[Bitte schließen] Kabinett der Kuriositäten

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  • [tabmenu][tab=Vorwort]Hallo liebe Leser^^
    Lange hat es gedauert, mal wieder, aber nun steht endlich das nächste Kapitel in den Startlöchern. Vorher möchte ich natürlich endlich ausführlich auf die Kommentare eingehen. Ich freue mich wirklich sehr über die vielen Verbesserungsvorschläge und natürlich auch über das Lob. Ich hoffe, dass ich jedem eurer Kommentare gerecht werden kann und werde versuchen, möglichst genau darauf einzugehen.
    [tab=Chess]Danke für deinen Kommentar, mein Lieber. Tut mir Leid wegen der Länge des Kapitels. Ich weiß ja selber, wie anstrengend es ist, solche zu kommentieren. Daher freue ich mich umsomehr darüber, dass du dir die Mühe gemacht hast.

    Fulgor scheint nun endlich verstanden zu haben, dass andere ihm keine Achtung schenken, solange er sich selbst keine schenkt, das ist der im ersten Abschnitt wirklich gut gelungen. Was mich aber etwas irritiert ist darauf seine Reaktion. Warum fühlt es sich für ihn negativ an?

    Es fühlt sich für ihn vor allem deshalb negativ an, weil es ihm schwer fällt sich selbst einzugestehen, dass er die Schuld eigentlich nicht nur auf die anderen sondern vor allem auch auf sich selber schieben muss. Im Allgemeinen ist das für ihn einfach eine schlimmer Erkenntnis. Wer möchte sich schon selbst hassen? Aber du hast schon recht, es wird nicht so ganz deutlich. Da muss ich mich noch einmal ran setzen.


    Was mich wieder etwas irritiert ist der plötzliche Wechsel seiner Gefühle. Auf einmal ist ihm alles egal, er meint, ach was bringt es mir zu fliegen, dabei hatte er doch noch kurz davor eine feste Meinung was das anbelangt. Kann seine Meinung denn so schnell schwanken, dass er alles wieder aufgeben möchte? Ich muss ehrlich sagen, dass ich Fulgors Handlungszüge bisher immer als sehr nachvollziehbar empfunden habe, allerdings ist das hier gerade so ein Strich durch die Rechnung gewesen... Auf jeden Fall hätte ich danach einen Absatz gemacht, da du nun mit dem Sonnenaufgang beginnst.


    Das ist auch schwer nachzuvollziehen. Genau so wollte ich es aber gestalten. Fulgor ist sehr wankelmütig in seinen Emotionen, weil er psychisch so stark geschädigt ist. Er hat erkennt, dass eigentlich all seine Ziele unwichtig sind, weil er niemanden etwas beweisen muss, da sich sowieso nur alle für sich selbst interessieren. Der Wunsch nach Anerkennung macht in diesem Moment keinen Sinn mehr. Aber der gute Fulgor vergisst, dass er ja eigentlich auch sich selbst etwas beweisen wollte. Ich werde versuchen, dass so zu bearbeiten, dass sein sehr verworrener Gedankengang etwas deutlicher wird.
    Das mit dem Absatz wird auch gemacht. Ist mir gar nicht aufgefallen. Danke für den Hinweis.


    Ich frage mich gerade ob er gar keine Blutwunden etc. vom ganzen Versuchen hat?


    Die müssen natürlich auch noch mit rein. Habe ich in der Euphorie des Schreibens glatt vergessen. Auch hier danke für den Hinweis.


    Als Fulgor dann Dankeschön sagt, da kullerte mir ohne Witz eine Träne die Wange runter. Du hast es geschafft mir eine Träne zu stehlen, Paya deine Beschreibungen sind einfach nur genial. <3 So toll es ist wirklich krass. :)


    Oh, dankeschön. Das ist natürlich das größte Lob für mich, wenn ich meine Leser auch wirklich emotional mitreißen kann. Ich freu mich.^^



    Ich freue mich, dass dir das Kapitel im Großen und Ganzen gefallen hat und hoffe, dass ich dich auch mit dem nächsten nicht enttäusche. Danke nochmal für den langen Kommi.
    [tab=Clio]
    Auch dir ein ganz herzliches Dankeschön für den ausführlichen und hilfreichen Kommentar. Ich habe übrigens endlich das Tabmenü im Startpost so gestaltet, dass sich die Tabs jetzt eigentlich in keinem Stil mehr überlappen sollten. Ich hoffe, es hat auch geklappt.

    Ersteinmal: Danke, dass meine Skizze Verwendung gefunden hat!


    Na das ist doch wohl selbstverständlich. Ich freue mich immer noch total über das Bild. Es ist so süß geworden^^ Danke auch dafür.


    Auch der Perspektivenwechsel ist genial gewählt. Dadurch, dass wir das Entscheidende durch Felias' Augen sehen, bekommt Fulgors Aktion noch etwas Abwesenderes, "Besesseneres", wenn man so will.


    Gut, wenn es genauso rüberkommt, wie ich es geplant hatte. Ich hatte befürchtet, den Wechsel vielleicht nicht ganz so sauber hinbekommen zu haben. Schön zu lesen, dass es dir gefällt. Danke für das Lob^^


    Der Vorsprung


    Ja, die ist mir wirklich nicht gut gelungen :/ Das war mir selbst auch im Nachhinein aufgefallen. Irgendwie muss ich das noch einmal ausbessern. Immerhin ist dieser Vorssprung doch ziemlich wichtig. Auch danke, dass du mich auf die Sache mit der Klippe hingewiesen hast. Da hätte ich jetzt gar nicht dran gedacht. Ich werde versuchen, hier noch etwas mehr ins Detail zu gehen, wenn ich das Kapitel überarbeite.


    Und zwar geht es um die Struktur, die du zur Darstellung verwendet hast, speziell um die Kommata (dazu s. auch "Fehlerteufel", dort sind sie weitestgehend blau markiert).


    Gut, dass du darauf eingehst. Darauf hatte ich gehofft. Ich habe nämlich lange überlegt, in was für einer Struktur ich diese darstelle. Allerdings fand ich deinen Vorschlag im Nachhinein besser und habe es auch so schon übernehmen. Das erleichtert das Lesen wirklich ungemein. Danke.


    Ich freue mich über das viele Lob, dass du mir gegeben hast und natürlich auch darüber, dass dir EE so gut gefällt. Danke, dass du immer so fleißig kommentierst und meine Kapitel auseinander nimmst. Ich hoffe, dass dir auch das nächste Kapitel gefallen wird.


    [tab=HappyBoy]
    Ein neuer Leser, schön^^ Das freut mich doch immer wieder sehr. Danke, dass du dir die Mühe gemacht hast, einen Kommentar zu schreiben. Schön zu lesen, dass dir mein Stil und die Geschichte an sich gefällt.

    was mir noch aufgefallen ist, ist das du die Bezeichnung immer änderst


    Ja stimmt. Das war Absicht. Ich habe für Raichu "es" geschrieben und manchmal "sie", weil es nicht ja um ein Weibchen handelt. Im Nachhinein gefällt mir dies aber nicht mehr. Im neuen Kapitel habe ich es deshalb anders gemacht und werde es auch in den älteren Kapiteln wieder ändern.


    Hier währe eine Beschreibung hielfreich wie er den Stein schmeist und wo er diesen her bekommt.


    Stimmt, da muss ich dir zustimmen. Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, warum ich soetwas nicht hin geschrieben habe :/ Wenn ich endlich die Zeit finde, die Kapitel zu überarbeiten, wird natürlich auch das verbessert.


    hier hatte ich mehr an Sinelbeeren und so gedacht, aber auch gut


    Mhm...hab ich gar nicht dran gedacht. Ich denke, ich werde in späteren Kapiteln, wenn soetwas noch einmal auftaucht, einen Mischmasch machen aus Früchten und Pflanzen aus unserer Welt und solchen, die es in der Pokémonwelt gibt. Danke für den Hinweis.


    ist zwar nur ein Wort, aber welches Buch meinst da jetzt? Geschichten, Märchen, Legenden, .


    Dieses "wie er im Buche" steht, ist einfach ein Sprichwort das ausdrücken soll, wie sehr er alle Vorraussetzungen die ein Kämpfer mit sich bringen muss, erfüllt.


    Die Landschaft und die Klippe müssten noch ein bisschen näher beschrieben werden


    Ja, das stimmt. Das war Clio ebenfalls aufgefallen. Ich werde versuchen, dass auszubessern, damit es mehr Sinn ergibt und sich der Leser den Ort für Fulgors Flugversuche besser vorstellen kann.


    Was ich dann aber nicht verstanden habe ist, dass er nach seiner zurückverwandlung nicht wusste was passiert war. Er hatte doch alles durch ein "transparenten, orangeroten Vorhang" gesehen


    Dieser "Vorhang" war eher eine Metapher um zu verdeutlichen, dass Fulgor wirklich keine Kontrolle mehr über seinen Körper hatte und sozusagen nicht mehr er selbst war. Er hatte einen so starken Wutanfall, dass sein Kopf sozusagen ausgeschaltet hat und die Erinnerungen daher sehr, sehr schwach und verwischt sind.


    Ich hoff, ich konnt helfen und hab dich dadurch nich zu sehr Kritisiert


    Ja, du hast mir geholfen und ich freue mich wirklich sehr über deinen Kommentar. Kritik ist gut, denn nur so kann ich mich verbessern^^



    Ich hoffe, dass du auch an dem nächsten Kapitel Freude haben wirst. Danke nocheinmal für den ausführlichen Kommentar.
    [/tabmenu]


  • Kapitel 5
    Schicksal



    Ich will lieber aufrecht brennen
    Denn als Untoter, als leerer Name
    Durch unzähl'ger Städte Straßen
    Von mir auf der Flucht zu rennen!


    -Samsas Traum - Der Fährmann


    Fulgor wusste nicht, wie lange er in Felias Blick nach Leben suchte. Es schien ihm, als müsse die Sonne jeden Augenblick versinken. Oder war sie das bereits?
    Eine eisige Kälte hatte sich über die hell erstrahlte Welt gelegt, wie ein Leichentuch, eine dünne Schicht Stoff die Tote von den Lebenden trennt. Nur das die Grenzen seltsam verschwommen waren. Als hätte Tenia mit seinem Ableben einen Fluch heraufbeschworen, der es dem Jenseits ermöglichte, in die reale Welt einzuströmen und sie zu überrennen wie ein Schwarm Heuschrecken, der ganze Landstriche leer und kahl zurück ließ.
    Die Kälte war nicht real, existierte nur in Fulgors pulsierendem Herzen das keinen normalen Rhythmus mehr finden konnte. Die Aufregung, das Adrenalin, die Erschöpfung und Wut, all diese Gefühle hatten wie ein Cocktail reinsten Alkohols gewirkt und das junge Pikachu in einen Rauschzustand überführt. Nun kamen Trauer und pures Entsetzen, Ungläubigkeit, noch hinzu und machten Fulgors Seele endgültig trunken, warfen seine Gedanken durcheinander bis er sie nicht mehr auseinander halten konnte. Was war denn überhaupt passiert? Wo war die Welt um ihn herum, wo all die Eindrücke, Gerüche, Geräusche? Existierte denn nur noch dieser winzige Vorsprung, die Blicke der anderen Pikachu auf ihm, ihr Weinen und Zittern? Fulgor war in einem Alptraum gefangen und konnte sich nicht rühren, fand keinen Weg, sich selbst zu wecken. Tenia schien mit der Landschaft verschmolzen, zu einem unbelebten Objekt mutiert, der kleine Bruder des über ihm aufragenden Felsens und der Sohn der riesigen Klippe in Fulgors Rücken. Als habe er nie zu den Lebenden gehört, nie einen Bezug zu diesen hektischen Wesen gehabt. Fulgor spürte, dass der Anblick des aus dem Pikachu weichenden Lebens in ihm selbst eine ungemeine Ruhe und Erleichterung hervorrief, als würde er ein Wunder betrachten, das ihm eine Möglichkeit zur Herstellung des Friedens zwischen allen Geschöpfen dieser Welt aufzeigte. Er verlor mehr und mehr vollends den Bezug zu seinem eigenen Körper, verirrte sich in seiner Seele und seinen nicht fassbaren Gedanken. In einem kurzen, klaren Augenblick suchte er nach Empfindungen wie Mitleid und Wut auf sich selbst, doch er fand nur eine verheißungsvolle, stille Freude über das Geschehene. Das anfängliche Entsetzen, die vorhersehbaren Gefühle die man in einer solchen Situation vermuten würde, waren etwas neuem, undefinierbaren gewichen. Eine Lustlosigkeit, die so tief und ausgeprägt war, dass sie sich zu reiner Leichtigkeit empor schwang und puren Frieden über die Seele Fulgors brachte. Es gab nun nichts mehr, das er falsch oder noch schlimmer machen konnte. Sein Pensum der schlechten Taten war aufgebraucht, die größte Sünde begangen. Nun war er befreit von allen Befürchtungen, allen moralischen Prinzipien.
    Die Welt verschwamm vor Fulgors Augen. Konturen lösten sich auf und all die Farben, die sie sicher eingeschlossen hatten, flossen ungebremst und ohne erkennbaren Plan ineinander. Das Gelb der Pikachu vermischte sich mit den Braun-, und Grautönen der Felsen, das Grün des Waldes vollendete das grausame Kunstwerk einer Welt die am ehesten mit einem Sumpf zu vergleichen war. Ein Sumpf aus Hass, Gewalt und Tod in dem Fulgor nun versank, der ihn verschlang und ihm die Sicht versperrte auf alles Fröhliche, alles Lebendige. Das Pikachu spürte schon die Nässe des abgestandenen Wassers und des Schlamms auf seinen Wangen. Er musste blinzeln und erkannte kurz darauf überrascht, dass die Welt immer noch die selbe war, die Flüssigkeiten auf seinen Wangen seine eigenen Tränen und Tenias Blut, das immer noch an ihm klebte, hartnäckig und kräfteraubend wie ein hungriger Blutegel. Das Zwitschern und Trällern der Schwalbini drang durch den Schleier, den Fulgor in diesem Moment als pure Einbildung enttarnte. Wie immer war es der Erde und so gut wie all ihren Geschöpfen egal, was für eine furchtbare Tat soeben von ihm begangen worden war, seine verlorene Unschuld war nicht minder unwichtig, wie der Tod des Taubsi Weibchens, der schon Jahre zurück zu liegen schien. Dennoch hatte sich etwas grundlegend verändert. Nicht die große, weite Welt an sich, aber Fulgors kleines, bedeutungsloses Dasein war nicht mehr dasselbe. Und als er, ohne es recht zu realisieren, bemerkte das sich eines der jungen Pikachu aus der erstarrten Gruppe löste und unter Weinen, Kreischen und Keuchen davon rannte wurde ihm die Endgültigkeit seiner Situation bewusst. Fulgor dachte an Artras und Illia, sah ihre lächelnden Gesichter vor sich, spürte ihr sanftes Streicheln auf seinem Körper, hörte ihr Lachen. Doch er wusste, dass selbst sie ihn nun nicht mehr beschützen würden. Er war ein feiger Mörder. Tenia hatte ihn nicht angegriffen, ihn nicht bedroht. Dennoch lag sein regloser Körper vor dem emotionslosen Felsen und starrte aus leeren Augen in den Himmel. Fulgors Herz zerriss in Anbetracht des Zwiespalts in seiner Seele. Er wollte sich erinnern, wollte verstehen wie und warum er das andere Pikachu getötet hatte. Doch andererseits fürchtete er sich vor den Bildern, die ihm drohten, vor dem Abgrund seiner Seele, der so tief war, dass er in den Feuern der Hölle endete, an einem Ort wo nichts als reine Boshaftigkeit herrschte. Ein Ort, an dem das Wort “Hass“ eine neue Bedeutung bekam.
    „Du verdammter Dreckskerl!“
    Fulgor war so von seinen Gedanken vereinnahmt gewesen, dass er überhaupt nicht bemerkt hatte, wie sich das Leben in Felias wieder gerührt hatte. Nun schoss sein ewiger Rivale auf ihn zu und prallte ungebremst gegen ihn. Einen Augenblick lang glaubte Fulgor, ihn müsse nun das gleiche Schicksal wie Tenia ereilen. Er wollte es mit offenen Armen begrüßen, alles hinter sich lassen, sich der ewigen Schwärze ergeben. Doch anstatt zurückgeschleudert zu werden landete er nur unsanft auf dem Rücken. Felias kniete auf seinem Brustkorb, der Druck presste Fulgor die Luft aus den Lungen und verhinderte zugleich, dass sich neue darin sammeln konnte. Er keuchte überrascht auf und bemerkte aus dem Augenwinkel die Funken, die aus Felias Wangen und Fäusten stoben und so stark aufgeladen waren, dass sie selbst das widerstandsfähige Fell des Pikachu versengten. Die Augen des Angreifers funkelten. Fulgor entdeckte eine Träne, die sich in Felias Augenwinkel gesammelt hatte sich jedoch hartnäckig weigerte, sich die Blöße zu geben an seinen Gesicht hinab zu fließen. Fulgors Weltbild zerbrach in tausend Stücke. Der selbstverliebte, egoistische, gnadenlose, durch und durch böse Felias zeigte plötzlich Gefühle, Anzeichen von Schwäche und Trauer, seine Mimik war vor lauter Verzweiflung ganz verzerrt. Die Erkenntnis, dass sein größter Feind nicht ansatzweise so gefühlskalt und eindimensional war, wie er immer geglaubt hatte, war kaum zu ertragen. Fulgor wurde bewusst, dass er sich nicht nur des Todes Tenias schuldig gemacht hatte, sondern auch die jungen Seelen der anwesenden Pikachu zerbrochen hatte, ganz zu Schweigen von der Trauer, die Tenias Eltern würden ertragen müssen. In nur wenigen Augenblicken hatte er den gesamten Frieden des Stammes zerschmettert. Er wollte aufspringen und fort laufen, fort von seiner eigenen Tat, seinem eigenen Schicksal, fort von dem Leid. Fulgor wollte in die Fänge eines Magnayens rennen, sich von einem Ibitak greifen lassen, seine Seele verkaufen. Er wollte büßen. Seine Beine zuckten im Rhythmus seiner Gedanken, doch eine seltsame Schwäche hatte von seinem Körper Besitz ergriffen, die es dem jungen Pikachu unmöglich machte, auch nur die Arme zu heben, geschweige denn sich gegen die Schläge zu verteidigen, die Felias auszuteilen begann. Immer wieder wurde Fulgors Kopf von den mächtigen, elektrisch aufgeladenen Fäusten getroffen. Er spürte die Hitze der Elektrizität an seinen Wangen und die des Blutes darunter, fühlte wie seine Lippen aufplatzten und schmeckte kurz darauf den metallenen Geschmack der roten Lebensflüssigkeit auf seiner Zunge, vermischt mit der salzigen Würze seiner und Felias Tränen. Felias hatte die Augen fest zusammengekniffen, verschloss sein Innenleben vor der Welt und entließ seine Trauer in Form von kleinen Tropfen, die über sein Gesicht rannen. Er schrie und brüllte, aber Fulgor konnte die Worte nicht identifizieren. Tatsächlich war er sich nicht einmal sicher, ob es überhaupt Worte waren, die Felias dort in grenzenloser Wort und Trauer ausspuckte, oder nur animalische Laute, eine emotionale Symphonie. Erneut schob sich ein Schleier vor Fulgors Augen, der jedoch mit jeder vergehenden Sekunde, jedem weiteren Schlag, jedem vergeblichen Atemzug dunkler zu werden schien. Als die Dunkelheit ihn allmählich umfing war Fulgors letzter Gedanke, wie viel Zeit Felias Fäuste wohl benötigen würden, um den letzten Funken Leben aus seinem Körper zu treiben.


