Post Scriptum

Nach ihren Missionen in anderen Welten, um das Böse zu vernichten, kehrt die HiME Natsuki wieder in ihre eigene Welt zurück. Noch immer ist sie auf der Suche nach der Wahrheit, die hinter dem plötzlichen Unfalltod ihrer Mutter vor einigen Jahren steckt. In der alten Kirchenruine ihrer Schule trifft sie auf Nagi, der die nötigen Informationen zu kennen scheint. Doch der geheimnisvolle Junge spricht viel, ohne etwas zu sagen...

Maron Kusakabe ist ein ganz normales Mädchen. Doch in der Nacht verwandelt sie sich zu ihrer zweiten Identität Kamikaze Kaito Jeanne, einer erfolgreichen Diebin, die von Dämonen befallene Kunstgegenstände raubt und die Diener des Bösen Königs bekämpft. Normalerweise ist es nur Chiaki alias Sindbad, der ihr dabei konkurriert. Doch eines Vollmonds tritt ein neuer Dieb auf den Plan: Meisterdieb 1412, genannt Kaito Kid!

Eine preisgekrönte Orchidee, ein Tee, der anders schmeckt, als er sollte, ein Opfer, das mit seinem liebsten Schatz erschlagen wird... Unzusammenhängende Indizien, sechs Gäste und ein ungebetener Besucher - sieben Verdächtige, aber wer ist der Täter? Auch Conan, der geschrumpfte Oberschülerdetektiv, tappt lange Zeit im Dunkeln. Wird er es auch dieses Mal schaffen, die eine Wahrheit ans Licht zu bringen?

Jaja, für einen jungen Mann ist es alles andere als einfach, eine Liebesbeziehung und neben her eine Sandkastenfreundschaft mit einem weiteren Mädchen zu führen. Wie man es auch dreht und wendet, eine der beiden ist immer eifersüchtig. Doch wer sich selbst mit Link, dem Helden Hyrules, identifiziert, ist in der Lage, faire Kompromisse auszuhandeln - oder?

Ich hätte wirklich nie gedacht, dass es noch einmal so weit kommen würde. Meine komplette Weltanschauung, das, was ich unter dem Wort Volk verstehe…
Das erinnert mich an die Zeit meiner Ausbildung, wie es überhaupt zu dieser Anschauung gekommen ist. Aber gut, ich will von Anfang an beginnen:

> Ich war damals auch nicht viel anders als die anderen. Genau wie sie ein kleines der vielen männlichen Riolu auf der Eiseninsel, meistens eher unbeteiligt an den natürlichen Kämpfen unserer Art, mit denen wir die Weibchen zu beeindrucken suchten, weil es – auch wenn es sich hart anhört – im Verhältnis zu „wenig“ von ihnen für ein Männchen von uns hatte. Aber ich machte mir nie etwas draus – nicht zuletzt deswegen, dass ich immer schon kürzer und schmächtiger als die anderen gewesen war – stattdessen hatte ich für meine Art eher ungewöhnliche Gefühle: Während es beim Beeindrucken immer nur darum ging, den Fortbestand des Volkes – dieses Wort würde ich später noch genau kennen lernen, aber das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht – zu sichern, war es bei mir eher etwas anderes, wahre Liebe, war die Bezeichnung, die ich später für die Definition fand. Doch sie hatte mich nie im Blick. Sie war nun mal etwas besonderes – ein Sonnen-Riolu, wie sie in unseren Gefilden genannt wurden, für die Pokémon der Äußeren Welt ist das Wort Shiny wohl umgänglicher – und daher hauptsächlich von den anderen Jungen umschwärmt. Sie sonnte sich sichtlich im Lichte dieser Bewunderung der anderen und hatte damit auch scheinbar kein Problem, eher das glatte Gegenteil. Ja, Lucia war wirklich sehr besonders, aber meine Liebe war weniger wegen ihrer ungewöhnlichen Färbung sondern eher… einfach meiner Verbundenheit zu ihr wegen, nicht zuletzt wohl auch deswegen, weil wir sehr ähnliche Namen hatten. Ich beobachtete sie immer aus der Entfernung, die ich mich nicht zu überwinden traute. Und das blieb auch lange so.
Dann kam der Tag, der alles änderte.
Ich zählte gerade acht Jahre, als ich zum ersten Mal eine Aurasphäre hinbekam. Es war eine für Riolu gewöhnlich kleinere als die der erwachsenen Lucario, jedoch eine ziemlich blasse, die kurz nach ihrer Entstehung zwischen meinen Pfoten wie eine Blase platzte. Viel war es nicht gewesen, aber durchaus üblich, es war ja auch meine erste gewesen, ich brauchte noch Übung. Im Großen und Ganzen dachte ich mir nicht sehr viel dabei – was sollte ich auch schon darüber denken? – und beschloss einfach nur, es wieder und wieder zu versuchen. Doch ich sollte es ganz anders lernen als die anderen Riolu. Noch am selben Abend kam meine Mutter zu mir und nahm mich bei der Pfote. Außerhalb des Inneren der Eiseninsel, die Ebene nannten wir Sonnenplatz, befand sich keiner mehr – wir Lucario und Riolu sind von Natur aus sehr sonnenliebende Pokémon – doch das stimmte wohl nicht ganz: Den Buckel weiter unten stand ein Lucario am Ufer und blickte auf das weite Meer hinaus. Ich erkannte es von weitem – es war Ricardo, der Hüter der Aura. Ich war noch nie wirklich groß mit ihm in Kontakt getreten, hatte noch nie mit ihm gesprochen, er hatte uns jungen Wildfängen öfters Geschichten über unser Volk erzählt und er war es auch gewesen, der mich getauft hatte. Aber ansonsten hatte ich noch nichts mit ihm zu tun gehabt. Was eigentlich völlig anders war, wie ich jetzt herausfinden sollte.
