, 1645" daneben. Dann ging ich zur Tür, öffnete sie und schrieb mir ebenfalls die Nummer - "H374" - ab. Erst jetzt fühlte ich mich angekommen genug, ein Handtuch aus dem Koffer zu holen und mir die Nässe aus Gesicht und Haaren zu trocknen.
Ich hatte Lust auf eine warme Dusche, aber damit hätte ich wohl meinen einzigen Anschluss - "C425" - wieder verloren, also beließ ich es dabei, schnell in trockene Wäsche zu schlüpfen. Zumindest müsste ich später die Waschräume nicht selbst suchen, sondern könnte meine Zimmergenossen danach fragen.
Neben "meinem" Bett standen zwei Schränke. Auf Verdacht öffnete ich den falschen und blickte auf fremde Wäsche - ordentlich eingeräumt. "Ordentlich" war das falsche Wort, selbst "penibel" schien es nicht zu treffen. Die Stapel waren exakt senkrecht: kein Shirt, welches auch nur einen Millimeter breiter oder schmaler zusammengelegt war als die anderen; keine Bügelfalte und kein Fleck waren zu sehen. Der Schrank war voll und doch schien kein Platz verschwendet. "Toll! Ein Ordnungsfanatiker", dachte ich mir still, "bei meiner Ordnung wird das bestimmt noch Stress geben". Bevor ich auch nur durch bloßes Ansehen diese Kleidungskorrektheit stören würde, schloss ich den Schrank. Der andere musste "meiner" sein.
Er war abgeschlossen. Mein Schlüssel öffnete ihn und er war bis auf ein paar Bügel leer. Mir war auf den ersten Blick klar, dass ich niemals den Inhalt meines Koffers dort unterbringen können würde. Dieses Problem war aber nicht aktuell, ich hatte eh keine Zeit. Ich hing mit Bügeln die noch nasse Kleisung zum Trocknen am Bettgestell auf und verschob das Einräumen auf später.
Meinen Rucksack ließ ich zurück, weil er ebenfalls nicht trocken genug war. Ich schnappte mir nur ein leeres Schulheft, Stiftemäppchen und Notizbuch. Ein letzter Blick verriet mir, dass "H374" immer noch stimmte, dann schloss ich die Tür hinter mir wieder ab - zweimal - und machte mich auf die Suche nach "C425"
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Dieses Internat war ein Irrgarten. Mir schien schon nach den ersten Schritten völlig unmöglich, sich hier zurechtzufinden: Benachbarte Räume hatten noch nicht einmal ähnliche Nummern. Ich bekam Angst, auch mit Raumnummer "mein" Zimmer nicht wiederfinden zu können.
Die Flure waren wie ausgestorben; Außer dem Mann am Eingang und Frau Keller hatte ich hier noch keine Menschenseele getroffen. Es war auch vollkommen still; aus den Räumen war nichts zu hören. Ich überlegte, einfach an eine Tür zu klopfen und drinnen jemanden um Rat zu fragen. Ich wusste jedoch nicht, was sich wirklich hinter den Türen verbergen würde und so widerstand der Versuchung.
Ohne direkt danach gesucht zu haben, fand ich mich plötzlich am Eingang wieder. Der mürrische Mann war verschwunden, dafür nahm ich erstmalig einen Übersichtsplan wahr, den ich vorher noch nicht gesehen hatte.
Der Plan war nutzlos - blanker Hohn. Mein Unterrichtsraum schien darauf nicht zu finden und zusammen mit den unfreundlichen Erwachsenen, dem rücksichtslosen Zeitplan und dem absoluten Fehlen fröhlicher Stimmen reichte mir das, um die Schule komplett zu hassen. Ich fühlte mich in einem Albtraum und ich hatte nur noch den Wunsch, aufzuwachen.
Der Traumgarten
Das alt bekannte Panorama erstreckt sich vor mir. Der helle Sonnenball, die Klippe in oranges Licht getaucht, das Weidengras weiß leuchtend, sanft vom Wind bewegt. Die alte Buche, die ihre Äste leicht treiben lässt, die dunkelgrünen Blätter, die miteinander die Symphonie der Natur anstimmen. Zikaden, irgendwo im Gras, die ihren Teil zum Lied betragen, die Klänge, die Rufe der Vögel über meinem Kopf, dringen an mein Ohr. Obwohl das Szenario definitiv an einen Sonnenuntergang im Sommer erinnert, die angenehme Wärme und der Duft bleiben aus. Seufzend lasse ich mich auf die alte Schaukel fallen, die an einem der Äste des großen Baumes hängt. Die Füße kommen kaum auf, mit etwas Schwung bewegt sich das Schaukelbrett bald schon auf uns ab, immer schneller.