    Ein kräftiger Schlag ins Gesicht weckte Fulgor aus seiner Bewusstlosigkeit. Erschrocken zog er laut und hörbar die Luft ein, als wäre er beinahe ertrunken und hätte in diesem Augenblick die Wasseroberfläche durchbrochen. Sein Herz raste. Nur langsam wurde er sich der Eindrücke um sich herum bewusst. War alles nur ein böser Traum gewesen? Er entspannte sich. Der süßliche Geruch Illias lag in der Luft. Fulgor war zuhause, in seinem Laubbett, um ihn herum die Kräuter und Blumen, die seine Tante immer wieder aufs Neue sammelte, in der Ecke ein Berg von köstlichen Beeren, von denen er wohl gleich einige verspeisen würde. Möglicherweise würde das die stechenden Kopfschmerzen und das ewige Pochen in seinem Schädel lindern.
    „Fulgor! So mach doch die Augen auf, Fulgor!“, hörte er Illia sagen.
    Sofort schlug das schlechte Gewissen zu. Nun war es schon das zweite Mal in so kurzer Zeit, dass er ohnmächtig geworden war. Oder war alles nur ein Traum gewesen? Die Verfolgung im Wald, sein Spiegelbild im Wasser, Felias Lügen, das Gespräch mit seinen Zieheltern, das Fliegen und Tenias Tod? Fulgor riss abrupt die Augen auf und sah gerade noch eine braune Pfote auf sein Gesicht zurasen, bevor der Schmerz in seinen Wange fuhr und sein Kopf regelrecht zu explodieren schien. Er schüttelte sich vollkommen überrumpelt und starrte aus großen Augen auf das Bild, das sich ihm bot.
    Fulgor saß auf dem harten Erdboden des Höhlenkomplexes, in dem sein Stamm lebte. Vor ihm erhob sich imposant die Statue Tonumens. Das Raikou blickte, den Kopf majestätisch erhoben, in eine Ferne die es dank der Höhlenwände eigentlich nicht geben konnte, während das Zapdos den Blick weiterhin leicht gen Boden richtete. Ausnahmsweise schien es Fulgor nicht direkt anzusehen, was wohl daran lag, dass der Eingang dieses Mal nicht direkt in seinem Rücken lag wie sonst, wenn er diesen Raum betrat. Stattdessen flankierten ihn mächtige Raichus, die Kämpfer des Stammes, Beschützer der Schwächeren. Sie waren angespannt. Nicht nur der scharfe Geruch frischen Adrenalins, der in der Luft lag, sondern auch ihr elektrisch aufgeladenes und vom Körper abstehendes Fell ließ daran kaum einen Zweifel. Ihre Anzahl beunruhigte Fulgor zusätzlich. Wie Statuen, die irgendjemand von heute auf morgen in dieser heiligen Halle erbaut hatte, standen sie in zwei langen, parallelen Reihen zu seiner Linken und Rechten und bildeten so eine Wegbegrenzung, die direkt vor den Füßen Tonumens endete. Fulgor spürte die Präsenz einer weiteren Person in seinem Rücken, drehte jedoch erst nach einer langen Phase der Überwindung und mit zusehends stärker und schneller klopfenden Herzens den Kopf. Die ausdruckslosen Augen Michos blitzten ihm entgegen, seine Zähne waren ein Stück weit entblößt, der blitzförmige Schweif zuckte nervös durch die Luft als wolle er tatsächlich jene Naturgewalt imitieren. Fulgor fragte sich plötzlich, ob er es gewesen war, der ihn mit einem Schlag aus seiner Ohnmacht gerissen hatte und fuhr den Kopf ruckartig wieder herum, um sich nicht weiterhin dem Anblick dieses mächtigen und wütenden Raichu stellen zu müssen. Stattdessen flitzten seine Augen in ihren Höhlen nun nervös hin und her und nahmen den gesamten Raum in sich auf, suchten nach einer Fluchtmöglichkeit. Gerüche prasselten aus allen Richtungen auf Fulgor ein, die meisten die von purem Adrenalin, aber auch von Tränen. Die Eigengerüche dutzender Raichu, Pikachu und Pichu hingen wie eine Wolke in der Luft, die den gesamten Raum auszufüllen und Fulgor zu ersticken drohte. Von irgendwo her drang der betörende Duft von Blumen und köstlichen Beeren, frischer Luft und Freiheit an seine empfindliche Nase, doch der plötzlich unangenehm anmutende Gestank leicht feuchter Erde, Felsen und fast schon zu trockener Moose wusste dieses Hoffnung schenkende Parfum schnell zu vertreiben. Fulgor wurde sich der Silhouetten all der Stammesmitglieder bewusst, die sich in der Halle eingefunden hatten und wie gebannt nur auf ihn zu starren schienen. Sie waren überall, am Boden, auf Steinen und Felsen, vor ihm, hinter ihm, neben ihm. Wie Unkraut schienen sie alles zu überwuchern, was diese heilige Stätte je ausgemacht hatte. Je leiser sie flüsterten, je öfter die Wörter „Mörder“, „Monster“ und „Missgeburt“ an seine nunmehr wild zuckenden Ohren drangen, desto mehr fühlte das junge Pikachu seine Panik steigen und desto mehr wurde ihm bewusst, dass dies kein Ort war an dem er sich wohl und sicher fühlen konnte. Dies war nicht sein Zuhause.
    „Oh, Fulgor! Tonumen sei Dank, du bist aufgewacht.“
    Sofort wandte Fulgor seinen Kopf nach links, in die Richtung aus der die gewohnt sanfte aber von ungemeiner Besorgnis geprägte Stimme alle anderen Klänge zu überdecken schien. Illia stach aus der Menge hervor wie ein strahlender Engel, der vom Himmel herab steigt und auf einem Berg aus Schutt und Asche landet. Ihr Lächeln war gezwungen, doch die Freude in ihren Augen hatte nichts von ihrem Glanz verloren. Das sonst so säuberlich gepflegte Fell war zerzaust, vermutlich hatte sie sich durch die Menge nach vorne gekämpft. Nun stand nur noch der Wall aus Raichus zwischen ihr und ihm. Die Kämpfer warfen ihr aus dem Augenwinkel drohende Blicke zu, einer schnaufte hörbar. Fulgor spürte, wie sich Michos in seinem Rücken rührte. Doch niemand verlor ein Wort. Als wären all diese Lebewesen einfach so zu Stein erstarrt. Als wären sie alle vor wenigen Augenblicken gestorben, ihre Körper noch immer zuckend im Kampf gegen den Tod. Kämpfer an Tenias Seite. Fulgor zuckte merkbar zusammen. Sein Körper und seine Seele schmerzten und die Erinnerungen an Tenia hatten die scharfen Zähne und Klauen eines Raubtieres, mit denen sie sein Herz zerfetzten.
    Auch Illia schien seinen Gemütszustand zu bemerken. Mit einem eleganten Satz setzte sie über die Raichu hinweg, die sich zunächst vor Überraschung weiterhin nicht rührten, bis einer von ihnen aus seiner Starre erwachte und das Weibchen am Arm fasste. Der Griff musste sehr fest sein, doch sie ließ sich nichts anmerken und schlug ihren Schweif in einer schnellen Bewegung in sein Gesicht.
    „Lasst mich zu meinem Sohn“, flüsterte sie mit drohender Stimme, an alle in diesem Raum gerichtet.
    Funken sprühten aus ihren Wangen. Doch noch hatte das Raichu sie nicht losgelassen. Fulgor sah, wie sich seine Pfote fester um das Handgelenk seiner Tante schloss und wie sich ihr Körper angesichts des Schmerzes anspannte. Er wollte schreien, dass man sie in Ruhe lassen sollte und suchte Worte, die sich irgendwo tief in seinem Inneren verirrt hatte, als plötzlich eine andere Stimme die erwachte Stille durchschnitt.
    „Es ist in Ordnung. Lasst sie zu ihm.“
    Die tiefen, starken Worte prallten an den Wänden ab und verteilten sich als Echo in den Köpfen und Herzen aller Anwesenden. Augenblicklich löste sich der Griff des Raichu und Illia hastete zu Fulgor, drückte ihn an sich und schmiegte ihren Kopf an den seinen. Die Anspannung wich aus seinen Muskeln und die Schwäche überkam ihn so unerwartet, dass das junge Pikachu in den Armen der Raichu Dame zusammenbrach. Sie stützte ihn mit der Kraft einer liebevollen Mutter. Erschöpft aber auch zutiefst erleichtert, etwas Sicherheit gefunden zu haben, blickte Fulgor auf und sah an der Statue Tonumens empor. In der Dunkelheit der Höhle reichten seine Augen nicht aus um den Träger der Stimme, die es Illia erst ermöglicht hatte ihn zu erreichen, erkennen zu können. Doch das junge Pikachu wusste genau so gut wie jedes andere Mitglied des Stammes, wer dort oben auf dem Kopf des Raikou thronte, den Überblick behielt und aus Augen, aus denen die Erfahrung sprach, auf den Hybriden hinabschaute. Fulgor rief sich sein Aussehen ins Gedächtnis, das von Narben durchbrochene, leicht ausgeblichene Fell, den zerfetzten Schweif, das nur noch halb vorhandene rechte Ohr. Alles an Arvengal, seines Zeichens Anführer des Stammes, war furchteinflößend. Er war wohl einst sehr hübsch gewesen, bis ein hungriges Rudel Luxtra durch einen unglücklichen Zufall den Höhlenkomplex entdeckt hatte. Obwohl es eigentlich mehr Zeugen geben musste, erzählte niemand von den Erwachsenen wie es dazu kommen konnte, dass Arvengal fast die ganze Meute alleine wieder heraus gelockt und bekämpft hatte. Laut den Geschichten hatte er sich gut gehalten, ohne die kurz darauf eintreffende Verstärkung aber wohl kaum überlebt. Er hatte einen hohen Preis für das Leben der anderen Stammesmitglieder bezahlt. Sein linkes Hinterbein war schwer verletzt worden, sodass ihm ein normaler Gang kaum noch möglich war. Hinzu kamen die Gleichgewichtsprobleme, die der zerfetzte Schweif mit sich brachte. Manche Raichu waren jedoch der Meinung, dass das Aussehen Arvengals ihm durchaus auch einige Vorteile verschaffte. Er selbst war augenscheinlich derselben Auffassung, trug seine Narben wie Trophäen zur Schau und genoss dann und wann den Respekt der anderen Männchen und die Aufmerksamkeit der Weibchen. Die Kinder bewunderten und fürchteten ihn gleichermaßen, ungeachtet der Tatsache, dass er ungeahnt sanft zu ihnen war, ein guter Vater für jeden einzelnen. Fulgor selbst erinnerte sich schwach daran, wie Arvengal ihm einst die Hand auf die Schulter gelegt hatte. Er versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, was der Anführer damals zu ihm gesagt hatte, doch das Pikachu war zu jung gewesen, die Erinnerungen fern und verwischt.
    „Fulgor, ist alles in Ordnung, mein Liebling?“
    Die gesenkte Stimme Illias holte Fulgor in die Gegenwart zurück. Er blickte in ihre Augen und wünschte sich im selben Moment, er hätte es nicht getan. Sie sah müde aus, erschöpft, tiefe Sorgenfalten hatten sich in ihr Gesicht gegraben und ihre Pfoten umklammerten ihn zittrig. Er wollte sie beruhigen, doch die Übermacht des grausamen Schicksals hatte ihn selbst der Kraft beraubt, ein Lächeln vorzutäuschen.
    „Ich hab dich lieb“, flüsterte er erschöpft und ungewollt, auf ihre Frage einzugehen.
    „Was hast du gesagt, Schatz?“, Illia hatte, selbst wenn sie ihm so nah war, Fulgors kaum gehauchte Worte nicht verstehen können.
    „Was passiert hier? Was ist los?“, fragte er etwas lauter, „Wo ist Artras?“
    „Keine Sorge, Fulgor. Es wird alles gut“, sie strich ihm sanft das von Schweiß verklebte Fell aus dem Gesicht und sah ihm, noch immer lächelnd, tief in die Augen, „Artras ist in der Nähe. Du kennst ihn. Er wird schon alles richten.“
    „Richten? Was meinst du damit?“
    Bevor Illia antworten konnte, drang Michos lautes Gebrüll an Fulgors Ohren und setzte sich wie ein Parasit in seinem schmerzenden Kopf fest.
    „Es gibt nichts mehr zu besprechen, Arvengal! Dieses Monster hat getötet! Es hat Blut geleckt und könnte jederzeit wieder zuschlagen. Er muss verschwinden! Sofort!“
    Illia entblößte angespannt und voller Wut ihre Zähne, während die Worte als Echo immer und immer wieder durch den Raum hallten. Fulgor spürte, wie sich ihre Pfoten weiter verkrampften und die Muskeln darin kampfbereit zuckten. Er fürchtete, sie könnte die Fassung verlieren und Michos angreifen, da erhob der Stammesführer seine Stimme.
    „Solange ich hier das Sagen habe, entscheide auch ich, wie lange wir etwas besprechen müssen“, ein Blitz zuckte knapp an Fulgors Ohr vorbei und vergrub sich zielsicher in Michos Brust, der erschrocken zurück taumelte aber keinen erkennbaren Schaden davon trug, „Und wer und ob jemand verschwinden muss, liegt im Übrigen ebenfalls in meinem Ermessen, Michos!“
    Felias’ Vater schwieg und zog sich ohne jegliches Murren wieder an den ihm zugeteilten Platz zurück. Illias Griff entspannte sich etwas, ihr Lächeln wirkte plötzlich ehrlicher. Der Funke Hoffnung, der in ihrem Herzen entflammt war, sprang auf Fulgor über. Er war noch nicht tot. Felias hatte sein Werk aus irgendeinem Grund nicht vollenden können. Und verbannt war er scheinbar auch noch nicht. Stattdessen bekam er einen Prozess. Arvengal war fair, vielleicht gab es für ihn tatsächlich noch eine Chance, heil aus der ganzen Sache heraus zu kommen. Fulgor spürte, wie sein tot geglaubtes Herz seinen Körper wieder mit Leben versorgte und auch seine Seele schien aus ihrem Grab gestiegen zu sein. Er blickte hoffnungsvoll an Tonumen empor und versuchte, zumindest die Silhouette des wahren Gottes in dieser Halle ausmachen zu können. Es gelang ihm nicht.
    „Tritt vor, Fulgor!“
    Das kurzzeitig aufgekeimte Murmeln der Stammesmitglieder verstummte abrupt, als Arvengal erneut die Stimme erhob. Als sein Name erklang, zuckte Fulgor zusammen und fühlte sich plötzlich wieder entmutigt ohne genau zu wissen, warum. Illia löste sich von ihm und nickte aufmunternd bevor sie zur Seite trat. Zögernd setzte das junge Pikachu einen Fuß vor den anderen. Die Raichu Statuen zu seinen Flanken schienen mit jedem Schritt größer zu werden, seine Beine immer schwerer, Furcht und Nervosität drohten Fulgor zu verschlingen. Immer wieder suchte er unterbewusst nach Lücken in dem Wall um ihn herum, nach einem Fluchtweg. Es war ihm kaum möglich auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Wie eine ungeölte Maschine folgte er zögerlich Arvengals Befehl, ohne eigenen Antrieb und Willen. Sein Geist versank in einem Sumpf aus negativen Gefühlen, die aufgekeimte Hoffnung lag bereits tief unten auf dem Grund, überlagert von matschiger Angst und nasser Nervosität. Abgeschnitten von jeglicher Rationalität gab es nichts, an das Fulgor sich hätte klammern können. Illia und Artras schien es nie gegeben zu haben und selbst seine eigene Existenz war ungewiss. Auch Tenias Tod war weit in den Hintergrund gerückt, ein unwichtiges Ereignis im Angesicht Arvengals, der die Schicksalsfäden des jungen Pikachu in der Hand hielt.
    Nach einer scheinbaren Ewigkeit blieb Fulgor vor den Füßen Tonumens stehen. Er hob den Kopf und starrte in die Höhe. Details blieben seinem schwachen Sehsinn immer noch verborgen, doch nun konnte er zumindest die Silhouette des Anführers ausmachen.
    „Erzähl mir, was passiert ist, Fulgor“, erklang die ruhige Stimme des Mächtigsten, die trotz einer gewissen Zärtlichkeit in ihr keinen Widerstand zu dulden schien.
    Fulgor versuchte krampfhaft, seine Gedanken zu sortieren und sich wieder daran zu erinnern, warum er überhaupt hier stand. Das Flüstern der anderen Pokémon im Raum nahm wieder zu, ungeduldig warteten sie auf seine Antwort, seine Rechtfertigung, seine Lügen. Das Wort „Mörder“ drang an seine Ohren und plötzlich war es wieder da, das Bild von Tenias leblosen Körper, Felias leerer Blick, die zitternden Pichu und Pikachu. Mit der Erinnerung kehrten auch die Schuldgefühle zurück und breiteten sich blitzschnell in seinem ganzen Körper aus. Sie flossen durch seine Venen und versorgten Fulgors Organe und seine Gedanken mit dem unverdrängbaren Wunsch nach dem Tod. Er wollte antworten, stockte kurz, suchte die richtigen Worte und öffnete angestrengt den Mund, als ein verzweifelter Schrei ihm zuvor kam.
    „Steh wenigstens zu dem, was du getan hast! Du verdammte Bestie!“, ein kräftiges Raichu bahnte sich seinen Weg durch die Menge, schob jeden der ihm im Weg stand zur Seite und brach ein Loch in den Wall aus Wächtern, indem er einen der Kämpfer mit ganzer Kraft takelte und so zu Boden warf, „Du hast meinen Sohn auf dem Gewissen!“
    Fulgors Herz verknotete sich, nun endgültig nicht mehr gewillt, noch eine Sekunde länger auf dieser Erde zu weilen. Ein Stechen fuhr in seinen Brustkorb, als der Geruch von Tränen an seine Nase drang. Inzwischen hatten sich zwei andere Raichu auf den aufgebrachten Vater geworfen. Sie hatten alle Mühe, ihn festzuhalten und ignorierten tapfer die kräftigen Stromstöße, die er immer wieder abgab.
    „So beruhige dich doch, Janan!“, einer der Wächter redete mit schmerzverzerrter Stimme auf ihn ein, „Er wird seine gerechte Strafe bekommen. Wir alle wissen wie schwer das für dich ist!“
    „Ihr wisst gar nichts!“
    Janans Wut schien ins Unermessliche zu steigen, anstatt abzukühlen.
    „Was wäre denn eine gerechte Strafe? Was bringt mir meinen Tenia zurück? Man gibt diesem Monster die Chance sich zu äußern. Was für eine Farce! Was erwartet ihr denn? Das er Reue zeigt?“, er hatte sich in Rage geredet und zeigte nun mit dem Finger vollkommen aufgebracht auf Fulgor, wild zappelnd in dem Griff der anderen Raichu, „Die falsche Reue eines Räubers, dem es selbst an den Kragen geht vielleicht! Diese gnadenlose Bestie hat ihren eigenen Bruder getötet und darf trotzdem noch einmal unser aller Zuhause betreten?“
    „Meinen Bruder?“, Fulgors Stimme war ganz plötzlich und vollkommen unkontrollierbar, aber immer noch sehr leise, zurück gekehrt, „Das kann überhaupt nicht sein.“
    Er hatte keinen Bruder. Seine Mutter hatte nie zuvor Nachwuchs bekommen. Er war ihr erstes und letztes Ei gewesen. Wenn sie noch andere Kinder gehabt hätte, müssten diese doch aussehen wie er. Das war definitiv unmöglich. Illia und Artras hatten ihm immer versichert, dass er keine Geschwister hatte. Ungläubig wandte Fulgor den Kopf und suchte nach Illia, doch die Dunkelheit versperrte ihm die Sicht auf sie und damit auch auf die Wahrheit.
    „Ich war so froh, dass er nie Kontakt zu dir hatte!“, die Worte, die aus Janans Mund rannen wie Blut aus offenen Wunden, waren tränenerstickt, „Seine Mutter war ein gutes Weibchen. Tenia war ihr letztes Kind, bevor ihr jemand diesen Dämon in den Leib gepflanzt hat, der sie ermordet hat! Hat dir das nicht gereicht? Warum musstest du auch noch ihn töten? Warum meinen Sohn?“
    Das Raichu sackte kraftlos in sich zusammen und weinte herzzerreißend, schrie seine Trauer und Verzweiflung in die Welt. Die grenzenlose Wut sprang auf die anderen Anwesenden über und verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Die Augen von einem Schleier aus Hass bedeckt bemerkte niemand, dass auch Fulgors Herz zersprang und die Tränen an seinen Wangen hinab flossen. Er hob die Pfoten und schlug sich die eigenen Krallen in das Gesicht, zerrte an seiner Haut und Fell und wimmerte in maßlosem Entsetzen.
    „Es reicht!“
    Dieses Mal war es nicht Arvengal, der die Anwesenden verstummen ließ, sondern Artras, der aus dem Nichts aufgetaucht zu sein schien. Plötzlich stand er schützend vor Fulgor, bereit, ihn gegen jeden Angriff zu verteidigen.
    „Hört euch doch einmal selber zu! Fulgor ist noch ein Kind! Außerdem ist er nicht bösartig! Und vor allen Dingen trifft ihn keine Schuld an dem Tod seiner Mutter!“, er senkte die Stimme ein wenig und blickte zu dem Anführer hinauf, „Arvengal, ich bitte dich. Wie hätte dieses junge Pikachu die nötige Kraft aufbringen können, um eine solche Tat zu begehen? Wie die Kaltblütigkeit? Fulgor ist sensibel. Er ist kein Mörder. Bitte, glaube mir.“
    „Es hat genügend Zeugen gegeben, Artras!“, brüllte Michos, laut genug, dass es jeder vernehmen konnte.
    Augenblicklich mischten sich die verschiedensten Stimmen zu einem Chor der Zustimmung.
    „Aber alle Zeugen waren Kinder!“, warf Artras ein, „Sie fürchten Fulgors Aussehen! Möglicherweise haben sie etwas anderes gesehen. Einen fliegenden Jäger oder…“
    Er wurde je unterbrochen als ihn etwas mit ganzer Kraft rammte und zu Boden warf. Fulgor, wenngleich noch immer wie betäubt von der Erkenntnis seinen eigenen Bruder getötet zu haben, erschrak maßlos. Nie zuvor hatte er seinen Ziehvater fallen sehen und plötzlich fürchtete er dessen Tod. Die Angespanntheit der Situation schien jede erdenkliche Grausamkeit ermöglichen zu können. Panisch suchte Fulgor mit all seinen Sinnen nach dem Angreifer, während sich Artras stöhnend aufrichtete.
    „Was wäre mein Stamm für ein armseliger Haufen, wenn ich nicht einmal mehr den Kindern Glauben schenken könnte, Artras?“
    Arvengal reichte Fulgors Onkel die Pfote und half ihm dabei, sich von seinem eigenen, unerwarteten Angriff zu erholen. Sein plötzliches Eingreifen war nicht nur überraschend, sondern auch höchst beeindruckend gewesen und einmal mehr kehrte das Schweigen zurück. Nur das leise Weinen Janans erfüllte weiterhin die Luft. Artras wollte etwas sagen, doch Arvengal gebot ihm wortlos, still zu bleiben. Er schritt an ihm vorbei, trotz des Humpelns seltsam majestätisch und stolz, und legte dem noch immer schluchzenden Vater Tenias die Pfote auf die Schulter, flüsterte ihm ein paar Worte zu, die Fulgor nicht verstehen konnte und setzte dann seinen Weg vor, bis er direkt vor dem eingeschüchterten und verstörten Hybriden stehen blieb.
    „Fulgor, sag mir…“
    „Ich hab’s getan!“, die Hysterie übermannte das junge Pikachu, „Ich hab ihn umgebracht! Einfach so war er plötzlich tot! Ich wollte das gar nicht! Ich wusste nicht mal, dass er überhaupt da war! Und dann war er tot! Einfach so! Einfach so! Dabei wollte ich doch nur…“, er verstummte kurz, sah tief hinab in den Abgrund seiner Seele und schüttelte sich aus lauter Ekel vor sich selbst, „Ich wollte Felias töten! Er sollte still sein! Nicht Tenia! Doch nicht Tenia!“
    Fulgor spürte den mitleidigen Blick des Anführers auf sich und hasste sich selbst für seine Schwäche, dafür, dass er seine Wut und Kraft nicht unter Kontrolle gehabt hatte. Was hatte er nur getan? Er hatte Leben zerstört! Nur wenige Schritte weit entfernt hockte Janan am Boden und versank in Tränen und Trauer um seinen Sohn. Illia und Artras starben vor Sorge. Der ganze Stamm war aufgebracht. Der von zahlreichen Kämpfen so stark gezeichnete Arvengal musste einen gigantischen Aufruhr abwenden. Und das alles wegen ihm. Dem Monster, der Missgeburt, dem Mörder. Fulgor wünschte, er wäre nie geboren worden. Er wünschte, er wäre anstelle seiner Mutter gestorben. Der Wunsch nach einem Leben als normales Pikachu war in weite Ferne gerückt. So etwas hätte er niemals verdient.
    Mit tränenverschmierten Gesicht blickte er in die entschlossenen Augen Arvengals und bemerkte die vielen Narben, die einen magischen Zauber auf Fulgor auszuüben schienen. Der Anführer musste wirklich ein starker und erfahrener Kämpfer sein. Sein Urteil würde das richtige sein.
    „Ich werde dich jetzt erlösen, Fulgor.“
    Obwohl sich das junge Pikachu diese Worte herbeigesehnt hatte, zuckte der instinktive Lebenswille in ihm zusammen. Die Moire griff nach der Schere.
    „Wag es nicht ihm auch nur ein Haar zu krümmen!“, brüllte Artras und setzte zum Sprung an.
    Noch bevor er angreifen konnte, drückten ihn drei der Raichu auf den Boden und hielten ihn gnadenlos dort fest. Funken sprühten und wäre nicht auch noch Michos herbei gehechtet und hätte die anderen unterstützt, so hätte sich Fulgors Ziehvater womöglich befreien können.
    „Du kannst ihm nicht helfen, Artras!“, Arvengal ließ das junge Pikachu nicht aus den Augen, nahm sich jedoch dennoch die Zeit, sein Vorhaben zu erklären, „Er ist krank. Damit meine ich nicht seinen Körper! Was interessiert mich ein entstelltes Aussehen? Dieses Pokémon hat seine Kräfte nicht unter Kontrolle und wird es niemals haben“
    Er hob seine Stimme noch etwas weiter. Sie hallte und schwebte durch den Raum und ließ das Blut in Fulgors Adern gefrieren bis er das Gefühl hatte, dass auch seine Seele zu Eis erstarrt war.
    „Wer von uns sollte es ihm beibringen? Artras! Du hast gehört, wovon die Kinder berichtet haben. Unser Stamm hat eine lange Geschichte, unsere Vorfahren haben mit Blut und Schweiß all das Wissen erlernen müssen, auf das wir heute zurückgreifen können. Aber in all diesen Jahren, in keiner Generation, hat es so einen Fall jemals gegeben“
    Wieder hatte Fulgor das Gefühl, ganz allein auf der Welt zu sein. Seine grausame Einzigartigkeit würde ihm nun das Genick brechen. Er fürchtete sich. So sehr wie nie zuvor in seinem Leben. Ein Knoten saß in seiner Brust und machte ihm das Atmen schwer, die Angst vernebelte seine Sinne. Alle Eindrücke schienen weit entfernt, gar unerreichbar, als schwebe Fulgor in einem luftleeren Raum, abgeschnitten von allem Leben, nur sein eigener, langsam verstummender Herzschlag in der Leere des todbringenden Vakuums.
    „Er könnte jederzeit wieder die Kontrolle verlieren. Ich kann das Leben mehrer Stammesmitglieder nicht für ein einziges aufs Spiel setzen. Es tut mir Leid, Artras.“
    Ehrliches Mitgefühl sprach aus Arvengals Worten und Mimik. Er wandte den Kopf kurz zu Artras und sah dem tobenden Raichu traurig in die Augen. Doch dieser beruhigte sich nicht, sondern brüllte voller Wut und Verzweiflung, biss und kratzte um sich. Er machte Fulgor Angst.
    „Es gibt immer eine andere Lösung!“, die tränenerstickte Stimme Illias überraschte das junge Pikachu. Sie trat hinter ihm aus der Dunkelheit, blutende Schürf-, und Kratzwunden überdeckten ihren Körper. Scheinbar hatten die Wächter versucht, auch sie aufzuhalten, doch ein Weibchen konnten sie nicht einfach zu Boden drücken wie Artras, „Er ist noch ein Kind. Er kann lernen. Unsere Vorfahren mussten auch eigene Erfahrungen sammeln. Warum sollten wir das nicht auch können? Fulgor kann ein starker Kämpfer werden, ein Beschützer des Stammes. So wie du, Arvengal. Gib ihm eine Chance.“
    „Außerdem hat es in der Geschichte unseres Stammes auch noch nie den Fall gegeben, dass wir einen der unseren hinrichten mussten!“, mischte sich Artras mit lauter Stimme ein, der Vorwurf war unüberhörbar.
    Dennoch ignorierte Arvengal ihn und sprach, nun nicht mehr sanft, zu Illia: „Das kann er nicht. Er wird unseren Stamm niemals beschützen können. Und er kann nicht lernen, weil wir ihm keine Unterstützung bieten können. Es ist zu gefährlich.“
    „Warum soll er das nicht können? Was gibt dir das Recht das zu entscheiden?“, fauchte das Weibchen und sprang vor Fulgor, beschützte ihn vor dem drohenden Tod.
    „Weil er kein Pikachu ist!“, Arvengals Stimme war zu einem so lauten Brüllen angestiegen, dass der Schreck durch alle Anwesenden fuhr und sich niemand mehr rührte. Selbst Artras Kampf stoppte, wenn auch nur kurz.
    „Was meinst du damit?“, fragte Illia fassungslos flüsternd und schüttelte den Kopf, unwillig die Bedeutung der Worte zu verstehen.
    „Wir könnten hier auch kein Fiffyen aufziehen, ohne uns in Gefahr zu bringen. Sieh es ein, Illia. Ich weiß nicht, was er ist, aber Fulgor ist definitiv kein Pikachu.“
    Das Bild eines Fiffyens, einem Welpen der gefürchteten Magnayen, schob sich vor Fulgors inneres Auge. Es zerfetzte mit seinen scharfen Zähnen den leblosen Körper eines Pichu und blickte aus Augen, so rot wie das Blut das von seinen Lefzen tropfte, auf seine Beute, während es freudig mit dem buschigen, grauen Schweif wedelte.
    „Was soll er denn bitte dann sein? Komm zur Vernunft, Arvengal!“, Artras Stimme war nicht mehr als ein erschöpftes Keuchen.
    „Ich werde keine weitere Diskussion mehr dulden! Meine Entscheidung steht fest!“, der Anführer schob Illia grob zur Seite und ignorierte dabei, dass sie sich in seinem Arm festbiss und mit ihren Krallen tiefe Wunden in seine Seite riss, während er sich zu Fulgor hinunter beugte und mit leiser Stimme sagte: „Es wird nicht weh tun. Das verspreche ich dir“
    Der Hybrid schloss die Augen. So endete also sein Leben. Konnte er Arvengal vertrauen? Würde sein Ableben schnell und schmerzlos von statten gehen? Er dachte bei sich, dass es seltsam war, dass sein Überlebenswille sich scheinbar endgültig verabschiedet hatte. Vielleicht war das sein Schicksal. Vielleicht wusste jedes Pokémon, wenn seine Zeit gekommen war und es keinen Sinn mehr machte, sich zu wehren. Vielleicht wollte er aber auch wirklich einfach gehen. Fulgors Seele sah keinen Grund mehr, noch länger zu bleiben. Selbst für Illia und Artras war es besser, wenn er von der Bildfläche verschwand, auch wenn sie jetzt darunter zu leiden schienen. Wie viele Verletzungen mussten sie wegen ihm ertragen? Sie hatten etwas Besseres verdient. Einen besseren Sohn.
    Er beobachtete aus leeren Augen wie Arvengal die mächtigen Pfoten um seinen Nacken schloss. Augenblicklich kam Fulgor das Geräusch des brechenden Genicks in den Sinn, als Tenia gegen den Felsen gestoßen war. Ob das immer so laut war?
    „Warte, Arvengal!“, Artras mischte sich ein weiteres Mal ein, durchbrach die angespannte Stille mit flehender Stimme, „Dann lass ihn gehen! Wenn er nicht hier bleiben kann, lass ihn gehen!“
    „Denkst du er hat draußen eine Chance, alleine zu überleben? Ich bringe es nur schnell und schmerzlos zu Ende! Ein Gnadenakt!“
    „Ich flehe dich an! Gib ihm die Chance zu überleben! Er ist sein Sohn! Willst du dieses Erbe mit deinen eigenen Händen auslöschen? Und er ist mein Sohn! Mein Sohn, Arven! Bitte! Lass ihn gehen!“
    Arvengal zögerte und Stimmen des Protests erhoben sich unter den anderen Stammesmitgliedern. Hass, Wut, Verzweiflung und Trauer lagen in der Luft und erzeugten eine elektrisierende Spannung in der Halle, die nicht von den Funken stammt die hie und da aus den Wangen einiger Anwesenden stoben.
    „Bitte, Arvengal“, flehte nun auch Illia, die inzwischen von dem Anführer abgelassen hatte und den Strom aus Tränen nicht mehr halten konnte, der aus ihren Augen floss.
    Er blickte abwechselnd zu Artras und ihr und löste schließlich langsam die Pfoten um Fulgors Hals.
    „Du bist hiermit verbannt, Fulgor. Sobald du diesen Ort verlässt, stehst du nicht nur nicht länger unter dem Schutz des Stammes, sondern wirst auch als Feind betrachtet.“
    Illias Weinen drang an Fulgors Ohren. Erneut zerbrach die Welt vor seinen Augen.
    „Was ist mit meinem Sohn, Arvengal?“, brüllte Janan protestierend, „Wer kann mir den Glauben schenken, dass er vielleicht noch irgendwo lebt? Warum hat ein Mörder mehr Gutherzigkeit und Gnade zu erwarten, als ein trauernder Vater?“
    „Ich überlasse dieses Individuum der Natur! Sie wird entscheiden, ob er lebt oder nicht. Wenn er stirbt wird es ein weit grausamer Tod sein, als es der durch meine Hände wäre. Sollte dies dein von Hass zerfressenes Herz nicht beruhigen, Janan?“, Arvengal gab Fulgor einen kräftigen Stoß, „Und nun verschwinde!“
    Wie wild schüttelte das junge Pikachu den Kopf. Unfähig seine Gefühle zu kontrollieren, krallte er sich in den Arm des Anführers und brüllte ihm direkt ins Gesicht: „Nein! Das hab ich nicht verdient! Ich will nicht mehr! Bring es zu Ende! Wie soll ich so weiterleben? Warum darf ich es nicht wieder gut machen?“
    Nicht einmal Fulgor selbst wusste, was für Worte in diesem Moment über seine Lippen rannen und was sie bedeuteten. Ein wilder Strom aus Selbsthass und Reue strömte aus seinem Mund und überschwemmte die Welt. Er konnte einfach nicht aufhören zu reden und nicht anfangen zu denken. Sein Atem wurde immer schneller, sein Herz raste in seiner Brust und drohte zu explodieren. Da traf ihm ein Stein direkt an den Kopf.
    Fulgor verstummte und wandte sich zitternd zu dem Angreifer. Der Wurf war nicht fest gewesen, doch hatte er ihn in die Realität zurück geholt. Er blickte in das entschlossene, stolze Gesicht Illias. Die verwischten Spuren von ihren Tränen glitzerten wie Diamanten im schwachen Licht das die Funken, die aus ihren Wangen sprühten, erzeugten. Sie griff nach einem weiteren Stein, wog ihn kurz in der Hand, und warf ihn dann zielsicher nach Fulgor. Er wich nicht aus und blickte fassungslos auf den grauen Brocken, der soeben an seiner Brust abgeprallt war und nun stumm am Boden lag.
    „Verschwinde, Fulgor!“, befahl Illia mit fester Stimme.
    „Fulgor, geh!“, rief nun auch Artras.
    „Nun lauf schon“, forderte Arvengal laut.
    Doch die Stimme letzteres nahm Fulgor schon gar nicht mehr wahr. Wie gebannt starrte er an dem Anführer vorbei, hinauf zu der Statue des Zapdos, die furchteinflößend langsam den Kopf in seine Richtung drehte, ihn mit dem wilden Ausdruck eines hungrigen Jägers in den Augen anstarrte und dann weit den Schnabel aufriss. Ein grelles Kreischen, so laut wie kein Geräusch das Fulgor je zuvor vernommen hatte, drang an seine Ohren und ließ seine Muskeln erzittern.
    „Geh!“, schrie der Vogel.
    Das laute, alles durchdringende Geräusch weckte die Lebensgeister des jungen Pikachu. Der Tod war plötzlich keine Option mehr, Arvengal eine furchteinflößende Bedrohung. Sein Herz begann einen schnellen, harten Rhythmus zu schlagen, seine Muskeln zuckten fluchtbereit im Takt. Pures Adrenalin strömte in seine Adern und schien eine so hohe Konzentration anzunehmen, dass kein Platz mehr für das Blut in seinen Venen blieb. Ein Zittern breitete sich in seinem Kopf aus und fuhr bis hinab in seine Beine. Als es seine Zehenspitzen erreichte, machte Fulgor einen gewaltigen Satz und hechtete zum Ausgang. Aus dem Augenwinkel sah er Illia und Artras und meinte erkennen zu können, wie sie ihm bestärkend zunickten. Auch die Statue Tonumens blieb seinem Blick nicht verborgen. Nichts hatte sich daran verändert. Das Zapdos starrte weiterhin gen Boden. Kein gewandter Kopf, kein aufgerissener Schnabel, kein Echo des Kreischens, das von den Wänden widerhallte. Niemand der Anwesenden blickte gebannt und erschreckt auf die Statue des Gottes. Es war egal. Fulgor musste fort. Er musste leben.
    So schnell ihn seine zu langen Beine trugen hastete er aus der Halle und durch die verzweigten Gänge des Höhlenkomplexes. Er hörte die wilden Schritte zahlreicher anderer Pokémon hinter sich, die ihm eine Flucht nicht gönnen wollten. Wie in Trance folgte Fulgor dem Labyrinth bis zu seinem Ausgang, stolperte immer wieder über Steine und Wurzeln, weigerte sich jedoch vehement, zu stürzen und sich somit dem sicheren Tod durch die aufgebrachte Menge zu ergeben. Draußen erwartete ihn die Dunkelheit der Nacht, das Kreischen der eulenähnlichen Hoothoot und Noctuh in den Bäumen, das Heulen der Magnayen in der Ferne. Doch vor allen Dingen umarmte ihn die frische Luft, die Freiheit, als er nach einer scheinbaren Ewigkeit den Untergrund hinter sich ließ und das weiche, saftige Gras unter seinen Boden fühlte. Er blieb nicht stehen, wandte sich nicht um, verschwendete nicht einen Gedanken an das, was er gerade verlor. Fulgor rannte einfach weiter.
    „Leben!“, schrien die Vögel in den Bäumen.
    „Leben!“, heulten die Magnayen und der Wind.
    Leben. echote es in den Gedanken des jungen Pikachu.
    „Stirb!“, brüllte die wütende Meute, die ihm immer noch dicht auf den Fersen war.
    Sie waren schneller als er. Auf kurz oder lang würden sie ihn einholen. Doch für Fulgor schien es keine Chance zu geben, sie abzuschütteln. Er spürte den Blutdurst seiner Verfolger im Nacken und den Regen auf seinem Fell. Tiefschwarze Gewitterwolken waren aufgezogen und bedeckten schnell den ganzen Himmel, ließen die Nacht noch dunkler erschienen und sperrten selbst den schwachen Schein des Mondes aus. Dann erhellte ein Blitz die Welt. Ein lautes Krachen erfüllte die Luft, als er in einen Baum einschlug, kurz bevor sich Fulgor in den Wald flüchten konnte. Mit halsbrecherischer Geschwindigkeit türmten sich plötzlich Feuerzungen vor ihm in die Höhe. Die Hitze versenkte das Fell und die Federn des Pikachu, das grelle Rot und Orange blendeten seine Augen. Instinktiv schlug er einen Haken, verlor dabei beinahe das Gleichgewicht, und rannte dann auf ein offenes Feld, das in der entgegen gesetzten Richtung des Flammenmeers lag. Nur ein paar wenige Büsche, das Gras und die Pflanzen am Boden machten hier die Vegetation aus. Es war ein gefährliches Gebiet, bot nicht genug Schutz für Beute größerer Räuber, wie es die Elektromäuse waren. An diesem Ort kannte sich Fulgor nicht aus und hatte keine Ahnung, wohin er lief. Er wusste nur, dass sein Weg früher oder später auf die eine oder andere Weise enden würde. Immer noch konnte er seine Verfolger, die inzwischen bereits so nahe waren, dass er regelrecht ihren heißen Atem im Nacken spüren konnte, nicht abschütteln. Wenn sie ihn zu fassen bekommen würden, wäre sein neues Leben beendet bevor es begonnen hatte. Fulgor sammelte noch einmal alle Kraft in seinen Beinen, ignorierte seine schmerzenden Muskel und seinen brennenden Atem und machte so große, schnelle Schritte wie er nur konnte, um wenigstens etwas Distanz zwischen sich und die anderen Elektromäuse zu bringen. Über ihm grollte der Donner, an ihm schoss die Umgebung vorbei, der Regen weichte den Boden unter seinen Füßen auf und erschwerte dem Pikachu zusätzlich das Laufen. Seine Kraftreserven neigten sich dem Ende zu und er hatte noch immer keine Idee, wohin ihn seine Flucht überhaupt führte. Das Brüllen und Rufen seiner Verfolger wurde zusehends lauter.
    Da endete plötzlich der Weg vor Fulgor. In der tiefschwarzen Dunkelheit und benommen von Adrenalin und Furcht hatte er die Klippe beinahe zu spät bemerkt. Er stoppte abrupt und blickte hinab in die gähnende Tiefe. Es gab keinen Ausweg mehr für Fulgor. Nur wenige Sekunden später spürte er, wie sich ein Raichu auf ihn warf. Er wurde auf den Rücken gerollt und blickte in das Gesicht Janans, das ein wildes Grinsen zierte. Fulgor sah, wie die Menge an Elektrizität die er in der ausgeholten Faust sammelte das Fell und selbst die Haut des Raichu verbrannte. Er schloss die Augen und erwartete den finalen Schlag, trauerte in Gedanken um Illia und Artras die so viel auf sich genommen hatten, um ihm das Leben zu schenken, das er nun bereits wieder verlor. Fulgor spürte das sanfte Trommeln der Regentropfen auf seinem Fell, das Pochen seines Herzens, das Blut in seinen Adern, den Schmerz in jeder Faser seines Körpers. Da war es also, das Leben das er nie wirklich hatte sehen und schätzen können. Es war überall um ihn herum, selbst in ihm. Sein Herz war schwer, weil er es nicht noch etwas genießen konnte und leicht zugleich, da er zumindest nicht sterben musste ohne endlich zu wissen, was er nun verlor. Schwach lächelnd verabschiedete er sich vom Leben.
    In diesem Moment ertönte ein Knall, so laut, dass Fulgors Trommelfell zu bersten drohte. Er riss die Augen auf als er spürte, wie der Boden unter ihm nachgab. Ein Blitz war in den Rand der Klippe eingeschlagen, die Wucht ließ die Steine bröckeln, wo sich das Pikachu und der nach Rache dürstende Vater befanden. Große Felsbrocken stürzten in die bodenlose Tiefe. Fulgor verlor den Halt und folgte ihnen, erblickte neben sich Janan, der verzweifelt versuchte die Pfoten der anderen Raichu zu erreichen, die sie ihm entgegenstreckten. Doch es war bereits zu spät. Der Abgrund verschlang die beiden Elektromäuse mit unstillbarer Gier. Wieder übernahmen Fulgors Instinkte die Kontrolle. Als er den Boden auf sich zurasen sah, breitete er die Schwingen mit einem Ruck aus. Sofort verfing sich die Luft in seinen Federn. Er erinnerte sich an das unbeschreibliche Gefühl der Freiheit, als er durch den Himmel geglitten war. Noch schöner war nur das Leben an sich. Er würde nichts von beidem verlieren. Mit wenigen kräftigen Flügelschlägen brachte er Distanz zwischen sich und den Erdboden, gerade schnell genug um nicht mit ansehen zu müssen, wie die Knochen Janans am Grund zerschellten und seine Seele seinem Sohn in das Totenreich folgte. Fulgor verlor keinen Gedanken daran. Weiterhin herrschte nur der Wunsch nach Leben im ihm. Er ignorierte das wilde Rufen der perplexen Elektromäuse, die abwechselnd voller Entsetzen in den Abgrund und dann wieder zu ihm sahen. Einige versuchten, das junge Pikachu mit Stromstößen vom Himmel zu holen, doch er fühlte sich, als habe er nie den Erdboden berührt, als wären sein Heim immer die Winde gewesen, und wich geschickt aus. Fulgor schlug kräftig mit seinen großen Schwingen und glitt in die Ferne, auf die düsteren Gewitterwolken, auf sein neues Leben zu. Seine Flügel, die in seinem alten Leben nichts als Ballast gewesen waren, trugen ihn nun in eine ungewisse Zukunft.