„Ricardo?“, flüsterte meine Mutter. Es wunderte mich, dass sie ihn so nannte, sonst war der Name >Hüter< angebracht, er war schließlich kein gewöhnliches Lucario. Er schien sie nicht gehört zu haben – immerhin ging er auf ein sehr hohes Alter zu, und andere unseres Volkes wären sicher schon an Altersschwäche gestorben, doch er als Hüter war von einem langen Leben gesegnet, das nur dann endete, wenn er seinen Nachfolger zur Perfektion ausgebildet hatte – also atmete sie kurz durch und rief ihn erneut an. „Ich habe ihn mitgebracht.“ Ich in meiner kindlichen Naivität wusste zunächst nicht, worum es ging, aber älteren wäre es bestimmt schon klar gewesen.
Ricardo drehte sich nicht um, sondern starrte weiter schweigsam auf die See hinaus. „Lukas, ich bin froh, dass du hier bist“, sagte er, ohne auf meine Mutter einzugehen. „Komm bitte zu mir.“ Ich sah zu meiner Mutter auf, die sichtlich traurig war. Etwas Komplizierteres konnte ich nicht denken.
Sie ließ meine Pfote los und schob mich sanft ein Stück weit vor. Ich drehte mich gleich wieder um, doch sie wandte den Blick ab. Die Sterne der Nacht schillerten in ihren Augen; sie weinte. „Mama.“ Ich streckte ihr die Hände entgegen, aber das schien sie noch trauriger zu machen. „Nein, mein Liebling.“ Sie umarmte mich. Dann drehte sie sich um, ohne noch etwas zu sagen oder mich auch nur anzusehen. Weiterhin schweigend ging sie zur Höhle zurück. Ich wollte ihr folgen, doch die Stimme von Ricardo hielt mich zurück:
„Komm bitte zu mir“, sagte er, in ein und demselben Tonfall wie zuvor, ohne jegliche Ungeduld. Ich sah über die Schulter zu ihm, dann aber gleich wieder zu Mama. Sie war schon weiter als sie in der Zeit, in der ich mich umgesehen hatte, gekommen sein konnte, aber ich sah gleich, dass sie sich hastigen Schrittes entfernte. Erst jetzt bemerkte ich, dass auch ich Tränen in den Augen hatte, die ich aber hastig wegwischte. Zögerlich drehte ich mich zu Ricardo um, der, beständig wie ein Berg, am Ufer stand. Ich tat einige unsichere Schritte, bis ich auf eine Länge (= so etwas wie ein Längenmaß, vergleichbar mit unserem Meter. Entspricht der durchschnittlichen Höhe eines gewöhnlichen Lucario) herangetreten war. „Komm bitte zu mir“, sagte das alte Lucario weiterhin.
Mein Herz raste vor Hochachtung, als ich schließlich zu ihm ging, wie er es wollte, und neben ihm am Ufer zum Stehen kam. „J-ja, Hüter?“, winselte ich unterwürfig. Noch traute ich mich nicht, ihn anzusehen, doch als er nichts erwiderte, hob ich doch den Blick. Er hatte die Augen geschlossen und lauschte stumm auf ein Geräusch, das ich nicht hören konnte. In banger Erwartung sah ich aufs Meer, das sich schimmernd und geheimnisvoll vor mir erstreckte.
„Bist du entschlossen?“ Ricardos plötzlich erklingende Stimme ließ mich zusammenschrecken.
„E-entschlossen, Hüter?“ Ich fing an zu zittern.
Er öffnete nicht die Augen, als er sagte: „Ja, entschlossen, mein Schüler.“
„Wieso nennt Ihr mich so?“, fragte ich.
„Bist du entschlossen?“ Einmal mehr kam er mir wie ein Berg vor, unumstößlich, mit einem Willen und einer Sturheit, die alles andere übertrafen; felsenfest.
Auf diese Frage wusste ich keine Antwort. Wofür denn entschlossen? Mich wieder umzudrehen und zu meiner Mutter und den anderen Kindern zurückzugehen, oder etwa in das salzige Wasser zu springen und auf dem weiten Meer den sicheren Tod zu finden? Oder etwas dazwischen?
Noch wusste ich es nicht, aber es war schöner, als in die Höhle zu gehen und das seltsame Treffen zu vergessen, und zugleich schrecklicher als die Vorstellung, hilflos zu ertrinken.
Jetzt öffnete er seine trüben Augen doch. „Bist du entschlossen?“ Seine Stimme hatte einen leichten Unterton der Ungeduld angenommen, oder ich bildete es mir in meiner unterwürfigen Furcht nur ein.