Vor, zurück, vor und zurück. Auf, ab, auf und ab.
Meine Haare folgen der Richtung nur widerwillig, in die ich mich bewege, der Wind spielt mit ihnen. Mir kommen die Worte meiner Freundinnen in den Sinn.
„ Du kannst deine Träume steuern, tust aber jede Nacht das Selbe? Warum?“
Weil ich es liebe. Ich hatte ihr nicht gesagt, was ich in meinen Träumen mache, das geht schließlich nur mich etwas an. Für sie wäre es vermutlich langweilig, ihre nächtlichen Ausflüge zu diesem Ort zu machen. Doch für mich ist es etwas besonderes. Die Zeit, die ich hier verbringen kann, bin ich frei. Vogelfrei, nicht mehr gefesselt an das kalte Krankenhausbett, das meinen Alltag bestimmt. Ich bin krank, tödlich krank. Eine Gen-Krankheit, die mich immer mehr einschränkte, das Leben ohne Hilfe unmöglich macht. Stundenlang betrachte ich täglich den merkwürdigen Apparat in meinem Zimmer. Die rote Kurve, die meinen Puls anzeigt.
Auf, ab, auf und ab.
Ich steige vom Schaukelbrett ab, wage einige Schritte auf die Klippe zu. Bisher habe ich mich nie getraut, über den Rand hinweg zu schauen. Der Traum war wie immer idyllisch, ruhig und sanft, ließ mich all die Sorgen vergessen. Ich blicke zum Himmel, der rote Ball ist immer noch an der gleichen Stelle. Die hellen Strahlen vermischen sich mit dem Nachthimmel, die Sterne und der Mond im Hintergrund funkeln weiß. Was mich dort wohl erwartet? Am Abgrund? Die Tiefen des Meeres, welches ich nur aus Erzählungen kannte? Ein weites Blumenfeld, so wie auf den zahlreichen Bildern in meinem Zimmer? Die Neugierde treibt mich vorwärts, aber ich zögere. Das Herz in meiner Brust droht zu explodieren, hart und schnell schlägt es in meinem Körper. Ist es ein Fehler, weiter zu gehen? Es ist ja nur ein Traum. Was soll schon groß passieren? Die Füße berühren das Gras am Boden, gleiten vorwärts. Langsam nähere ich mich der steinernen Klippe, steige auf einen Stein, mühsam aber ermutigt. Doch was mich erwartet, am Boden, den ich nicht einmal sehe, ist unvorstellbar. Unendliche Dunkelheit, erschreckend und zugleich interessant, schon fast lockend, erstreckt sich vor mir. Ich drehe mich um, will einen Schritt zurück tun, weil mich das Gesehene schockiert. Und plötzlich fällt mir ein, ich kann meine Träume doch beeinflussen. Die Augen zu Schlitzen verengt, die Hände zu Fäusten geballt an meiner Seite, stelle ich mir vor, wie die Dunkelheit dem bunten Blumenmeer weicht, doch es funktioniert nicht. Nein, eher im Gegenteil.
Die Dunkelheit kriecht langsam näher, schleichend, aber von allen Seiten. Ich schaue zurück, zu der alten Schaukel. Sie ist schon verschwunden, in der Schwärze, die mir Angst einjagt. Ich versuche, meine Beine zu bewegen, kann es aber nicht. Sie sind wie festgewachsen, unbrauchbar. Mit einem Schlag holt die Realität mich ein. Meine Beine konnte ich schon lange nicht mehr gebrauchen, nur noch in meinen Träumen. Der erstickende Dunkelheit kommt weiter näher, kriecht mir die Beine hoch, den Unterkörper, beginnt, sich zu meinem Bauch hochzuarbeiten. Erschrocken stelle ich fest, dass es mich nicht mal mehr kümmert. War es so weit? Das letzte Mal habe ich den Garten meiner Träume nun also besucht. Tränen, bitter und verzweifelt, laufen mir über die Wange, werden verschluckt von der Masse, die nur noch meinen Kopf frei lässt. Der Hals verschwindet langsam in der Leere, meine rechte Wange fühlt den kalten Hauch des Todes, ich schließe meine Augen, stelle mir zum letzten Mal das Zimmer vor, in dem ich tagtäglich lag. Die Bilder, die Aussicht auf das Fabrikgelände, die karge Ausstattung. Und das Gerät, das meinen Herzschlag anzeigt. Wie es nun wohl aussieht?