  • *finger knack* ♥
    yo schwesterchen :*
    Schreib doch mal wieder keine Monster Kapitel, sonst dauert es immer so lange, bis ich dir einen Kommentar hinterlassen kann, das ist doof. Nein Quatsch, schreib Kapitel wie du lustig bist! :D Wie ich dich einfach mal in den Profi Bereich gebracht habe, haha. Willkommen bei den Profis! Okay… Dann mal los. ♥ (haha, wie word bei mir alle Namen außer Illia als Fehler kennzeichnet… :D) Ach ja, und dass der Kommi derartig lang wird, habe ich eigentlich nicht gewollt. Es gibt nur so unglaublich viel zu sagen. Sorry Paya. <3


    Kapitel 5 ~
    Mir fällt irgendwie auf, dass die Kapitel von süß zu brutaler überschwanken. Ich würde dir empfehlen die Warnung noch etwas „stärker“ zu formulieren… (Also im Startpost) Gut aber, dass du vor dem Kapitel noch eine fette Warnung eingebaut hast. Den Header des Kapitels kann ich kaum richtig ausmachen; was das sein soll, kann ich dir irgendwie nicht genau sagen, vielleicht aber du mir? Es scheint ein „etwas“ zu sein, dass irgendwo Abstürzt und fällt, ich erkenne einige Parallelen zu Fulgors Leben und auch zum Kapitel. Sehr tiefgründig und schön gewählt, was auch immer das zu sein vermag. Die Verse darunter finde ich fast noch schöner, langsam wirst du echt (wie gesagt) immer düsterer und brutaler. Ich habe zwar erwartet, dass es mal ein bisschen hart auf hart kommt, aber so habe ich es mir dann noch nicht erdenken können. Na ja, ich habe nichts dagegen, es kommt nur ein bisschen unerwartet. Aber gut, ich würde sagen, die Kritik zum Kapitel interessiert dich etwas mehr, deshalb schließe ich hier mal ab, mit dem Satz: Header und Zitat passen gut zusammen, und zum Kapitel, sind sehr schön düster gestaltet und haben beide etwas unglaublich schön tiefgründiges, super ausgewählt!
    Ich muss schon im Voraus sagen, trotz dieser Länge wurde das Kapitel buchstäblich verschlungen. Du schreibst einfach wundervoll und den Platz hier bei den Profis hast du dir auf jeden Fall verdient! (das musste jetzt einfach mal gesagt werden)
    Den ersten Absatz hast du sehr schön beschrieben, sehr ausführlich wurden Fulgors Gefühle aufgedeckt. Mit einer fantastischen Wortwahl und wunderschönen Formulierungen hast du hier einen wirklich klasse Abschnitt geschaffen, mit einer wundervollen Beschreibung. Eine ganz gute Einleitung, wobei vielleicht Handlung zu Beginn des Kapitels immer nicht schlecht ist. Ich selbst schaffe das auch selten, da Beschreibungen einfach dazu gehören und manchmal echt wichtiger sind, aber Handlung leitet das Kapitel vielleicht etwas würziger ein. Ansonsten wirklich toll geschrieben, man kann sich immer wieder ein Stückchen mehr in den kleinen Pikaeron Hybriden versetzten. (Ich nenn ihn jetzt einfach mal so :3) Fulger wird dann von Felias „angesprochen“, nachdem dieser sich wieder rühren kann, ich muss sagen, die Stelle hat mir eher weniger gefallen. Sollte Fulgor nicht etwas mehr Schmerzen haben, nach dem ersten Stoß seines Rivalen? Ich meine, die Gedanken dazu sind gut geschrieben, dass er denkt er stirbt jetzt, wie wohltuend das doch eigentlich wäre, und und und, aber trotzdem, da fehlt mir ziemlich heftig die Beschreibung der Schmerzen, die sollte bei sowas an erster Stelle, sofort dabei sein! Ja, Fulgor hat den Frieden des Stammes zerschmettert, aber waren sie es nicht, die auf ihm rumgehackt haben, bis es irgendwann so gekommen ist. In unserer Klasse wurde mal ein Kind gemobbt, das ging so lange, bis es ausgerastet ist, und die alle geschlagen hat, die ihn gemobbt haben. (Ich habe ihn schon immer gemocht <3) Ähm, ja zurück zum Thema. Aber ich finde es sehr realistisch dargestellt, dass Fulgor selbst sich keinen Mut macht. Wieso auch? Er hat alles verloren und weiß nicht wohin, wenn er am Ende des Tages überhaupt noch auf Erden wandeln sollte. Wirklich traurig, traurig. Wieder schlägt Felias dann zu, ich denke mal mit Donnerschlag, auf jeden Fall sehr schön umschrieben die Attacke, aber auch hier wurden kaum die Schmerzen beschrieben, sondern nur Gefühle/Gedanken und die Handlung an sich. Insgesamt hat der Abschnitt aber auch etwas (bezogen auf das nicht beschreiben der Schmerzen) denn dadurch wirkt er nicht so interaktiv, aus einer anderen Sichtweise erzählt. Blöd nur, dass die Gedanken so genau beschrieben wurde, dass das Bild wieder zerschossen wird. Aus dem Abschnitt an sich werde ich nicht so richtig schlau, er ist ganz schön geschrieben und die vorhandenen Beschreibungen sind mal wieder sehr schön, ausführlich und detailliert; aber (!) die Logik des Aufbaus lässt hier meiner Meinung nach stark zu wünschen übrig…
    Fulgor wacht als nächstes auf bei Illia, die ihn immer behütet hat. Die ersten paar Gedanken bevor Illia etwas sagt, finde ich eher ein Wenig unrealistisch. Fulgor muss niedergeschlagen sein, deprimiert, psychisch verletzt, vielleicht sogar depressiv, da denkt man nicht so: Ach, das war ja alles nur ein Traum. Man denkt direkt wieder an den Schmerz und wird noch depressiver… Das wirkt hier etwas falsch, da es einfach nicht zur Gefühlslage des Hybriden passt. Andererseits kann es ja auch sein, dass er sich nur noch schleierhaft an irgendetwas erinnert, dann würde aber die Aussage: Das war alles nur ein Traum!, keinen Sinn mehr ergeben. Überdenk die paar Gedankenfetzen da am besten nochmal. Wieder diese Gedanken. Auf jeden Fall erinnert er sich, da er alle Ereignisse aufzählt. Kurz gesagt, ich wiederhole mich ja eher ungern; das passt nicht in sein bisheriges Handeln, die Hoffnung wurde ihm von Felias Schlägen und Tenias (wie mir gerade auffällt, dass du da nur einen Buchstaben geändert hast, du unkreative Papaya, Du :*) Tod wahrscheinlich bis aufs letzte genommen, könnte ich gut verstehen. Sowas geht ganz schön auf die Psyche, wenn man jemanden auf dem Gewissen hat, da bin ich mir felsenfest sicher. (Aus Erfahrung kann ich es dir zum Glück nicht sagen :D)
    Aber dann… dann bin ich verwirrt. Ich dachte er wäre bei Illia zu Hause (das hast du doch geschrieben!?) und jetzt ist er plötzlich in irgendwelchen heiligen Hallen, die meines Erachtens einem Gerichtssaal ähneln. Wird umzingelt von Raichu, alle samt Krieger des Stammes, und von den anderen Pikachu beschimpft. Wow, Paya, deine Fanfiction gefällt mir wirklich. (lol, perfekte stelle für sowas…) Ich mag traurige Geschichten, Fulgor geht mir wirklich unglaublich ans Herz. Okay, weiter aber nun im Text. Dann will Illia zu ihm, ich bin jetzt wirklich ein bisschen verwirrt, aber mit den weiteren Beschreibungen legt sich das teilweise wieder. Trotzdem hätte ich diese Stelle allgemein gerne erklärt, wenn du also so lieb wärst. *zwinker* Die Beschreibung seiner Tante fand ich sehr gelungen und auch das ganze drum herum, bis zu der anderen Stimme, die sie frei gibt, hast du sehr schön beschrieben. Wo wir gerade bei der Stimme sind: Ich mag solche zunächst geheimnisvollen Charaktere. Es wird wohl der Stammesführer, Richter oder allgemein ein sehr hohes Tier im Stamm sein, ich bin auf jeden Fall sehr gespannt, was ihn angeht, so am Ende dieses Abschnittes. Arvengal also… Mhm, er ist der Stammesanführer; und mir gleich sehr sympathisch. Erinnert mich vom Verhalten ein bisschen an Reptain meiner Fanfiction Disappear, kalt und verständnislos, so muss ein Anführer sein. Ich klaue jetzt einfach mal deinen Spruch und drücke ihm (nach Fulgor natürlich, den liebe ich eh <3) mein Chess-Loves-You Prädikat auf, haha.
    Das Gespräch zwischen Fulgor und Illia hat mich ehrlich gesagt etwas enttäuscht. So eine schöne Szene, aber so schwache Beschreibungen. Das wahrscheinlich nicht mehr als gehustete „ich hab dich lieb“. Da kann man ja seitenweise drüber formulieren. Aber hier wurde das kaum aufgegriffen. Tut mir leid, aber diese Stelle war… schlecht ausgeführt. :( Die darauf folgende hingegen war schon wieder viel besser! Michos, Felias Vater also interessant, klagt Fulgor gleich mal an, Arvengal hingegen tritt genau so auf, wie ich ihn mir vorgestellt habe, kalt und verständnislos, brutal, aber dennoch zeigt er hier und da auch mal eine Emotion. Er hat vollkommen recht, er wird entscheiden, nur hätte ich mir hier noch eine kleine Moralpredigt für Michos gewünscht, aber gut, subjektives Verlangen halt, weil doofer Charakter und so. Die Hoffnung springt von Illia zu Fulgor über? An sich eine schöne Idee, aber viel zu wenig beschrieben. Ich meine, es geht zu schnell. Von Depression zu glücklich mit Hoffnung; so ein Sprung ist nicht einfach und daher sehr langwierig und zäh, das dauert ein bisschen. (Würde ich jetzt einfach mal so behaupten) Mir fällt dazu noch auf, dass er vielleicht Bedenken haben sollte: Selbst wenn er Arvengal überzeugen kann, dass er bleiben darf, alle werden ihn trotzdem hassen, ihm das Leben schwer machen und ihn so lange „mobben“, bis er erneut einen Ausraster hat. Sollte er das nicht vielleicht noch bedenken? Dazu ein mulmiges Gefühl kriegen. Sein Selbstwertefühl sollte mittlerweile in den Keller gerutscht sein…
    Fulgor lässt man nach seinem Vortreten und Arvengals Aufforderung ja eigentlich gar nicht reden. Ich kann Janans Verhalten zwar verstehen, aber er sollte sich beruhigen, wenngleich die Situation einfach nur grauenhaft für ihn sein muss. Wenn man wegen jemanden dem Sohn verliert will man einfach nur Rache, das kann ich gut verstehen. Wundert mich nur, dass Janan nicht direkt angreift, das scheint mir etwas mehr zu passen. Aber gut. Er wird von einer Wache gestoppt, aber eigentlich nicht wirklich, nur ein Versuch ihn zu stoppen. Hingegen verplappert er sich (wissentlich dessen?) etwas. Fulgor erfährt, dass Tenia sein Bruder ist. Mein erster Gedanke war: Und Felia seine Schwester, haha. // Spaß bei Seite, das ist eine interessante und gleichzeitig schockierende Information und muss wie ein Stoß mit dem Dolch sein, mitten in sein Herz. Aber auch, dass Janan dann wohl sein Vater ist (oder vielleicht doch nicht? Hä?) muss für ihn eine schlimme Tatsache sein. Spätestens (aber wirklich aller spätestens) an dieser Stelle hätte ich angefangen zu heulen, hätte gesagt: Lasst mich in Ruhe, ich gehe! Irgendwie gibt es irgendwo dann auch ein Ende und diese Grenze wurde hier schon lange überschritten, was der Stamm mit Fulgor macht ist einfach nur brutal. Mensch, der Arme tut mir echt leid… Ich danke Artras, dass er sich einmischt. Er scheint Janan zur Vernunft zu bringen und auch seinem Anführer redet er ins Gewissen. Artras muss eigentlich wissen, dass er hier sein eigenes Leben und seinen Ruf riskiert, daher würde ich mal sagen, dass Artras ein wirklich sehr toller Charakter ist, unglaublich stark und liebend. Jetzt aber mal wieder wichtige Kritik…: Fulgor, wenngleich noch immer wie betäubt von der Erkenntnis seinen eigenen Bruder getötet zu haben, erschrak maßlos.<- Ein einziger Nebensatz zu der Trauer seinen eigenen Bruder umgebracht zu haben? Definitiv zu wenig. Oder meinst du es ist der Situation unangebracht? Mhm… Ich bin nicht sicher, aber vielleicht verdrängt man den Gedanken dort wirklich. Aber trotzdem, irgendwie fehlt mir da was, da muss mehr hin… Na ja, Artras wird brutal unterbrochen, das erinnert an eine Gesellschaft dessen Motto es ist, der Stärkste gewinnt. Dann verstehe ich nicht so recht: Arvengal sagt etwas gegen Artras aber trotzdem hilft er ihm. Aus dem Charakter werde ich noch nicht ganz schlau, aber trotzdem mag ich ihn wirklich sehr. Und dann hat Fulgor erneut einen Ausraster… Oh mein Gott, ich konnte mir wirklich richtig vorstellen, wie es das rumschreit, anfängt zu weinen, wild gestikuliert und all das. Mir selbst hast du auch ein paar Tränen beim Lesen geklaut, die Stelle ist einfach nur die traurigste im ganzen Kapitel. Er versucht zu erklären, dass er es gar nicht wollte, er rechtfertigt sich und doch zeigt man nichts als Hass, das ist wirklich einfach nur schrecklich und dafür gehört eigentlich der ganze Stamm verbannt. Obwohl ich mittlerweile auch ein stückweit verstehe, dass man ihn dort hasst. Immerhin hat er jemanden umgebracht, wissentlich oder nicht spielt dabei eigentlich keine Rolle, Mord ist Mord. Nur muss man sich mit der Ursache des Mordes befassen, und die liegt nun mal unschwer erkennbar beim Mobbing von Felias und Co, welches darauf beruht das Fulgor anders ist. Das ist das Problem!
    Fulgor gibt es zu. Er wollte Felias töten. Aber ist das nicht ein bisschen hart formuliert? Ich bin mir sicher, dass ich die selben Gedanken hätte, aber sowas sagt man doch nicht, damit macht er sich auf jeden Fall keine Freunde und Pluspunkte holt er sich damit auch nicht. Die Frage ist dann nur: Warum macht Fulgor das? Meint er das ernst? Oder hatte er sich einfach nicht unter Kontrolle? Arvengal bemitleidet ihn, wieder einer seiner Züge, die ich unglaublich schätze und mag, doch trotzdem spricht er aus, eiskalt, was alle wollen. Er möchte Fulgor töten. Die Szene fand ich sehr gut beschrieben, auf einmal packt ihn doch der Lebenswille, wenngleich er eigentlich sterben wollte. Sein Ziehvater will ihm helfen, doch es sind zu viele. Mensch das ist wirklich emotional pure, Trauer, Wut, Verzweiflung und Hass auf höchstem Niveau. Meinen Respekt meine Liebe, du hast es geschafft diese Stelle mit genau den richtigen Worten perfekt zu formulieren. Gut gemacht.
    Illia. Da kommt endlich ein Lichtblick, sie sagt genau das, was richtig ist. Er ist ein Kind! Das darf man nicht vergessen. Diese Situation ist einfach… krass. Es gibt kein anderes Wort dafür, sie sollte nicht sein. Auch Artras Einwand kommt sehr bedacht, wenn noch nie jemand ermordet hat, ist das kein Grund deswegen so zu handeln, denn es wurde auch noch nie jemand hingerichtet, sehr schön. Und dann wieder der Anführer, dieses Mal jedoch so mächtig, das alle anderen ruhig sind. Auch das konnte ich mir unglaublich lebhaft vorstellen, sehr gut geschrieben. Er sagt das was alle denken und leider auch alle wissen, Illia verteidigt Fulgor zwar, aber ich denke in ihrem tiefsten Inneren weiß auch sie, dass Fulgor nicht zu ihnen gehört. Oder doch? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht genau.
    *schnief* Jetzt wird er also doch verbannt. Ist das vielleicht wirklich die schlechtere Wahl von Artras und Illia gewesen? Was wenn er in der Natur langsam verreckt, aus Durst, Hunger oder weil er von anderen Pokémon angegriffen wird. Wenn Arvengal recht hat, dann wäre seine Todesstrafe ein kurzer Hieb und fertig, die Schmerzen würden gar nicht mehr ankommen, weil er schon weg wäre. Aber nein, er wird verbannt. Doch wieder, Arvengal hat Recht. Er schnauzt Janan beinahe an und trotzdem, was er zu ihm sagt, ist richtig gewesen. Mensch, ich liebe diesen Anführer. Auch das Bild des Fiffyens, welches sich Fulgor willkürlich vorgestellt hat, hat mir unglaublich gut gefallen. Jetzt nicht vom Aussehen her (lol) sondern eher so von der Symbolik. Wirklich ein krasses Kapitel. Und Fulgor will den Tod… Wow… Aber weißt du was? Mit der Zapdosszene hast du mir echt Angst eingejagt, irgendwie habe ich mir das ziemlich böse vorgestellt. Aber wenigstens scheint der legendäre Vogel des Kanto Trios im neuen Mut zu geben. „Der Tod ist keine Option mehr“.
    Und das Ende des Kapitels… Paya, du bist einfach genial. Er fliegt. Fliegt davon, vor der Meute die ihn, rachelustig und nach seinem Tod aus, verfolgt. Wow, das war wahrscheinlich die bisher schönste Stelle von ganz Element Engagement, wirklich wunderschön. <3
    Abschließend kann ich nur sagen, dass du dich selbst übertroffen hast (und das der länge 1-Kapitel-Kommi ist, den ich je geschrieben habe) Nur hier noch ein paar kleine Anmerkungen: Erstens, du solltest in solchen langen Kapiteln trotzdem darauf achten, die Gefühle und Gedanken immer sehr detailiert zu beschreiben. Manchmal kommen sie mir etwas zu kurz und es scheint, als hättest du Angst vor dieser Länge. Nein Paya, mit deinem wunderschönen Stil und der spannenden Thematik fesselst du deine Leser, da ist die Länge des Kapitels einfach nur egal. Zweitens. Du machst immer denselben Fehler in Sachen Zeichensetzung bei der wörtlichen Rede, hihi. Wenn am Ende der wörtlichen Rede ein Ausrufezeichen ist, dann musst du vor den Begleitsatz ein Kommata setzten. Das ist einfach so. Nachzulesen in der Schreibschule oder einfach irgendwo im Duden oder so.
    Im fünften Kapitel sind viele neue Charaktere aufgetreten und die Handlung scheint nun endlich ihren Lauf zu nehmen, top! Ein genials Kapitel Paya. Hör bloß nicht auf zu schreiben! ~


    Ich will nicht lügen, aber zurzeit kann ich Element Engagement als eine der besten Geschichten des Bisaboards bezeichnen. Sie ist so traurig (ich liebe traurige Geschichten <3) und trotzdem ist sie so wunderschön. Paya, bitte tu mir und allen anderen einen großen Gefallen: Schreib diese Geschichte fertig! ♥
    Ich hab dich lieb Schätzi, bis bald.
    Dein Chessi <3


    2.725 Wörter… Tut mir echt leid. e.e‘

  • Kapitel 6
    Allein



    Niemand wird mir sagen, warum ich verdammt bin,
    das schwere Kreuz der Einsamkeit zu tragen.


    -Arie Ben-Chorin: Das Kreuz der Einsamkeit



    Fulgor rannte. Schon lange hatte er nicht mehr genügend Kraft, um zu fliegen. Doch er konnte nicht stehen bleiben. Hinter sich hörte er die schnellen Schritte eines immer näher kommenden, gigantischen Pokémon und das laute Schlagen großer Flügel. Er wagte nicht, sich umzudrehen und dem Wesen in die Augen zu blicken, das ihn seid gefühlten Stunden verfolgte und sich von nichts aufhalten ließ, seien es reißende Flüsse, steile Klippen oder tiefe Wälder. Was Fulgor auch versuchte, wo er sich auch versteckte, er konnte seinen Verfolger nicht abschütteln. Das Wesen schien eine unsagbare Freude bei der Jagd zu verspüren denn -, so war sich Fulgor sicher -, es hätte das junge Pikachu schon lange mit Klauen, Zähnen oder Krallen packen und zerreißen können. Stattdessen ließ es ihn fliehen, schürte seine Hoffnung entkommen zu sein, wenn es wieder einmal kein Geräusch mehr von sich gab, nur um nach einer kurzen Atempause ein lautes Brüllen in die Welt hinaus zu schicken und die Fluchtinstinkte seiner Beute auf ein Neues zu entfachen. Doch dessen Kraftreserven waren nicht unendlich und neigten sich mit jedem Schritt näher ihrem Ende. Fulgor rang verzweifelt nach Luft, doch seiner brennenden Kehle verschafften die eiskalten Winde mehr Schmerz als Linderung, während seine Lunge stetig weiter zu schrumpfen schien und seine Beine schwer wie Blei wurden. Wie weit war er nun schon geflohen? Hatte es jemals etwas anderes gegeben als ihn und seinen Verfolger? Seit wie vielen Stunden wurde nun der Nebel um ihn herum schon stetig dichter und versperrte ihm weitgehend die Sicht auf die Welt um ihn herum und damit auf mögliche Verstecke? Wie lange sollte das noch so weiter gehen? Fulgor vergaß hin und wieder, warum er überhaupt rannte. Er wusste nicht einmal, was ihn dort warum verfolgte und wohin es ihn trieb. Doch immer wenn er glaubte, so viel Mut gesammelt zu haben um stehen bleiben und sich umdrehen zu können, trieb ihn doch wieder eine seltsame Macht vorwärts. Bald schon fragte er sich, ob der Ursprung dieses unsichtbaren Drangs zu rennen wirklich seinem Innersten oder nicht doch dem allgegenwärtigen Nebel entsprang. Inzwischen konnte Fulgor nicht einen Meter mehr weit sehen und er überlegte wie lange es noch dauern mochte, bis er gegen ein Hindernis stieß das seinem Blick verborgen blieb. Der Gedanke ließ ihn zögern, doch sogleich erklang erneut ein lautes Brüllen in seinem Nacken. Fulgor sprang vorwärts und als hätte er eine unsichtbare Wand durchbrochen war der Nebel mit einem Mal verschwunden. Stattdessen tat sich direkt unter ihm der bodenlos gähnende Abgrund einer Klippe auf.
    Ein Schrei löste sich aus seiner Kehle, als er sich in der Luft um die eigene Achse drehte und auf den Boden zuraste. Er besann sich fast zu spät auf seine Flügel, doch als er sich mit ihrer Hilfe abfangen wollte, gehorchten sie ihm nicht. Während er fiel erhaschte er plötzlich einen Blick auf den Rand der Klippe. Dort stand es, das Wesen das ihn verfolgt hatte. Es war noch riesiger, als seine Schritte und sein Brüllen vermuten lassen hatten. Zugleich war es seltsam vertraut und als Fulgor es erkannte und bald darauf bemerkte, was es zwischen seinen langen Säbelzähnen hielt erstickte der Schock seinen Schrei. Das Zapdos hingegen kreischte triumphierend und schlug die scharfen Krallen sichtbar erregt in das Fell des Raikou, das mit einem kräftigen Biss Fulgors Flügel bearbeitete, die plötzlich in tausend Scherben zersprangen als seien sie aus Glas. Panisch versuchte das junge Pikachu fallend einen Blick auf seinen Rücken zu erhaschen oder seine Flügel zu ertasten, doch sie schienen tatsächlich nicht mehr da zu sein. Mit der Erkenntnis schoss der Schmerz in seinen Körper. Die beiden legendären Jäger mussten ihn gepackt haben, als er durch den Wall aus Nebel gesprungen war. Waren sie tatsächlich so kräftig, dass sie seine Flügel einfach abreißen konnten? Oder lag es daran, dass die Schwingen eigentlich doch ein Fremdkörper an dem Körper der Elektromaus waren, so gut sie zuvor auch funktioniert haben mochten?
    Der Gedanke blitzte nur kurz in Fulgors Geist auf, bevor der Schmerz ihn überlagerte. Er war so intensiv, dass das Pikachu kaum bemerkte wie das Raikou seinen gestreiften Pelz schüttelte und das Zapdos von seinem Rücken warf, das sogleich mit unglaublicher Geschwindigkeit Fulgor hinterher stürzte und ihn mit scharfen Klauen an die Felswand presste. Der Aufprall trieb die Luft aus seinen Lungen und schien zeitgleich auch den Schmerz zu vertreiben. Vor Angst erstarrt und wie gebannt starrte er in das Gesicht des riesigen Vogels. Jede einzelne gelbe Feder lief spitz zu wie eine Kralle. Es ließ das Zapdos kantig erscheinen und nahm ihm etwas von seiner natürlichen Anmut. Von diesem Anblick eingeschüchtert genug zwang sich Fulgor einige Zeit, dem Blick des Jägers auszuweichen doch so nah wie er ihm war, war dies auf Dauer unmöglich. Er bemerkte die erstaunlich langen Wimpern des Zapdos und wunderte sich doch sehr darüber, wie feminin der Anblick wirkte.
    Als sich die Blicke der beiden Pokémon trafen verlor er sich in der tiefgehenden Schwärze der Federn, die die Augen seines Gegenübers umrahmten, und den weit aufgerissenen Pupillen. Sie schienen Fulgor regelrecht aufzusaugen und die unendliche Dunkelheit, die aus ihnen sprach, betäubte den Geist des Pikachu und ließ ihn in einen Zustand vollkommener Ruhe verfallen. Sein hektisches Atmen verstummte genauso abrupt, wie das Schlagen seines Herzens in der kleinen, müden Brust. Das Zapdos kam ihm noch näher und es erschien Fulgor so, als beobachtete es einen Augenblick lang amüsiert, wie sein Lebenslicht erlosch und seine Augen trüb wurden, bevor ein erstaunlich sanftes und fürsorgliches Lächeln das Gesicht des Vogels zierte.
    „Und jetzt“, erklang die Stimme Illias in Fulgors Kopf, doch er zweifelte keine Sekunde daran, dass es eigentlich das legendäre Pokémon war, das sich in seinem Geist festgesetzt zu haben schien und dort mit jener Stimme zu ihm sprach, der das junge Pikachu selbst die offensichtlichste Lüge geglaubt hätte, „Lauf!“
    Das Zapdos riss kreischend den Schnabel auf und spie einen Schwall aus Speichel und Blut über Fulgor, bis er ganz davon benetzt zu sein schien. Tenias Geruch stach urplötzlich und viel zu intensiv in seine empfindliche Nase. Der legendäre Vogel lächelte.
    Erneute erkämpfte sich das Leben einen Platz in Fulgors Innerstem, breitete sich aus, explodierte und manifestierte sich in einem keuchenden Atemzug.