„Ich… ich weiß nicht… ich…“
„Bist du es oder bist du es nicht?“ Jetzt sah er endlich zu mir runter. Obwohl er einen krummen, von seinen vielen Jahren zeugenden Rücken hatte, überragte er die anderen Lucario um einen guten Kopf, ob es aber an seiner Natur oder an der Tatsache lag, dass er der Hüter war, konnte und kann ich nicht sagen. Seine Augen durchbohrten mich regelrecht, bis sie meine Knie erweichten, und schließlich sah ich wieder weg.
„Ja, ich glaube schon“, war das einzige, was ich mit meiner vor Angst fast schrillen Stimme herausbringen konnte.
„Dann komm.“ Ricardo drehte sich um und verließ das Ufer in Richtung Sonnenplatz. Da ich nicht alleine bleiben wollte, holte ich schnell auf und trottete dann neben ihm her. Wir schwiegen nur – ich traute mich nicht, etwas zu sagen, viel lieber wollte ich, dass er ein Gespräch anfing, wenn überhaupt, obwohl auch das keine besonders schöne Vorstellung war – und als wir die Höhle erreichten, hatten wir immer noch kein Wort gewechselt. Das blieb auch weiterhin so, als ich durch den Eingang des Berges trat, jedoch anfangs sehr zögerlich, aus Furcht, es wäre falsch, und als Ricardo nichts dagegen sagte, ließ ich ihn auf dem Sonnenplatz allein.

Am nächsten Morgen hatte mein neues Leben anscheinend schon zum Teil angefangen. Die anderen Riolu und Lucario wussten scheinbar etwas, das man mir noch nicht sagen durfte. Wenn ich vorbei kam – ich war auf dem Sonnenplatz auf der Suche nach meiner Mutter, um sie zu fragen, was letzte Nacht eigentlich gewesen war – starrten sie mich entweder unterwürfig an, ähnlich wie sie es bei Ricardo taten, oder beachteten mich einfach gar nicht, doch wenn ich mich näherte, verstummten sie in den Gesprächen, die sie in dem Moment mit anderen führten. Ich machte mir darüber keinen Kopf; das würde sich sicher legen. Doch als ich dann zu den Riolu ging, mit denen ich am meisten befreundet war, riss bei mir ein Damm. Sie rollten gerade einen runden Stein hin und her – bei uns auf der Eiseninsel war es üblich, dass die Spielzeuge aus Stein bestanden – und als ich dazu kam, um, wie normalerweise, mitzuspielen, sahen sie nur erschrocken auf. Der Stein, vom Schwung des letzten Stoßes getragen, rollte ungehindert den Hang hinab und landete schließlich platschend im Wasser. Meine Freunde hatten dies anscheinend nicht bemerkt, sie waren viel zu sehr damit beschäftigt, mich anzuglotzen. „Was ist denn los?“, fragte ich vorsichtig, wobei die meisten von ihnen – na gut, ich will ehrlich sein, es waren drei – zwei von ihnen zuckten zusammen, als hätte ich die Pfote zum Schlag erhoben, der dritte war generell ein ziemlich ruhiges Gemüt, jedoch spiegelte sich auch Furcht in seinen Augen wider. „Was ist?“, sagte ich erneut, diesmal etwas ungeduldiger, und tat einen Schritt auf sie zu. Völlig aufgeschreckt wie Habitak, die sich ab und an von der Äußeren Welt auf unsere abgelegene Insel verirrten, suchten sie das Weite, ohne etwas zu sagen. Ich blickte ihnen nicht nach, sondern riss nun meinerseits entsetzt die Augen auf. Irgendwas stimmte nicht… Schließlich aber setzte ich meine Suche fort, wobei ich auf einen Auflauf stieß, der deshalb entstanden war, dass sich zwei Lucario um die Gunst eines Weibchens prügelten. Als ich aber näher kam und einer der Versammelten mich erblickte und dann noch einer und wieder einer, verstummten sie alle nacheinander, und auch die Gladiatoren sanken ihre Fäuste. Da ich sowieso nicht hatte zusehen wollen, sondern einfach nur daran vorbeigehen, trat ich durch die Versammelten hindurch und überquerte den Kampfplatz. Fast wie geschlagen wichen alle von mir zurück.
Und ich verstand die Welt nicht mehr.
Ich hatte mich von der Ansammlung entfernt und ging um einen Felsen, als der Radau des Kampfes wieder begann. Verwirrt lehnte ich mich an den Stein und sank dann zu Boden. Was war geschehen? Wieso sahen mich alle so an? Die Fragen kreisten wie durchgeknallt in meinem Kopf, aber nirgends war eine Antwort zu finden. Plötzlich tauchten vor mir zwei Pfoten auf. Ich sah hoch. Es war Ricardo, der sich vor mich hingestellt hatte. „Hüter!“ Flehend hob ich die Hände zu ihm hoch und wählte meinen höflichsten Ton, den meine Mutter mir beigebracht hatte, mit dem ich eigentlich mit ihm sprechen sollte: „Ihr in Eurer großen Weisheit, sagt mir bitte, was ist mit den anderen los?“ Er sagte nichts, sondern ergriff eine meiner vorgestreckten Pfoten und half mir auf.