Auf, ab, auf und ab. Bis es von einem hohen, andauernden Piepton abgelöst wird, und der Punkt still steht.
Schatten
Ein kühler Wind haucht meine Haare aus meinem Gesicht, als ich bis zu den Knöcheln im Wasser stehe und meine Einsamkeit geniesse. Im weissen Sand finden sich meine Spuren, sie führen weiter nach links, machen eine sanfte Kurve und führen ins Meer. Dort bin ich hinausgetreten. Wer sich im Wasser nicht ausdauernd geschmeidig fortbewegen kann, wird mich hier niemals finden. Denn um hierher zu gelangen, muss man pausenlos sehr weit schwimmen, um eine mächtige Klippe herum, durch einen Tunnel, der wie eine Höhle zu sein scheint, und schlussendlich eine ganze Weile einer felsigen Wand entlang. So gelangt man hierher, zum schönsten Ort dieser Welt. Es scheint ein Traum zu sein, dass ich diese Bucht gefunden habe. Das Wasser ist so klar, als würde es einer plätschernden Quelle in den Alpen entspringen, es funkelt und glitzert bei jeder noch so kleinen Welle. Das regelmässige Rauschen beruhigt mich und macht mich angenehm schläfrig. Niemals hätte ich erwartet, dass ein solch wundervoller Platz in meiner Nähe ist. Ich wohne direkt am Strand in einem kleinen Haus, doch bisher hätte ich nicht erwartet, dass es noch schönere Küsten gibt als die, wo mein Anwesen steht. Doch ich habe mich geirrt. Und hier stehe ich nun, geniesse mein Leben.
Ich blicke in die Ferne und sehe, dass sich die Sonne am Horizont langsam orange zu färben beginnt. Um den Sonnenuntergang zu beobachten, setze ich mich ins seichte Wasser. Immer weiter sinkt sie hinunter, versprüht ihre wärmenden Strahlen immer weiter. Ihre Umrisse verschmelzen mit dem Himmel, welcher ein immer intensiveres Orange annimmt. Er gibt seine Farbe an das Wasser weiter, welches mit vielen verschiedenen Nuancen beeindruckt. Von einem hellen Gelb bis hin zu einem dunklen Bordeauxrot ist wohl jeder Ton vertreten. Ich höre das Wasser und meinen Atem und bin völlig entspannt, als ich dabei zusehe, wie die Sonne langsam weiter sinkt. Ihre Flammen flackern am Firmament, züngeln am Himmel entlang. Sie tanzen mit den Wolken, wirbeln herum, drehen sich um sich selbst. Einige völlig wild, andere ruhig und gleichmässig. Das Feuer jedoch hat keine Chance gegen den natürlichen Verlauf der Natur. Immer mehr flammendes Licht wird friedlich vom Meer verschlungen, versinkt immer weiter in den Tiefen seines Schicksals. Die orangenen Wellen führen noch einen letzten Tanz mit den letzten übriggebliebenen Flammen, bis sie sie schlussendlich unter sich verbergen. Das Licht wird von dem leuchtenden Orange, welches es zu Beginn noch gewesen ist, zu einem immer dunkler werdenden Rot. Und auch das Licht wird es nicht schaffen, sich über Wasser zu halten. Nun ist es endlich soweit: Der letzte, verzweifelte Versuch eines kleinen Sonnenstrahls, sich immer noch am Leben zu halten, scheitert. Das tiefe Rot wird zu einem dunklen Blau und die Sonne hat sich für heute verabschiedet.
Das Licht der Sterne glitzert auf dem sich kräuselnden Meereswasser. Was vorhin noch in warmen Farben erstrahlte, wirkt nun kalt und dennoch wunderschön. Von weiss bis indigoblau funkeln die Wellen, springen hoch um sich später friedlich schlafenzulegen. Der Vorgang ist einfach atemberaubend anzusehen. Tief seufze ich, als ich über die vielen Wunder der Natur staune.
