Ist Einsamkeit nicht nur einfach die Angst vor dem Vertrauen? ~Lauriel
Kapitel III – Nimm mich mit
Umschlungen von der Luft, die ihn im Sturz umgab, fühlte er sich bereits eingehüllt wie ein Toter. Kein Schrei, keine Regung… sein Körper blieb wie erstarrt und so schaute er seinem Schicksal, das dort am Boden auf ihn wartete, furchtlos entgegen. Das Pfeifen des Windes rauschte in seinen Ohren wie eine traurige Todesmelodie, welche die Natur nun für ihn anspielte. Seine Bänder jedoch wehten aufgeregt umher, lieferten das einzige Anzeichen dafür, dass auch tief in ihm noch ein Wille vorhanden sein musste. War er nicht doch noch für irgendetwas zu gebrauchen? Ja, bestimmt gab es da draußen jemanden, der ihm ähnlich war, so dachte er sich. Doch nun war es bereits zu spät, daran zu denken. Er hatte alle Chancen vertan. In diesem Moment schien ihn etwas sachte zu umwiegen; wie eine sanfte Stimme, die ihn in seinem Geiste rief. Wie von aller Sorge befreit, schloss er die Augen und nahm einen leisen wispernden Laut wahr. Er klang verzweifelt, ja gar hilflos und er schien näher zu kommen. Immer lauter wurde dieses Geräusch, bis es schließlich in seinen Gedanken immer stärker widerhallte. Und wie, als wäre ein lauter Schrei in seine Empfindungen eingedrungen, schrie auch er aus Leib und Seele auf. Ein schmerzerfüllter Ruf, der die Stille dieses trügerischen Tages durchbrach und in ein trauriges Anwesen verwandelte. Jurijos Augen waren aufgerissen, seine Muskeln verkrampften sich und er spürte, wie etwas ihm seine Kraft raubte. Ja, irgendwer brauchte Hilfe und alles was er tun konnte, war zu fühlen, wie jemand ihm die Energie raubte, die ihn gerade noch am Leben hielt. Plötzlich hörte diese raubende Empfindung wieder auf und der Junge fühlte sich noch um einiges ausgelaugter als zuvor. Selbst als er nun willig war zu überleben, so war sein Körper zu ermüdet, um sich zu bewegen. So schloss er abermals seine Augen und ließ es einfach zu, wie er im Sog der Luft unterging.
Ein dumpfer Schlag ließ ihn wieder aufschrecken. Verwundert öffnete er die Augen, denn er musste auf irgendetwas gelandet sein. Nicht etwa der harte Tod des Bodens; nein, er war seltsamerweise sehr weich gelandet. Dennoch konnte er sich nicht dazu durchringen, sich zu bewegen und so ließ er es zu, dass ein dösiger Schlaf ihn erfasste und ihn in eine fernere Welt des Träumens beförderte. Auch wenn er es zu diesem Zeitpunkt nicht bemerkte, so wurde er - auch während seines seichten Schlafes – in eine fernere Gegend getragen. Auf dem Rücken eines gigantischen Rochens liegend, der durch die gleichmäßig schwingenden Bewegungen seiner Flügelflossen anmutig durch den Himmel glitt, würde seine Reise also beginnen. Jedoch war dieses Wesen nicht alleine. Schaute man sich um, so konnte man die weitreichende Schlange von dämonischen Flugrochen sehen, die sich den Weg durch die Region bahnte, um einen Ort aufzusuchen, der ihnen für einen ganz bestimmten Zweck dienen würde, der jedoch zu diesem Zeitpunkt noch gar ungewiss war. Die Luft war von dem Klang der Flugbewegungen erfüllt, die die mächtigen blauen Rochen erzeugten. Wie ein Stimmengewirr des Windes klang es an diesem ruhigen Ort. Die dicke Haut der Riesen war mit blauer Färbung überzogen, die wiederum zierten weiß gesprenkelte Punkte – fast wie Farbe. Am Kopf der Wesen befanden sich lange Fühler, die an die eines Schmetterlinges erinnerten, und die Schwanzflosse war mit einer feinen Schwimmhaut überzogen. Die Kolonne störte sich nicht an dem Jungen, der mittendrin auf einem der Muttertiere lag und sich durch dieses Schauspiel der Wanderung mit treiben ließ. So klein wie ein Insekt schien er auf dem riesigen Körper dieses Wesens, was sich den Himmel zu seinem Zuhause gemacht hatte.
Von einer der schwebenden Inseln jedoch kam ein zielender Blick herab. Eine schwarze katzenähnliche Gestalt hatte einen prüfenden Blick auf die Reisenden gelegt und zog eine argwöhnische Grimasse. Shela würde dies nicht so einfach geschehen lassen… so viel war sicher.