Er drehte sich um und ging. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, aber die Verzweiflung, die mir der Anblick meiner Freunde, die bei meinem Auftauchen so befremdlich aufgeschreckt waren, suchte Antworten, und die gab es wohl nur von Ricardo, also folgte ich ihm. Der Hüter der Aura sagte nichts, sondern duldete mich einfach an seiner Seite, also konnte es nicht falsch sein. Wir gingen einen gewundenen, schmalen Weg hinauf und entfernten uns immer weiter vom Sonnenplatz. Hier war ich noch nie gewesen – uns wurde von klein auf beigebracht, ohne erwachsene Begleitung die sicheren Bereiche zu verlassen – aber irgendwie hatte ich schon davon gehört. Dies war der Schlangenpfad. Er führte geradewegs zu der kleinen Höhle, in der der Hüter der Aura hauste. Und dann ganz plötzlich verstand ich. Entsetzt blieb ich stehen. Auch Ricardo hielt inne, nachdem er noch ein paar Schritte gegangen war. „Hüter, sagt, ist es wahr, was ich jetzt denke?“ Die Frage war unglaublich dumm – woher sollte Ricardo schon wissen, was ich dachte? – aber mir fiel nichts anderes ein, was ich sagen sollte.
Er sah nicht zurück, als er antwortete: „Kommt ganz darauf an, was du denkst, Lukas. Aber, ja, du bist der neue Hüter der Aura.“

Im nächsten Moment brach alles zusammen. Eine unzubändigende Welle aus Trauer, Schmerz und Wut, bunt gemischt, überflutete mein ganzes Sein und spülte sämtliche anderen Gedanken weg, bis nur noch ein einziger Satz zurückblieb: Ich bin der Hüter der Aura!
Ich sackte zusammen und gab der Flut nach, brach in Tränen aus und schlug mit den Fäusten um mich. Ein erstickter Schrei entfloh meiner Kehle, und alles wurde plötzlich völlig egal. Es war nicht so, dass dieser Satz wie ein Todesurteil war, doch er hatte eine ganz konkrete Bedeutung: Ich war kein Riolu mehr. Zumindest kein normales. Und das würde ich niemals wieder sein, egal, was geschehen würde.
Jemand ergriff meinen Arm, aber ich schüttelte ihn hartnäckig ab. Dann packte es wieder zu, diesmal fester, sodass meine wutdurchtränkte Kraft nicht mehr ausreichte. Es schüttelte mich, schüttelte die Welle wieder aus meinen Gedanken heraus, damit ich wieder klar denken konnte. Vorsichtig, immer noch unwillig, dies weiterzumachen, öffnete ich schließlich meine verkrampften Augen. Es war Ricardo, der mich da gütig und dennoch streng ansah. „Steh auf, Lukas.“ Aber ich wollte nicht. Ich schlug wieder um mich. „Du kannst deiner Bestimmung nicht entkommen. Das konnte ich damals auch nicht, Lukas.“
„Nein!“ Er sollte aufhören, meinen Namen zu sagen. Sollte aufhören, von irgendeiner Bestimmung zu faseln. Nein, nein, nein. Ich vergaß mich völlig unter diesem Wort, also riss ich mich erneut von Ricardo los, der mich wieder gepackt hatte, und rannte den Schlangenpfad zurück zum Sonnenplatz. Doch da ich unachtsam war, geriet ich ins straucheln und stürzte. Der nahe Rand, der in eine steil abfallende Klippe führte, schien wie der Segen und doch wie ein Fluch. Der Sturz führte meinen von der Trauer trägen Körper genau zu diesem Rand und schließlich fiel ich einfach. Fiel irgendwo hin. Einfach runter. Runter. Ich würde sterben, so viel stand fest, aber es war mir egal. Mir war alles andere völlig egal, so wie es dem Schicksal egal war, mir meine Kindheit zu nehmen, obwohl ich sie doch so gerne noch bis zu ihrer gänzlichen Vollendung behalten hätte. Ein Hüter durfte nicht mehr Riolu sein. Durfte nicht mehr mit seinen Freunden spielen oder Unsinn treiben, wie es ein kleiner Wildfang nun mal tat. Und genau dies alles wollte ich noch so gerne machen, so gerne, so gerne…
Heftig schlug ich irgendwo auf und durch meinen kleinen Körper brannte ein unendlich großer Schmerz, doch gegen die Qualen, die ich gerade seelisch empfand, war er null und nichtig. Ich spürte, wie ich das Bewusstsein zu verlieren drohte, als mich etwas berührte. Ich wollte mich wehren, doch ich brachte die Kraft nicht mehr dazu auf. Der Rand meines Sichtfeldes wurde bereits schwarz und breitete sich schnell zur Mitte aus, doch ich konnte noch Ricardos Gesicht erkennen, bevor ich schließlich die Schwärze wie einen lang verschollenen, aber eben erst vermissten Freund empfing.

Ich hörte Stimmen. Nein, eigentlich nicht. Ich… dachte sie… oder eher… dachte sie jemand anderes und… ich auch… Es waren blasse Blasen, alle blau, oder so. Überall nur… blau, von dunkel bis fast schwarz… alles traurig und… und…
Der Schmerz kehrte mit einem Mal wieder. Urplötzlich verschwanden die Stimmen, Gedanken und Blasen. Es war nur ein Traum gewesen… aber wo war ich jetzt? Ein scharfer Gestank trieb mir in die Nase und Tränen in die Augen, die fürchterlich brannten. Angewidert drehte ich mich weg. Als ich mich wieder umsah, erkannte ich, wo ich mich befand: es war eine kleine Höhle, die nur spärlich von einem Flammenstein – ein besonderes Gestein, das das Licht der Sonne tagsüber aufnahm und uns nach ihrem Untergang noch viele Stunden Licht spendete – erhellt wurde, sodass ich nichts genaueres erkennen konnte. Ich lag auf einem Nachtlager, das mit einer Strohmatte ausgelegt war, die aber nicht besonders bequem war. Daneben stand Ricardo, oder zumindest sagte mir das seine imposante Silhouette. Plötzlich stach mir dieser Gestank wieder in die Nase, und ich musste niesen. „Was ist das?“, entfuhr es mir, bevor ich hustete.