Plötzlich jedoch sehe ich etwas, was überhaupt nicht ins Bild passt. Ein schwarzer Schatten liegt über dem Wasser. Er hat die Form eines menschlichen Wesens, genauer gesagt die einer Frau. Sie hat lange Haare und eine kurvige Figur, scheint nahezu perfekt zu sein. Durch die vielen Bewegungen der Strömung verzieht sich der Schatten immer wieder, bleibt niemals gleich. Teils ist das Erscheinungsbild lang gezogen, teils wieder eher zusammengeschrumpft. Alles scheint normal und natürlich zu sein, doch die ganze Sache hat einen Haken: Wenn jemand hier meine Bucht entdeckt, werde ich nicht mehr alleine sein. Sie werden sie entdecken, sie werden sie für Touristen und Werbezwecke missbrauchen. Ein Weg wird hier hinführen, den sowohl Alt als auch Jung, sowohl Wasserratten als auch Nicht-Schwimmer bewandern können. Die Ruhe dieses heiligen Ortes wird gestört werden und keiner kann etwas dagegen tun. Die einzige Möglichkeit ist, diese Person aufzuhalten – um jeden Preis.
Doch dazu muss ich sie erst finden. Seltsamerweise hat ihr Schatten sich nicht bewegt, und erst jetzt fällt mir auf, dass trotz des kühlen Windes ihr Haar keine Bewegung enthält. Sie scheint leblos zu sein, wie eine Art Figur, vielleicht auch eine Werbefigur oder ähnliches. Doch kann etwas von Menschenhand aufgebautes nicht einfach aus heiterem Himmel kommen. Selbst wenn jemand dahintersteckt und dieser Schatten keinem Lebewesen gehört, hat jemand meine Bucht entdeckt. Und ich muss sie schützen, damit ihre unendliche Schönheit nicht einfach verloren geht. Also schaue ich mich um, ob ich das Objekt, das den Schatten wirft, irgendwo entdecken kann. Doch dort ist nichts, in keiner Richtung. Mir ist klar, dass sie nur dort stehen kann, wo des Schattens Füsse sind, doch dort ist nur absolute Leere, eine karge Felswand, auf welcher man sicherlich nicht stehen kann. Absurderweise sehe ich nun also auch an den anderen Orten nach, doch auch dort ist nichts als die kalte Leere. Plötzlich beginne ich zu frösteln. Was wird hier für ein Spiel getrieben? Eine Gänsehaut überzieht meine Arme. Angst durchtränkt meinen Geist, Aufregung breitet sich in mir aus. Ich bin eindeutig allein, doch fühle ich mich durch den Schatten beobachtet. Ich fürchte um meinen Strand und um mein Leben. Hat eine höhere Macht sich etwa gegen mich verschworen? Jeder Blick auf den Schatten lässt meinen Körper zusammenzucken. Ohne dass ich es merke fliesst eine Wange mein Gesicht herunter, als ich aufstehe und langsam rückwärts gehe. Ich will weg vom Wasser, weg von hier. Beinahe entfährt ein lauter Schrei meiner Kehle, als ich plötzlich eine Stimme höre.
„Geh weg von hier, du bist hier nicht sicher! Lauf, lauf! Lauf, oder es wird zu spät sein. Du musst fliehen, ich flehe dich an, flieh! So flieh doch, bitte…“ Die Stimme gehört einer Frau, doch ich kann sie nirgendwo entdecken. Die Stimme hat weinerlich geklungen, als würde ihr mein Wohl wirklich am Herzen liegen. Die Stimme ist mir nicht bekannt vorgekommen, noch niemals habe ich etwas derart Klares gehört. Dennoch folge ich ohne auch nur einen weiteren Gedanken zu verschwenden ihrer Bitte. Mein Kopf brummt, ich kann meinen Herzschlag sowohl spüren als auch deutlich hören. Meine Kehle ist staubtrocken und Tränen befeuchten meine Wange, als ich so schnell über den weichen Sand renne wie ich kann. Ich muss zurück ins Wasser um den langen und gefährlichen Rückweg zu bestreiten. Zwar habe ich das Wasser bald erreicht, doch es scheint eine ganze Ewigkeit zu dauern. Mein Atem geht ruckartig und mir ist übel, doch ich halte nicht an. Mit einem möglichst eleganten Kopfsprung werfe ich mich in die Wellen und beginne in schnellen sanften Zügen zu schwimmen. Ich schaue nicht zurück, habe meine Augen sogar geschlossen. Doch plötzlich höre ich einen lauten Knall in der Richtung, woher ich gerade gekommen bin. Ich bin noch nicht sonderlich weit geschwommen, also muss ich einfach zurück um zu sehen, was passiert ist. Ich spüre irgendwie, dass die Gefahr vorbei ist, und mache mich auf den Rückweg.