    Fulgor erwachte schreiend aus seinem Albtraum. Ruckartig setzte er sich auf, die Augen weit aufgerissen, und stieß die scharfen Krallen seiner Füße in das vom Regen aufgeweichte Erdreich, wo er instinktiv nach Halt suchte. Nur langsam kroch der Schreck aus seinen Gliedern und ließ ihn zitternd zurück. Vorsichtig, als rechnete er mit dem Schlimmsten, führte Fulgor seine Pfoten so gut er konnte an seinen Rücken und tastete nach den ihm so vertrauten Unebenheiten. Ein erleichtertes Seufzen entglitt ihm, als er sich seiner Flügel gewahr wurde.
    „Tonumen sei Dank“, flüsterte er leise und hatte beinahe zugleich das Gefühl, sich an dem Namen des Gottes zu verschlucken als ihm dessen Bedeutung in seinem Traum wieder vor Augen trat.
    Noch einmal ließ die Erinnerung ihn erschaudern und instinktiv seine Lider zusammenpressen, als könnte dies die furchteinflößenden Bilder aus seinen Gedanken vertreiben. Er erstarrte, bis sich der Sturm in seinem Innersten scheinbar genauso schnell wieder legte, wie er aufgetreten war, nicht jedoch ohne ein mulmiges Gefühl in seiner Magengegend zurück zu lassen.
    „Ganz ruhig jetzt, Fulgor. Ganz ruhig.“
    Während das junge Pikachu sich selbst Mut zusprach, atmete er tief ein und aus und versuchte sich darauf zu konzentrieren, seinem wild schlagenden Herzen wieder einen normalen Rhythmus aufzuzwängen. Alles es ihm endlich gelungen war fühlte es sich so an, als sei eine ganze Ewigkeit vergangen.
    Fulgor öffnete die Augen und war kurzzeitig verwirrt, als sein nun wieder klarer Blick auf die mächtigen Wurzeln fiel, die ihn von allen Seiten zu umgeben schienen und beinahe einen größeren Umfang hatten als sein eigener Körper. Wie erstarrte Wellen bewegten sie sich mal auf, mal ab, verschwanden im Erdboden und traten wieder aus ihm hervor. Es erschien Fulgor fast so, als könnten sie sich tatsächlich bewegen und verbargen diese Geheimnis nur vor aller Welt, um sich selbst nicht von der Hektik der hetzenden Geschöpfe mitreißen zu lassen. Er ließ die Finger über das kühle, unnachgiebige und raue Holz gleiten und sammelte dabei seine Gedanken. Die Erinnerungen waren wieder klar in seinem Geist erwacht und führten ihm die Ausweglosigkeit seiner Situation gnadenlos klar vor Augen. Er erinnerte sich an seinen ersten, erfolgreichen Flugversuch, an das Gefühl der Freiheit und der Freude und an den anschließenden Zorn, als Felias seinem Triumph ein abruptes Ende gesetzt hatte. An das was dann geschehen war, erinnerte Fulgor sich nicht. Doch er erinnerte sich an Zorn, an grenzenlose Wut. Er erinnerte sich an Hass, der tief in seinen Eingeweiden zu lodern begonnen hatte und allein der Gedanke daran ließ ihn sich innerlich verkrampfen, als habe er sich den Magen verdorben. Schnell trieb Fulgor die Bilder in seinen Kopf weiter und sah schon bald sich selbst, inmitten von unzähligen Raichu. Er sah Illia, Artras und Janan, sah Arvengal und dessen Pfoten um seinen Hals. Die Worte, die sein Leben verändert hatten erklangen erneut in seiner Erinnerung und dieser eine Befehl, den die Statue des Zapdos urplötzlich so laut an seine Ohren getragen hatte, klang mit ihnen mit als hätten sie einen seltsam geschmacklosen Canon angestimmt. Fulgor löste sich von diesem Teil seiner Erinnerung und beobachtete sich stattdessen dabei, wie er den Sturz von der Klippe abfing und in den Himmel hinauf stieg, fort von all dem Leid, das er selbst verursacht hatte. Er sah sich selbst dabei zu, wie er immer weiter flog, während die Dunkelheit der fortschreitenden Nacht und die düsteren Gewitterwolken ihm keinen Blick auf die Welt unter ihm erlaubten.
    Irgendwann, als keine einzige Zelle in seinem Körper mehr bereit dazu gewesen war, noch einen Flügelschlag zu tun, hatte er sich wieder auf den Boden gebracht. Geistesgegenwärtig und dennoch wie in Trance hatte er nach einem improvisierten Versteck gesucht, um seinen Leib nicht schutzlos den Jägern der Wildnis auszuliefern, die nur auf einen solchen Fehler warteten. Nur sehr schwach erinnerte er sich daran, diesen nach kurzer Zeit unter den Wurzeln dieses Baumes gefunden zu haben.
    Jetzt war er also hier. Schon lange erreichten die Strahlen der Mittagssonne den Boden des Waldes und hatten die Schreckgespenster der Nacht vertrieben. Doch erst jetzt, als das Licht zurückgekehrt war und sich seine Situation dadurch trotzdem nicht im Geringsten verbesserte wurde Fulgor klar, wie verloren er eigentlich war. Sein ganzes Leben hatte über Nacht all seine Konsistenz und Form verloren. Er wusste nicht, wo er hin sollte, wie er überleben konnte, zu wem er gehen würde, wenn er sich verletzte. Sollte er ewig unter den Wurzeln dieses alten Baumes Schutz suchen, bis ein zu starker Sturm ihn letztendlich doch entwurzeln und umstoßen würde? Und wohin sollte er dann gehen? Wie sollte Fulgors Leben verlaufen, so ganz ohne jeden Funken Freude, ohne Familie, in vollkommener Einsamkeit und der ewigen Angst, von irgendetwas oder irgendjemanden getötet zu werden? Wieder krallte das junge Pikachu seine Füße tief in die Erde, als könnte er dort eine Antwort auf all seine Fragen ausgraben. Doch der Boden blieb stumm und auch sonst antwortete nichts auf seine depressiven Gedanken, außer dem noch immer gleichsam freudig klingenden Gesang der Fasasnob. Ihr Glück machte Fulgor wütend und steigerte seine Verzweiflung ins Unermessliche. Er war selbst dieser kleinen Nische die der Stamm gewesen war beraubt worden, in die er zwar niemals wirklich hineingepasst, die ihm aber dennoch Sicherheit geboten hatte. Dort waren Illia und Artras gewesen. Man hatte ihm seine Familie genommen. Das Pikachu biss sich auf die Lippen, verzog das Gesicht, ballte die Hände zu Fäusten, versuchte sich auf etwas anderes zu konzentrieren, als seine Trauer. Doch er konnte die Tränen nicht daran hindern, schwer aus seinen Augen zu fließen und sein Fell zu benässen, bevor auch sie ihn verließen und sich stattdessen mit der Erde vereinigten. Wie ein Dämon, breit grinsend und gnadenlos, schlich sich der Selbsthass an, tippte gegen Fulgors Stirn und erinnerte ihn daran, dass er alles andere als unschuldig an seiner Situation war. Er war ein Mörder und die Verbannung die logische Konsequenz, eine Strafe die Artras für ihn erkämpft hatte. Die Idee, dass sein Ziehvater dies möglicherweise mit dem Wissen getan hatte, Fulgor somit eine schwerere Strafe als den Tod aufzuerlegen manifestierte sich in seinem Geist und trieb die Verzweiflung in neue, völlig unerreichte Sphären. Er sah Illia vor sich, den schweren Stein in der sanften Pfote wiegend. Auch sein Mutterersatz hatte ihm die Erlösung verweigert.
    Fulgor krallte die Hand in seine Brust, als schmerze sein Herz. Das Leid, das auf seiner Seele lastete war zu schwer, um es ertragen zu können. Wo nur war sein Platz in dieser Welt, wo durfte er existieren ohne von solcher Grausamkeit verfolgt zu werden? Selbst in seinen Träumen hausten die mächtigsten Jäger und trachteten nicht nur nach seinem Leben, sondern offenbar auch nach seinem so oder so schon beinahe gänzlich gebrochenen Geist. Wer oder was würde ihm Schutz bieten können vor all dieser Qual? Ein weiteres Mal in seinem Leben erschien ihm der Tod als attraktiv. Wie sanft mussten sich seine kalten Krallen anfühlen, wenn sie die Seele aus dem kraftlosen Körper zerrten und sie an einen leichten, den Lebenden verborgenen Ort trugen? Einen Ort, an dem sicher selbst Fulgor einen Platz finden konnte, ohne andere mit seiner Anwesenheit zu belästigen. Als er darüber nachdachte, wuchs ein weiterer zweifelnder Gedanke in seinem Geist. Denn selbst dort, selbst dort wo die Toten hingehen und ewige Ruhe finden, würde sich für ihn nur eine Ewigkeit aus Wut und Leid auftun, sobald er Tenia und Janan gegenüber stehen würde.
    Fulgor schrie. Die Verzweiflung in ihm hatte sich ihren Weg gebahnt, ohne dass er sie länger halten konnte und einen Teil von ihr mit der Welt geteilt. Das fröhliche Lied der Fasasnobs verstummte, stattdessen erklang das laute Schlagen panischer Flügel. Der Frieden des Waldes, in den das Pikachu sich geflohen hatte, war gestört und verbarg sich hinter einem Mantel der Anspannung, die jedes Wesen das von dem Gebrüll aufgeschreckt worden war erfasst hatte. Als sein Schrei in der Ferne verhallte glaubte Fulgor kein anderes Geräusch mehr wahrzunehmen, als sein eigenes, lautes Atmen und die Schluchzer, die sich seine Kehle hinauf kämpften. Alles Leben war verstummt. Doch hörte man ihm zu? Oder war die Stille ein Zeichen dafür, dass er ignoriert wurde, die anderen Lebewesen sich von ihm abwandten, als sei er gar nicht existent? Es raubte Fulgor beinahe den letzten Verstand, nun auch noch darüber nachdenken zu müssen, nachdem sich selbst der letzte Ausweg eines jeden, der Tod, als seine persönliche Sackgasse heraus gestellt hatte. Der Sturm aus Gedanken in seinem Kopf verursachte dem Pikachu Schmerzen und Fulgor versuchte krampfhaft, seinen Geist zu leeren, während er seine langen Ohren gegen seinen Schädel presste und die Augen zusammen kniff. Doch das Wirrwarr wollte weder zum Stillstand kommen, noch verstummen. Erst als sich ganz plötzlich ein vollkommen anderes Gefühl in den Fokus rückte, konnte er wieder klar denken und sich der Anspannung bewusst werden, die plötzlich von ihm Besitz ergriffen hatte. Dieses seltsame Ziehen in Fulgors Magen und der Druck der auf seinem Brustkorb zu liegen schien waren ihm merkwürdig vertraut, doch konnte er nicht genau zuordnen, wann er sie bereits in dieser Form wahrgenommen hatte. Ihm fiel sein Traum wieder ein und mit eiskalter Klarheit erkannte er, dass er dort ähnlich gefühlt hatte, während die Gestalt von Tonumen ihn durch diese bizarre Welt aus Nebel getrieben hatte.
    Fulgor riss die Augen auf und warf sich gerade noch rechtzeitig nach hinten, bevor ihn die Zähne des Magnayen packen konnten. Einen kurzen Augenblick lang blickte er erstarrt in die roten Augen des wolfähnlichen Pokémon, dessen langes schwarzes Fell über sein Gesicht und die breite Schnauze fiel. Die graue Farbe des Fells, das sein Gesicht und Unterkörper bedeckte, bildete fast so einen scharfen Kontrast wie das Rot der Iris vor dem Hintergrund der gelb gefärbten Sclera. Ein Dreieck aus dunklerem Fell schien die Augen des Jägers zu stützen und verstärkte den Eindruck seines alles durchdringenden Blicks. Noch nie war Fulgor einem Magnayen so nah gewesen, hatte noch nie die Gefahr, die es brachte am eigenen Leib erfahren müssen. Nun meldeten sich auch seine anderen Sinne zu Wort und überschwemmten seinen Geist mit Informationen. Der Jäger verströmte einen ganz spezifischen Geruch, der Übelkeit und Ekel in dem Pikachu hervor rief und ihn den Wunsch verspüren ließ, sich schnellstmöglich von diesem zu entfernen. Er hörte das leise Knurren des Magnayen und wie es die Luft tief in seine Nase zog, während es seinerseits Fulgors Duft aufnahm. Das harte Holz in seinem Rücken würde ihm keine Fluchtmöglichkeit bieten, sondern versperrte ihm stattdessen den Weg in die Freiheit, der Boden zu seinen Füßen war noch immer rutschig vom vergangenen Regenfall.
    Kaum war die Situation analysiert, übernahmen Fulgors Instinkte die Kontrolle. Er rollte sich auf die Seite und stieß sich mit seinen Beinen ab, stemmte sich durch eine der Öffnungen, die die Wurzeln bildeten. Das Magnayen reagierte beinahe genauso schnell und hetzte ihm hinterher. Noch während Fulgor versuchte sich schnellstmöglich aufzurichten, sprang es nach vorne und wollte seine Zähne in der Flanke des Pikachu vergraben. Nur zufällig wurde es stattdessen von den Krallen an seinen Vogelfüßen getroffen und zögerte einen Moment. Sofort nutze die Elektromaus diesen Augenblick um sich gänzlich aufzurichten und Heil in der Flucht zu suchen. Selbstverständlich war das Magnayen um einiges schneller als Fulgor, der sich auf seinen viel zu langen Beinen durch das Unterholz des Waldes kämpfte. Doch er hatte keine Zeit um darüber nachzudenken wie nützlich es in diesem Moment gewesen wäre mit den Hinterpfoten eines normalen Pikachu gesegnet zu sein. Stattdessen nutzte er ganz automatisch die ihm gegebenen Attribute und stieß sich kraftvoll vom Erdboden ab, wobei er allerdings auf der schlammigen Erde ausrutschte und nach vorne zu fallen drohte. Augenblicklich riss Fulgor seine Schwingen auf, um das Gleichgewicht wiederzuerlangen. Beinahe zeitgleich begann er mit den Flügeln zu schlagen und seine Füße erneut gegen das Erdreich zu stemmen. Er brauchte nur noch eine Sekunde länger, um sich in die Lüfte erheben zu Können, doch diese ließ ihm das Magnayen nicht. Der Jäger hechtete nach vorne und versengte seine scharfen Fangzähne für einen kurzen Augenblick in Fulgors Schulter, bevor dieser eine gewaltige elektrische Spannung erzeugte und seinen Körper damit umgab. Der Wolf konnte nicht an seiner Beute fest halten und brachte genügend Distanz zwischen sich und den jungen Hybrid, um sich vor dem Blitz schützen zu können, der nun aus der Spannung entstanden war und den Boden rund um Fulgor versengte. Währenddessen gelang es ihm, die Winde zu nutzen und sich endlich von seinen Flügeln in den Himmel tragen zu lassen. Panisch schlug er mit ihnen auf und ab und schwankte so ein wenig, taumelte beinahe, bis er sich darauf besann das dass Magnayen ihm hier nicht mehr würde folgen können. Fulgor warf einen vorsichtigen Blick über die Schulter zurück und sah den Jäger knurrend zwischen den Stämmen, Büschen und Pilzen des Waldes zurückbleiben, von wo aus er dem Hybriden ein frustriertes Bellen hinterher schickte, bevor er sich abwandte und wieder im Unterholz verschwand.
    Fulgor seufzte, zwischen den noch immer leicht beschleunigten Atemzügen, erleichtert und landete auf dem einladend hervorragenden Ast eines Baumes, der etwas anders aussah als die Bäume die er aus seinem Heimatwald kannte. Noch immer schlug sein Herz wie wild, mit geschärften Sinnen beobachtete er aufmerksam seine Umgebung. Er konnte keine anderen Pokémon ausmachen, außer einem jungen Pachirisu, das lautlos einen benachbarten Stamm hinauf huschte und bald schon nahe der Krone aus Fulgors Sichtfeld verschwand. Doch auch wenn sie seinen Augen verborgen blieben, drangen nun doch wieder Geräusche als Zeugen des Lebens an die Ohren des Pikachu. Der Gesang der Fasasnobs war wieder erklungen und wurde nur ab und an von dem Kreischen von Ibitak und Taubsi unterbrochen. Irgendwo schrie ein Schwalbini. Ein auf den Boden gefallener Ast knackte, als ein Pokémon ihn mit einem unbedachten Tritt zerbrach, es raschelte in den Blättern der Bäume. Das laute Heulen einiger Magnayen, ganz in der Nähe, ließ Fulgor ein weiteres Mal erstarren. Er duckte und drängte sich gegen den Baumstamm, machte sich so unsichtbar es ihm eben möglich war, obwohl ihm hier oben wohl kaum Gefahr von den an den Erdboden gebundenen Jägern drohte. Dennoch verharrte er in dieser Stellung, bis das Bellen der wolfähnlichen Pokémon erklang und sich bald darauf in der Ferne verlor. Scheinbar hatten sie ein neues Opfer gefunden.
    Fulgor schüttelte den Kopf. Das ergab keinen Sinn, immerhin war das Magnayen das ihn gejagt hatte allein gewesen. Wo hätte so plötzlich ein Rudel auftauchen sollen? Außerdem vergriffen sich Jäger eher selten an Elektromäusen wie ihm, immerhin war es einfacher ein Rattfratz zu erlegen als eine Beute, die lebensbedrohliche Stromschläge von sich geben konnte. Da hatte er es also gefunden, ein weiteres trauriges Schicksal in dieser Welt des Fressen und Gefressenwerdens. Auch das Magnayen hatte wohl seinen Platz in diesem Kreislauf noch nicht gefunden, strich allein durch das Grün der Wälder und vergriff sich aus Hunger und Not an einem Beutetier, das ihn ernsthaft verletzen konnte.
    Ein stechender Schmerz beendete Fulgors Gedankenspiel und erstickte den Funken des Zugehörigkeitsgefühls, der in ihm zu glimmen begonnen hatte. Das Pikachu verkrampfte sich und griff nach der schmerzenden, rechten Schulter. Feuchte Wärme floss durch seine Finger und erst jetzt, als all das Adrenalin gänzlich aus seinem Körper gewichen war, registrierte er den inzwischen sehr vertraut wirkenden Geruch von Blut, der sich mit dem modrigen Duft feuchten Holzes vermischte. Schnell färbte sich seine Pfote in dem Rot der Körperflüssigkeit, die sich in winzigen Wellen aus der Wunde schob, sobald Fulgor sich bewegte und wenn er still hielt hinabtropfte wie Regen aus einer hoffnungslos überfüllten Wolke. Er konnte nicht einschätzen, wie tief und schwerwiegend die Verletzung war. Der Gedanke, sie könnte möglicherweise lebensbedrohlich sein jagte einen Schauer über seinen Rücken. Er versuchte sich selbst zu beruhigen, sich einzureden das es sich wohl anders anfühlen müsste, intensiver, sei die Wunde wirklich so gefährlich. Doch die entfachte Angst wollte sich nicht löschen lassen und loderte stattdessen immer heißer in Fulgors Eingeweiden. Heilkräuter! Er erinnerte sich an Illias liebevolle Hände, ihre tröstenden Worte, die sanften Blicke ihrer strahlenden Augen, wenn sie kleine Wunden, die er nach einer der zahlreichen Verfolgungsjagden mit nach Hause gebracht hatte, mit einer Paste aus verschiedenen Kräutern, Sinel-, und Pfirsichbeeren eingerieben hatte. Sie waren schnell verheilt, ohne eine Narbe zurück zu lassen oder sich zu entzünden. Fulgor musste solche natürliche Medizin finden und seine Schulter behandeln, wenn er nicht riskieren wollte, dass sie zu einem großen Problem wurde. Wenn sie das nicht schon längst war. Noch immer floss frisches rotes Blut über seine Finger, als er vorsichtig über die Wunde strich. Er konnte nicht weiter hier auf seinem sicheren Ast sitzen und Zeit verlieren.
    Fulgor blickte vorsichtig hinab auf den Erdboden, doch die Erinnerung an seine Begegnung mit dem Magnayen war noch zu frisch. Er fürchtete sich davor, wieder schutzlos über die Erde zu kriechen, wo Jäger in den Schatten der Bäume lauerten und möglicherweise jeder seiner Schritte beobachtet werden würde. Allein bei der Vorstellung zog sich sein Magen zusammen und nur der pochende Schmerz in seiner Schulter brachte Fulgor dazu, überhaupt den Ast zu verlassen. Er breitete ein weiteres Mal die Flügel aus und schwang sich in die Lüfte. Die Verletzung war störend und er spürte sie bei jedem einzelnen Schlag seiner Schwingen. Dennoch fühlte er sich hier zumindest sicherer. Es hatte sich heraus gestellt, dass Fulgor ein besserer und schnellerer Flieger als Läufer war und der Himmel ihm mehr Schutz bot, als die Erde. Was noch vor wenigen Tagen undenkbar gewesen war, war nun Realität. Fulgor machte den Himmel zu seiner Heimat, während er bereits das Gefühl hatte, auf Erden nicht mehr als ein flüchtiger Besucher zu sein. Zu intensiv waren seine Erinnerungen an die stundenlange Flucht, getragen von seinen Flügeln, zu frisch die Bilder des Magnayen und die lebensrettenden Bewegungen seiner Schwingen, während seine Füße ihn nicht weit und schnell genug getragen und ihr Versagen ihm eine Verletzung eingebracht hatte.
    Schnell zwängte er sich zwischen den Kronen der Bäume hindurch und fühlte sich sogleich erleichtert, als nur noch weites Blau ihn umgab und sanfter Wind seine Wunde streichelte und kühlte. Hier konnte er seine Flügel ruhig halten, ohne in die Tiefe zu stürzen. Fulgor genoss einen Augenblick den Moment und überblickte die Gegend, in die es ihn verschlagen hatte. Unter ihm bedeckte der Wald eine schier unglaublich große Fläche. Das Grün schien kein Ende nehmen zu wollen, verlor in der Ferne jedoch allmählich an Dichte, bis die Bäume durch etwas, das nach Fulgors Empfinden wie weite Wiesen aussah, ersetzt wurde. In viel weiterer Ferne erhoben sich mächtige, steile Berge in den Himmel und kratzten mit ihren spitzen Gipfeln die Wolken, die über sie hinweg zogen und in ihr Territorium eindrangen. Der Anblick hatte nichts von der Schönheit verloren, die Fulgor bereits bei seinem ersten Flugversuch erkannt hatte. Im Gegenteil erschien er ihm nun, an einem Ort der ihm nicht vertraut war, umso beeindruckender. Einen Moment lang fühlte der Hybrid nichts als die Leichtheit der Luft um sich herum. Selbst das Gewicht der Sorgen und des Schmerzes, die auf ihm lasteten, schien abgenommen zu haben. Bis ihm die Sonne ins Auge stach. Sie näherte sich bereits dem Horizont und tauchte die Welt in ein sanftes Orangerot, das jedoch zunehmend dunkler wurde. Schon bald würde sie gänzlich verschluckt werden und der Dunkelheit ein weiteres Mal das Zepter der Herrschaft überlassen. Wie weit der Tag bereits fortgeschritten war überraschte und erschreckte Fulgor. Er musste sich beeilen, wenn er noch zeitnah etwas finden wollte, dass seinen Schmerzen Linderung verschaffen würde. Doch hatte er nicht bedacht, dass er aus dieser Höhe die kleinen Beerensträucher und nicht selten in dichtem Unterholz wachsenden Kräuter niemals finden können würde. Er konnte seine eigene Naivität kaum fassen. Hatte den die Furcht vor den Gefahren der Erde seinen Geist wirklich so vernebelt, dass er so etwas Wichtiges einfach vergessen konnte?
    „Oh, verdammt!“ entglitt ihm ein nicht allzu leiser Fluch, während er seinen Körper auf die Landung vorbereitete.
    Es würde ihm nichts anderes übrig bleiben, auch wenn sich seine Seele dagegen sträubte. Fulgor musste zurück auf die Erde. Sobald die Nacht herein brach, hätte er keine Chance mehr in der Finsternis Kräuter oder Beeren zu finden. Außerdem wäre es zu einer solchen Zeit viel zu gefährlich gewesen. Die Jäger würden sich auf ihren allnächtlichen Beutezug begeben und er musste einen geeigneten Unterschlupf finden, der ihm mehr Schutz bieten würde, als es die Wurzeln des Baumes getan hatten. Und die Sonne bewegte sich mit gnadenloser Geschwindigkeit, immer weiter ihrem Untergang entgegen, wobei sie ihre erhellenden Strahlen mit sich riss und der Welt das Licht weitestgehend verwehrte.
    Fulgor setzte zum Landeanflug an und versuchte sich nicht zu sehr darum zu sorgen, wie schlecht seine Chancen standen, die Pläne seiner Suche noch rechtzeitig in die Tat umsetzen zu können. Würde er nun zu lange darüber nachdenke, würde das ihn nur ein weiteres Mal zögern lassen. Für ein solches Privileg fehlte ihm schlichtweg die Zeit. Er näherte sich wieder den Kronen der Bäume. Wie grausam entstellte Finger schienen ihre Äste sich ihm entgegen zu strecken und nach ihm zu greifen. Die Dunkelheit, die bereits begann Besitz von dem Wald zu ergreifen, verstärkte den Eindruck noch das die Bäume nur darauf warteten, dass Fulgor ihnen zu Nahe kam, um ihn dann in die Tiefe zu ziehen. Er zögerte. Wieder sah er die rot leuchtenden Augen des Magnayens ganz nah vor seinem Gesicht und hörte das gierige Einsaugen der Luft, ein leises Knurren.
    Ein realeres Geräusch riss Fulgor aus seinen Zweifeln. Es klang wie ein lauter Windzug, der sich in den labyrinthartigen Gängen des Höhlenkomplexes, der noch gestern sein Zuhause gewesen war, verirrt hatte und nicht mehr in die Freiheit fand. Heulend wurde das Geräusch rasend schnell lauter, wuchs von einem Flüstern zu einem Schreien heran. Zu spät wandte Fulgor den Kopf in die Richtung, aus der der Laut an seine Ohren drang. Er spürte einen kräftigen Aufprall noch bevor seine Augen ihm zu erklären mochten, was geschah. Der Schmerz in seiner Schulter explodierte und ein lauter Schrei entglitt ihm, der jedoch von dem Geräusch des vorbeiziehenden Windes übertönt wurde. Mit besorgniserregender Geschwindigkeit wurde er in Richtung der Baumwipfel gepresst, der Wind verfing sich in seinem Fell und zischte zugleich an seinem Körper vorbei wie tausende, winzige Wassertropfen, die Fulgor bei dem Fall in einen See verdrängt hätte. Doch sein Sturz endete nicht inmitten weichen Wassers, sondern zwischen spitzen Ästen und einer Armada aus Blättern. Wie grüne Augen starrten sie Fulgor und den Angreifer an, der die Landung wohl ebenfalls anders geplant hatte und wild mit den braunen Schwingen schlug, während seine nackten Füße nach Halt suchten. Starr blickte Fulgor in die gelb leuchtenden Augen des Ibitaks und augenblicklich schossen die Bilder eines toten Taubsi in seinen Geist. Instinktiv wich er krabbelnd zurück, doch seine Pfoten griffen zwischen den dünnen Ästen ins Leere. Das Pikachu verlor das Gleichgewicht und kippte nach hinten, kopfüber auf den Waldboden zu, jedoch dauerte sein Fall kaum eine einzige Sekunde, dann verfing sich sein Körper ein weiteres Mal zwischen dem Astwerk des Baumes. Seltsam verbogen lag Fulgor dort. Das hohe Kreischen des Ibitak erklang irgendwo nicht weit über seinem Kopf und wieder übernahm der Instinkt die Kontrolle. Er musste es irgendwie schaffen, in eine Position zu gelangen von der aus er seine Bewegungen besser kontrollieren und möglicherweise sogar davon fliegen könnte. Schon sah er den spitzen Schnabel des geflügelten Jägers zwischen dem Blattwerk hervor blitzen, während er selbst noch zappelt gegen den Griff der Äste ankämpfte. Fulgor verdoppelte seine Anstrengungen, mobilisierte ohne klaren Plan alle Kraft in seinen Muskeln und schaffte es so schließlich, sich auf den Bauch zu drehen. Nur durch Glück verlor er nicht erneut das Gleichgewicht. Sonst wäre er wohl ein weiteres Mal unkontrolliert in die Tiefe gestürzte. Stattdessen war es ihm nun möglich, ein paar Äste weiter nach unten zu klettern, bis die Dichte ihrer Anzahl abnahm und ihm wieder mehr Luft zum Atmen und Bewegungsfreiheit ließ. Fulgor erreichte gerade noch rechtzeitig einen tiefer gelegenen Abschnitt des Baumes um zu bemerken, wie das Ibitak seine Strategie änderte und sich mit wilden Flügelschlägen aus dessen Wipfel befreite und Richtung Erdboden außen an ihm vorbei flog. Der dämonische Blick des Vogels traf die Elektromaus. Fulgor stieß sich von dem Ast ab und flog wieder in den Himmel zurück, ließ den Wald ein weiteres Mal unter sich zurück. Dabei schossen Wellen des Schmerzes, die ihren Ursprung in seiner Schulter nahmen, durch seinen Körper und wurden mit jedem weiteren Flügelschlag intensiver. Noch allgegenwärtiger waren jedoch das Geräusch der auf und ab schlagenden Schwingen und das wütende Schreien seines Verfolgers. In den Weiten des Himmels glaubte Fulgor eine Chance zu haben das Ibitak abzuschütteln, doch schon der erste, blitzschnell ausgeführte Sturzflug des Jägers belehrte ihm eines Besseren. Im letzten Moment konnte der Hybrid ausweichen, indem er vor Schreck kurzzeitig die Winde, die es seinen Flügeln erlaubten ihn in der Luft zu halten, verpasste und wie ein nasser Sack zu Boden stürzte. Wieder sah er die Bäume auf sich zurasen, über ihm hatte das Ibitak die Verfolgung noch lange nicht aufgegeben und setzte der fallenden Beute hinterher. Fulgor besann sich, schloss die Augen und zwang sich dazu, einen kurzen Augenblick lang nur auf den Wind um sich herum konzentriert zu sein. Schnell gelang es ihm so, den Fall so abzubremsen, doch anstatt wieder an Höhe zu gewinnen stürzte er sich zwischen die Bäume, rauschte an ihnen vorbei und flog nah über dem Waldboden weiter. Zu Fuß war er zu langsam, um dem Ibitak ausweichen zu können, selbst wenn er so möglicherweise schneller ein Versteck gefunden hätte. Würde ihm dies nicht rechtzeitig gelingen, wäre er eine leichte Beute und Fulgor wollte sein Leben noch nicht auf diese eine Karte setzen. Doch der Himmel selbst hätte ihn in eine noch ungünstigere Position gedrängt. Das Ibitak meisterte die Kunst des Fliegens schneller und besser als er selbst und konnte in den endlosen Weiten immer wieder auf Sturzangriffe zurückgreifen. Im dichten Unterholz hingegen musste es Fulgor auf die altmodische Art und Weise fangen. Tatsächlich schien es sich so sehr auf ihn als Beute fixiert zu haben, dass diese Tatsache es nicht abschreckte. Als flöge er Slalom drängte sich der Hybrid zwischen den zahllosen Stämmen der Bäume hindurch, sein Verfolger immer nur wenige Meter hinter ihm. Es kam Fulgor zu Gute, dass das Ibitak etwas größer war als er selbst und es somit noch schwerer hatte, zwischen den Riesen des Waldes einen Weg zu finden. Dennoch war es schneller als der Hybrid und holte ihn, gerade wenn er glaubte es abgeschüttelt zu haben, immer wieder ein. Die Dunkelheit der fast gänzlich angebrochenen Nacht machte die Flucht nicht leichter und Fulgor musste mit Hilfe kleiner Funken, die aus seinen Wangen stieben, ein wenig Licht erzeugen, um nicht geradewegs vor ein Hindernis zu fliegen. Allerdings wurde er so zu einem wandelnden Leuchtfeuer, dem zu folgen nicht gerade eine Herausforderung darstellte, während die wenige Helligkeit ihm selbst kaum erlaubte, rechtzeitig genug seine Umgebung zu erkennen um einen sicheren Flug gewährleisten zu können. Diese Flucht würde kein gutes Ende nehmen. Fulgors Herz schlug nicht mehr, es bebte regelrecht in einem undefinierbaren Rhythmus. Seine kurzen Atemzüge reichten kaum mehr aus, um seine Lungen mit dringend benötigtem, frischem Sauerstoff zu versorgen und seine Flügel schienen immer größer und schwerer zu werden, bis er kaum noch mit ihnen zu schlagen vermochte. Woher das Ibitak hingegen seine schier unbegrenzt scheinenden Kraftreserven zu nehmen schien, vermochte Fulgor nicht zu sagen. Ihm wurde immer klarer, dass er diesen Wettstreit nicht gewinnen konnte. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie viel Panik eigentlich in seinem Inneren loderte, dass die Angst schon lange von ihm Besitz ergriffen hatte. Dennoch war es, trotz all seiner Anstrengungen, nur eine Frage der Zeit bis das Ibitak das bekommen würde, für das es seinerseits so hart und unerbittlich kämpfte. Welcher Ausweg blieb Fulgor noch?