„Riechsalz“, war die knappe Antwort des Hüters. Zwischen den Pfoten hatte er eine kleine Schale mit einem noch kleineren Haufen weißer Kristalle, die er jetzt wegstellte. „Du bist sehr schwer gestürzt“, erläuterte er mir und reichte mir einen Tonbecher mit Wasser. Dankend nahm ich an und trank einen Schluck. Es schmeckte grauenhaft und ich spuckte es gleich wieder aus. „Verdammt, Junge, jetzt trink!“, spornte mich Ricardo an.
Angewidert hielt ich den Becher so weit von mir weg wie nur möglich. „Das ist Salzwasser!“
„Und eben genau deswegen musst du es trinken. Los!“
Ich hielt die Luft an, als ich das salzige Getränk runterwürgte. Daraufhin bekam ich Kopfschmerzen, und ich musste mir den Kopf halten. Meine Pfote berührte etwas Stoffartiges und ich sah fragend zu dem alten Lucario.
„Ich sagte doch, du bist schwer gestürzt. Du hast dir den Kopf aufgeschlagen und wahrscheinlich mehrere Rippen gebrochen.“
Erschrocken atmete ich auf. Aber ich spürte keinen Schmerz mehr. Plötzlich fiel mir auf, dass es Nacht war – ich hatte es schon vorher bemerkt, jedoch nicht registriert – und ich erinnerte mich vage, dass es Morgen gewesen sein musste, als ich die Wahrheit erfahren hatte. War ich wirklich so lange weggetreten?
„Mach dir keine Sorgen“, sagte Ricardo und entfernte den Verband. Ich wollte ihn erschrocken wegstoßen, schließlich heilte eine so schwere Wunde nicht so mir nichts, dir nichts in wenigen Stunden, aber als ich aus Versehen die Stelle berührte, wo sie hätte sein müssen, war da nichts als meine gewöhnliche Kopfhaut, auch wenn sie leicht von Blut verkrustet war. Sofort erklärte mir Ricardo: „Die Aura des Hüters ist in dir erwacht, Lukas, als du erfahren hast, wer du bist. Jetzt fließt wahres Hüterblut durch deine Adern, und das hat zur Folge, dass du an keiner noch so schlimmen Verletzung sterben wirst und dass diese in nur wenigen Minuten heilt. Ich habe dir nur deswegen einen Verband gemacht, damit du nicht zu viel Blut verlierst. Du würdest zwar auch daran nicht sterben, aber wenn du erwacht wärst ohne Verband, wärest du wohl sehr geschwächt gewesenen.
Nun denn.“ Er erhob sich und war im Begriff, die Höhle zu verlassen.
„Hüter!“, rief ich ihn zurück. Er blieb stehen und wartete. „Was… was wird jetzt geschehen?“
„Vieles, Lukas“, erwiderte er. „Vieles.“

Trotz Ricardos Hilfe war ich tatsächlich viel zu geschwächt, um gleich wieder aufzustehen. Deshalb erlaubte er mir, dass ich noch eine Nacht in seiner Höhle ruhte, bevor ich den Schlangenpfad entlang zur Höhle zurückkehren konnte. Die meisten Frühaufsteher hatten diese bereits verlassen und gingen eifrig ihrer täglichen Beschäftigung auf dem Sonnenplatz nach, doch als ich in Sicht kam, benahmen sie sich wieder ungewöhnlich. Jedoch lag in ihren Blicken, die sie mir jetzt hinterher warfen, weniger Furcht und Unterwürfigkeit, zum Teil eher Sorge und Mitleid – Ob Ricardo ihnen von meinem Unfall erzählt hatte? Ich trödelte nicht lange und ging schließlich ins Innere, wo das letzte blasse Licht, das die Flammensteine immer abgaben, nur schwer etwas erkennen ließ. Noch von der Morgensonne geblendet fand ich mich kaum zurecht. Aber aus Gewohnheit fand ich den Platz, den meine Familie gütig den >heiligen Platz< nannten, was natürlich nichts Besonderes war; meine Eltern hatten sich hier ineinander verliebt, durch einen glücklichen Zufall, den zu erläutern mich viel Zeit kosten würde, und daher hatte er diesen Namen erhalten. Aber meine Mutter war nicht da. Also verließ ich die Höhle wieder und sah mich auf dem Sonnenplatz um, aber ich konnte sie nirgendwo entdecken. Gedankenverloren schlenderte ich hierhin und dorthin, bis ich den Blick frei auf das Ufer zum Meer hatte. Und dort stand sie. Standen sie. Meine Mutter und Lucia, beide auf die weit entfernten Wogen blickend. Meine Knie wurden wieder ganz weich; wenn Lucia in der Nähe war, wurde ich immer ganz nervös, eine Tatsache, die ich nie so ganz gemocht hatte. Ich traute mich dennoch näher, und als die beiden mich hörten, drehten sie sich beide um. Wie ertappt blieb ich stehen. Meine Mutter tauschte einen traurigen Blick mit Lucia, bevor letztere sie und mich am Steg alleine ließ. Die Zurückgebliebene lächelte kummervoll. „Komm her, mein kleiner…“ Ich tapste unsicher auf sie zu, und schließlich nahm sie mich in die Arme. Sie streichelte mir den Kopf, was mir gut tat, sowohl physisch als auch psychisch.