Mein Atem bleibt beinahe stehen, als ich diesen Meteoriden sehe. Er hat beinahe meine gesamte Bucht ausgefüllt, ist riesig und raucht in einem mysteriösen Violett. Der Schatten ist verschwunden. Diese Frau hat mir das Leben gerettet – Oder ist es ein Geist gewesen?
„Danke“, flüstere ich.
Ich schrecke aus meinem Traum. Ich atme hektisch und bin schweissgebadet, aber ansonsten bin ich wohlauf. Langsam versuche ich meinen Atem zu regulieren. Ein – Aus. Ein – Aus. Eindeutig werde ich ruhiger. Ich werde entspannter. Ich werde wieder schläfrig, zwar langsam, aber doch gut merklich. Von alleine wird mein Atem nur regelmässiger. Immer tiefer werden meine Züge, immer schwerer meine Lider, bis ich schlussendlich wieder einschlafe. Und wer kann wissen, was nun für ein Traum meinen Schlaf wohl heimsuchen wird?
Der Traumschlüssel
Null-Null-Doppelpunkt-Vier-Sieben leuchtet rot auf dem digitalen Ziffernblatt. Doch das sieht der junge Mann im Bett daneben nicht. Er, dessen Rücken dem Wecker zugewandt ist. Er, dessen Geist keine Ruhe findet. Er, dessen Augen die weißen Schatten auf der Tapete verfolgen. Er, der nur ganz entfernt die dazugehörigen Autogeräusche wahrnimmt.
Der junge Mann kuschelt sich seufzend fester in seine Bettdecke. Immer noch fixiert er die Leuchtflecken an der Tapete. Sie beginnen zu verschwimmen und immer deutlicher dringt eine Melodie an sein Ohr: „Oh, Du fröhliche. Oh, Du selige...“ Und auf seinem Gesicht macht sich ein Lächeln breit.
Ich stehe in einem großen Raum, erhellt von vielfarbigen Lichtern. Mich beschleicht das Gefühl diesen Ort nur zu gut zu kennen. Unwillkürlich muss ich an meine Eltern denken, genauer gesagt an das Wohnzimmer meiner Kindheit. Nur bin ich ganz allein.
Doch wo ich mich befinde ist unwichtig, denn mein Blick ist von etwas Wunderbarem gefesselt, etwas dem man ganz nahe sein will. Vor mir ragt ein gigantischer Weihnachtsbaum in die Höhe. Er ist umgeben von hübsch verpackten Päckchen, wovon jedes mindestens doppelt so groß ist wie ich. Der Baum ist liebevoll geschmückt und in seinen Zweigen schweben bunte Lichter. Unbedingt will ich eine dieser Kugeln berühren, besonders die auf der Spitze. Die, die in Sternform über allem strahlt.
Schnell laufe ich zu den untersten Ästen. Ich springe hoch. Meine Fingerspitzen strecken sich. Enttäuscht greife ich ins Leere. Mist.
Wieder springe ich und fast verfehle ich erneut, doch im Nachgreifen erhasche ich das ersehnte Grün. Mühevoll ziehe ich mich nach oben und beginne zu klettern. Meine Bewegungen spüre ich kaum, denn es gibt nur mich und den leuchtenden Stern auf der Spitze. Alles andere lasse ich unbeachtet links liegen. Selbst die huschenden kleinen Schatten entfallen mir.
Endlos scheint die Strecke zwischen mir und meinem Ziel zu sein. Irgendwann komme ich an. Begierig recke ich mich, lehne mich nach Vorne und strecke meine Finger aus, wie Fühler. Schließlich habe ich es geschafft. Ich berühre nicht nur, sondern umarme die Wolke aus Licht und fühle nichts als grenzenlose Glücksseligkeit. Ich habe das Gefühl zu schweben, zu fliegen, gar selbst zu leuchten und entferne mich immer mehr vom riesigen Nadelgehölz.