    Er stoppte seinen Flug abrupt und wandte sich so schnell um, wie es ihm möglich war. Nur die direkte Konfrontation stellte seine letzte Überlebenschance dar. Er sah das Ibitak auf sich zurasen, wie ein schwarzer Schatten der aus der Dunkelheit in das Licht tauchte, das er selbst noch immer mit Hilfe der kleinen Funken erzeugte. Triumphierend kreischend riss es den spitzen Schnabel auf. Oder war es kein Schrei des Triumphs, sondern der Warnung. Vielleicht ein letztes Gebet an einen Gott, ein Dank für die gute Mahlzeit, der Wunsch nach einem sicheren Geleit für Fulgors verfluchte Seele?
    Der Hybrid griff nach der hell leuchtenden, elektrischen Macht in seinem Innersten, sammelte sie in seinen drohend rot gefärbten Backentaschen, bis diese sie selbst bei größter Willensanstrengung kaum mehr zu halten vermochten. Das Ibitak stockte, er sah wie es die gelben Augen weit aufriss. Der Angriff des großen Vogels endete, wild schlug er mit den Schwingen, um sich rechtzeitig abbremsen zu können und schoss gerade dann mit halsbrecherischer Geschwindigkeit zurück in Richtung des Himmels, als Fulgor die Elektrizität in einem einzigen Blitz manifestierte, den er seinem Verfolger in die Höhe hinterher schickte. Inmitten der plötzlich hell erleuchtenden Nacht erkannte er mit geblendeten und tränenden Augen verschwommen, dass es dem Jäger im allerletzten Moment gelungen war, dem Angriff auszuweichen. Doch es gab die Jagd auf und flog mit zunehmender Geschwindigkeit auf den Horizont zu, bis Fulgor es von seinem niedrig gelegenen Aussichtspunkt schon bald nicht mehr erkennen konnte.
    Dann wurde es still. Nur die Wipfel der Bäume flüsterten leise, als der Wind ihren Blättern begegnete und ihnen von den Geschehnissen erzählte, von dem erfolgreichen Kampf eines Pikachu gegen ein Ibitak. Vollkommen erschöpft sank Fulgor auf seine Knie und fasste, ein weiteres Mal von einer Woge des Schmerzes erfasst, nach seiner Schulter. Wieder färbte sich seine zitternde Pfote blutrot. Schweiß perlte von seiner Stirn und tropfte lautlos zu Boden. Seine Muskeln schwangen wie die Saiten einer Harfe, sein Atem drang in lauten, heißen Stößen aus seinem Mund. Eine Träne wollte sich in Fulgors Blickfeld sammeln, ein stiller und verzweifelter Protest gegen die Grausamkeit des Schicksals, die ihm innerhalb so kurzer Zeit gleich zwei schier übermächtige Gegner auf den Hals gehetzt und ihm eine Verletzung auferlegt hatte. Doch noch bevor sie aus den von Müdigkeit geplagten Augen quellen konnte, manifestierte sich ein anderes, viel stärkeres Gefühl in seinem Geist und vertrieb sie. Zögerlich schlich sich ein Lächeln auf Fulgors Gesicht, zuckte zurück und verschwand wieder für einen kurzen Augenblick, bevor es sich endlich sicher fühlte und sich in voller Pracht ausbreitete. Ein leises, fast ungläubiges Lachen folgte ihm zagend.
    „Ich hab’s geschafft.“
    Fulgor glaubte kaum seinen eigenen Worten zu trauen, die er aussprach. Wieder verharrte er, erstarrt, wartete auf das nächste Unglück, das über ihn hereinbrechen musste. Doch der Wald blieb stumm. Nichts regte sich. Schweigend bestaunte das Leben seinen Sieg und endlich hielt der Triumph mit wehenden Bannern in Fulgors unsicherem Herzen Einzug. Das Lachen wurde etwas lauter, ehrlicher. Kaum wahrnehmbar und doch so wichtig für die Seele des jungen Hybriden, die nun endlich wieder neuen Mut fassen konnte. Er hatte überlebt und seine Überlegenheit selbst dem fliegenden Jäger gegenüber bewiesen. Er war der Sieger in diesem Spiel. Selbst wenn diese Welt gefährlich war, selbst wenn er auf sich allein gestellt war, selbst dann hieß das noch lange nicht, dass er eine leichte Beute war. Trotz Verletzung und geringeren Flugfähigkeiten war ihm die Flucht gelungen, während das Ibitak gezwungen gewesen war, hungrig von dannen zu ziehen.
    Urplötzlich machte sich die Tatsache bemerkbar, dass Fulgor selbst seid langer Zeit nichts mehr zu sich genommen hatte. Sein Magen knurrte protestierend und ihm wurde bewusst, wie trocken seine Kehle eigentlich war. Auch der, wenn auch etwas weniger stark, pochende Schmerz in seiner Schulter gewann wieder an Intensität. All dies vermochte Fulgors Hochstimmung etwas zu trüben, nicht jedoch seine heiß entfachte Hoffnung. Wenn er nicht aufgab, würde er etwas zu Essen und Hilfe für seine Wunde finden. Dies war der erste Schritt, so nahm er sich vor, auf dem langen Weg den er würde gehen müssen, um sich an sein neues Leben zu gewöhnen. Fulgor tat ihn sogleich. Vorsichtig richtete er sich auf und setzte einen noch immer zitternden Fuß vor den anderen. Die Erschöpfung traf ihn beinahe wie ein Hammerschlag, dennoch knickte er nicht ein sondern zwang sich dazu, einen weiteren Schritt zu tun.
    „Das war ziemlich beeindruckend.“
    Fulgors Herz startete einen plötzlichen Sprint, als die fremde Stimme in seinem Rücken erklang. Blitzartig fuhr er herum und sucht panisch nach dessen Besitzer, doch die tiefe Schwärze des von der Nacht verdunkelten Waldes versperrte ihm die Sicht.
    „Ich warne dich!“, rief Fulgor in die Finsternis hinein und hoffte darauf, dass seine Unsicherheit sich nicht in einem allzu starken Zittern seiner Stimme bemerkbar machen würde, „Komm mir nicht zu Nahe!“
    Er ließ drohend eine mächtige Salve an Funken aus seinen Wangen stieben und glaubte dabei kurzzeitig einen Schatten zu erkennen, der sich von den anderen unterschied. Fulgor fixierte den Ast, auf dem er eine Sillhouette zu erkennen glaubte und nahm eine Abwehrhaltung ein. Leicht entblößte er seine Zähne, als wolle er damit eine nicht vorhandene Kampfeslust unterstreichen. Doch erst nach einer gefühlten Ewigkeit reagierte die Dunkelheit auf seine Drohgebärden.
    „Keine Panik, mein Freund. Ich habe nicht vor, dich zu verletzten“, die Stimme klang ehrlich, fast sanft, weiblich, „Ich komme jetzt raus, ok?“
    Fulgor antwortete nicht. Sein Körper versteifte sich, bereit auf einen möglichen Angriff sofort zu reagieren. Statt einer plötzlichen Attacke schob sich ganz langsam eine Gestalt aus dem Schatten. Das leise Öffnen von mächtigen Schwingen war zu hören, kurz darauf das Landen eines Körpers auf dem Erdboden. Ein Pokémon trat sanft, doch ohne jedes Zögern in den Kegel aus Licht, den Fulgor durch seinen Funkenregen erzeugte. Ein solches Exemplar war dem Hybrid noch nie untergekommen. Der Körper wirkte gedrungen, fast massig was aber wohl zum größten Teil an den großen Flügeln lag, die sich passgenau an ihren Besitzer schmiegten. Das dunkelblaue, fast schwarze Gefieder wurde nur durch einen weißen, zylinderförmigen Abschnitt, der den Schweif vom Unterkörper trennte, und ein paar ungleichmäßig angeordnete rote Federn unterbrochen, die an der Schwanzspitze des Pokémon hervorragten und diesen unordentlich und beinahe buschig erschienen ließen. Die dunklen Federn wurden an der Brust von weißen überlagert, die dort in erstaunlicher Maße auftraten und dementsprechend imposant wirkten. Da sie sich bis über den Hals des Vogels zogen, schien es fast so, als träge er einen, über einen langen Zeitraum gewachsenen, Bart. Noch auffälliger war jedoch das blaue Kopfgefieder, war es doch so angeordnet, als sei es ein Filzhut. Darunter blitzten Fulgor rote Pupillen aus von weißen Federn eingerahmten Augen und ein spitzer, gelber Schnabel entgegen, der in dem relativ kleinen Gesicht ziemlich groß zu sein schien. Dieses wirkte, trotz des bartähnlichen Gefieders, erstaunlich jugendlich und wurde von weiblichen Zügen dominiert, die den ersten Eindruck, den die Stimme bei dem Hybriden hinterlassen hatte, noch verstärkten: Bei diesem Exemplar handelte es sich mit ziemlicher Sicherheit nicht um ein Männchen.
    „So ein Pokémon wie dich habe ich noch nie gesehen“, sagte Fulgor misstrauisch und ließ seine Blicke nervös zwischen dem spitzen Schnabel und den schwarzen, krallenbewehrten Füßen seines Gegenübers hin und her gleiten.
    Das fremde Pokémon lachte leise.
    „Ich bin eine waschechte Kramshefdame, mein junger Freund“, Sie öffnete einen ihrer Flügel-, wobei Fulgor sofort die wenigen roten Federn an dessen Unterseite auffielen-, führte ihn zu ihrer Brust und verneigte sich leicht, ohne den Blick von der Elektromaus zu wenden, „Uns bekommt man nicht oft zu Gesicht, da hast du wohl recht. Aber in einer Gegend wie dieser, solltest du selbst eine größere Rarität darstellen. Du bist doch ein Pikachu, oder nicht?“
    Sie ließ ihren Blick musternd über den Hybriden gleiten. Fulgor spürte, wie er leicht rot wurde und ein gewisses Gefühl von Peinlichkeit das Misstrauen allmählich ersetzte. Obwohl er sich seine Reaktion nicht wirklich erklären konnte, setzte er ein paar Schritte rückwärts in der Hoffnung, sein Gegenüber möge seine ungewöhnlich langen Beine noch nicht bemerkt haben, und drängte seine Flügel eng gegen seinen Rücken, bevor er antwortete: „Ja, bin ich. Wieso?“
    Mit jedem Schritt, den er weiter zurückwich, folgte ihm das Weibchen, wirkte dabei jedoch erstaunlich wenig aufdringlich, als gingen sie tatsächlich vollkommen beiläufig in die Selbe Richtung.
    „Ich dachte nur“, antworte sie freundlich, „deine Art anders in Erinnerung zu haben. Vor einigen Jahren noch streifte ich durch die Gegenden und in einem Wald, nördlich von ihr, bekam ich ein paar Pikachu zu Gesicht. Tatsächlich, ich erinnere mich an keines, das so gut fliegen konnte, wie du, so“, sie zögerte kurz und suchte nach dem richtigen Wort. Als sie es gefunden zu haben schien, zierte ein sanftes Lächeln ihren Schnabel, „elegant.“
    Fulgor blieb stehen, weiterhin wachsam und peinlich berührt, aber auch ein wenig geschmeichelt. Bisher waren die Aussagen Anderer über seine ungewöhnlichen Attribute meist auf verächtliche Vergleiche und bösartige Behauptungen beschränkt gewesen. Doch das Weibchen hatte ein Kompliment für ihn übrig gehabt. Eine wohlige Wärme erfasste ihn und ließ Fulgor erst gewahr werden, wie viel Kälte die letzten Tage auf ihn eingeprasselt war, wie ein nie enden wollender Hagelsturm. Nun stand er inmitten eines ihm vollkommen fremden Waldes, den ganzen Tag lang nur von Todfeinden gejagt, bis dieses Kramshef aufgetaucht war, mit ihrer sanften klaren Stimme und den freundlichen Worten, dem einladenden Lächeln. Worte formten sich auf Fulgors Lippen, gewillt, sich dem anderen Pokémon anzuvertrauen.
    „Das mag schon sein“, sprach er zögerlich und etwas zu still.
    Das Weibchen hörte nicht auf zu lächeln. Hatte sie seine kaum gehauchten Worte überhaupt verstehen können? Sie kam Fulgor noch etwas näher, doch dieses Mal zwang er sich dazu, nicht zurück zu weichen. Er sehnte sich nach der Nähe zu einem Pokémon, das ihm freundlich gesonnen war und nicht nach seinem Blut dürstete. Einen Augenblick lang zögerte sie noch, ließ ihm Zeit sich an ihre unmittelbare Anwesenheit zu gewöhnen. Oder bemusterte sie ihn ein weiteres Mal? Ihre Augen ruhten kurz auf seinen Flügeln, die leicht hinter Fulgors Rücken hervorlugten wie neugierige, doch schüchterne Kinder. Die Stille wurde unangenehm und das Misstrauen meldete sich zurück, klopfte vorsichtig an die Tür seines Geistes, hinter die der Hybrid sie zuvor verbannt hatte. Er hielt die Luft an und stieß sie erst wieder aus, als das Kramshef endlich wieder zu sprechen begann.
    „Mein Name ist Belhalrasu“, offenbarte sie ihren Namen, der in Fulgors Ohren ungewöhnlich, fast unaussprechlich klang.
    Sie bemerkte wohl seinen etwas verwirrten Gesichtsausdruck und fügte hinzu: „Manche nennen mich auch einfach Bel, falls dir das leichter fällt.“
    Fulgor nickte. Wieder wurde es ruhig. Ein Windstoß fegte durch die Bäume und ließ eine Spur raschelnder Blätter hinter sich zurück. Als selbst dieses Geräusch verklang, schien die Stille undurchdringlich zu werden und Fulgor erkannte, wie unhöflich er sich verhielt.
    „Ich heiße Fulgor“, sagte er schnell und fragte sich einen Augenblick, ob er irgendeinen Spitznamen für sich selbst erfinden sollte, nur um mit Bel gleich zu ziehen.
    Da ihm keiner in den Sinn kommen mochte, beließ er es dabei und bereitet sich innerlich schon auf eine weitere Periode des peinlichen Schweigens vor, doch dieses Mal ergriff das Kramshef erstaunlich schnell das Wort.
    „Wirklich sehr beeindruckend, Fulgor, wie du diesem Ibitak so lange entkommen konntest“, es war ein plötzlicher Themenwechsel, der Fulgor leicht verwirrte, „Und wie du es in die Flucht geschlagen hast erst. Du lässt dich wirklich nicht so einfach zur Beute degradieren, nicht wahr?“
    Seine Antwort war ein äußerst zögerliches Nicken. Als sie merkte, dass er nichts weiter zu sagen hatte, fuhr Bel vor.
    „Du erinnerst mich ein wenig an die Kramurx meines Schwarms. Fast könntest du ein Mitglied werden“, sie lachte herzlich, „Aber das wäre ja verrückt. Ein Pikachu unter Kramurx. Wobei ich mich frage, was du so alleine hier treibst. Ihr seid doch keine Einzelgänger, ihr Pikachu. Wollen du und deine Familie hier ein Heim aufbauen? Lass dir gesagt sein, dies ist kein guter Ort dafür“, sie machte eine ausschweifende Bewegung mit ihrem rechten Flügel und schien damit die Bedeutsamkeit der folgenden Worte unterstreichen zu wollen, „In diesem Wald gibt es jede Menge Räuber. Eine prima Heimat für mich und meinen Schwarm, immerhin fällt immer etwas ab. Aber für Elektromäuse ist das nicht gerade das Paradies.“
    Fulgor hatte manches Mal ein Kramurx gesehen. Sie hatten sich bei Sonnenuntergang oft am Waldrand aufgehalten und waren ihm ins Auge gefallen, wenn er aus Furcht vor den anderen Pikachu und Pichu besonders spät den Nachhauseweg angetreten hatte. Sie waren ihm nie geheuer gewesen und das lag nicht nur an dem tiefschwarzen Gefieder das ihren gesamten Körper bedeckte, oder den gekrümmten spitzen Schnäbeln. Aasfresser wie sie waren nie ein gutes Zeichen und ließen meistens darauf schließen, dass größere Jäger in der Nähe lauerten. Niemals hätte er gedacht, dass ein so nettes Pokémon wie Bel in irgendeiner Verbindung zu einer solchen Art stehen könnte. Tatsächlich ging es scheinbar so weit, dass sie selbst ein Aasfresser war. Fulgor blickte sie an und glaubte einen Moment lang, etwas Rosafarbenes aus ihrem Schnabel ragen zu sehen. Der Tropfen einer roten Flüssigkeit löste sich davon und fiel schwer zu Boden. Nach einem kurzen Zwinkern war das Bild wieder verschwunden und hinterließ ein unangenehmes Gefühl in seiner Magengegend.
    „Ist alles in Ordnung?“, erkundigte sich Bel sanft, „Mach dir doch keine allzu großen Sorgen, ich bin sicher, es wird alles gut werden. Es tut mir Leid, ich wollte dir keine Angst einjagen.“
    Sie blickte den Hybriden an, sichtbar überrascht von seiner Reaktion. Hatte sich Angst oder Misstrauen in seinen Augen widergespiegelt, die sie mit ihren feinen Sinnen bemerkt hatte? Fulgor schämte sich für seine Gedanken. Wie oft hatte er die anderen Stammesmitglieder verflucht, weil sie ihn nur wegen seines Aussehens und Rufes verwünscht hatten? Nun begann er genau den Selben Fehler. Bel war gut zu ihm und seine Fantasie dichtete ihr eine Bösartigkeit an, die ihr nicht stand und sicher nicht der Realität entsprach.
    „Ich bin alleine hier“, flüsterte er, weil ihm die Worte fehlten und er fürchtete, seine Zunge könnte seine Vorurteile ihr gegenüber offenbaren.
    Sie schien einen Augenblick lang tatsächlich ziemlich überrascht zu sein. Ein weiteres Mal schweifte ihr Blick über seinen Körper, von den Zehenspitzen, über die zusammengefalteten Flügel bis hin zu seinem Kopf und wieder zurück, bevor sie ihre Worte wieder zu finden schien.
    „Wie ungewöhnlich“, Bel machte noch einen Schritt auf Fulgor zu und hielt einen ihrer Flügel nur wenige Zentimeter von seiner verletzten Schulter entfernt in die Höhe, „Und gefährlich noch dazu. Du bist verwundet, kleines Pikachu. Flugkünste hin oder her, alleine solltest du nicht ungeschützt durch einen Wald wie diesen streifen, vor allen Dingen nicht zu dieser Tageszeit.“
    „Du hast vermutlich recht. Ich war auch gerade dabei mir einen Unterschlupf für die Nacht zu suchen“, nervös hielt Fulgor seinen Blick auf Bels Flügel gerichtet und fügte nach einer kurzen Pause schnell hinzu: „Und etwas, mit dem ich die Wunde versorgen kann.“
    „Ich verstehe“, das Kramshef beugte sich ein wenig über die Schulter des Hybriden, „Ich glaube, es sieht schlimmer aus, als es ist. Ein wenig Wasser, fort mit dem Blut, etwas Ruhe und du wirst sehen, spätestens in zwei Tagen ist dieser kleine Kratzer schon so gut wie vergessen“, sie zog sich wieder ein wenig zurück und schenkte Fulgor ein herzerwärmendes Lächeln, das seine Sorgen noch mehr zu mindern vermochte als ihre vorangegangen Worte, „Bis dahin solltest du nicht die Nacht damit verbringen, nach einem Versteck zu suchen. Du faszinierst mich, Fulgor. Ich mag außergewöhnliche Individuen. Deshalb möchte ich dir anbieten, Unterschlupf in meinem Revier zu finden, bis sich deine Situation gebessert hat.“
    Fulgor zögerte. Das alles kam zu plötzlich und noch immer schwebten Misstrauen und Vorurteile wie dunkler Nebel über seinem Geist. Was hatte Bel davon, sich nicht nur mit ihm anzufreunden, sondern ihm auch noch an einen sicheren Ort zu bringen? Welchen Nutzen konnte ein Kramshef wohl aus einem Pikachu ziehen? Er fragte sich, ob sie ihn möglicherweise in einen Hinterhalt locken wollte, irgendwo hin wo ihr Schwarm, von dem sie erzählt hatte, lauerte um ihn dann zerfetzen zu können. Doch war das wirklich möglich? Er hatte sie schon so nah an sich heran gelassen, dass sie doch sicher eine der vielen Chancen genutzt hätte, um ihn zu überrumpeln.
    „Du traust mir nicht, habe ich Recht?“
    Bels Stimme riss ihn aus seinen Gedanken und ließ Fulgor aufblicken. Ihr Lächeln hatte sich gelegt, scheinbar ohne jedes Gefühl starrte sie ihn an. Wieder stieg Scham in ihm auf.
    „Du musst das verstehen. Ich…“, begann er seine Situation zu schildern, doch das Kramshef unterbrach ihn mit eiserner Stimme.
    „Ich verstehe sehr gut, Fulgor“, sie schloss kurz die Augen und öffnete sie erst dann wieder, als ihren Schnabel ein flüchtiges Lächeln zierte. „Halte mich nicht für zu naiv. Glaubst du wirklich, ich sehe in dir nur ein vollkommen ordinäres Pikachu? Wirke ich auf dich so blind? So unerfahren?“, bevor er etwas erwidern konnte, hob Bel ihren Flügel in einer kurzen Stoppgeste und fuhr ohne zu zögern fort, „Ich weiß nicht, was dich in diesen Wald verschlagen hat, Fulgor. Aber ich erkenne jemanden, der keine Ahnung von dem Leben als Einzelgänger hat. Du bist noch nicht lange allein. Und mir ist auch bewusst, dass du keine Flügel und Vogelbeine haben solltest, kleines Pikachu. Zeit für ein wenig Klartext, Fulgor. Du bist ein Eindringling an diesem Ort und solltest dankbar sein, dass du gerade auf mich getroffen bist, die ich keinerlei Vorurteile gegenüber Andersartigen hege, anstatt mir zu misstrauen. Das wäre zumindest besser für dich, denn so wie du dich aufführst wirst du ohne Hilfe nicht lange überleben und dein frühzeitiger Tod wäre geradezu eine Verschwendung. Denn eigentlich hast du sicherlich das Potential dazu, ein ziemlich langes Leben zu führen.“
    Fulgor wollte wirklich wütend werden. Schon wieder fokussierte sich jemand nur auf das an ihm, das von der Norm abwich anstatt ihn als Ganzes zu betrachten. Doch anstatt Bel Gift und Galle entgegen zu speien, fühlte er sich von ihren unsagbar ehrlichen Worten eingeschüchtert. Tatsächlich, dies war nicht sein Zuhause. Er war sich nicht einmal darüber im Klaren, wo genau er sich befand, geschweige denn hatte er einen Plan, wie er zukünftig in dieser gnadenlosen Welt überleben sollte. Noch nicht einmal einen Tag lang war er auf sich selbst gestellt und dem Tod dennoch bereits zwei Mal nur knapp durch die gierigen Klauen geglitten. Seine Schulter schmerzte noch immer, Müdigkeit nagte tief in seinem Innersten und auch Hunger und Durst waren kaum noch zu ignorieren. Fulgor benötigte die Hilfe von jemandem, der wusste wie das Überleben außerhalb einer schützenden Höhle und starker Familienmitglieder funktionierte. Bel war all dies und scheinbar noch viel mehr. Sie brauchte niemanden, der ihr zeigte wie das Leben funktionierte, obwohl sie Mitglied eines Schwarms zu sein schien. Möglicherweise empfand sie tatsächlich Sympathie für ihn oder zumindest für das Außergewöhnliche an ihm. Sie hatte gesehen, wie Fulgor das Ibitak mit der Macht seiner Elektrizität in die Flucht geschlagen hatte. Warum sollte sie also das Risiko eingehen und sich die Mühe machen, ihn in eine Falle zu locken wo sie und ihr Schwarm doch scheinbar nicht über einen Mangel an Nahrung klagen mussten?
    Es fühlte sich nicht richtig an. Die Erlebnisse des Tages hatten Fulgors sowieso schon stark ausgeprägte Vorsicht anderen Pokémon gegenüber noch verstärkt und ein dumpfes Gefühl in seiner Magengegend wurde mit jedem Gedanken, der sich damit beschäftigte möglicherweise auf das Angebot des Kramshef einzugehen, unangenehm intensiver. Doch auch die Ausweglosigkeit seiner momentanen Situation ließ sich nicht von der Hand weisen. Dennoch, Fulgor wollte einen Rückzieher machen.
    Stattdessen machte er einen Schritt auf Bel zu und sagte so schnell, dass sich seine Worte beinahe überschlugen: „Ich komme mit dir.“
    Kaum waren die Worte aus ihm herausgebrochen, intensivierte sich der Zwiespalt in Fulgor Seele. Einerseits erleichtert darüber, nun Schutz und Hilfe zu erfahren, mahnte ihn andererseits sein Misstrauen lauthals zur Vorsicht. Doch die Entscheidung war bereits gefallen und einen Rückzieher zu machen schien keine Option mehr darzustellen. Belhalrasu machte es Fulgor leicht. Sie lächelte mütterlich und nickte ihm zu.
    Ihre Stimme erklang sanft, wie ein leise schwingendes Glockenspiel: „Das freut mich. Wirklich, ich bin erleichtert. Es wäre mir schwer gefallen, dich zurücklassen zu müssen, aber ich hätte dich wohl kaum zwingen können, mit mir mit zu kommen“, ein Hauch von Sorge schlich sich in ihren Ton, „Kannst du noch fliegen? Du wirkst sehr erschöpft.“
    Fulgor wollte Bel nicht zusätzlich beunruhigen und nickte halbherzig, obwohl sich die Müdigkeit tief in seinen Knochen eingenistet hatte und der pochende Schmerz seiner Wunde ihm realer erschien, als das schwache Schlagen seines Herzens. Sie schien ihn dennoch zu durchschauen, denn ihr sorgenvoller Blick traf ihn, kaum dass er ihr wieder ins Gesicht schaute.
    „Ich werde es schon schaffen“, sagte er schnell, ein erzwungenes Lächeln auf den Lippen, in der Hoffnung, Bel ein wenig beruhigen zu können.
    Das Kramshef nickte ihm anerkennend zu und wandte sich um, während sie ihre Schwingen weit ausbreitete. Die Flügelspannweite war beeindruckend und gleich wirkte ihr Körper weniger gedrungen.
    „Wir können leider nicht allzu langsam fliegen. Ich kann es nicht verantworten, dass uns ein Jäger folgen und den Standort meines Schwarms erfahren könnte. Aber es ist nicht weit.“
    Bevor Fulgor noch etwas erwidern konnte, hatte Bel sich bereits mit wenigen Flügelschlägen in die Luft erhoben. Um den Anschluss nicht zu verlieren, riss auch der Hybrid so schnell er konnte seine Schwingen auf. Die ruckartige Bewegung verursachte einen Stich in seiner Schulter und ließ ihn kurzzeitig zusammenzucken. Schnell wischte er die Tränen beiseite, die in seine Augen getreten waren. Er hatte keine Zeit um Schwäche zu zeigen. Die Dunkelheit der Nacht schien sich noch weiter verdichtet zu haben und Fulgor glaubte, ein Rascheln zu hören. Den Angriff eines weiteren Jägers würde er sicher nicht so leicht überstehen, wenn ihm schon das Ausbreiten seiner Flügel Probleme bereitete. Allein die Vorstellung, erneut in die funkelnden Augen eines hungrigen Räubers blicken zu müssen schickte einen Schauer über seinen Rücken. Noch immer war sich Fulgor nicht gänzlich sicher, ob er Bel ohne jeden Vorbehalt trauen konnte. Doch ihm blieb kaum eine Wahl und ihre Freundlichkeit war Balsam für seine Seele. Somit fühlte er doch ein leichtes Glücksgefühl in sich heran wachsen, als er ihr tiefer in das Unterholz folgte.