„Jetzt wird alles anders, nicht wahr?“, vermutete ich wehmütig.
Zuerst antwortete sie nicht und hörte einen Moment mit dem Streicheln auf – sie wischte sich Tränen aus dem Gesicht. „Ich bin… stolz auf dich“, war das einzige, was sie sagte, bevor sie mich ganz fest an sich presste. Es zerriss mir fast mein kleines Herz.

Die darauf folgende Zeit gedenke ich nicht so genau zu erläutern. Sie hatte generell keine besonders wichtige Bedeutung für mein Leben.
Es änderte sich leider nicht viel, was die Beziehung zu meinen Freunden anbelangt, sodass ich keinen richtigen Draht mehr zu ihnen herstellen konnte. Die Fieslinge, die mich vor der Wahrheit oft gedemütigt hatten, schwiegen nun, wenn ich vorbei ging, und warfen sich immer dann, wenn sie dachten, ich sah nicht hin, sich gegenseitig beschuldigende Blicke zu. In dieser Zeit erlernten sie auch die heilige Attacke, wie unsere Ahnen sie vor jahrtausenden getauft hatten, Aurasphäre. Doch während sie wie alle anderen Riolu zuvor die „gewöhnliche“ lernten, war meine Lehre gänzlich anders. Als angehender Hüter der Aura – ich will das kurz erläutern: Ein Hüter wird immer als männliches Riolu geboren und wächst dann in der Lehre seines Vorgängers auf, der dann meistens schon ein für Lucario ungewöhnlich hohes Alter erreicht hat, so wie es bei mir der Fall war. Nach Vollendung der Ausbildung verschwindet der alte Hüter auf spezielle Art und Weise, die Ricardo mir noch nicht erklärt hatte, und der neue tritt an seine Stelle – konnte ich automatisch eine andere Art von Aurasphäre, eine stärkere und von der Beschaffenheit gänzlich unterschiedliche. Zwei Jahre lang musste ich zu festgelegten Zeiten in seine Höhle oder umliegendes Gebiet kommen, um dort unterrichtet zu werden. Dabei fiel mir sehr wohl auf, dass jene Zeiten immer länger wurden und ich immer weniger mit den anderen zusammen war. Damals hatte es mir noch nicht viel ausgemacht, aber heute weiß ich es besser: Ricardo grenzte mich von ihnen ab, für etwas Größeres, Durchschneidenderes. Was das war, wusste ich ebenso nicht.
Nach, wie gesagt, zwei Jahren war ich dann so weit. Ich beherrschte Aurasphäre so perfekt, wie ich es als Hüter der Aura nun mal können musste, und war bereit für dieses Größere, für das mein Meister mich vorbereitet hatte.
Er sagte es mir in einer üblichen Übungsstunde, in welchen ich nicht aus dem Training geraten und meine Fähigkeiten nicht wieder nachlassen sollten: Wie immer, wenn ich etwas gut gemacht hatte, lächelte er sein seltenes Lächeln, und sagte: „Mache dich für eine lange Reise bereit, Schüler. Und verabschiede dich.“ Was genau er damit meinte, verstand ich nicht, aber die zwei Jahre hatten mich auch gelehrt, niemals nachzufragen, wenn er solche Aussagen brachte und wenn es besser war, für heute zu schweigen. „Morgen um die gleiche Zeit“, war das letzte, was er zu mir sagte, und verschwand wie üblich nach dem Unterricht in seiner Höhle. Wie er es gesagt hatte, machte ich mich für irgendetwas bereit. Ich packte einen Beutel mit leichtem Proviant und etwas Wasser, womit ich das Gefühl hatte, genug dabei zu haben, und Ricardo hatte mir auch beigebracht, auf gute Gefühle zu hören. Schließlich verabschiedete ich mich von meiner Mutter – denn ansonsten hatte ich niemand wirklich, den ich so mochte wie sie, bis auf Lucia, wobei ich mir nicht sicher sein konnte, dass meine Liebe zu ihr nicht erwidert wurde. Sie weinte nicht, als ich sie umarmte. Aber ihre Augäpfel waren fast so rot wie die Iris. Sie hatte vorher schon geweint, bestimmt, weil Ricardo ihr gesagt hatte, wo ich hinging. Und jetzt waren einfach keine Tränen mehr da. Sie umarmte mich lange und innig, bevor sie mich sichtlich unfreiwillig wieder losließ. Auf dem Sonnenplatz herrschte betretenes Schweigen. Die anderen waren aber nicht etwa verstummt, als ich aufgetaucht war, sondern waren tatsächlich die ganze Zeit still gewesen. Sie sahen mir nicht hinterher, als ich den Platz überquerte. Niemand sagte etwas. Doch dann, ganz plötzlich, rief jemand meinen Namen. Ich drehte mich um, und sah ein gelbes Riolu auf mich zu rennen. Wieder wurde ich nervös, als ich Lucia erblickte, aber ich war sonst viel zu aufgewühlt, als dass meine Nervosität auf meinen Körper hätte überspringen können. Zwei Längen vor mir kam sie zum stehen. Sie keuchte noch von dem langen Spurt bergauf – jetzt erst bemerkte ich, dass sie mir ein paar Längen weit auf den Schlangenpfad gefolgt war – aber sie lächelte. „Viel… viel Glück“, sagte sie nur, dann verflog das Lächeln. Abrupt drehte sie sich um und rannte wieder davon. Ich wollte sie zurückrufen, doch dann stand Ricardo hinter mir und legte eine Pfote auf meine Schulter.