Plötzlich hat mich die Schwerkraft wieder. Ich bin nur noch Panik – fallende Angst. Das Licht in mir zerstaubt in viele kleine Kugeln. Immer schneller geht es in die Tiefe. Blind greife ich um mich in der Hoffnung irgendwo hängen zu bleiben. Ich kriege sogar etwas zu fassen. Was es ist, kann ich nicht sagen, denn schon im nächsten Augenblick komme ich auf und fühle nur noch eines: Kopfschmerzen.
Benommen öffnet der junge Mann seine Augen. Er liegt auf dem Fußboden seines Schlafzimmers. Er richtet sich auf und fasst sich an den Kopf, bevor er seine Schritte in Richtung Badezimmer lenkt. Dort eingetroffen, stützt er sich schwer mit beiden Händen auf das Waschbecken. Er lässt den Wasserhahn laufen und spritzt sich etwas vom kalten Wasser ins Gesicht. In einem Glas löst er eine Aspirin auf. Er hebt seinen Kopf und schaut sich in das triefende, schlaftrunkene Gesicht. Für einen Moment verharrt er in dieser Stellung, bevor er das Glas in einem Zug leert und anschließend schlurfend in sein Schlafzimmer zurückkehrt. Erschlagen lässt er sich in sein Bett fallen.
Meinen Kopf strecke ich aus dem Fenster und mir bläst der Fahrtwind entgegen. Ich befinde mich in einem Zug, der gerade eine langgezogene Kurve durchfährt. Dabei habe ich eine gute Sicht auf die schöne alte Dampflok zwei Wagen weiter vorne, wie sie in großzügigem Abstand zum riesigen Weihnachtsbaum fährt. Allmählich wird mir kalt und so schließe ich das Fenster wieder.
Ich stehe in einem Großraumabteil. Es ist rot ausgekleidet und die Sitze sind mit Leder bespannt. Es ist laut und es ist voll. Alle Plätze sind mit Menschen belegt, die sich angeregt unterhalten. Man könnte glauben, die Leute würden sich alle auf ein großartiges Ereignis freuen. Doch etwas ist seltsam, die Menschen haben keine Gesichter. Stumm starre ich sie an, denn ich bin wie gelähmt und weiß nicht, was ich tun soll. Nach und nach wenden mir die Gesichtslosen ihre Köpfe zu. Ihre Stimmen senken sich zu einem Flüstern bis man nur noch das stille Rattern des Zuges hört. Schweigend fixieren sie mich mit ihren Gesichtern - bedrohen mich förmlich.
Ich starre nur zurück. Es zerreißt mich und ein Schrei bricht sich Bahn. Raus, ich will nur noch raus hier. Ich beginne entgegen der Fahrtrichtung zu rennen. Die Köpfe folgen mir, drehen mir ihre leeren Fratzen hinterher.
Im nächsten Abteil sind sie wieder, diese Menschen, diese Puppen. Atemlos laufe ich weiter. Bis ich schließlich im letzten Abteil die letzte Tür öffne und nach Draußen flüchte. Erschöpft sinke ich an der Tür zu Boden und hoffe, dass mir keines dieser Monster folgt. Fürs erste bin ich gerettet.
Als mich etwas an der Schulter berührt, zucke ich zusammen. Ich rolle mich zur Seite, da ich eine Hand aus dem Augenwinkel wahrzunehmen scheine – ist mir doch ein Wesen gefolgt?
Umso überraschter bin ich, als ich eine wunderschöne junge Frau erblicke. Ihre Haut gleicht Porzellan umgeben von einer schimmernden Aura. Schwarz flattert ihr Spitzenkleid und in ihrem blauen Haar sind schwarze Perlen eingeflochten.
„Habe keine Angst, es geschieht Dir nichts.“, kann man ihre dunkle Stimme vernehmen, „Es ist doch nur ein Traum.“
Zunächst begreife ich nicht: „Und was nutzt mir dieses Wissen?“
Sie lächelt mitleidig, als ob ich etwas Wichtiges vergessen hätte.
„Du hast da etwas in Deiner Tasche, nimm es heraus und benutze es.“, nickt sie mir zu.