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Wie lange dieser entspannende Ritt schon zu Gange war, wusste Jurijo nicht, doch er spürte, wie sein aufgeregter Körper langsam wieder zur Ruhe kam, als er aus seinem Nickerchen erwachte. An dem heutigen Tag war so viel geschehen, dass er seine Gedanken kaum noch zu ordnen wusste. Ein Gefühl machte sich in ihm breit, dass er zuvor noch nie verspürt hatte. Oder viel stärker noch… hatte er überhaupt schon mal Emotionen verspüren können? Nein, der Schmerz, den all die Wesen dieser Welt ihm schon verursacht hatten, war das Einzige, was er all die Jahre zu verspüren bekommen hatte. Er wusste zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht, was es damit auf sich hatte, doch auch er würde verstehen müssen. Dass er anders war, hatte auch er sich mit den Jahren eingestanden, doch war ihm nicht klar, wieso es sich so verhielt. Seine Gedanken kreisten und ehe er sich noch mehr in ihnen verlor, drehte er sich auf den Rücken, streckte Arme sowie Beine von sich und blickte in den weiten Himmel, dessen helles Blau sich durch das Untergehen der Sonne immer mehr in ein finsteres Schwarz färbte. Die Inseln, die hier und da in der Luft tanzten, sahen aus wie kleine Spielzeuge, die den Gelüsten der Natur nichts entgegensetzen konnten. Traurig, dass sich diese Welt so zerstörte, dachte er still, doch durfte es ihm eigentlich egal sein, da sie ohnehin nichts Gutes für ihn offen hatte. Auf einmal sank der Rochen bedenklich schnell den Himmel herab, trennte sich vom Rest der Gruppe und schwebte knapp über dem Boden. Erst jetzt begriff Jurijo, was er vorhatte: Der Rochen wollte unter einem Fluss ein paar Inseln weiter herfliegen, dessen Wasser über die Ränder einer oben liegenden Klippe hinaus in die Tiefe lief. Eine Erfrischung war wohl etwas, was selbst solch ein Flugriese mal benötigte. Von der Furcht gepackt, dass dieser noch ein Stück entfernte Strahl in zu Boden spülen könnte, stand der Junge ruckartig auf und sprang zu Boden, solange er es noch konnte. Dabei wehten seine Bänder so unkontrolliert umher, dass er sich dazu zwang, sie wieder in den Muskeln seines Rückens verschwinden zu lassen. Dabei verzog er schmerzend das Gesicht, da diese Handlung ihn immer wieder Qualen bereitete, als würde sein Rücken hart von Klingen durchdrungen. Jedoch achtete er durch diese Aktion nicht auf seine Landung und fiel in Folge dessen unbeabsichtigt grob auf den Boden auf. Das hatte er sich etwas anders vorgestellt.
Schwerfällig packte er sich an den Kopf. Diese Landung war nicht gerade angenehm verlaufen und so schaute er mit kalter Miene dem Wesen hinterher, was der Grund war, wieso quälende Schmerzen nun durch seinen Kopf rauschten. Dieses genoss es, seinen massigen Körper in dem kühlen Nass des Flusses zu kühlen und schüttelte dabei wild seinen Leib. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wäre Jurijo heruntergefallen. Langsam versuchte er sich wieder zu erheben, trachtete danach zu ignorieren, wie sehr sich die Welt vor seinen Augen drehte. Der Boden war mit kantigen Steinen versehen, sodass jeder Schritt seine blanken Füße schmerzte und auch sonst konnte er nichts als diesen rauen Fels wahrnehmen, der die Umgebung wie eine Schutzhülle einmummte. Dennoch ging er weiter, die Hoffnung vor Augen, einen Ort zu finden, an dem er zuhause war. Auch wenn er bisher gedacht hatte, diesen einen Hoffnungsschimmer schon längst verloren zu haben, so blitze er nun wieder deutlich vor ihm auf wie ein heller Stern, der ihm den Weg weisen würde. Irgendetwas in ihm hatte sich verändert. Doch wohin sollte er wandeln? Mehr stolpernd als gehend torkelte er die weite Fläche entlang, über die sich die nächtliche Stille gelegt hatte. Nichts als schwarze Felder konnte er vernehmen, die vor seinem verschwommenen Blickfeld zu einem düsteren Film entwickelt hatten, denn die Sonne hatte sich nun schon lange vom Horizont verabschiedet. Vorsichtig tastete er sich Schritt für Schritt voran, doch plötzlich trat er ins Leere. Seinen geschwächten Körper konnte er nicht mehr abfangen, sodass er sein Gleichgewicht verlor und nach vorne absackte. Ehe er begriff, was genau geschehen war, stürzte er einige Meter herab, um erneut hart auf dem rauen Fels aufzuschlagen. Diese schattige Gegend war wie eine einzige Falle. Wenn man nicht aufpasste, konnte man sich ins Verderben stürzen und so hatte es auch Jurijo am eigenen Leib erfahren müssen. Als er sich stöhnend wieder aufsetzte, spürte er kaum noch seine Glieder, zu sehr hatte er sie sich wund geschlagen. Mit seiner Hand fuhr er sich durchs Gesicht und ein leises Seufzen entglitt seinem Rachen. Die Frage nach dem „Warum?