„Auch ich habe mich damals von meinen Liebsten verabschieden müssen“, berichtete er. „Es war nicht leicht. Aber ich verspreche dir, dass du sie wieder sehen wirst.“ Damit wandte er sich um und ging den Pfad weiter bergauf. Ein paar Sekunden stand ich noch an derselben Stelle, dann drehte auch ich mich um und folgte ihm.

Wo auch immer Ricardo mich hinführte, es lag anscheinend weit weg vom Sonnenplatz und vor allem viel höher.
Von seiner Höhle aus begannen wir den Fußmarsch, der uns über steiniges Gelände, sandige Abfälle, sogar durch einen Wasserfallsee führte, bei dem man kaum die Pfote vorm Gesicht sehen konnte und man hinterher so nass war, als wäre man untergetaucht. Meine Nerven wurden hart auf die Probe gestellt, denn oft mussten wir hintereinander und fest an die Wand gepresst, um nicht in eine unter uns liegende Klippe zu stürzen, auf dem schmalen Weg entlangschleichen, bevor er wieder breiter wurde und wir auf die Gefahr hinausliefen, von runterpolternden Gerölllavinen zerquetscht zu werden. Wir rasteten selten, weswegen durch zunehmenden Hunger und vor allem Durst mein Mut dahinschmolz wie Morgennebel in der aufgehenden Sonne, während Ricardo nicht einen Bissen oder Schluck zu sich nehmen musste. Auch als es Abend wurde, suchten wir keinen Rastplatz, um die Nacht zu verbringen, sondern taten es erst, als es so finster war, dass ich nichts mehr sehen konnte, trotz der vielen Sterne am Himmel. Mit einer Aurasphäre hätte ich mir sicher den Weg erleuchten können, aber erstens war die Pause herzlich willkommen und zweitens war ich so ausgelaugt, dass sie mir wohl sehr schnell wieder erloschen wäre. Wie üblich war Ricardo sehr schweigsam und sagte nicht ein einziges Wort, und genau deshalb traute auch ich mich nicht, eines zu erheben.
Am nächsten Morgen schließlich brachen wir gleich wieder auf, jedoch hatte ich Angst, mein Meister könne meinen Magen hören, der zunehmend unruhiger wurde, oder gar meinen trockenen Atem, weil mir das Wasser zur Neige gegangen war. Doch wir blieben nicht stehen. Unermüdlich stapfte das Lucario vor mir her, und da ich den Weg zurück alleine wohl nie finden, geschweige denn meistern könnte, musste ich ihm wohl oder übel auf den Fersen bleiben. Der Weg wurde nicht einfacher, im Gegenteil, wegen meinen schmerzenden Füßen und auch sonst meiner Erschöpfung schien er mir nur noch anstrengender zu werden mit jedem Schritt, den ich tat. Und als ich dachte, ich bräche gleich zusammen, erreichten wir unser Ziel:
Es war Ricardo, der stehen geblieben war – was er die ganze Zeit über nur gemacht hatte, um entweder zu rasten oder auf mich zu warten, wobei wir erst zuvor dies getan hatten und ich nicht weit zurückgefallen war, also wusste ich gleich, dass wir da sein mussten – und blickte auf eine weite Ebene, die sich vor uns erstreckte. Sie war auch nicht viel anders als die übrige Eiseninsel – Gesteinboden, so weit das Auge blicken konnte, hier und da ein Felsen, ein paar karge Bäumchen und ganz wenig Grasbewuchs – aber von ihr ging eine seltsame Kraft aus, die ich nicht recht beschreiben konnte; es fühlte sich einfach anders an, als es zum Beispiel auf der Sonneninsel oder in Ricardos Höhle der Fall gewesen war, jedoch kam letztere diesem Gefühl wohl noch am nächsten, denn auch sie hatte eine ungewöhnliche Ausstrahlung auf mich gehabt. Ricardo setzte sich wieder in Bewegung und trat auf die Ebene. Noch völlig vom Gefühl, das ich empfand, verzaubert, folgte ich ihm erst, als er mich zu sich winkte. Er stand vor einem Ornament im Boden, das ich nicht zu erkennen vermochte, aber ich glaubte, darin eine Art Kreis oder Sonne zu erkennen. „Wir sind am Ziel“, sagte Ricardo nur.
„Und… was ist das Ziel?“, fragte ich vorsichtig und leicht heiser nach dem langen Schweigen.