Verwundert greife ich in meine Hosentasche. Meine Hand schließt sich um eine tischtennisballgroße Kugel. Als ich meine Hand wieder hervorhole, öffnet die junge Frau behutsam meine Faust.
Auf meiner Handfläche kommt eine pulsierende Kugel zum Vorschein.
„Was ist das?“, staune ich.
„Das“, sie schaut mich offenherzig an, „ist der Schlüssel zu Deinen Träumen. Mit seiner Hilfe kannst Du Deine Träume in jede Richtung lenken.“
Ich begreife immer noch nicht. Plötzlich verwischt sie und löst sich in einem Nebel auf. Sie ist nur noch Rauch meiner Erinnerungen. Eine kleine Kreatur stürzt sich mit Geschrei auf mich. Seine Haut ist ledriggrau und seine Reptilienaugen gieren auf meine Kugel. Seine Klauen kratzen an meinem Handrücken und versuchen mir den Traumschlüssel zu entreißen. Niemals darf es die Kugel bekommen. Wir wälzen uns hin und her. Obwohl ich alles aufwende, um den Diebstahl zu verhindern, merke ich, wie das Ungetüm immer mehr die Oberhand gewinnt.
„Bloß nicht.“, flehe ich inständig in Gedanken, inzwischen zu schwach die Worte auszusprechen.
Schließlich öffnet der junge Mann seine Augen. Verschwitzt liegt er in seinem Bett und murmelt: „Es war nur ein Traum.“
Sein Blick richtet sich auf seine Digitaluhr: Null-Fünf-Doppelpunkt-Drei-Drei.
Gefesselt hocke ich auf einer großen Holzplatte. Vor mir steht ein Nussknacker, einer dieser im roten Militärdress gekleideten Männchen. In seinem geöffneten Mund liegt eine Walnuss. Sie beginnt zu knirschen und zu knacken. Mit einem Splittern bricht die Nuss entzwei und einzelne Teile fallen zu Boden. Am Rande der Schirmmütze des Nussknackers erscheinen eine klauenbewehrte Griffel. Kurze Zeit darauf auch das dazugehörige ledriggraue Monster. Es starrt mich an. Endlich hat es gefunden, was es sich schon so lange wünscht – mich. Mit einem gekonnten Satz ist es bei mir. Sein Gesicht ist meinem so nahe, das mir sein Mundgeruch entgegenschlägt: „Mensch.. Sage mir.. wo hast Du den Schlüssel?“
Ich schlucke, während mich das fremde Wesen lauernd umkreist. Es wird immer unruhiger: „Los, raus damit.“
Ich weiß doch nicht, wo es sich befindet.. es wurde mir doch erst vor kurzem entrissen? Doch aus irgendeinem Grund scheint es erfreut und setzt sein breitestes Grinsen auf. Selbstsicher geht es auf mich zu und durchwühlt meine Hosentaschen. Dann findet es, was sucht und hält es triumphierend in die Höhe.
Im nächsten Moment verschwindet das Monster in einer schwungvollen Drehung. Nicht nur meine Fesseln lösen sich auf, sondern auch die Konturen meiner Traumwelt bis ich nur noch im farblosen Nichts liege, einem Traum aus dem ein Erwachen unmöglich ist. Zeit und Raum existieren nicht mehr.
Irgendwann erhebe ich mich und gehe gekrümmt in eine unbestimmte Richtung. Inständig wünsche ich mir, dass es etwas gäbe, dass mir einen Halt gibt. Und dann am Horizont erblicke ich etwas. Es ist eine blaue Kornblume. Dort bei diesem unschuldigen Blümchen angekommen, falle ich vor ihm auf die Knie. Sein Blumenkelch wiegt leicht im Wind.
„Tja, jetzt bin ich hier und immer noch gefangen, kleine Schönheit.“, schaue ich verzweifelt das Blümchen an, „Ich wünschte, ich wäre wieder in meinem Traum.“
Und ohne das ich zuerst bemerke öffnet sich über mir ein Riss. Als warmes Licht auf mich fällt, schaue ich nach oben und sehe durch die Öffnung einen gigantischen Nadelbaum. Es ist der, den ich schon vor einiger Zeit erträumt hatte. Ich stehe auf, strecke mich dem entfernten Riss entgegen, um dorthin zu gelangen, wo meine Träume sind und beginne zu fliegen. Träume kann man also auch ohne Kugel verändern, denn man ist der Schlüssel selbst.