  • Kapitel 7
    Mitternachtsmord



    Jeder Jäger wird einmal ein Hase, früher oder später, denn die Ewigkeit ist lang.


    -Wilhelm Busch



    Bel hatte Fulgor nicht belogen. Sie flogen schnell, aber nicht lange durch die Schwärze des Waldes. Sie schien sich Sorgen zu machen, weil er weiterhin das Licht, das seine Elektrizität verursachte, nutzte, um Hindernisse rechtzeitig bemerken und ihnen ausweichen zu können, während ihr selbst die Dunkelheit überhaupt nichts auszumachen schien. Immer wieder warf sie kurze Blicke über ihre Schulter, die nicht Fulgor galten, sondern wohl dem Zweck dienten, mögliche Verfolger ausfindig zu machen. Es machte ihn nervös, da er sich immer mehr wie eine auffällige Leuchtfackel vorkam. Er hatte das Gefühl, alle Räuber der näheren Umgebung regelrecht einzuladen, sich auf ihn zu stürzen. Die Nervosität ließ ihn in kalten Schweiß ausbrechen. Er zwang sich dazu, noch etwas schneller zu fliegen, obwohl seine Schulter ihn quälte und seine Muskeln vor Anstrengung und Erschöpfung zitterten.
    Der Wald schien stetig dichter zu werden und Fulgor befürchtete immer mehr, irgendwann einem der eng beieinander stehenden Bäume nicht mehr rechtzeitig ausweichen zu können und dem schnellen Flug somit ein abruptes Ende zu setzen. Doch noch während er überlegte, ob er Bel seine Sorge möglicherweise mitteilen und sie bitten sollte, etwas langsamer zu machen, lichtete sich das Gehölz plötzlich, als hätte ein herabstürzender Meteorit eine Schneise in die Armee der Stämme gerissen. Die Lichtung erinnerte Fulgor an jene, auf die ihn vor wenigen Tagen seine Flucht vor Felias und seinen Mitläufern geführt hatte. Allerdings suchte man hier fast vergebens nach anderem Wuchs, als saftigem Gras, vereinzelten Bäumen und einigen Wasserpflanzen, die einen großen Teich beinahe gänzlich bedeckten. Farne und Schilf umkreisten das Wasser, als bewachten sie es vor unerwünschten Eindringlingen und schienen damit zeitgleich die Bäume des Waldes zu imitieren, die in einem ungleichmäßigem Kreis um die Lichtung angeordnet waren, fast als hätte jemand sie künstlich in dieser Form angepflanzt. Die Strahlen des Mondes brachen durch das wenig dichte Geäst und machten es Fulgor nun endlich möglich, den ewigen Funkenstrom zu stoppen, den er bislang produziert hatte. Auch wenn seine Sicht so noch etwas weiter eingeschränkt wurde, bot es ihm dennoch auch die Möglichkeit, Kräfte zu sparen und sich wieder sammeln zu können.
    Bel landete auf dem Ast einer erstaunlich großen Birke, die in der Nähe des Teiches, wohl über Jahrhunderte hinweg, gewachsen war. Fulgor schickte sich augenblicklich an, ihr zu folgen, doch kaum kam er in die Nähe des Baumes ließ ihn ein beißender Gestank zurückweichen. Der Geruch von Tod, Blut und Verwesung lag schwer wie eine dunkle Wolke in der Luft und verursachte eine Übelkeit, die den Hybriden aufwürgen ließ. Es zog ihn augenblicklich fort von diesem Ort. Wie giftiger Nebel drang der überwältigende Gestank in Fulgors hochempfindliche Nase und setzte sich in seinem Körper fest, machte den Gedanken an einen Atemzug schier unerträglich. Angewidert suchten seine tränenden Augen nach der Quelle dieses Geruchs und es dauerte nicht lange, bis er sie ausgemacht hatte. Zu Füßen des Baumes tummelte sich ein Knäuel aus schwarzen Feder und aufblitzenden Schnäbeln um einen einzigen Punkt, der Fulgors Augen verborgen blieb. Es mussten mindestens fünf Kramurx sein, die sich dort an ein und der Selben Stelle aneinander drängten, sich schubsten und aggressiv kreischten. Sie schlugen mit Krallen und Schnäbeln abwechselnd auf das, was zwischen ihnen reglos auf dem Boden lag und drohend aufeinander ein, wobei sie sich dabei nie wirklich zu verletzen schienen. Eines von ihnen senkte den Kopf tief und riss ihn dann ruckartig wieder in die Höhe, wobei es beinahe das Gleichgewicht verlor und kurz die schwarzen Schwingen ausbreiten musste, um es wieder zu erlangen. Etwas Rosafarbenes ragte aus seinem Schnabel, ein roter Tropfen fiel schwer zu Boden. Das Kramurx öffnete seinen Mund leicht und schlang es herunter, ohne jeden Vorgang des Kauens. Konnten diese Geschöpfe wirklich zu Bel gehören? Sie ähnelten ihr nur in wenigen Punkten. Ihr Schweif war ebenfalls wild zerzaust wie der des Kramshef und die dunklen Federn erinnerten ebenfalls an ihre. Auch ähnelten ihre Gefieder einem Hut, doch der der Bels Haupt zierte wirkte edler und nicht so kantig, wie der der Kramurx. Im Allgemeinen erschienen sie im Vergleich zu Bels gepflegter Erscheinung geradezu gerupft, beinahe ungepflegt, während das saubere und glatte Gefieder der Kramshefdame selbst auf Fulgor einen schönen Eindruck gemacht hatte.
    „Also wirklich!“, Der eiskalte und harte Ton in Bels plötzlich erklingender Stimme erschreckte Fulgor, „Werdet ihr wohl mit diesen Zankereien aufhören und eure faulen Federn hierher bewegen? Wir haben einen Gast.“
    Das Gezetere des schwarzen Knäuls verstummte augenblicklich. Eine angespannte Stille trat ein, bevor die Kramurx in einen panikähnlichen Zustand verfielen und wild mit den Flügeln schlagend versuchten, den jeweils anderen zu überholen und möglichst schnell einen Platz auf einem der Äste der Birke einzunehmen. Eines von ihnen landete nicht weit von Bel entfernt und näherte sich ihr zögerlich. Sie warf ihm einen geradezu tödlichen Blick zu, der es augenblicklich erstarren und Fulgor für einen kurzen Moment gar den überwältigenden Gestank des Todes vergessen ließ. Ihre roten Augen funkelten das andere Vogelpokémon an, das zitternd seinen Schnabel öffnete und etwas fallen ließ, das der Hybrid schnell als ein Stück blutverschmiertes, rohes Fleisch identifizierte, bevor er sich so schnell es konnte wieder in die Lüfte erhob und Zuflucht auf einem relativ weit entfernten Ast suchte. Bel schnalzte genervt mit der Zunge, beugte sich über das Fleisch und schlang es herunter. Dabei wirkte sie genauso ungalant, wie die Kramurx. Ein Schauer lief über Fulgors Rücken und instinktiv drängte er mit seinen Flügeln die Luft von seinem Körper nach vorne weg, flog ein Stück weit rückwärts um etwas mehr Distanz zwischen sich und die schwarzen Vogelpokémon zu bekommen. Immer mehr von ihnen waren aufgetaucht. Zuvor verborgen in der Dunkelheit und zwischen den Blättern fiel dem Hybriden erst jetzt auf, wie eine ganze Meute von ihnen die Birke besetzt hielt, die sich erstaunlicherweise dennoch nicht unter ihrem Gewicht beugte. Dutzende, rot glühende Augenpaare in der mondbeleuchteten Finsternis, die ihn allesamt fixierten. Fulgor spürte, wie ein Tropfen Angstschweiß seine Stirn hinab floss. Sein Blick fiel zufällig zu Boden, auf den Punkt, der zuvor noch wild von den Kramurx umkämpft gewesen war. Was er sah drehte ihm endgültig den Magen um. Der zerrupfte, kaum mehr als solcher erkennbare Leib eines der Ihren lag regungslos in einer Lache aus zum größten Teil getrocknetem Blut. Der Bauch des einst lebendigen Vogelpokémon lag offen. Schwarze, teilweise mit Blutflecken übersäte, ausgefallene Federn lagen überall verteilt und wurden bei jedem kleinsten Windstoß weiter über die Lichtung getrieben. Verkrampft und in einer schmerzhaft aussehenden, verrenkten Position in der Ewigkeit gefangen, langten die weitestgehend unangetasteten Beine und Krallen des Kramurx in die Höhe. Der Leib der Leiche wirkte wie eine verspeiste Frucht von der nur die harte Schale übrig geblieben war. Die Wörter „leer“ und „ausgeschlachtet“ schlichen sich in Fulgors Gedanken. Das Kramurx war im Tod allem beraubt worden, das es im Leben ausgemacht haben mochte. Die Übelkeit bäumte sich in seinem Inneren auf und kämpfte sich seinen Hals hinauf. Ein Schwall sauerer Magenflüssigkeit ergoss sich aus seinem Mund und vergrub das grüne Gras der Lichtung unter sich.
    Vor lauter Schreck nicht in der Lage zu fliehen, schossen Worte der Wut und des Entsetzens aus Fulgors Mund, auch wenn sie nicht vermochten den säuerlichen Geschmack auf seiner Zunge mit sich zu reißen: „Wie könnt ihr nur so grausam sein und einem eurer Art so etwas antun?“, seine Stimme schwoll weiter an, wurde zu einem anklagenden Brüllen, „Bel! Was ist das für ein teuflischer Schwarm, dem du dich da angeschlossen hast? Ihr verschlingt eure eigenen Leute als wären sie Raupy! Schämt ihr euch nicht? Ekelt ihr euch nicht vor euch selbst und vor dem, was ihr tut?“
    Er konnte die Worte kaum zu Ende sprechen, denn schon wollte sich ein weiterer Schwall der Übelkeit in die Welt hinauskämpfte. Fulgor unterdrückte das Gefühl nur durch Aufbringen all seiner Willenskraft, während er seinen tränenverschmierten Blick nicht von Belhalrasu ließ.
    Sie hatte den Kopf schief gelegt, seufzte kurz und saugte sichtbar tief die stinkende Luft ein, bevor sie Fulgor zornig und laut antwortete: „Glaubst du wirklich, wir fressen ein Mitglied unseres Schwarms nur zum Spaß und aus bloßer Gier? Nein, Fulgor, du hast keine Idee von meinen Intentionen! Dieses arme Geschöpf wurde Opfer eines grausamen Mörders und ich wollte nicht zulassen, dass sich dieser eine zweite Nacht lang an ihm gütlich tun kann!“, ihre Stimme verlor an Volumen und glich immer mehr der eines erschöpften, müden Weibchens, „So sorgte ich dafür, dass er selbst im Tod Teil unseres Schwarms bleiben konnte. Ich wollte ihn nicht dem Feind überlassen. Selbst jetzt, wo seine Seele längst ihren Weg zu Misetha gefunden haben sollte, soll sein Leib noch bei seinesgleichen Ruhe finden. So nah, wie es nur möglich ist.“
    Fulgor wagte kaum, seinen Ohren zu trauen.
    „Dann warst du es, die die anderen Kramurx dazu gebracht hat? Heißt das, du bist die Anführerin dieses Schwarms?“, als sie nickte, schüttelte der Hybrid ungläubig den Kopf und wandte sich ab, „Ich bleibe keine Sekunde länger an diesem verfluchten Ort!“
    „Fulgor, warte!“
    Der Schrei Bels drang verzweifelt an sein Trommelfell. Beinahe zeitgleich fühlte Fulgor, wie sich etwas in seinem Rücken regte. Die ganze Meute Kramurx begann plötzlich sich zu bewegen, Krähen erklang in verschiedensten Tonlagen. Schon schossen die ersten der Vogelpokémon an ihm vorbei und positionierten sich vor ihm in der Luft. Bevor Fulgor angemessen reagieren konnte, hatte der Schwarm ihn umkreist. Verzweiflung staute sich in ihm an, doch die Wut war stärker. Er war verraten worden. Bel hatte ihn doch in einen Hinterhalt gelockt. Hasserfüllt knirschte er mit den Zähnen und füllte seine Wangentaschen ein weiteres Mal mit Elektrizität, bis es Funken regnete.
    „Wenn ihr mir nicht augenblicklich aus dem Weg geht, könnt ihr heute Nacht noch viele eurer eigenen Art zu einem Teil von euch machen. Natürlich nur, wenn dann noch genügend von euch übrig sind“, knurrte er und war, kaum war die Drohung ausgesprochen, überrascht von sich selbst.
    Wollte er wirklich noch mehr Leben auf dem Gewissen haben? Das Bild von Tenia trat vor Fulgors geistiges Auge und brachte ihn vollkommen aus dem Konzept. Die Tatsache, dass es Bel nicht anders zu ergehen schien, kam ihm zugute.
    „Bitte Fulgor. Ich will dir wirklich nichts Böses. Das verspreche ich“, die Anführerin hatte sich in den Kreis gedrängt und kam dem Hybriden so nahe, dass er die Tränen in ihren Augen glitzern sehen konnte, „Mein Schwarm braucht deine Hilfe. Und ich brauche sie auch. Bitte Fulgor. Wir werden ewig in deiner Schuld stehen und dich, wenn es sein muss, dein Leben lang begleiten und beschützen. Aber hör mich an! Bitte!“
    Die Kramurx schienen nicht minder verwirrt zu sein, als Fulgor selbst. Sie tuschelten und suchten irritiert die Blicke des jeweils anderen, einige starrten Bel regelrecht entsetzt an. Der Hybrid hingegen wusste nicht, ob er Mitleid mit ihr haben oder vor Zorn und Ekel explodieren sollte.
    „Denkst du wirklich, ich würde von Pokémon wie euch begleitet, oder gar ein Teil von euch werden wollen?“, ein weiteres Mal schüttelte er den Kopf, konnte jedoch nicht gänzlich vermeiden, dass seine Stimme beim Anblick von Bels Trauer sanfter wurde, „Und wie sollte ich euch bitte helfen können?“
    „Ich werde dich nicht dazu zwingen, bei uns zu bleiben“, ein Funken Hoffnung hatte sich in die Augen des Kramshef gestohlen, als sie fortfuhr, „Aber bitte, hör mir zu. Ich und mein Schwarm waren immer sicher in diesem Wald. Er ist unsere Heimat. Wir mussten nur selten kleine Käferpokémon töten, um zu überleben. Meist reichte das aus, dass andere Jäger auf ihren Beutezügen zurück ließen. Wir haben nur wenige Feinde und mussten kaum Gefahren fürchten“, sie atmete tief durch, als fiele es ihr schwer, die folgende Geschichte zu erzählen, „Bis vor etwa einer Woche dieser Fremde auftauchte. Er kommt mit der Nacht und geht mit der Morgensonne. Wie ein Schatten schleicht er sich an und pflückt meine Kramurx wie reife Früchte vom Himmel!“, Bel ließ ein lautes, vor Wut überquellendes Kreischen ertönen, dessen Lautstärke Fulgor einen Schock durch die Glieder fahren ließ, „Dieser Bastard! Er hat sich regelrecht auf meinen Schwarm spezialisiert! Jede Nacht, egal wo wir Unterschlupf suchen, stöbert er uns auf und macht kurzen Prozess. Er zerfetzt uns noch in der Luft und meine Kramurx wagen schon kaum mehr, sich auf die Suche nach Nahrung zu begeben. Überall glauben sie dieses Phantom und seine tödlichen Krallen zu sehen. Doch ich sage dir, diejenigen die er erwischt hat, haben ihn nicht kommen sehen. Das Vieh ist schnell, verdammt schnell. Niemand von uns kann sagen, wie der Mörder überhaupt aussieht“, sie hatte sich in Rage geredet und spie noch ein paar weitere Flüche und Beleidigungen aus, bevor sie sich wieder gänzlich Fulgor zuwandte, „Ich kann dieses Treiben nicht länger zulassen. Also wollte ich diesem fremden Pokémon eine Falle stellen. Auch darum habe ich die Überreste seines letzten Opfers hier liegen lassen und meinen Schwarm genau an dieser Stelle positioniert. Gierige Jäger sind dumm. Er wird zurückkommen, um ein weiteres Mal von seiner Beute speisen zu können und dann wird er abgelenkt sein. Ich hätte ihn attackieren können, während er sich an den toten Überresten gütlich tun würde, aber…“, Bel hielt inne, seufzte, kämpfte mit sich selbst und schüttelte verzweifelt den Kopf, „Ich konnte es nicht. Ich wollte ihn nicht diesem Monster überlassen, nicht einmal im Tod, und der restliche Schwarm war hungrig. Niemand wollte hinausfliegen, um Nahrung zu suchen. Also war ich gezwungen, meinen Plan etwas zu ändern. Er wird nicht lange genug abgelenkt sein und schnell bemerken, dass von seiner Beute nicht mehr viel übrig ist. Zu gefährlich, ihn in einem so kurzen Augenblick anzugreifen. Also müsste ich einen meiner Kramurx als Lockvogel stellen, um ihn in eine Hetzjagd zu verwickeln, im besten Falle zu ermüden, bis ich mich aus dem Hinterhalt auf ihn stürze wenn er nicht damit rechnet“, Fulgor hatte kein gutes Gefühl bei dem Gedanken daran, worauf dies hinauslaufen könnte, „Doch die Kramurx sind nicht so schnell wie er und auch nicht stark genug, um ihn zu überwältigen, wenn ich mich selbst als Köder zur Verfügung stellen würde. Aber du, Fulgor, du hast bessere Vorraussetzungen. Ich habe auf meiner Suche nach etwas Essbarem beobachtet, wie du dem Ibitak entkommen bist. Du bist nicht nur schneller als die anderen Mitglieder meines Schwarms, du könntest dich im Notfall sogar verteidigen und diesem verdammten Mistkerl einen Elektroschock versetzen!“
    Aus großen Augen blickte Bel Fulgor an, ihre Stimme erfüllt von Euphorie. Doch ihre Worte verursachten nichts als Leere in dem Hybriden. Sie hatte ihn ausgenutzt. Von Anfang an war sie nur an ihm interessiert gewesen, um ihn als Köder missbrauchen zu können. Aber da hatte sie falsch gewettet! Fulgor würde sich nicht so einfach degradieren lassen.
    „Vergiss es, Bel. Sehe ich so aus, als hätte ich Lust dazu, mich in Lebensgefahr zu begeben? Ganz abgesehen davon bin ich vollkommen erschöpft und heute erst zwei Mal um mein Leben gerannt. Auf ein drittes Mal verzichte ich dankend“, fast tat es ihm Leid, dass er ihr eine so gnadenlose Absage erteilte. Doch hatte sie denn wirklich geglaubt, er würde sich auf ein solch waghalsiges Manöver freiwillig einlassen? „Keine Chance!“
    Er blickte in den Himmel und spielte mit den Gedanken, einfach über den Schwarm hinweg zu fliegen. Fulgor brauchte endlich wieder Boden unter seinen Füßen, denn die Kraft die in seinen Flügeln schlummerte, neigte sich ihrem Ende. Gerade spannte er seine Muskeln an, da hielt ihn Bels lautes Schluchzen zurück.
    „Ich flehe dich an, Fulgor!“, Die Kramurx waren nun vollkommen aus dem Konzept gebracht und kreischten verwirrt, während eines von ihnen nahe an ihre flehende Anführerin heran flog und sie tröstend anstupste, „Es tut mir Leid, dass ich vorgegeben habe dir einfach so helfen zu wollen. Aber ich verspreche dir, wenn du uns hilfst wird es auch für dich Vorteile haben. Wenn du in diesem Wald leben willst, könntest auch du früher oder später auf diese Bestie treffen und alleine hat niemand von uns eine Chance gegen sie. Außerdem kann mein Schwarm dir Schutz bieten. Und wenn du das nicht möchtest, lass mich dir wenigstens ein paar Überlebenstricks zeigen, nur bitte“, sie schwieg kurz und schluckte schwer, während sie sich die Tränen aus den Augen wischte, „hilf uns.“
    Fulgor hatte Mitleid. Bels Trauer war ehrlich. Sie war von Verzweiflung getrieben gewesen, als sie ihn hergelockt hatte. Sie fürchtete um das Leben ihres Schwarms. Sie schien sogar um die Seelen der Toten zu fürchten. Was für eine Angst musste ihr dieser fremde Jäger einjagen? Der Hybrid legte eine Hand auf ihre Schulter.
    „Vielleicht kann ich dich ein wenig verstehen, Bel“, das Atmen fiel ihm inzwischen schwer und sein Körper schrie nach Schlaf, „Aber selbst wenn ich wollte, ich kann nicht. Ich bin vollkommen erschöpft! Ich kann mich kaum noch in der Luft halten. So wie du erzählst, könnte diese Bestie jederzeit zurück kommen. Bis dahin bin ich nicht ausgeruht genug, um deinen Plan aufgehen zu lassen. Hinzukommt meine Verletzung“, er blickte dem Kramshef ehrlich in die traurigen, roten Augen, „Es tut mir Leid, Bel. Wirklich. Aber ich kann euch nicht helfen.“
    Fulgor konnte selbst kaum glauben, dass er sich möglicherweise tatsächlich auf diesen Irrsinn eingelassen hätte. Doch Bels Wunsch, ihrem Schwarm eine gute Anführerin zu sein, rührte ihn zutiefst. Fast glaubte er, endlich einen Vorteil seiner Verletzung und Müdigkeit gefunden zu haben. So konnte er mit seinem eigenen Gewissen vereinbaren, nicht auf den Plan des Kramshef einzugehen. Doch die Anführerin machte ihm einen Strich durch diese Rechnung. Sie gab dem Kramurx, das ihr am nächsten war, ein wortloses Zeichen und ließ sich dann Richtung Boden sinken, während sich ihr Tröster aus dem Kreis löste und wieder zurück zu der Birke flog. Fulgor war erleichtert, dass er scheinbar nicht länger in der Luft ausharren musste und folgte Bel auf den sicheren Erdboden, wo er sich erschöpft fallen ließ. Das kalte, feuchte Gras fühlte sich gut an seinem vor Anstrengung regelrecht heiß gelaufenen Körper an. Die anderen Mitglieder des Schwarms umkreisten ihn noch immer, nun jedoch stehend. Den Geruch der Verwesung nahm Fulgor kaum noch war, er war mit allen anderen Gerüchen des Waldes zu einer einzigen, großen Masse verschmolzen, die seinen Geist zu benebeln schien. Er spürte, wie seine Augenlider schwach hinab fielen, doch rief sich ins Gedächtnis, dass er trotz Bels Gutartigkeit sicherlich nicht in Sicherheit war, wenn er hier und jetzt einschlief. Gerade als sich die Anführerin über ihn beugte, kehrte das zuvor fort geschickte Kramurx zurück und überreichte ihr zwei Beeren, die es in seinem Schnabel transportiert hatte und die sie ohne jedes Zögern an Fulgor übergab. Er betrachtete die Nahrung geistesabwesend. Die eine Frucht war groß, gelb und mit orangefarbenen Punkten übersät. Sie war an der Spitze schmal, wurde jedoch bald breiter und wirkte so, als habe sie einen Bauch. Die zweite Beere hatte eine beinahe dreieckige Form und war zur einen Hälfte bläulich, zur anderen bräunlich gefärbt. Fulgor kannte beide. Es handelte sich um eine Tsitru-, und eine Maronbeere. Vor allen Dingen erstere war selten und sehr kostbar, weshalb er Bel etwas ungläubig anstarrte, sobald er sie erkannte.
    „Diese sollten dein Leid mindern und dir außerdem etwas von deiner Müdigkeit nehmen. Solche Beeren beherbergen erstaunliche Kräfte“, Bels freundliches, fast schon charakteristisches Lächeln war zurück gekehrt, wenn ihre Augen auch weiterhin von einer tiefgehenden Müdigkeit sprachen, „Normalerweise benutze ich sie nur im Notfall, aber ich denke, dies ist wohl genau so einer. Ich überlasse sie dir auch auf die Gefahr hin, dass du dann einfach verschwindest ohne mir deine Flugkünste zu borgen.“
    „Danke.“
    Fulgor schämte sich dafür, dass er nicht mehr Worte über die Lippen brachte. Bel hatte ihm ein äußerst kostbares Geschenk überlassen, auch wenn sie sicher nicht ohne jeden Eigennutz handelte. Er teilte die dicke Tsitrubeere in zwei Hälfte. Der süße Saft floss in kleinen Rinnsalen über seine Pfoten. Gierig verschlang er das größere Stück und rieb das andere auf die Wunde seiner Schulter, wobei er auch sein Gesicht zur Hilfe nahm da seine Hände etwas zu kurz waren, um den Saft und das Fruchtfleisch ordentlich verteilen zu können. Das anfängliche Brennen wich schnell einem Gefühl kühlender Linderung und der Schmerz verflüchtigte sich, als sei er nie etwas anderes gewesen, als seine eigene Einbildung. Nur das sanfte Pochen blieb zurück und erinnerte Fulgor daran, dass es kein Mittel gab, dass eine Verletzung einfach so verschwinden ließ, wenn die Macht der Tsitrubeere auch erstaunlich war. Hungrig stürzte er sich zuletzt auch noch auf die Maronbeere. Sie war hart und seine Zähne hatten ziemlich mit der Außenhülle zu kämpfen. Zusätzlich schmeckte sie nach so gut wie gar nichts und befeuchtete seine trockenen Lippen kaum mit Fruchtsaft. Ihre Wirkung jedoch war nicht von der Hand zu weisen. Wie ein kräftiger Windstoß fegte sie die Müdigkeit aus seinen Körper und Gedanken und überraschte ihn mit einem unglaublichen Vorrat neuer Energie. Fulgor blickte zu Bel auf, die sein Lächeln erwiderte und dann auf den Teich deutete.
    „Vergiss nicht, etwas zu trinken.“
    Das musste sie der durstigen Elektromaus nicht zweimal sagen. Er hetzte regelrecht auf die Wasserquelle zu und vergrub sein verschwitztes Gesicht gänzlich in dem kühlen Nass, bevor er zu trinken begann. Nie hatte es sich so gut und erfrischend angefühlt, Wasser zu sich zu nehmen. Für Fulgor fühlte es sich beinahe so an, als sei seine Kehle bereits vollkommen vertrocknet gewesen und sich nun vollsaugte wie ein Schwamm, um endlich wieder zu alter Größe zurückzukehren. Tief floss das Wasser in seinen Magen hinab und schien anstatt des Blutes all seine Organe mit neuem Leben zu versorgen. Als Fulgor wieder auftauchte fühlte er sich gesund. Schlicht und einfach gesund. Die wundersamen Kräfte der Beeren schienen sich durch das Wasser noch besser entfaltet zu haben. Seine Pfoten waren etwas im Matsch des Ufers versunken, doch es störte ihn kaum. Voller Tatendrang richtete er sich auf und blickte zu der Birke, auf dem der gesamte Schwarm erneut Platz genommen hatte. Dann sah er hinauf in den sternenklaren Himmel. Wie Diamanten funkelten die kleinen Nachbarn des Mondes, als seien sie tausende Augen, die die Bewohner der Welt beobachteten. Sie sahen wohl auch die Entscheidung, die Fulgor nun traf. Er konnte nicht einfach das kostbare Geschenk Bels annehmen und verschwinden, ohne ihr zu helfen. Natürlich, die Sache mit dem Fressen von Aas schreckte ihn ab. Doch das tote Mitglied ihres Stammes schien sie gar aus Furcht um dessen Seele verspeist zu haben, während alles andere doch rein natürlich war, oder nicht? Selbst Fulgor und auch Illia und Artras hatten schon manchmal ein paar kleine Käferpokémon gefressen, wenn ihnen der Sinn danach gestanden hatte. Das war wohl der natürliche Lauf der Dinge und Bel und ihr Schwarm beschränkten sich darauf, sich vor allen Dingen von dem zu ernähren, was andere der sinnlosen Verwesung überließen. War das wirklich etwas Schlechtes? Fulgor ließ seinen Gedanken freien Lauf. Man hatte ihn dafür gehasst, dass er Flügel trug. Hier liebte, ja bewunderte man ihn gar dafür. Bel hatte ihm Schutz und eine Heimat geboten. Er mochte sie und die anderen Mitglieder ihres Schwarms mochten sich auf den zweiten Blick möglicherweise als nicht minder freundlich herausstellen. Wenn das Glück ihm nur etwas hold war, konnte dies vielleicht schon das Ende seiner Suche nach einem Zuhause und einer Familie sein. Er würde zwar wieder etwas fremdartig wirken, doch dieses Mal wäre seine Andersartigkeit nicht mit negativen, sondern mit positiven Dingen in den Köpfen der anderen Pokémon verknüpft. Zumindest wenn es Fulgor gelingen sollte, eine Hilfe bei der Vertreibung oder auch Vernichtung dieser fremdartigen Bedrohung zu sein. Voller Tatendrang schwang er sich in die Luft, spürte neue und wieder erlangte Kräfte durch seine Flügel fließen und flog einen übermutigen Salto, bei dem er einmal beinahe einen Luftstrom verpasste, bevor er neben Bel auf einem der Äste Platz nahm.
    „Du hast mir geholfen, Bel. Jetzt helfe ich euch und vielleicht…“, er stockte kurz und war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob seine Bitte nicht etwas anmaßend sein könnte, „Vielleicht dürfte ich danach doch bei euch bleiben.“
    Das Kramshef lächelte nur, bevor sie ihre Flügel um Fulgor schlang und ihn an sich drückte.
    Die Umarmung überraschte ihn und ließ zugleich reine Freude wie Geysire in seiner Seele in die Höhe schießen, noch bevor Bel ihm sanft flüsternd antwortete: „Ich danke dir, mein Freund. Und es wäre mir eine Ehre, dich in meinem Schwarm Willkommen zu heißen.“
    Tränen des Glücks sammelten sich in Fulgors Augen, als er sich vorsichtig von Bel löste und sie freudestrahlend angrinste. Doch die Ernsthaftigkeit, die urplötzlich wieder ihre Mimik ausmachte, verpasste ihm einen Dämpfer.
    „Du solltest weiter hinauf in der Krone dieses Baumes Unterschlupf finden und dich ausruhen. Von nun an werden wir uns alle ruhig verhalten. Einer meiner Späher wird mich und dich benachrichtigen, sobald der Mörder sich hierher traut“, sie hob ihre Stimme leicht und Fulgor war schnell klar, wie wichtig es werden würde, ihren Worten folge zu leisten, „Dann musst du ihn auf dich aufmerksam machen. Aber nicht zu offensichtlich! Er soll keinen Verdacht schöpfen. Tu einfach so, als hättest du dich auf diese Lichtung verirrt und als wolltest du sie schnellstmöglich wieder verlassen. Dann wird ihm klar werden, dass du eine potentielle Beute bist und er wird vermutlich augenblicklich eine Verfolgungsjagd einleiten. Ab dann, Fulgor, darfst du nicht stehen bleiben. Unter gar keinen Umständen!“
    Fulgor spürte, wie die Farbe aus seinem Gesicht wich. Wenn er nun so darüber nachdachte, war er vielleicht zu euphorisch und selbstbewusst an die Sache heran gegangen. Was, wenn etwas schief lief? Wenn dieser Jäger zu schnell für ihn war? Wenn ihm vielleicht sogar seine elektrischen Schläge nichts ausmachen würden?
    „Fulgor!“, er spürte wie von weit her, wie Bel ihre Flügel auf seine Schultern legte und ihm tief und ehrlich in die Augen blickte, „Dir wird nichts passieren. Das verspreche ich. Du wirst schnell genug sein und sollte er dir zu Nahe kommen, kannst du ihn auf Abstand halten. Dafür wurdest du mit ziemlich guten Verteidigungsmaßnahmen gesegnet. Ich werde die ganze Zeit über in der Nähe sein. Du wirst mich vermutlich nicht sehen, aber ich werde da sein. Sobald ich das Gefühl habe, dass dein Verfolger vollkommen auf dich fokussiert und von der Jagd erschöpft ist, packe ich ihn mir. Möglicherweise wird das etwas dauern, aber du kannst dir immer sicher sein, dass ich in der Nähe sein und dir im Notfall zur Hilfe kommen werde. Um einen Sieg zu garantieren, werden einige der Kramurx mich zusätzlich begleiten und ebenfalls an dem Angriff teilhaben.“
    „Der Plan klingt schon ganz gut“, flüsterte Fulgor, doch es klang halbherzig, denn eine leise Furcht fraß sich wie ein Parasit immer tiefer in sein Herz.
    „Er ist sicher nicht ungefährlich. Für jeden von uns“, Bel drückte seine Schultern leicht, „Deshalb ist es sehr wichtig, dass du nicht nach mir rufst. Das könnte den Überraschungsangriff vollkommen wirkungslos machen. Ich werde da sein, Fulgor. Du musst mir vertrauen. Kannst du das?“
    Er überlegte einen Moment lang. Aber was blieb ihm schon für eine andere Wahl? Er hatte sich auf dieses riskante Spiel eingelassen, nun musste er auch dessen Regeln befolgen. Zögerlich nickte er Bel zu und bejahte, bevor er es sich anders überlegen konnte. Er konnte sie nicht enttäuschen, nicht nachdem er ihre Hoffnung zuvor derart gestärkt hatte. Ihr charmantes Lächeln tat sein Übriges. Fulgor griff nach Bels Flügel und erwiderte den freundschaftlichen Druck, den sie zuvor auf seine Schultern ausgeübt hatte. Dann ließ er sich von dem Ast fallen und legte die wenigen Meter bis zu der Krone der Birke fliegend zurück. Zwischen den Blättern und spitz zulaufenden Ästen war es schwer, eine gemütliche Position zu finden. Fulgor drängte sich krabbelnd auf einen der größeren Ausläufer und lehnte sich erleichtert seufzend an dem Stamm, an dem der Ast seinen Ursprung nahm. Geistesabwesend strich er über die glatte, fast weiße Rinde, die von großen schwarzen Flecken und Streifen bedeckt war. Fast als breite sich ein tödlicher Virus immer weiter innerhalb des Baumes aus, um seinen Wirt langsam aber sicher zu verspeisen. Hie und da löste sich die Borke in papierartigen Streifen ab. Das darunter zum Vorschein kommende Holz war rötlich braun. Ob der Baum wohl blutete, seiner Haut beraubt und von einer Krankheit, einem Virus, innerlich schon ganz zerfressen? Die spitz gezackten, fast dreieckigen Blätter wirkten gesund und kräftig, ihr dunkles Grün strahlte selbst in dem schwachen Licht des Mondes. Fulgor riss eines von ihnen ab und ließ es durch seine Pfoten gleiten. Sanft sank es Richtung Erdboden, bevor es von einem Windstoß erfasst und wild um die eigene Achse gedreht wurde. Als habe es die Orientierung verloren, taumelte das Blatt bedrohlich nahe auf den Teich zu und landete schließlich lautlos auf der Wasseroberfläche, auf der es langsam versank.
    Fulgors Ohren zuckten, als das Flüstern einiger Kramurx an sie heran getragen wurde. Nur wenige Wortfetzen konnte er identifizieren. Sie sprachen darüber, wie hungrig sie noch immer waren, erwähnten kurz die Worte „schwarzer“ und „Dämon“ und eines, das verdächtig nach „Mäuschen“ klang. Er wurde aufmerksamer und wollte das Gespräch der Krähen gerade belauschen, da ertönten ein paar tadelnde Worte von Bel, die alles andere als höflich zur Ruhe aufforderte. Es wurde augenblicklich still. Erstaunlich wie gut sie diese Meute aufgebrachter Vögel unter Kontrolle hatte, auch wenn Fulgor das unangenehme Gefühl beschlich, dass sie sicher keine zimperliche Anführerin war. Er musste an Artras denken, der sanftmütig und gerecht aber nicht selten auch erstaunlich hart über den Stamm der Elektromäuse herrschte. Musste man hin und wieder Gewalt anwenden, um ein gutes Oberhaupt sein zu können? Lebte man in ständiger Sorge, nicht nur um seine Schützlinge, sondern auch davor eines Tages vielleicht gerade von einem der ihren gestürzt zu werden?
    „Worüber denkst du nach?“
    Fulgor schrak auf, beruhigte sein wild schlagendes Herz jedoch schnell wieder, als er sich Bel gewahr wurde, die etwa einen Meter vor ihm stand und sanft lächelte wie eh und je. Das Pikachu erwiderte den freundlichen Blick.
    „Du bist so lautlos. Dieser Jäger wird gar keine Chance haben, dich zu bemerken“, sagte er und rückte noch etwas näher an den Stamm, um Bel zumindest symbolisch Platz zu machen.
    Sie ließ sich neben ihm nieder und nickte ihm lachend zu, bevor sie gedankenverloren in die Ferne blickte. Fulgor wusste nicht, was sie da zu entdecken glauben könnte. Das dichte Blattwerk war wie ein Käfig für die Sicht, sodass es einem fast so erscheinen konnte, als wären sie abgeschnitten vom Rest der Welt. Er dachte bei sich, dass das vielleicht gar nicht so schlecht gewesen wäre. Hatte er sich wirklich darauf eingelassen, diesem grauenerregenden Jäger als Köder zu dienen? Die Angst griff nach Fulgor und streichelte mit langen Krallen über seinen Rücken. Er schauderte und drängte sich an den Stamm, als könnte eine in dem Baum wohnende Wärme die Klauen der Furcht vertreiben. Aus dem Augenwinkel sah er, wie sich Bels schwarze Vogelfüße in den großen Ast krallten. Er blickte auf und entdeckte eine Kälte in ihren Augen, die seine Angst in eine neue Richtung lenkte.
    „Ich will Rache, Fulgor“, flüsterte sie, wie auf ein unhörbares Stichwort hin, „Nichts als Rache. Diese Bestie hat Teile meiner stolzen Familie getötet, als wären sie nur dazu geboren, ihm zum Fraß zu dienen. Mit jedem weiteren Verlust spüre ich, wie seine Zähne an meinem Herzen zerren und er Teile meines Mutes schluckt, bevor er sie wieder auskotzt“
    Fulgor wusste nicht, wie er darauf eingehen sollte. Was sagte man jemandem, der in so kurzer Zeit so viele Familienmitglieder verloren hatte? Konnte sein Wortschatz irgendetwas hergeben, dass ihr Leiden zumindest mindern und ihr gar etwas Trost spenden konnte?
    Er richtete sich auf, weil er das Gefühl hatte, nicht genügend Luft zu bekommen, bevor er sprach: „Heute Nacht wird er euer Fressen sein“
    Bel wandte den Kopf und strahlte ihn an, den eiskalten Blick durch einen feurig lodernden ersetzt, der Fulgors Fell und Haut zu verbrennen schien. Schutzlos stand die offengelegte Seele vor der Hoffnung, die sie in ihn setzte.
    „Ich danke dir, mein Freund. Wie nur könnte ich sagen, wie sehr“, sanft glitt ihr Flügel über seine Wange, „Ich weiß nicht, wo du herkommst. Ehrlich gesagt weiß ich nicht einmal genau, was für ein Pokémon du bist. Aber eines weiß ich“, konnten es tatsächlich Tränen sein, die in ihren stolzen Augen glitzerten und mit denen sie tapfer kämpfte? „Von heute an, bist du ein Teil dieser Familie. Kramurx, Pikachu, ganz egal. Und zusammen werden wir jede Bedrohung für diese Familie abwenden können, mein Bruder“
    Ohne, dass er es selbst bewusst wahrnahm, schlang Flugor seine Flügel so gut es ging um Bel und krallte seine Finger in die weichen, weißen Federn ihres Bauches. Sie färbten sich leicht grau, wo Tränen der Freude und Erleichterung sie benetzten. Er vermochte nicht einmal genau zu sagen, was er in diesem Moment fühlte. Alles was er wusste war, dass es gut war. Wohlig zog sich sein Magen zusammen, weil ein Prickeln von innen die Bauchdecke bedeckte. Er hörte sein Herz schlagen, legte den Kopf auf Bels Brust und vernahm bald darauf auch den Beweis ihres Lebens. Pochend und ohne Zweifel keine Illusion. Nur langsam konnte Fulgor sich davon lösen und dazu zwingen, wieder in Bels Gesicht zu sehen. Als er ihren leicht perplexen und doch noch immer vor Freude strahlenden Gesichtsausdruck bemerkte, strich er leise lachend die letzten Tränen aus seinen Augen.
    „Das werden wir“, sagte er, jederlei Bedenken hinfort geweht, „Dieser Familie wird nichts mehr zustoßen. Dafür werde ich alles tun, was in meiner Macht steht und nicht zurückweichen“, seine Stimme wurde noch etwas kräftiger, „Das verspreche ich!“
    Bel nickte, bevor auch sie die Sprache wiederfand: „Ich verspreche es ebenfalls. Egal was es kosten mag, ich werde meine Familie beschützen!“


    Danach wurde das Gespräch der beiden weniger ernst. Bel erzählte Fulgor ein wenig aus ihrer Jungend und davon, wie sie sich ihre Entwicklung erkämpft und somit zur unangefochtenen Anführerin des Schwarms gemausert hatte. Sie lästerte über einige der Mitglieder, und fragte das Pikachu dann und wann nach seiner Vergangenheit. Als er nicht antwortete, bohrte sie jedoch nicht weiter nach.
    „Wir haben noch so viel Zeit, um uns besser kennen zu lernen“, sagte sie optimistisch, „Es ist nicht nötig, dass du dich jetzt sofort öffnest“
    Die Worte beruhigten Fulgor. Er fragte sich, ob er es jemals würde über sich bringen können, seiner neuen Familie von dem zu erzählen, das er seiner alten angetan hatte. Die Erinnerung schmerzte noch immer genauso sehr, wie am Morgen. Doch nun dominierte die Vergangenheit sein Leben nicht länger. Dank Bel konnte er in die Zukunft blicken. Er hatte ein Leben genommen. Indem er ein wichtiger Teil in der Vernichtung der Kreatur, die den Schwarm tyrannisierte, sein würde, würde er dafür viele retten. Irgendetwas in seinem Unterbewusstsein wollte ihn darauf hinweisen, wie paradox diese Überlegung war. Fulgor haderte mit sich selbst, ob er dem weiter nachgehen und seiner inneren Stimme ein Ohr schenken sollte, als ein aufgebracht kreischendes Kramurx ihm die Entscheidung abnahm.
    „Belhalrasu!“, es schien ganz außer Atem, als es sich endlich durch das Blattwerk bis zu Fulgor und Bel durchgekämpft hatte, „Er ist auf dem Weg! Schnell! Fast schon ist er…“
    „Genug!“, Bel unterbrach ihn harsch, bevor sie sich Fulgor zuwandte, „Da dieser ihn zuerst entdeckt hat, kommt er aus nördlicher Richtung. Mach dich bereit und denk daran: Ruf nicht nach mir!“
    Sie gebot dem Kramurx, sich zu bewegen und schwang sich etwas früher als die kleinere Krähe in die Lüfte. Wie zahlreiche Schatten folgte ihr der ganze Schwarm und verschmolz bald darauf mit der Dunkelheit des Waldes.
    Wo sie sich wohl verstecken würden? Fulgor wünschte, Bel hätte ihm noch etwas mehr zugesprochen, ihm etwas mehr Mut gemacht. Doch dafür fehlte scheinbar die Zeit. Zögerlich drängte er sich zwischen den Ästen hindurch, bis er einen besseren Blick auf die Lichtung hatte. Er spürte das Herz in seiner Brust. Wie Trommelschläge sandte es Vibrationen durch seinen ganzen Körper und brachte vor allem seine Beine zum zittern. Würde er überhaupt vernünftig fliegen können, wenn seine Muskeln zu sehr bebten? Fulgors Mund war so trocken, dass er glaubte, jeden Moment zu dehydrieren. Sofort zog es seinen Blick zu dem kleinen Teich, der still vom Mond beleuchtet da lag. Doch diese Ruhe wirkte nicht friedlich, eher tot. Wie alles um Fulgor herum. Selbst der Wind hatte sich gelegt und schwieg, versteckte sich, während er möglicherweise das Schauspiel beobachtete, dass sich ihm bald bieten würde.
    Plötzlich veränderte sich etwas. Irgendetwas drang in die Stille ein, leise und zugleich dennoch so präsent, dass allein die Anwesenheit dieses Eindringlings wie ein Schreien in Fulgors Ohren klang. Er hielt den Atem an, wurde Teil der leblosen Umgebung und beobachtete wie versteinert das Pokémon, das sich aus dem Norden des Waldes auf die Lichtung geschoben hatte. Es erschien ihm wie ein lebendes Paradox, schwarz wie die Nacht und zugleich ein leuchtendes Licht hinter sich her ziehend, dessen Ursprung Fulgor nicht auszumachen vermochte. Es war zu dunkel und er zu weit oben auf der hohen Birke, um Details erkennen zu können.
    Wie von Bel vorausgesagt bewegte sich das Pokémon zielsicher auf den Leichnam des Kramurx zu. Es gab keinen Zweifel mehr, so sehr sich Fulgor auch wünschte, es wäre nicht derjenige, den sie erwartet hatten. Lieber wäre ihm ein verirrter Wanderer, oder gar ein Hirngespinst seines vor Anspannung berstenden Körpers. Doch das Pokémon tat ihm den Gefallen nicht. Es beugte sich über den aufgerissenen Leib des toten Vogels. Fulgor saß, nur einige Meter von ihm entfernt, auf einem Ast. Dieser Räuber war ihm zu nah, viel zu nah. In diesem Moment dachte das Pikachu nicht mehr an den Plan, nicht mehr an Bel oder die anderen Kramurx. Er erinnerte sich nicht an die rot glühenden Augen eines Magnayen oder das Kreischen eines Ibitak. Ein fremdartiges Gefühl fand seinen Ursprung in seinem Innersten und breitete sich aus, spannte jeden Muskel in seinem Körper an wie die Sehne eines Bogens und schoss Fulgor selbst als Pfeil in den Himmel empor. Ohne sich umzusehen spürte er den Blick des anderen Pokémon auf sich. Für einen Augenblick lang konnte sich die seltsame Macht in seinem Inneren nicht entscheiden, ob sie den Hybriden direkt auf das Wesen hetzen und es in einen Kampf verwickeln sollte. Wie von weit her bemerkte Fulgor, dass ihn die Vorstellung daran erschreckte und zugleich einen ungemeinen Reiz auf ihn ausübte, als wäre er eine Motte die dem Licht entgegen flog, das diese Kreatur erzeugte, um letztendlich darin zu verbrennen.
    Eine blasse Erinnerung schlich sich in seinen Geist, ein charmantes Lächeln, zwei Worte: Mein Bruder. Die unkontrollierbare Macht in seinem Inneren schmolz und perlte in Form von Schweiß an Fulgors Körper hinab. Mit ihr schwand der Nebel, der seine Gedanken auf solche Irrwege geführt hatte. Er konnte sich jetzt nicht in den Tot stürzen, indem er den Kampf mit diesem anderen Pokémon suchte! Nicht jetzt, wo er eine neue Familie gefunden hatte!
    Die Erkenntnis kam fast zu spät. Gerade noch rechtzeitig konnte Fulgor sich abwenden und Richtung Osten davon fliegen, bevor auch das andere Pokémon die kurzzeitige Überraschung über sein plötzliches Auftauchen abgeschüttelt hatte. Es folgte ihm schnell. Fulgor konnte das Schlagen großer Schwingen hören, das anders klang als das Geräusch seiner oder Bels Flügel. Viel dumpfer und zugleich lauter drang es an seine Ohren, als würde sein Verfolger tatsächlich die Winde mit mächtigen Fausthieben bearbeiten, anstatt sie möglichst sanft beiseite zu schieben. Alles an diesem Wesen schien vor Grausamkeit nur so zu strotzen. Es war wie ein Fleisch gewordener Alptraum. Wie sein fleischgewordener Alptraum, der sich in der realen Welt manifestiert hatte, um Fulgor nun ein weiteres Mal zu jagen. Obwohl das Pikachu noch nicht einmal wusste, was für ein Pokémon ihn genau durch den dunklen Wald hetzte und wie es überhaupt aussah, genügte bereits dessen Ausstrahlung um ihn in Panik verfallen zu lassen. Das Geräusch seiner Flügel machte ihn verrückt, auch, da es immer lauter zu werden schien. Doch er konnte keinen Blick zurückwerfen. Noch immer war es mitten in der Nacht und der Tagesanbruch vermutlich weit entfernt. So musste Fulgor weiterhin auf das Licht der Funken, die er in seinen Wangentaschen erzeugte, zurückgreifen, um zumindest schemenhaft die Bäume um sich herum erkennen zu können. Es fiel ihm etwas leichter, ihnen auszuweichen als zu der Zeit, als das Ibitak hinter ihm hergewesen war. Kein Schmerz in seiner Schulter hinderte ihn nun daran, sich in die Kurven zu legen und an den Stämmen vorbei zu fliegen. Dennoch ging er kein Risiko ein. Er wusste, würde er gegen einen der Wächter des Waldes prallen, wären seine Überlebenschancen gering. So schnell würde Bel nicht eingreifen können. Und noch immer wurde das Flügelschlagen seines Verfolgers lauter. Fast klang es so, als sei er schon neben Fulgor. War er das vielleicht sogar? Nur ganz kurz schielte der Hybrid nach links und rechts, doch dort war nichts zu sehen, als das undurchdringlich wirkenden Unterholz. Wie lang flüchtete er nun schon? Verging die Zeit zu langsam oder zu schnell? Hatte Bel vielleicht den Anschluss verloren und ihn bereits aufgegeben? Die Sorge wuchs heran und wurde schwer wie ein Fels, der Fulgor in die Tiefe zu ziehen drohte. Erschöpfung riss an seinen Flügeln, hängte sich an sie wie Gewichte. Die kalte Nachtluft brannte in seiner Lunge, der Wind stach in seine Augen. Bald schon bedeckte ein Tränenschleier seine ohnehin eingeschränkte Sicht. Immer lauter wurde das Schlagen der Schwingen in seinem Rücken. Wo blieb Bel nur?
    Fulgor wollte sie rufen, doch ihre mahnenden Worte schwirrten durch seinen Geist. Das würde den Überraschungsangriff unwirksam machen. Er sollte ihr vertrauen. Aber was, wenn er nicht lange genug durchhielt? Wenn irgendetwas Unerwartetes geschehen war, ein anderer Jäger die Kramurx und Bel angegriffen hatte? Wie lange sollte er dann noch fliehen? Es war nicht einmal mehr eine Frage der Zeit, bis diese grauenerregende Kreatur ihn eingeholt haben würde. Gleich würde es passieren, jede Sekunde, wann immer der Jäger Lust hatte, sich auf Fulgor zu stürzen. Wenn er den Plan durchhalten wollte, musste er etwas tun. Ihm blieben nicht viele Möglichkeiten. So oder so würde diese Hetzjagd in Kürze ihr Ende finden. Doch ein wenig konnte er es noch herauszögern.
    Fulgor versuchte, seinen Verstand auszuschalten. Für diesen blieb kein Platz mehr. All seine Hoffnung legte er in seine Reaktionsfähigkeit und wich dem nächsten Baumstamm erst im allerletzten Moment aus. Einen kurzen Augenblick lang hielt er die Luft an und hoffte darauf, einen dumpfen Aufprall zu vernehmen. Doch unbeeindruckt von dem riskanten Manöver, kam das Geräusch der kräftig schlagenden Schwingen näher. Eine unbegründete Wut erfasste ihn. Fulgor hatte ein Talent für das Fliegen. Er war besser als dieses Monster, auch wenn es möglicherweise eine größere Flügelspannweite haben mochte. Immer wieder wich er den Bäumen erst dann aus, wenn er bereits meinte, ihre Rinde sein Fell streifen zu spüren. Er schraubte sich weiter in die Höhe, nur um kurz darauf in einen Sturzflug überzugehen und sich erst knapp über den Waldboden wieder zu stabilisieren. Einmal flog er in weiten Bahnen in die linke, mal in die rechte Richtung. Vergebens. Fulgors Verfolger ließ sich nicht abschütteln, nicht einmal bremsen. Im Gegenteil kam er ihm immer noch näher und das Pikachu beschlich das Gefühl, dass er mit ihm spielte. Wie die Katze mit einer Maus. Das Biest war besser, als das Ibitak und viel talentierter als Fulgor. Selbst Elektrostößen, die er dann und wann erzeugte und in den Wald schleuderte, wich der Verfolger scheinbar mühelos jedes Mal aus.
    Panik und Verzweiflung nahmen Überhand und überschwemmten Fulgors Geist. Er hatte all seine Chancen verspielt und keine Möglichkeit mehr, dem Jäger länger zu entkommen. Wo blieb Bel? Seine Flügel waren schwer wie Blei, seine Augen schmerzten. Wo nur war das Kramshef? Er weinte und keuchte, während es ihm immer schwerer fiel, sich zu konzentrieren. Die Bäume schienen immer größer zu werden, die Lücken zwischen ihnen kleiner, das Schlagen der Flügel immer lauter. Wer würde ihn retten? Bels Worte schlichen sich in seinen Geist, er sah ihr Lächeln vor seinem innerem Auge und das hämische Grinsen, das sie dahinter zu verbergen suchte.
    „Egal, was es kostet. Ich werde meine Familie beschützen“, hauchte sie und fuhr bald darauf fort, noch etwas leiser, dennoch bestimmt und inzwischen ohne jede Scheu breit grinsend, „Gierige Jäger sind dumm. Sie sind abgelenkt, wenn sie von einer Beute speisen.“, sie lachte schallend, „Ein Pikachu unter Kramurx, dass wäre doch verrückt!“
    Bevor die Vermutung in Fulgors Geist feste Formen annehmen konnte, spürte er, wie etwas gegen seinen Rücken prallte und ihn zu Boden drückte. Es ging zu schnell, um reagieren zu können. Sein Gesicht schrammte über die Erde, kleine Steine hinterließen Schürfwunden auf seiner Haut. Ein schweres Gewicht lastete auf seinem Rücken und machte es ihm unmöglich, aufzustehen. Er hob den Kopf und schrie Bels Namen, laut und den Wald gänzlich durchdringend, während er zeitgleich feuchte Erde ausspie. Augenblicklich veränderte sich die Situation. Das Gewicht verschwand so schnell, wie es gekommen war, das Geräusch hastiger, dumpfer Flügelschläge ertönte nur wenige Zentimeter über ihm. Der Jäger ließ von ihm ab und erhob sich ein weiteres Mal in die Lüfte. Fulgor drehte sich gerade rechtzeitig hustend auf den Rücken um zu sehen, wie das fremdartige Pokémon den Ast eines Baumes fixierte, aus dem Bel mit einem wilden Kampfschrei schoss. Sie stürzte direkt auf den Räuber zu und schlug ihre Krallen in sein Fleisch. Immer wieder hackte sie mit ihrem Schnabel auf ihn ein. Fulgor ahnte, dass sie möglicherweise versuchte, die Augen ihres Gegners zu treffen. Er sah, dass einige Kramurx unruhig auf den Ästen der umgebenden Bäume saßen. Doch es war ihnen unmöglich, in den hektischen Kampf einzugreifen. Wie ein lebendes Knäuel aus purer Dunkelheit führten sie einen Schlagabtausch mitten in der Luft, direkt über Fulgors Kopf. Das immer wieder erklingende Kreischen Bels ließ ihn erstarren. Atemlos verfolgte er den Kampf, keuchend und vom Entsetzen geschüttelt. Er konnte keinen einzigen Gedanken fassen, geschweige denn die Kontrolle über seinen Körper zurück erlangen. Fulgor fühlte sich machtlos, als das Kramshef erneut schrie, dieses Mal jedoch schmerzverzerrt. Sie hielt in der Luft inne und strich sich panisch mit einem Flügel durch das Gesicht, als habe sie etwas ins Auge bekommen. Doch der Kampf war bisher so unübersichtlich gewesen, die Dunkelheit nur von dem schwachen Licht, den der Jäger ausstrahlte, ein wenig erhellt, dass Fulgor nicht zu sagen vermochte, was genau geschehen war. Was folgte konnte er hingegen etwas besser erkennen. Das fremde Pokémon stürzte sich auf die kurzzeitig außer Gefecht gesetzte Bel, schien sich an ihren Schultern fest zu krallen und senkte das Gesicht über ihren Bauch. Etwas Feuchtes, Warmes fiel auf Fulgors Kopf hinab. Zunächst war es nur ein Tropfen, dann zwei, drei, vier. Zähflüssig floss es sein Gesicht hinab und über seine Stirn. Irritiert schüttelte er sich und wischte es beiseite. Als er auf seine Pfote blickte, schimmerte sie in einem blutigen Rot. Metallischer Geruch stach scharf in Fulgors Nase. Die Tropfen fielen jetzt schneller und in größerer Anzahl und noch während er zitternd auf seine Handfläche starrte, spürte er, wie die Wärme sein ganzes Fell zu bedecken schien. Der Regen wurde urplötzlich zu einem Monsun, der nur kurz anhielt und von einem markerschütternden Schrei eingeleitet wurde. Obwohl er sie schließen wollte, weil das Blut in seine Augen floss und dort brannte, riss Fulgor die Lider instinktiv auf. Doch anstatt die Welt um sich herum wahrzunehmen, starrte er in das bloße Nichts. Er hörte die Kramurx verzweifelt kreischen und wie sie hektisch mit den Flügeln schlugen, in der Ferne verschwanden.
    Auch der sehr viel lautere Schrei Bels war noch immer nicht verstummt. Nie zuvor hatte das Pikachu etwas Vergleichbares vernommen. Es war, als habe sie einen zweiten Stimmkopf in ihrem Hals gefunden, der es ihr ermöglichte, niemals wieder schweigen zu müssen. Die ganze Welt erbebte unter ihrem Ruf und Fulgor glaubte plötzlich, dem monotonen Brüllen Worte entnehmen zu können, eine Verwünschung, einen Fluch. Doch noch bevor er sich dem sicher sein konnte, verebbte die Stimme Bels langsam aber sicher, wurde zu einem Flüstern und bäumte sich in einem letzten Gurgeln noch einmal auf, bevor sie so stumm wurde, wie nie zuvor.
    Die Stille brach den Bann. Der Geruch des Blutes war dermaßen erdrückend, dass Fulgor aufhustete und würgte, während er sich so schnell er konnte aufrichtete und loslief, noch während er seine Augen rieb. Kaum war er einen Schritt gegangen, stolperte er über einen Ast und fiel hart zu Boden. Fulgor wandte den vom Aufprall schmerzenden Kopf und starrte fassungslos auf das Schauspiel, dass sich ihm in der Luft bot. Der Jäger hielt Bels regungslosen Körper noch immer fest. Blut floss von ihr hinab in Richtung Erde. Atemlos bemerkte Fulgor, dass der Mörder sein Interesse an dem Kramshef verlor und sich ihm zuwandte. Er sah, wie er die leblose Hülle des Vogels, der einmal Bel gewesen war losließ und noch während der Körper fiel, richtete das Pikachu sich hektisch ein weiteres Mal auf, flüchtete, von bloßem Entsetzen gepackt, tiefer in den Wald hinein. Fulgor rannte. Schon lange hatte er nicht mehr genügend Kraft, um zu fliegen.