“ geisterte in seinen Gedanken und ließ ihn nicht mehr los. Warum war gerade er in diesem Körper gefangen? Wieso musste ihm all dies widerfahren? Plötzlich bemerkte er, dass ein leises Surren seine Ohren durchdrang. Zuvor hatte er es nicht vernommen, sodass er die dunkle Umgebung mit seinen Augen abtastete, den Versuch vor Augen, etwas zu erkennen. Unerwartet begann etwas genau vor seinen Knien zu leuchten. Saphirblaues Licht erstrahlte in einem hellen Glanz und ließ Jurijos Gesicht farbig aufleuchten. Von Begeisterung durchdrungen weiteten sich seine Pupillen und starrten diese kleine runde Kugel an, deren Glimmer die Nacht zu erhellen versuchte. Gerade als er nach dem hellen Etwas greifen wollte, begannen um ihn herum immer mehr Kugeln zu leuchten, sodass bald schon das Schwarz der Finsternis von einem blauen Schein beschienen wurde. Bewunderung hatte seine Glieder durchdrungen und mit zitternden Fingern griff er an die glatte Hülle des erhellten Etwas, was seinen Blick gefesselt hatte. Vorsichtig strich er über die glatte Haut und spürte überraschenderweise ein Pochen in dem kleinen Ding, was seine Gedanken nicht mehr losließ. Tatsächlich, in diesen runden Kugeln steckte ein Leben; der Herzschlag eines Jungtieres. „Es sind Eier“, wisperte er leise und es schien fast so, als würde ein wenig Frohsinn in seiner zarten Stimme hallen. Auf einmal hörte er ein röhrende Rufe, die ihm schon gut bekannt waren: Es waren die Rochen. Also waren sie aus genau diesem Grund diesen weiten Weg geflogen, um ihre Eier hier legen zu können.
Jurijo kam aus dem Staunen nicht mehr heraus und hatte mit einem Schlag all die Sorgen vergessen, die sein Herz so erschwerten. Diese Nacht hatte sein Herz erhellt, auch wenn es nur für einen Augenblick war. „Ein wunderbarer Anblick, nicht wahr?“, ertönte eine freundliche Stimme und als sich der braunhaarige Junge zu ihr umdrehte, war es eine mädchenhafte Gestalt, die sein Blickfeld durchkreuzte. Strahlend weiße Augen und schwarze lange Haare waren ein ungewöhnliches Anzeichen und auch ihn verwunderte es, der sie nur misstrauisch anblickte. Er hielt sie mit seinem Blick gefangen und tastete sie nach für nach ab. Das Mädchen sah galant aus, hatte dünne schlanke Beine und trug einen grazilen schwarzen Schleier, der ihre weiße Haut an Ober- und Unterkörper jeweils ein wenig bedeckte. Ihre Arme hatte sie verlegen hinter den Rücken gelegt. Als sie ihren Kopf ein wenig regte, blitze eine helle Blüte in ihren Haaren auf, die ebenso weiß war, wie ihr Gesicht, doch im Inneren funkelte ein roter rubinartiger Stein, dessen Farbe sanft mit dem blauen Schein verschwamm. „Wer bist du?“, sprach Jurijo monoton und seine Miene hatte sich wieder verfinstert. Die Freude, die er für einen kurzen Augenblick zugelassen hatte, schien aus seinen Zügen gewichen, so als sei sie nie da gewesen. Gerade als er seine Lippen regte, um die Frage zu wiederholen, fiel sie ihm ins Wort und sagte sanft: „Ich bin Miyuri. Du brauchst keine Angst vor mir zu haben.“ Dabei entglitt ihr ein strahlendes Lächeln, als hätte sie etwas gefunden, was sie schon lange gesucht hat. Doch dem Jungen schien etwas an ihr seltsam; ein Gefühl, das er nicht zuzuordnen wusste. Was war es? Seine Emotionen überschlugen sich und der Schwall aus Empfindungen übermannte ihn wie ein fester Schlag ins Gesicht. Sonst hatte er es nie für möglich gehalten, all diese Gefühle zu verspüren, doch etwas hatte sich verändert. Sie fluteten auf ihn ein wie eine Welle aus tosendem Wasser und er vermochte wahrlich nichts dagegen zu tun. Dennoch ließ er es zu, als das Mädchen ihm, der da jämmerlich klein aussehend auf dem Felsboden saß, dass sie ihm ihre Hand reichte und ihm hoch helfen wollte. Er erwiderte ihre Geste und mit einem Ruck stand er wieder auf seinen wackeligen zwei Beinen. „Komm mit mir. Ich werde dich an einen Ort bringen, der allein mir gehört, und deine Wunden versorgen.“ Wieder lächelte sie ihm freudig zu, sodass abermals eine tosende Flut durch seine Empfindungen kam. „Nennst du mir noch deinen Namen, Junge?“
„Jurijo“, sagte er knapp und ließ sich von dem kalten Griff des Mädchens leiten. Noch ein letztes Mal drehte er sich zu den hell leuchtenden Eiern um, sie hatten seinen Abend erhellt. Doch wer war nun diese Person? Noch immer waren seine Emotionen ein wirres Chaos und er selbst sah nicht das hämische Grinsen, das nun das Gesicht von Miyuri zierte.