  • Kapitel 8
    Letztendlich: Wut



    Raserei: In meinem Kopf regieren Zorn und Wahn.
    Der Geist versklavt und ihnen Untertan.


    -ASP: Raserei



    Es war nicht zu ertragen. Nichts von Alledem. Nicht die Dunkelheit der Nacht, die ohne Zweifel den Tag auf ewig besiegt haben musste. Nicht der Geruch des Blutes, das noch immer an Fulgor klebte und sich in den Kopf gesetzt hatte, ein Teil von ihm zu werden, indem es sich fest in sein Fell krallte. Nicht der Gedanke an Bels Tod. Schon gar nicht der an ihren möglichen Verrat. Das Geräusch der schlagenden Flügel, brechender Äste, seine eigenen keuchenden Atemzüge, waren nicht zu ertragen. Nicht auszuhalten. Also blieb ihm nicht viel, an das er denken konnte.
    Fulgor konzentrierte sich auf seine Füße, die auf weiche Erde trafen. Bei jedem Schritt versank er, kaum noch wahrnehmbar, in dem immer trockener werdenden Waldboden. Es war, als schmiege sich der Grund halbherzig an Fulgor und versuche ihn zu halten, bis er bemerkte, dass es das Pikachu in die Ferne zog. Die versessendsten Krümel jedoch wollten ihn nicht so schnell freigeben und reisten eine Weile wie unglücklich Verliebte mit ihm, bis er sie bei irgendeinem der vielen Schritte verlor. Nur den Wenigsten gelang es, an kleinen Fellbüscheln einen sicheren Halt zu finden, wenn die nach hinten zeigende Zehe seiner Füße unbedacht die Erde aufwühlte und ein Stück weit in die Luft schleuderte. Auf Fulgors Rücken zeichnete sich bald ein paradoxes Kunstwerk ab. Leblose, lebenspendende Erde inmitten lebendig schimmernden, den Tot selbst bezeugenden, Blutes. Abstrakt vermischten sich Braun und Rot auf der gelben Leinwand, die im vorbeiziehenden Wind zitterte, sich immerzu veränderte, nie still stand.
    Zu spät bemerkte er, dass seine Gedanken weit abgeschweift und dabei durch Zufall in einem großen Kreis gelaufen waren. Nun war sie wieder da, die kalte, dunkle Realität. Die Erinnerung an rotes Blut hatte sie zurück gebracht. Der Boden unter seinen Füßen hatte seine Bedeutung als willkommene Ablenkung verloren und erinnerte nunmehr lediglich daran, dass Fulgors Kraftreserven sich dem Ende neigten und er daher an den Boden gefesselt blieb. Das Gefühl, vom Tod selbst verfolgt zu werden, war seltsam. Fulgor hatte es sich stets anders ausgemalt und auch der Traum der vergangenen Nacht hatte ihm ein falsches Bild suggeriert. Laut müsste so ein Wesen sein, dass den Mantel der Vernichtung zur Zier trug. Laut und groß; Sonne, Mond und Sterne verdunkelnd. Doch der Jäger, der ihn verfolgte, war leise, zerbrach keine Äste oder entwurzelte ganze Bäume. Er brüllte, kreischte und heulte nicht wie es Magnayen, Ibitak oder - Traumbildern zu Folge - auch Raikous und Zapdos zu tun pflegten. Dieses Wesen war etwas Schlimmeres und ließ Fulgors Vorstellungen vom Tod und seine Ängste vor diesem kindisch und naiv erscheinen. Fulgor hatte sich gefürchtet, als ihm Magnayen und Ibitak beinahe das Leben gekostet hatten. Doch nun wusste er, dass sie höchstens unwürdige Diener darstellten, während das Wesen in seinem Rücken eine faszinierende Perfektion in der Kunst des Tötens erreicht zu haben schien. Es musste so sein. Warum sonst verspürte das Pikachu die kaum noch zu bändigende Lust, stehen zu bleiben und in das Gesicht dieser Kreatur zu sehen, sie regelrecht in sich aufzusaugen und nie wieder zu vergessen, auch nicht im Angesicht seiner eigenen Vernichtung? Das Gefühl erschrak ihn. Hatte er den Sinn für das Leben verloren und schrieb einem Mörder daher solche Faszination zu? Er wollte weiter darüber nachdenken, die Lösung zu fassen bekommen, die ihm immer wieder durch die Pfoten glitt und zerbrechen würde, wenn er sie zu fest hielt. Ein Gedanke in ihm röchelte sterbend, dass er seinen Verstand verloren hatte. Das er sich fürchten sollte. Rennen.
    »Sieh dir Bel an! Schau, wie sie starb! Schau!«, kreischte der letzte Funken Vernunft heiser.
    Fulgor hörte ihn und wandte seinen inneren Blick auf Bel. Sie lächelte, schmolz wie roter Wachs, riss den Schnabel auf und schrie so laut, dass er fürchtete, taub werden zu müssen. Neben ihr ein Schatten, schwarz und rot. Noch einen Moment lang hatte dieser seinen Kopf in die Richtung des sich auflösenden Kramshef gewandt, dann blickte er ruckartig zu dem Pikachu hinüber.
    Das Schlagen der Schwingen war lauter geworden. Viel lauter. Es musste direkt neben Fulgor sein. Noch eine Sekunde und das Biest würde ihn packen und zerreißen, wie es zuvor mit Bel geschehen war. Es hatte seiner Schwester den Tot gebracht, nun würde es auch ihn bei der Hand nehmen. Ob er wollte, oder nicht. Was tun? Sich dem Unvermeidbaren ergeben? Weiterrennen? Das dumpfe Geräusch der gnadenlos weiter schlagenden Flügel überdeckte inzwischen jeden anderen Laut. Bis Fulgor zögerlich nach links schielte, wo er deren Besitzer vermutete. Er hoffte, der Anblick des Schreckens möge ihm die Antwort geben können, wie er sich zu verhalten hatte. Doch was er erblickte, spottete jeder seiner Vorstellungen. Gelbe und schwarze Federn, allesamt spitz zulaufend, wie Reißzähne. Oder wie Krallen. Das Wesen verschwand immer dann aus Fulgors Sichtfeld, wenn sich ein Baum zwischen die scheinbar einträchtig nebeneinander her rennenden und fliegenden Pokémon schob. Ungläubig wollte der Hybrid stehen bleiben, um den Vogel genauer betrachten und zu dem Schluss kommen zu können, dass er ein Trugbild war. Doch sein Instinkt trieb seine Beine weiter vorwärts, wohl wissend, dass das Leben seines Besitzers weiterhin in höchster Gefahr schwebte. Allerdings konnte er Fulgor nicht daran hindern, den Kopf nun gänzlich dem Zapdos zuzuwenden, das neben ihm flog. Es lächelte.
    „Und jetzt“, erklang die Stimme Bels in seinem Kopf, so freundlich und lebendig wie er sie in kürzester Zeit lieben gelernt hatte, weil ihm keine andere Auswahl geboten worden war, „Sieh!“
    Der große, gelbe Donnervogel riss den Schnabel auf. Die Erinnerung an eine Welle aus Blut und Speichel wurde zu einer bösen Vorahnung, der Fulgor zu entgehen suchte. Die Frage, was Traum und was Realität war, war schon lange in seinem Geist verwischt. Somit konnte die Furcht vor dem Jäger, der ihn weiterhin verfolgte, keinen größeren Schrecken erzeugen, als die Vorstellung daran, erneut von dem Zapdos mit Körperflüssigkeiten übergossen zu werden.
    Fulgor bremste seinen Lauf und hechtete mit einem großen Satz nach Rechts, den Blick dabei weiterhin auf den Vogel haltend. Die Aufregung drohte ihn zu zerreißen und machte ihn zugleich unachtsam. Sein Sprung war schlecht abgeschätzt und wäre beinahe in dem Zusammenprall mit einem Baum geendet. Nur aus dem Augenwinkel heraus erkannte Fulgor seinen Fehler und versuchte panisch, ihn irgendwie zu korrigieren was ihm jedoch, trotz seiner Flügel, nur halbwegs gelang. Anstatt frontal gegen den Stamm zu stoßen brachte ein mächtiger Schlag seiner Schwingen ihn in rasender Geschwindigkeit knapp an diesem vorbei, wobei er bald darauf jedoch einen anderen Baum streifte und abrupt, mehr vor Schreck als Schmerz, komplett den Halt verlor. Fulgors Füße rutschten sobald er den Boden berührte und er fiel strauchelnd in einen der Büsche des Waldes hinein. Kleine Dornen rissen empört über ein so plötzliches Eindringen an seinem Fell. Er spürte, wie die feinen Haare aus seiner Haut gezerrt und sein Fleisch aufgeschnitten wurde, doch der schwache Schmerz konnte ihn inzwischen nicht mehr beeindrucken. Nur allzu schnell war das Gefühl der Pein abgeschüttelt, der Schock des Sturzes verdaut und all seine Sinne ein weiteres Mal auf seinen Verfolger ausgerichtet. Fulgor war in angespannter Stille erstarrt, den Blick aufmerksam in die Dunkelheit des Waldes gerichtet mit nervös zuckenden Ohren, bereit, auf jedes noch so kleine Geräusch sofort zu reagieren. Seine empfindlichen Vibrissen bebten ungläubig, als ihn nach einigen Sekunden in furchtsamer Bewegungslosigkeit die Erkenntnis traf. Das Zapdos war fort und mit ihm waren auch die dumpfen Flügelschläge verschwunden, wie ein Traumbild mit dem Augenaufschlag.
    Fulgor wusste nicht, ob er erleichtert oder verschreckt sein sollte ob der Tatsache, dass er vermutlich tatsächlich den Verstand zu verlieren drohte. Er war sich sicher, dass das schwarze grausame Wesen genauso wenig Illusion gewesen war, wie der elegant anmutende Körper des Zapdos. Bel war vor seinen Augen gestorben, er sah das blutbefleckte Bild noch vor sich, ihren aufgerissenen Körper und spürte, wie ihr markerschütternder Todesschrei seine Nerven weiterhin zum Schwingen zu bringen schien. Es konnte kein Traum gewesen sein, keine Einbildung seinerseits. Das durfte es nicht sein! Es würde bedeuten, dass er tatsächlich verrückt geworden war und dass ihn seine Sinne betrogen, wie es scheinbar das gesamte Leben selbst tat.
    Verwirrt von seinen eigenen Gedanken kniff Fulgor die Augen zusammen, bis seine Lider schmerzten. Sicher gab es eine andere, eine bessere Erklärung. Aus irgendeinem Grund mussten beide seiner Verfolger von ihrer Hetzjagd abgelassen haben. Möglicherweise tat sich die schwarze Bestie weiterhin an Bels Körper gütlich und hatte ihn selbst niemals beachtet. Die lauten Flügelschläge waren die des Zapdos, das wohl nicht wirklich das legendäre Pokémon war, gewesen. Vermutlich hatte es sich um einen großen Vogel gehandelt. Ein Tauboss oder Staraptor, das er in all seiner Panik mit der schrecklichen Traumgestalt verwechselt hatte.
    Wie auch immer die Wahrheit aussehen würde, Fulgor konnte nicht riskieren, noch länger an Ort und Stelle zu verweilen und darauf zu warten, dass irgendetwas passierte. Immerhin war nicht auszuschließen, dass das fremde Wesen inzwischen von Bel abgelassen hatte und noch nicht willens war, die mitternächtliche Mordserie abreißen zu lassen.
    Mit vor Schock und Verwirrung noch immer zitternden Beinen richtete das Pikachu sich auf. Seine Flügel schmerzten nicht weniger, als seine Füße und hätte sich nicht noch immer ein Funken der Angst in seinem Herzen fest gekrallt, hätte er möglicherweise auf eine erneute Flucht verzichtet.
    Fulgor wusste, dass er eigentlich weiterhin von großer Furcht erfasst sein sollte, doch stattdessen fühlte er nur eine seltsam entspannte Gleichgültigkeit, je mehr er darüber nachdachte, wie viel Kraft ihn dieser einzige Tag in Einsamkeit bereits gekostet hatte. Körper und Seele des jungen Pikachu waren müde und sehnten sich nach einem Moment der Ruhe. Es war sein Verstand, der ihn vorwärts trieb. Nicht nur heraus aus dem Gestrüpp aus Dornen. Er riet Fulgor, sein Glück in der Ferne zu suchen, weit weg von diesem verfluchten Wald und all seinen Dämonen. So müde das junge Pikachu auch war, es konnte diesem Vorschlag nur wenig entgegensetzen, auch wenn er mit einem weiten Marsch in Verbindung stand. Zunächst einmal musste er möglichst schnell möglichst viel Abstand zwischen sich und das schwarze Ungetüm bringen, dass ihn einer möglicherweise ertragbaren Zukunft beraubt hatte. Auch wenn mit jeder vergehenden Minute die Sorge darum, dass sein Hunger noch nicht gestillt war und nun Fulgor galt, weiter schwand.
    Zwei ungehinderte Schritte schenkte das Schicksal dem Pikachu, bevor es sich wieder voller Bösartigkeit aufbäumte. Der Moment, in dem sich ein mächtiger Körper gegen seinen Rücken warf und ihn so zu Fall brachte, war ein grauenhaftes Déjà-vu das Fulgor noch mehr Atem raubte, als sein unsanfter Aufprall. Zugleich weckte es seinen unruhig schlafenden Überlebensinstinkt innerhalb so kurzer Zeit, dass das Pikachu selbst kaum bemerkte, das er seinen Körper in einen mächtigen Blitzschlag hüllte. Was er sehr wohl spürte, war das Zurückweichen seines Angreifers.
    Fulgor kämpfte sich auf seine Füße und breitete zitternde Schwingen aus. Ein letztes Mal noch würde er sich zu einem Flug zwingen müssen. Mehr Energie würde ihm nicht bleiben. Er dachte kaum bewusst darüber nach und schraubte sich in die Höhe, vorbei an aus dem Waldboden ragenden Wurzeln, Stämmen und Baumkronen.
    Der Nachthimmel über dem schier endlos erscheinenden Wald strahlte, erhellt von Mond und Sternen, als wolle er dem Tag den Rang streitig machen und nur wenige Wolken zogen ruhig ihres Weges, ohne Hast.
    Fulgor war ihr genaues Gegenteil, schob sich blitzartig durch die Lüfte, nun ohne jede Vorsicht. Er hatte nur die Wahl, aus Unvorsicht abzustürzen, oder sich von seinem Verfolger einholen zu lassen. Wie es ihm seine Natur vorschrieb, hatte er sich für die Flucht, anstelle der Konfrontation entschieden. Er hatte aufgegeben, in dem Wald nach einem möglichen Versteck Ausschau zu halten. Die vielen Pflanzen waren nicht seine Verbündete, sondern seine Feinde, die seinem Gegner zu viele Versteckmöglichkeiten boten. Der Himmel, indem sich seine Blitze frei entfalten konnten, wenn es nötig sein sollte, konnte ihm mehr Unterstützung bieten.
    Also stürzte er weiter vorwärts, den Horizont fest im Blick, Schmerz und Müdigkeit vergraben unter einer matschigen Schicht aus Adrenalin. Unter ihm lichteten sich die Baumreihen, über ihm schob sich ein Schatten vor das Licht des Mondes. Fulgor war zu schnell für den Wald und zu langsam für den Dämon, der scheinbar weiterhin an der unbarmherzigen Hetzjagd festhielt, als bereite sie ihm große Freude. Ganz langsam bemerkte Fulgor, dass die Wut seine Angst zurückzudrängen schien. Zunächst kaum spürbar, bald so stark, dass seine Zähne unruhig zu mahlen begannen.
    Er dachte bei sich, dass dies eine Welt voller Monster war. Pichu, Pikachu, Raichu. Ibitak, Magnayen. Kramurx, Kramshef. Wesen, die man fürchtete. Jedes von ihnen auf seine Weise. Und eines, das von ihnen allen als Monster bezeichnet wurde, als ungehöriger Fehler der Natur. Er hatte es gesehen, in braunen, blauen, gelben, grünen und roten Augen. Ohne ein Wort hatte er die empörten Ausrufe der anderen Pokémon wahrgenommen, selbst die derer, die ihn nur zu verspeisen gedachten.
    Es lag in der Natur eines Pikachu, zu flüchten.
    Fulgor bremste seinen Flug. Er spürte, wie der kühle Nachtwind seine Flügel sanft streichelte. Es roch nach einem Sturm. Die angespannte Luft hing schwer über der Welt, das heraufziehende Gewitter voller Anspannung erwartend.
    Es lag in der Natur eines Panzaeron, zu jagen.
    Fulgor warf einen Blick nach oben. Das schwarze Ungetüm schwebte über ihm, offenbar irritiert über das abrupte Ende dieser einseitigen Jagd. Wie viele Meter mochten es wohl sein, die zwischen ihm und seinen drohenden Tod lagen, diesem fremdartigen Wesen aus reiner Dunkelheit, das einen kleinen Kreis runden Lichtes hinter sich her zog?
    Wieder fühlte Fulgor eine seltsame Regung in sich, ein ruheloses Streben, der beginnende Flug einer Motte zum Licht. Er hatte es schon verspürt, als er dieses Wesen das erste Mal erspäht hatte. Kaum eine Stunde war seitdem vergangen und doch erschien es, als müsse die Birke, auf der Fulgor angespannt das Auftreten des von Bel verheißten Raubtieres erwartet hatte, inzwischen bereits verrottet sein. Damals hatte die Angst ihn zurückgehalten, sein Verstand und sein Instinkt. Alle drei waren ihren Aufgaben an diesem Tag zu genüge nachgekommen. Sie traten einen Schritt zurück.
    Fulgor verringerte die Distanz zwischen sich und seinem weiterhin ruhig in der Luft schwebenden Verfolger. Wie selbstsicher musste dieses Wesen sein, dass es trotz des offensichtlichen Taktikwechsels seiner äußerst wehrhaften Beute keinerlei Anstalten machte, sich auf einen Angriff vorzubereiten? Wie sehr musste es Fulgors Kräfte unterschätzen?
    Er dachte an das Ibitak, dass unter seinen Blitzschlägen das Weite zu suchen gezwungen gewesen war.
    Er erinnerte sich an das frustrierte Heulen des Magnayen, als ihm seine flinke Beute auf gänzlich unerwartete Art entwischte.
    Ein weiteres Mal sah er Janan in den Abgrund stürzen, den er selbst ohne Probleme und mit sicheren Flügelschlagen überwunden hatte.
    Das verschwommene Bild eines Pikachu, das hilflos wie eine Puppe von der Übermacht eines Monsters in seinen Tod geschleudert wurde, blitzte vor seinem inneren Auge auf.
    Im Angesicht des Dämons über ihm, erschien Fulgor diese Erinnerung urplötzlich als äußerst nützlich. Der Gedanke erschreckte ihn nur für einen Moment. Zu schnell wurde er von einer eisigen Kälte überdeckt und noch bevor das Pikachu an all dem festhalten konnte, was Illia und Artras ihm gelehrt hatten, hatte sich sein heißes Blut in einen Eisstrom verwandelt.
    Sein Gegenüber war die Verkörperung all dessen, was Fulgor angetan wurde. Ein wahres Monster, ein Mörder, wie die meisten Pokémon, die er selbst je getroffen hatte. Der Räuber seiner Zukunft, der Stehler seines Verstands, der Erzfeind, den es zu erledigen galt. Er war das Ziel seines Lebens, der Sinn seiner Existenz, in einer seltsamen Form der Koevolution, selbst weit von ihm entfernt, mit ihm zusammen gewachsen, als seien sie zwei Parasiten, die dem jeweils anderem seinen Wirt stahlen mit dem festen Ziel, dem Konkurrent seiner Lebensgrundlage zu berauben.
    Fulgor schlug mit den Schwingen und vernahm das dumpfe Geräusch verdrängten Windes, der ihrer Macht erlag. Seiner Macht.
    Er spürte die Elektrizität, die kribbelnd in seinen Backentaschen auf ein Zeichen zum Angriff wartete und das Zucken der kräftigen Muskeln in seinen klauenbewehrten Füßen.
    »Wer bist du, dass ich dich fürchten sollte?«, rief er und meinte, zu schreien.
    In Wahrheit jedoch hauchte sein erschöpfter Körper die Worte nur. Die Welt um Fulgor herum verschwamm zusehends, doch er bemerkte es kaum, während der aus Wut geborene Wahn sich fest in seinem Herzen verbiss und in sekundenschnelle Geist und Seele überwucherte. Funken sprühten aus seinen Wangen, als er mit einem kräftigen Flügelschlag in einen wilden Angriff überging.
    Seine Wut: Nicht zu halten. Seine scheinbare Stärke: Illusion.


    Als sich das wild gewordene Pikachu auf ihn stürzte, ließ sich Nigrum einfach in die Tiefe fallen. Die ledrigen Schwingen lagen eng an seiner Haut, während er in Richtung Erdboden gezogen wurde. Nur wenige Sekunden, ergab er sich der Schwerkraft, bevor er seine Flügel wieder ausbreitete und problemlos einen starken Windstoß abpasste, der seinen Körper nach vorne schob. Dem Pikachu gelang dies natürlich nicht, aber zumindest war es geschickt genug, nicht auf dem Erdboden zu zerschellen. Es wunderte Nigrum kaum, hatte er sich doch schon die vergangene Stunde von den unausgereiften aber dennoch offensichtlich vorhandenen Flugkünsten der Elektromaus überzeugen können. Allerdings war dies wohl kaum derjenige Aspekt, der ihn am meisten verwirren sollte.
    Nigrum hatte in seinem nicht allzu langen Leben schon viele Pikachu gesehen. Die Biester waren überall, fast so schlimm wie Rattfratz oder Bidifas. Oder alle anderen Nager, die diese Welt überfluteten mit ihrer absolut unverhältnismäßigen Anzahl an Nachkommen, die stets in Wellen geboren zu werden schienen. Nur hatten die Elektromäuse die unangenehme Eigenschaft aufgrund ihrer Fähigkeiten etwas wehrhafter zu sein. Nicht, dass es ihn gestört hatte standen sie doch in der Regel sowieso nicht auf seiner Speisekarte. Allerdings hatte er bisher nur wenige gesehen, die einen Kampf suchten. Heißblütige, übermutige und dumme Exemplare, die im Regelfall in ihrem eigenen Blut ertranken. Natürlich hatte er dieses Individuum in die Enge gedrängt, möglicherweise etwas zu sehr und Nigrum musste gestehen, dass es ganz sicher nicht der Hunger gewesen war, der ihn getrieben hatte, sondern eine bloße, seltsam fremde Neugier. Es gab keine Pikachu mit Flügeln. Dennoch hätte er diese Hetzjagd schon lange beenden sollen, auf welche Art und Weise auch immer. Kein Wunder, dass seine Beute nun in einen Angriff überging. Nur äußerst überraschend, dass es kein verzweifelter war. Da war keine Angst mehr in den sicheren Flügelschlägen, kein Zittern in dem geschwächten Körper, kein Zögern in den wütenden Angriffen, die Schlag auf Schlag folgten und für Nigrum als geübten Flieger doch keinerlei Gefahr darstellten. Zugegeben, er musste schnell reagieren um den torpedoähnlichen Attacken des Pikachu auszuweichen, aber es machte es ihm doch um einiges einfacher, dass keinerlei Strategie hinter ihnen steckte. Nur Wut. Übermut. Lachhaft und doch zugleich nahezu amüsant, aber auch unnötig und nervend. Nigrum wurde des bloßen Ausweichens müde. Flinkes, fliegendes Flattermäuschen hin oder her, es wurde Zeit für einen Gegenangriff. Das würde wohl reichen, um das Pikachu wieder dorthin zu bringen, wo es hingehörte: Auf den Erdboden. Oder auch unter den Erdboden.
    Nigrum schob sich mit sanften, aber flinken Flügelschlägen ein Stück rückwärts. Der Luftstrom war an dieser Stelle stärker, fast wie ein reißender Fluss und damit genau das, was er brauchte. Das törichte Pikachu spielte ihm nur in die krallenbewehrten Hände, als es einen weiteren Frontalangriff startete. Nigrum hatte den besseren Wind, den kräftigeren Körper und die geübteren Fähigkeiten. Nur wenige, kräftige Flügelschläge ließen ihn nach vorne schießen. Er hatte kaum zwei Sekunden, um sich für den Aufprall zu wappnen. Mehr als genug Zeit. Der Zusammenstoß war heftig und Nigrums Knochen zitterten merklich, als zögen die aufgebrachten Muskeln zu kräftig an den Sehnen. Der Schmerz durchfuhr seinen Körper wie ein Blitz, was im Hinblick auf seinen Gegner durchaus eine gewisse Ironie mit sich brachte. Er hatte doch mit etwas weniger Widerstand gerechnet, aber das Dröhnen in seinem Schädel war ihm nur allzu bekannt und vermochte ihn kaum aus der Ruhe zu bringen. Ein kurzer Fall, ein kurzes Schlingern und schon hielt Nigrum sich wieder mit geübter Leichtigkeit in der Luft, die Winde für ihn genauso sicher wie fester Erdboden. Ganz anders erging es seinem vollkommen unterlegenen Gegner. Das Pikachu raste mit genugtuender Geschwindigkeit auf die Erde zu, offensichtlich bewusstlos. Irgendwie erschütterte es Nigrum, dass er es so einfach geschlagen hatte. Er wusste nicht, warum er so empfand. Was konnte man schon erwarten, bei einer fliegenden Elektromaus? Wo war es überhaupt hergekommen? Noch nie hatte er ein derlei falsch wirkendes, verzerrtes Pokémon gesehen. Die Flügel waren doch vollkommen deplatziert gewesen und die Beine viel zu lang. Die Beine eines Vogelpokémon, nicht die eines Pikachu. Aber vielleicht war es gar keines gewesen, sondern ein verkleidetes Kramurx. Immerhin hatte es mit diesen Ratten der Nacht ganz offensichtlich gemeinsame Sache gemacht.
    Nigrum verzog die Mundwinkel zu einer selbstironischen Grimasse hinsichtlich seiner kindischen Gedanken. Es war lange her, dass ihn Neugier übermannt hatte. Vielleicht verwirrte sie gerade deshalb seinen sonst so klaren Geist so sehr. Ein verkleidetes Kramurx, das er nicht sofort als solches enttarnt hätte, das war doch wirklich lächerlich! Außerdem war es auch vollkommen egal, wer oder was dieses seltsame Pokémon gewesen war. Es ging ihn nichts an, solange es sich nicht zum Verzehr eignete und Nigrum verspürte nicht den Hauch von Appetit. Ganz abgesehen davon, dass geplatztes Fleisch nicht gerade zu seinen Lieblingsspeisen zählte.
    Der strahlend helle Mond warf sein Licht über die gesamte Weite des scheinbar endlosen Himmels und kratzte an der Ferne am Horizont, zu dem es Nigrum nun wohl ein weiteres Mal ziehen musste. Von irgendwoher war ein schwaches Donnergrollen zu vernehmen. Der Wald war ein gutes, aber zu einfaches Jagdgebiet gewesen. In den Kramurx hatte er leichte, sättigende Beute gefunden. Doch nun, wo ein nicht unbedeutend großer Teil ihrer Anführerin in seinem Inneren ruhte würden sie sich wohl aus dem Staub machen und er hatte nicht vor, sich mit lächerlich kleinen Rattfratz zufrieden zu geben. Er würde einen anderen, besseren Platz finden an dem er sich die Nahrungskette hinauf kämpfen konnte. Der Wald war sowieso nur ein Zwischenstopp gewesen. Es wurde Zeit, weiterzuziehen und endlich einen Ort zu finden, an dem das Leben ihn herausfordern und nicht erbärmlich versagen würde. Es war eine gute Nacht zum Fliegen. Eine stille Nacht, die seinen Gedanken möglicherweise etwas zu viel Spielraum lassen würde.
    Urplötzlich explodierten seine Nerven in einem grellen Blitz aus Licht und Elektrizität. Das unkontrollierbare Zucken seiner Muskeln machte aus seinen Flügeln nutzlose, im Wind flatternde Hautlappen. Seine Gedanken taumelten im Sturzflug wie sein Körper, überschlugen sich, stürzten über-, und durcheinander. Doch der Blitz, der wohl kaum einem plötzlich aufgezogenen Gewitter zuzuschreiben war, hatte nicht die Stärke die es gebraucht hätte um Nigrum lange außer Gefecht zu setzen oder gar zu töten. Tatsächlich wirkte er vergleichsweise schwach wenn man bedachte, welche Attacken Nigrums Körper bereits hatte überstehen müssen. Er begann schnell, seine Muskeln wieder zu spüren, ordnete seine Gedanken und fing sich noch bevor er die Kronen der Bäume berührte. Ebenso reibungslos ging er in einen Gegenangriff über. Ein Pikachu konnte nicht achtlos mit Blitzen um sich schleudern. Es würde Zeit brauchen, um seine Wangen ein weiteres Mal mit Elektrizität zu füllen und zugleich sparsam mit dieser Energie umgehen müssen, damit sie ihm nicht ausging. Nicht gerade die besten Vorraussetzungen um sich mit Nigrum messen zu können, der grundsätzlich den Nahkampf bevorzugte und dem zumindest die Hitze der Blitze kaum etwas anhaben konnte. Seine scharfen Augen erblickten die Elektromaus, die sich höher in den Himmel geschraubt hatte, fast augenblicklich. Wie ein schwarzer Schatten stürzte sich Nigrum mit erschreckender Geschwindigkeit auf seinen Gegner, die ausgefahrenen Krallen voran. Doch ganz entgegen all seinen Vermutungen konnte er sie nicht mühelos in dem Fell der Elektromaus vergraben. Viel mehr kratzten sie wirkungslos an der plötzlich stahlharten Haut, die das Licht des Mondes wie eine stete Wasseroberfläche reflektierte. Das wirre Leuchten in den Augen des Pikachu schien nicht weniger hell, als es seinerseits nach den Pfoten Nigrums schnappte, in wildem Wahn seine ungeeigneten Nagezähne in ihn schlagen wollte. Mühelos entging er dem lächerlichen Versuch eines Gegenangriffs, fuhr herum und stieß seinen langen, schuppenbedeckten Schweif kraftvoll in die Rippen des kleinen Körpers. Die Funken, die aus der Flamme an seiner Schwanzspitze stoben verteilten sich auf dem Gesicht des Pikachu. Zu seiner erneuten Überraschung kreischte es nicht auf, als es die Augen schützend vor der schmerzenden Glut verschließen musste, doch die stählern glitzernde Haut verlor unter der Hitze ein wenig an Konstanz. Ein winziger Tropfen perlte herab, als weine sie in stummer Qual. Das gestaltete die Sache etwas komplizierter. Nigrum würde einen Teufel tun, sein kostbares Feuer in einem sinnlosen Kampf wie diesem zu verschwenden. Das Pikachu war geblendet, abgeschreckt und offensichtlich jung und unerfahren, zugleich jedoch auch beinahe immun gegen physische Attacken.
    Mit kräftigen Flügelschlagen brachte er eine möglichst große Distanz zwischen sich und das andere Pokémon und schob sich zugleich näher in Richtung Horizont. Selbstverständlich war spätestens jetzt ohne jeden Zweifel klar, dass mit diesem Pokémon, diesem Wesen, etwas nicht stimmte. Doch Nigrum hatte keinerlei Interesse an derlei Fremdartigkeit, Individualität oder Außergewöhnlichkeit. Es war etwas, von dem er sich genauso fern hielt, wie von allen anderen Pokémon. Was hätte es schon für einen Sinn, dieses Pikachu zu töten solange er es nicht musste?
    Hinter ihm begann die Luft zu vibrieren, als sie gewaltsam bei Seite gedrängt wurde. Alarmiert schlug Nigrum einen Haken und entging der Rammattacke, die aufgrund des stahlharten Körpers seines unnachgiebigen und törichten Gegners sicher nicht zu unterschätzende Schäden hinterlassen hätte. Wütend geworden fletschte er die Zähne. Gutmütigkeit war eben doch verzichtbar und reine Zeitverschwendung. Sollte es sich doch seinem Tod entgegenstellen, wenn es die ewige Finsternis so sehr begehrte!
    Nigrums Blick fiel auf den nicht mehr weit entfernten Waldrand. Der Boden schien dort abzufallen, wo sich ein Fluss, der inzwischen zu nicht viel mehr als einem Bach verkümmert war, im Laufe der Jahrhunderte ein tief liegendes Bett gegraben hatte. Zwar war dies nicht das perfekte Terrain, jedoch wäre der Kampf dort schneller beendet als in den luftigen Höhen in dem einem Flammenstrahl nur allzu leicht zu entkommen war. Ein weiteres Mal legte Nigrum die Flügel an und schoss in Richtung Waldesrand. Der Wind zerrte an seinem Fell und lockte Tränen in seine Augen, doch war ihm dieser Umstand so bekannt, dass er sie nicht einmal bemerkte. Das Pikachu folgte ihm wie erwartet weniger elegant und schleuderte ihm einen von Zorn angefüllten Blitzschlag hinterher als ihm bewusst wurde, dass es ihn nicht einfach so einholen konnte. Natürlich war Nigrum darauf vorbereitet gewesen und bereit, bei jedem noch so kleinen Anzeichen von knisternder Elektrizität in der Luft eine andere Flugbahn einzuschlagen. Doch dies stellte sich als unnötig heraus. Der Blitz verlor sich noch bevor er ihn erreichen konnte. Dem Pikachu schien allmählich die Energie auszugehen. Es musste verrückt geworden sein, trotzdem nicht die Chance zur Flucht zu nutzen. Immerhin würde sein verzweifeltes Streben nach dem Geschmack des Sieges so noch schneller ein Ende finden. Nigrum bremste seinen Flug und warf einen Blick zurück. Schon sah er die wild gewordenen Elektromaus in der Ferne in seine Richtung hetzen. Sein Plan ging auf. Mit der Ruhe der Routine hielt er sich noch einen Moment länger reglos in der Luft, bevor er ruhig und ohne Hast zum Landeflug ansetzte. Er landete in dem Bach, der mit etwa zehn Metern ungewöhnlich breit war, dessen ruhig dahin fließendes Wasser Nigum jedoch kaum bis an die Knie reichte. Fast augenblicklich kletterte ein drückender Schmerz seine Hinterbeine hinauf. Nigrum schob ihn geflissentlich beiseite und richtete all seine Sinne auf den Abhang und den Himmel darüber. Nur wenige Pflanzen krallten sich in den steilen Erdboden, die meisten davon Moos deren Geflecht die braune Erde überzog und grünlich schimmern ließ. Er konnte riechen, wie das Pikachu sich näherte und die Luft, erfüllt von Elektrizität, zu vibrieren begann. So überraschend die körperlichen Eigenschaften der Elektromaus auch sein mochten, so konnte ihn der drohende letzte Schlagabtausch doch nicht aus der Ruhe bringen. Das Leben hatte ihm noch nie wirklich etwas entgegensetzen können. Wenn diese Form der Verhöhnung alles war, was es zu bieten hatte, so würde er dem genauso gelassen entgegentreten wie er es immer zu tun pflegte. Er atmete tief aus und erzeugte dabei ein Geräusch das an ein Feuer erinnerte, das überraschend von einem Strahl Wasser gelöscht wurde. Ein wenig Dampf stob aus seinem geöffneten Maul, als die Temperatur in seiner Brust stieg bis seine Lungen anzuschwellen schienen. Über ihm schob sich die Silhouette des Pikachu vor den halbrunden Mond. Das Licht verfing sich in der glänzenden Haut wie ein Rattfratz in den Fängen eines lautlosen Jägers. Letztendlich war es jedoch die Elektromaus, die in die Falle getappt war. Nigrum ließ die Hitze noch einen Augenaufschlag länger anschwellen und würgte sie dann mit einer kräftigen, gleichmäßigen Bewegung seiner Muskeln seinen Hals hinauf. Das Gas entzündete sich sofort, als es mit der Luft in Berührung kam. Nigrum spie dem Pikachu einen gewaltigen Strahl aus glühend heißem Feuer entgegen, das die Luft zum flimmern brachte. Obwohl es dem schlimmsten entging, indem es sich mit dem für Pokémon seiner Art typischen Fluchtinstinkt in Sicherheit brachte, versengte die Flamme doch zumindest einen Teil seines linken Ohres und seiner Wange. Es fiel mehr als zu landen und sank schmerzverzerrt auf die Knie, sodass das kühle Wasser bis an seinen Bauch hinanreichte. Nigrum spürte die alte, genüssliche Vertrautheit des letzten Augenblicks eines gewonnen Kampfes. Der Todesstoß war wie eine Trophäe, die er in Form einer golden glänzenden Erinnerung bewahren konnte. Doch als er auf das Pikachu zuging und schon so nah war, dass er seine vor Glut rötlich tränenden Augen erkennen konnte, überkam ihm ein dermaßen überwältigendes Gefühl von Triumph, dass er erstarrte. Verwirrt ließ er seinen Blick nach links und rechts schweifen und suchte nach einem Grund für diese Flut von Emotion. Das Pikachu war kein Gegner gewesen, hatte ihm höchstens einen außergewöhnlichen Kampf nicht jedoch jenen, nach dem er sich immer gesehnt hatte, geboten. Es war nur ein Kind, das nun kraftlos auf seinen Knien lag, wild zwinkernd und mit den Ohren wippend. Auf seinen langen Beinen war es beinahe genauso groß wie Nigrum, doch in dem derzeitigen Zustand berührte es nicht einmal sein Kinn. Noch immer kämpfte es mit dem Schmerz und den Verbrennungen, die seine Haut zu schmelzen schienen. Winzige, silberne Tropfen fielen in das Wasser des Baches, das mit einem wütenden Zischen antwortete. Nigrum sah sie als weißlichen Schimmer davon treiben. Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte er, wie sich die Elektromaus regte. Er reagierte sofort und trieb die wenige noch vorhandene Hitze in seinem Inneren seinen Hals hinauf, auch wenn diese schon reichlich abgekühlt war und die resultierende Flamme kaum mit der vorherigen zu vergleichen sein würde. Doch er rechnete nicht mit einer solch schnellen Bewegung. Das Pikachu stieß sich mit einem Bein vom Boden ab und rammte seinen erstaunlich harten Schädel tief in Nigrums Bauchhöhle. Der Aufprall ließ ihn zurück taumeln und presste die Luft aus seiner Lunge. Unkontrolliert schoss der Flammenstrahl aus seinem zu einem Keuchen geöffneten Maul in Richtung Nachthimmel, verfing sich in der Krone eines Baumes und entzündete sie noch fast bevor er Blätter und Äste wirklich berührte. Nigrum schnappte nach Luft, den Kopf vor Schmerz eingezogen. Er war sich schon während des Angriffs darüber im Klaren gewesen, in welch prekäre Lage ihn die Reaktion seines Körpers bringen würde, dennoch konnte er sich dem nur schwierig verwehren. Doch die Wut, die nun wie ein Sturm durch seine Gedanken fegte, brachte ihn schneller als gedacht wieder auf die Beine. Aufgebracht fauchend schwang er sich ohne jeden Anlauf in die Luft und erhöhte die Distanz zu dem Bett des Baches, bevor er sich nun seinerseits auf das Pikachu stürzte, das noch nicht einmal die Kraft gefunden hatte, sich vollends aufzurichten. Er schwang seinen Schweif in der Luft halbkreisförmig und schlug ihn peitschend in die Seite des anderen Pokémon, dem im Anblick dieser kraftvollen Attacke selbst seine stahlharte Haut nicht retten konnte, die unter der Hitze der flackernden Flamme augenblicklich erneut zu schmelzen begann. Das Pikachu schlitterte zunächst rückwärts durch das ruhig dahin fließende Wasser, verlor dann den Halt auf den glitschigen Steinen und überschlug sich. Seine unfreiwillige Akrobatikeinlage endete erst, als es von dem Abhang der den Bach umgab ruckartig gestoppt wurde. Es sank keuchend zurück in das klare Wasser, wo es zuletzt reglos auf dem Rücken liegen blieb.
    Nigrum landete seelenruhig und schritt auf seinen endgültig besiegten Gegner zu. Über sich hörte er, wie die Bäume unter dem sie verzehrenden Feuer auf jene Art knackten, auf die diese Giganten des Waldes zu schreien pflegten. Einige Funken schwebten wie grausam mutierte Schneeflocken herab, landeten in dem Bach, auf den beiden Pokémon und dem Abhang. Die wenigen Pflanzen, die dort wuchsen, begannen zu glühen, auch wenn das leicht feuchte Moos recht unbeeindruckt zu sein schien. Ein lautes Krachen kündigte von dem ersten, weniger dicken Ast der sich den Flammen nicht länger hatte widersetzen können und leblos zu Boden gestürzt war. Ein derart heißes, gandenloses Feuer breitete sich in der Regel schnell aus, wenn es nicht gestoppt wurde. Eine zumeist nicht zu lösende Aufgabe. In nicht allzu langer Zeit würde der Wald schon aus der Ferne erkennbar sein, strahlend wie eine herab gestürzte Sonne. Nigrum hätte auf derlei Chaos verzichten können. Doch was geschehen war, war geschehen. Es machte keinen Sinn, sich zu viele Gedanken darüber zu machen. Vor allen Dingen, da er seinen Kampf noch nicht endgültig beendet hatte.
    Er blieb über dem Pikachu stehen und betrachtete es interessiert. Es lebte noch, doch das silberne Strahlen seiner Haut begann zu schwinden wie Farbe, die von dem Wasser davon getragen wurde. Darunter konnte Nigrum die ersten, versengten und zerzausten Büschel weichen Fells ausmachen. Tatsächlich kämpfte es noch immer gegen die Ohnmacht, die es zu übermannen drohte. Aus halb geschlossenen, geröteten Augen blickte es in Nigrums Gesicht. Das alles verschlingende Feuer über ihren Köpfen durchdrang die Dunkelheit der Nacht und warf ein gespenstisches, dämmriges Licht auf die Szenerie. Das Pikachu verzog seinen Mund zu einem schwachen Grinsen und stieß heisere Laute aus, die an ein hysterisches Lachen erinnerten.
    »Du siehst falsch aus«, hauchte es Nigrum entgegen. »Furchtbar falsch«
    Das Geräusch, als die Luft aus dem nun endgültig bewusstlosen Körper entwich, erinnerte Nigrum an das letzte, verzweifelte Luftschnappen eines gestrandeten Karpador. Er warf emotionslos einen Blick auf sein eigenes, nicht allzu verzerrtes Spiegelbild in der fast nicht vorhandenen Strömung des Baches. Wie jedes Mal erblickte er das Antlitz eines Nachtara, die viel zu groß wirkenden Flügel und den zu langen Schweif mit der brennenden Spitze, der unruhig durch die Luft schnitt.

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    [tab=Vorwort]
    Heyho, @Paya! Endlich melde ich mich mal wieder, hm?^^


    Ich schildere dir für Kapitel 5-7 allgemeine Eindrücke, #8 wird dann genauer kommentiert.
    Aber wieauchimmer, los geht’s!


    [tab=Kommi]
    Allgemein
    Cover
    Du weißt ja bestimmt schon, dass das BB nur noch bestimmte Seiten als direkte Bildquellen zulässt. Du müsstest also die Kapitelbilder neu hochladen – hier findest du eine Liste der Möglichkeiten, die du hast.
    Die „Quellenangabe“ der Zitate kann man in dunklen Stilen leider nicht lesen – nur der helle Gedankenstrich deutet darauf hin, dass dort etwas steht. Du könntest Standartschriftfarbe an dieser Stelle verwenden oder evtl. mit Hintergründen experimentieren.


    “Kabinett der Kuriositäten“
    Hmmm … ich bin so an EE gewöhnt xD' Ich weiß noch nicht, wie ich den neuen Titel bewerten kann, das hängt vom Verlauf der Story ab. Für's erste wirkt er mir ehrlich gesagt aber etwas zu humorvoll, 'harmlos' – ein düsterer, spannungsverheißenderer Titel würde etwas besser passen (auch, wenn dieser seine Bedeutung hat). Aber ja, man wird sehen, nicht? :)



    Kapitel 5-7
    Gefühle
    Eine deiner größten Stärken ist zweifellos das Beschreiben von Gefühlen, das Kreieren von Stimmung und Greifbarmachen innerer Vorgänge. Das zeigt sich in den vorliegenden Kapiteln immer wieder aufs Neue: Ob Fulgors innerer Konflikt und Selbsthass oder aufkeimende Hoffnung, ob Wut und Zorn oder Mitgefühl. Auf diesem deinen Spezialgebiet bringst du nicht nur die 'Helden' der Geschichte näher, du vertiefst auch die Charaktere, die am Rand eine Rolle spielen: Felias etwa, der plötzlich nicht mehr die intrigante Zicke jedes Teenie-Films ist, sondern andere Facetten zeigt, als es zu einer Extremsituation kommt. Die Charaktere wirken jedes Mal lebendiger und tiefer und man bekommt ein immer stärkeres Gefühl für sie. Das ist eindeutig das, was dir am Meisten liegt und du nahezu perfekt beherrschst!


    Andeutungen
    Ein weiterer schöner Punkt, der einem bei den Kuriositäten (es wird dauern, bis ich mich daran gewöhnt habe …) immer wieder entgegentritt, sind kleine Feinheiten, die dem Leser nebenbei auffallen und nicht explizit betont werden. Ein Beispiel wäre, dass bei der Enthüllung um Fulgurs und Tenias Bruderschaft (auch eine sehr schöne Wendung btw) angedeutet wird, dass die Mutter des Hybriden einen Gefährten, Tenias Vater, hatte. Man hat zwar noch nicht allzu deutlich gemerkt, ob du dir Pikachu als monogame Wesen vorstellst oder nicht, aber Atras und Illia legen das sehr nahe. Demnach ist Janan also entweder Fulgurs Vater (was erschreckend wäre) oder – was die Gesamtsituation irgendwie nahe legt – die Elektromausmutter hatte eine „Affäre“, eine Liaison oder wie auch immer man es nennen will, eine kompliziertere familiäre Verwicklung jedenfalls. Beides sowohl 'schockierende' wie auch interessante Möglichkeiten, die neugierig auf die letztliche Auflösung machen.
    In dieser Weise zu erzählen – indirekt, den Leser stärker fordernd und reizend – ist eine hohe Kunst, die ausbalanciert anzuwenden nicht einfach ist.


    Holly'sche Assoziationen
    Hatten wir uns schon einmal darüber unterhalten, ob du mit „Unten am Fluss“ bzw. „Watership Down“ etwas anfangen kannst? Diese Fluchtsituation, in der Fulgur sich in Kapitel 5 und 6 befand, weckte in mir so etwas wie eine Vorahnung. Ich weiß nicht, ob etwas in der Art geplant ist, aber ich fühlte mich irgendwie an die Geschichte des Kaninchen-Exodus erinnert.
    Als die kleine Gruppe dem Gehege entflohen war (ähnlich wie Fulgur, aber unter leicht anderen Voraussetzungen), treffen sie irgendwann auf Hauptmann Holly, einen Offizier ihres alten Baus. Schwer verletzt liegt er im Graben und berichtet, dass das einstige Zuhause nicht mehr existiert, dass es kurz nach der Flucht der kleinen Nagerschar von Menschen vernichtet wurde und er der einzige Überlebende sei. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass in dieser Geschichte etwas Ähnliches passieren könnte … aber lassen wir uns überraschen.


    Gegensätze
    In Fulgurs Traum offenbart sich ein weiteres, interessantes Element. Während die zusätzlichen Körperteile eigentlich verhasst sind, der Grund seines Leides, stellen sie doch einen Teil der Elektromaus dar. Einen so wichtigen Teil, dass er fürchtet, sie zu verlieren – wahrscheinlich auch, weil sie nicht nur für seine Ausgrenzung gesorgt haben, sondern ihm auch zu Fähigkeiten und Höhen verhelfen, die kein anderes Pikachu je wird erfahren können.


    Das Pokémon an sich
    Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Pokémon und ihre Verhaltensweisen darzustellen – tierisch und menschlich sind die häufigsten. Bei dir finden sich beide Elemente: Im direkten Miteinander kommen stark menschliche Züge zum Vorschein (z.B. bei Gesten bzw. Umarmungen), in anderen Situationen wirken die Taschenmonster unpersonalisierter und tierischer (z.B. das Ibitak oder Magnayen). In letzteren Situationen fragt man sich teilweise, ob verschiedene Arten untereinander überhaupt kommunizieren können (was sich im Laufe der Geschichte aber klärt). Welche Art die bessere ist, ist Geschmackssache und kommt teilweise auch ein bisschen auf die Art der Geschichte an. Beim Kabinett ist die Mischung prinzipiell gut, aber die allzu menschlichen Gesten wie erwähnte Umarmungen wirken etwas aus dem Takt getreten. Das eher animalische Erscheinungsbild gibt der Geschichte eine Natürlichkeit, die sehr gut und logisch eingebettet wirkt, sodass z.B. mit dem Flügel ein Gesicht berühren diesen Eindruck ein wenig stören. Eine gute Balance zu finden ist da schwer, aber für mein Gefühl sollte sich die „Menschlichkeit“ mehr im generellen Verhalten als in der Körperlichkeit widerspiegeln.


    Warnungen
    Du hast zwar im Startpost eine Warnung drin, aber ich würde dir empfehlen, vor besonders harten Kapiteln noch einmal eine zu setzen. Gerade Kapitel 7 ist z.B. äußerst brutal – die Szene auf der Lichtung ist nichts für schwache Nerven (und für mich persönlich hart an der Grenze zum Erlaubten tbh) und es kann sicher nicht schaden, auf so etwas doppelt hinzuweisen.


    Kleiner Fehler?

    Zitat

    Er musste an Artras denken, der sanftmütig und gerecht aber nicht selten auch erstaunlich hart über den Stamm der Elektromäuse herrschte.


    Ist es nicht Arvengal, der über den Stamm herrscht, und nicht Fulgurs Ziehvater? Oder ist das anders gemeint?


    Leichte Verwirrung
    An der Stelle, als Fulgur der Gedanke kommt, Belharasu könne ihn doch irgendwie betrogen haben (und auch an einem Punkt im nächsten Kapitel) wurde die Erzählweise etwas verwirrend. Ich nehme an, dass du versuchen wolltest, zu irritieren bzw. eine Situation zu kreieren, die bwusst anders dargestellt wird und den Leser dann zu überraschen. Ob das zutrifft oder etwas anderes beabsichtigt war, für meinen Geschmack entsteht hier zu viel Perspektivengewusel. Es ist eine Mischung aus Erinnerungsfetzen und selbst weitergesponnenen Gedanken und zwischendrin fragt man sich, ob vielleicht die Perspektive gewechselt hat und man die Flucht durch Bels Augen sieht. Zumindest auf mich wirkte das leider etwas zu konfus, weil die verschiedenen Elemente zu harmonisch ineinander flossen. Ein schöner Versuch, aber leider etwas zu verflochten in meinen Augen.
    [tab='Kapitel 8 - Letztendlich: Wut']
    Personifikationen
    Gleich zu Anfang des Kapitels zeigst du wieder deinen hervorragenden Schreibstil. Deutlich wird er vor allem in Personifikationen: ob unglück verliebte Bodenbrocken oder sich festkrallende Erde, diese Bilder verleihen der hitzigen Verfolgungsjagd noch ein wenig mehr Lebendigkeit und Tempo. Wundervoll!


    Wiederholung
    Ich wiederhole mich, aber: Erneut beweist du, wie genial du für die richtige Stimmung sorgen und das Innenleben der Charaktere zur Geltung bringen kannst. Fulgurs Gehetztheit oder Nigrums innere Ruhe, die Wut der Elektromaus, die inneren Konflikte: All das kommen in vielfältiger Weise zum Ausdruck und verleihen der Geschichte eine Intensität, dass man die Augen nicht vom Text lösen kann, bis das letzte Wort unter den Augen dahingeglitten ist!


    Feinheiten, Teil 2
    Noch so ein Beispiel für nebenbei erzählte Details, die doch eine hohe Bedeutung haben:

    Zitat

    Es hatte seiner Schwester den Tot gebracht [...]


    Fulgur nennt Bel „Schwester“. Er denkt nicht „sie ist wie eine Schwester für mich“, dieser Sachverhalt wird sehr viel subtiler vermittelt, durch die bloße Nennung als solche. Dadurch wird eine schöne Tiefe erreicht, die den Leser dazu anregt, genauer hinzusehen (wobei man aber darauf achten muss, es nicht zu übertreiben, aber da besteht bei dir momentan keine Gefahr).


    Der stille Tod
    Nigrums Erscheinung als still statt laut und wild wie das Ibitak oder Magnayen zu zeichnen, hat sicherlich auch damit zu tun, dass später aus dessen Perspektive erzählt wird. Allerdings ist der Effekt, den diese Darstellung hat, auch nicht zu verachten: Die unbeherrschten, gnadenlosen Jäger haben Panik und Schrecken in Fulgur hervorgerufen, aber der fast lautlose Verfolger erzeugt eine ganz eigene Art von Angst. Die Personifikation des eiskalten Schauers im Nacken, Fleisch gewordener Seelenterror. Eine meiner Dozentinnen hat einmal gesagt, dass das, was wir nicht benennen können, uns am meisten Angst macht. So ist die Ungewissheit (behinderte Sicht, keine Ahnung, wer oder was der Verfolger ist) hier ein psychisch äußerst belastender Faktor. Der Kontrast aus Ruhe und diffus herumwabernder Furcht und der hitzigen Verfolgungsjagd ist hier sehr förderlich für die Stimmung, die dem Kapitel zugrunde liegt. Sehr schöne Arbeit!


    Zapdos
    Anschließend an „Leichte Verwirrung“: Die Phantom-Zapdos-Stelle fügt sich zwar ins Bild eines gehetzten und zutiefst verstörten Fulgur, aber erneut sind mir persönlich die Übergänge zwischen Einbildung und Realität zu fließend. Du wolltest den Leser in die Irre führen, was ein sehr guter und interessant intendierter Schachzug ist. Aber die Tatsache, dass Fulgur nicht nur glaubt, die göttliche Gestalt aus seinem Traum zu sehen, sondern es (rein technisch) wirklich tut, ist eher verwirrend: Man kann der Handlung hier stellenweise nicht mehr richtig folgen. Das mag man auch als Stilmittel und Verbindung zu Fulgurs Gefühlen/der Verfolgungsjagd sehen, aber meiner Ansicht nach ist es eher ungünstig, wenn ein Handlungselement den Leser nicht zum Nachdenken bringt, sondern ein wenig verwirrt zurücklässt.


    “Vibrissen“
    Einen großen Wortschatz zu zeigen, ist immer schön und gestaltet einen Text auf seine ganz eigene Weise. Aber bei bestimmten, weniger gebräuchlichen Begriffen (wie diesem oberhalb genannten) sollte man abwägen, ob man nicht das eine oder andere ergänzende Wort verliert, um seine Bedeutung zumindest anzudeuten. Die „Vibrissen“ stehen mehr oder weniger allein da und ich denke, dass nicht wenige den Begriff nachschlagen müssen, um ihn als Schnurrhaare zu identifizieren. An anderer Stelle hast du das etwas anders gelöst: „[...] bildete fast so einen scharfen Kontrast wie das Rot der Iris vor dem Hintergrund der gelb gefärbten Sclera.“ Hier dürfte das Wort „Sclera“ auch en paar Stirnrunzler hervorgerufen haben, aber aus dem Kontext heraus kann man sich ungefähr denken, was gemeint ist.


    Verbindung

    Zitat

    Es lag in der Natur eines Pikachu, zu flüchten. […] Es lag in der Natur eines Panzaeron, zu jagen.


    Schöne Zusammenführung der beiden unterschiedlichen Naturen, die sich in Fulgur vereinen. Das eröffnet neue Perspektiven für die Blitzmaus man merkt, dass er mehr und mehr mit sich selbst zu leben lernt.


    Eine Frage der Perspektive
    Der Zorn Fulgurs, der letztlich erneut zu einem Blackout führen wird, sowie eine hinausgezögerte Offenbarung der Identität des nächtlichen Schattens führen schließlich zu einem Szenenwechsel. Sieben Kapitel lang haben wir Fulgur begleitet, nun dürfen wir ihn aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Ich gebe zu, mein erster Gedanke war hier, dass der Angreifer ebenfalls ein Hybrid ist, weil … es einfach passen würde. Bislang haben nur Fulgurs Herz und Seele gesprochen, dass jetzt ein weiterer Hybrid zu Worte kommt, erschien mir nur logisch. Wobei ich sagen muss, dass du es trotzdem geschafft hast, mich in die Irre zu führen: Ob Schuppen, Glurak-Details und -angriffe oder generell zu einer Feuerechse passendes Verhalten machen es schwer, nicht an einen schillernden Vertreter der Entstufe Glumandas zu denken. Dennoch sind immer dezent verteilte Hinweise vorhanden, dass da mehr ist (Fell, obwohl zuvor einmal Schuppen erwähnt wurden, z.B.) - man rätselt im Grunde also bis zum Schluss (und siehst du, es war dahingehend gut, das Titelbild zu ändern – ich glaube, wenn man das Gruppenbild der Hybriden noch vor Augen gehabt hätte, wäre das Rätselraten leichter geworden :)).


    Kampf
    Der Kampf zwischen MetallFulgurmon und Nigrum war spannend und sehr gut und fein durchdacht. Das mag nicht zuletzt an der kontroversen Natur der Kontrahenten gelegen haben, aber alles wirkte gut aufeinander abgestimmt und keine Seite wirkte einseitig überlegen. Der erhebliche Erfahrungsvorsprung des „neuen Hybrid en“ wird zwar schön verdeutlicht, aber dennoch ist er nicht unangreif-, geschweige denn -verwundbar. Übermächtige Gegner, die nichts verletzten kann, sind selten befriedigende Charaktere, und die Figuren wirken so deutlich realistischer.
    Gut ist auch, dass du dich bei Angriffen vor allem auf die körperlichen Eigenschaften konzentrierst. Wie verschiedene andere Aspekte auch hängt die genaue Interpretation eines Pokémonkampfes, der Attacken und Wirkungsweisen von der Geschichte und den Vorlieben des Autors/Lesers ab. Diese Weise hier trifft die meinen jedenfalls sehr genau: Ich finde, dass es nur zu logisch ist, sich zuerst mit Klauen, Zähnen und anderen, „tierischen“, Methoden zu verteidigen, bevor die dicken Wummer herausgeholt werden. Dass kräftige Attacken wie der Flammenwurf nicht unbegrenzt einsetzbar sind und es gewisse strategische Planung dazu benötigt, ist spannend und verleiht den Kämpfen eine ganz eigene Dynamik.
    [tab=Schlusswort]
    Mmmmmhhh, du begeisterst mich immer mehr. Die Geschichte verdichtet sich langsam, und es wird interessant sein zu sehen, wohin sich die Handlung entwickeln wird – nun, da es für Fulgur erst einmal keine Perspektive mehr gibt. Oder deutet der Perspektivenwechsel im 8. Kapitel sogar an, dass es nicht mehr nur eine Hauptfigur geben wird und Fulgur somit nicht Dreh- und Angelpunkt des Geschehens bleibt, wir noch andere (Lebens-)Geschichten zu lesen bekommen werden? Ich bin gespannt, womit du uns noch begeistern wirst!


    Alles Liebe,


    Sheo ~
    [/tabmenu]

  • Hallo zusammen :)


    Ich muss diese Fanfiction schweren Herzens schließen. Das tut wirklich erstaunlich weh, aber ich komme einfach nicht mehr dazu, mich Fulgor & Co. zu widmen.
    Um meinem verzweifelten Versuch, irgendwann zumindest so halb vom Schreiben leben zu können, gerecht zu werden, bin ich derzeit mit einem anderen Projekt beschäftigt. Für Self-Publishing und so. Und das nimmt mich wirklich komplett ein. Deshalb sieht man mich im BB auch so gar nicht mehr.


    Momentan kann ich Fulgors Geschichte also einfach nicht gerecht werden. Vielleicht irgendwann, wenn ich handwerklich gut genug im Schreiben bin, dass ich an zwei Projekten gleichzeitig arbeiten kann. Dann würde ich die Geschichte allerdings erst weitestgehend zuende schreiben, damit es nicht ständig ein Jahr dauert, bis ich ein Kapitel veröffentliche ;)


    Ich möchte euch, meinen Lesern, danken, dass ihr euch durch diese Wall-of-Texts gekämpft habt und auch für die Kommentare (in diesem Punkt besonders bei @Deception. Dein Feedback war wirklich immer sehr nützlich).
    Vielleicht liest man sich ja doch mal wieder.