„Das Aura-Plateau. Hier oben haben alle Hüter der Aura vor uns und auch ich ihre Ausbildung absolviert – und jetzt bist du an der Reihe.“ Er ließ den Blick über den noch ferner scheinenden Horizont des Ozeans schweifen, als versuchte er, die Äußere Welt dahinter zu erblicken, was er vielleicht sogar tat.
Ich strich vorsichtig mit der Pfote über die Gravur. Irgendwie war ich enttäuscht; die Erklärung meines Meisters hörte sich so magisch an, da müsste doch irgendetwas passieren, wenn ich dies tat. Also erhob ich mich und traute mich zu fragen: „Ist das der Grund, weshalb Ihr mich hier heraufgeführt habt, Hüter? Damit ich lerne, was meine Bestimmung bedeutet?“ Ich wunderte mich, dass ich plötzlich so hochgestochen sprach, aber im Moment war mir die Antwort Ricardos wichtiger.
„Selbstverständlich“, brummte er nur.
Am liebsten hätte ich beleidigt vor mich hingegrummelt – schließlich war es gar nicht so selbstverständlich, schließlich hatte er es bereits gewusst und ich nicht – aber da ich sowieso das Gefühl hatte, er könne Gedanken lesen, war es doch besser, mit ebenjenen meinen nicht herauszurücken, schließlich war hier Hochachtung das Wort Nummer 1. Ich sah mich um. „Wo liegt der Sonnenuntergang…?“ Damit meinte ich Westen, wenn das verständlicher ist. Ich wusste es zwar bereits – es war Abend – stellte die Frage aber dennoch. Ricardo erwiderte nichts, sondern führte mich zu der Stelle. Vom Plateau aus konnte ich jetzt weit hinunterblicken, auf dasselbe Meer und dieselbe Richtung, in die ich gesehen hatte, als er zum ersten Mal mit mir gesprochen hatte, und auch auf den Sonnenplatz. Ich war leicht verwundert über den hervorragenden Blick, den ich auf diesen hatte, wenn ich daran dachte, wie weit verzweigt unser Weg hier her doch gewesen war. Der Platz war in angenehmes, orangerotes Licht getaucht, das das Gestein wie flüssiges Metall schimmern ließ. Die Sonne berührte bereits das Meer und seine Wellen, färbte seine Oberfläche in den Ton eines voll aufgeladenen Flammensteins. Es war ein bezaubernder Anblick. „Wann werde ich zu den anderen zurückkehren?“, fragte ich demütig, als mir auffiel, dass kein Lucario oder Riolu auf dem Sonnenplatz zu sehen war.
„Wenn die Zeit reif ist, mein Sohn.“
Als er das sagte, die letzten beiden Worte, vor allem das letzte, >Sohn<, da fühlte ich mich plötzlich ganz anders. Ich war für ihn nicht einfach mehr der Schüler, der ich vorher wohl dargestellt haben musste, ich war jetzt wie ein eigenes Kind für ihn, das nun von ihm lernte, der Sohn vom Vater, nicht mehr der Schüler vom Lehrer. Es war ein gutes Gefühl, und zwar deswegen, dass ich mir nun sicher sein konnte, dass ich hier oben, abgetrennt von meiner gewohnten Umgebung, dennoch eine Familie hatte.
„Und ab sofort“, erklang die Stimme Ricardos. „nennst du mich bitte ‚Vater’.“

Ihn so zu bezeichnen fiel mir nicht schwer und ich gewöhnte mich schnell daran. Ich hatte schon sehr lange niemanden gehabt, den ich >Vater< oder >Papa< nennen könnte – mein leiblicher Vater war sieben Jahre zuvor an einer geheimnisvollen Krankheit gestorben, noch bevor ich mein viertes Lebensjahr vollendet hatte – und es tat gut, es wieder zu dürfen.
Gleich am nächsten Morgen begann der Unterricht, oder zumindest ein Teil davon:
Wir hatten uns nach Süden gerichtet und blickten vom Rande des Plateaus aus auf den weiten Ozean. Es war eine der wenigen Stellen um die Insel, in denen keine Felsen im Wasser standen. „Was erkennst du?“, fragte mein geistlicher Vater.
Zuerst hatte ich nicht den blassesten Schimmer, wie die Frage gemeint war – im Grunde war sie wie die erste, die er mir vor zwei Jahren gestellt hatte – aber ich wusste, dass er eine Antwort erwartete, und sagte: „Das Meer.“
Er lächelte; mir schien es fast, als habe er sich verändert, seitdem wir fernab des Lucario-Volkes waren, denn so oft er gestern und an diesem Tag lächelte, hatte er es in den vergangenen zwei Jahren nicht getan. „Gut“, erwiderte er, aber es war kein Kompliment. „Das ist das, was du siehst, aber was erkennst du?“
Natürlich, wie es zu erwarten war. Hinter jedem Wort, das er aussprach, verbarg sich für gewöhnlich eine zweite Bedeutung, die einen tiefgründigeren Blick verlangte. Ich zögerte und sah genauer hin. Dann sagte ich: „Da ist etwas unter der Oberfläche… Pokémon vielleicht?“
Er nickte stolz. „Ganz richtig. Somit hast du deine erste Lektion gelernt.“ Ich sah zu ihm auf. Nach einer kurzen Pause erwiderte er meinen Blick und sagte weiter: „Unter die Oberfläche der Dinge sehen, mein Sohn. Alles, was du siehst, ist nur die Hülle einer viel inneren Wahrheit, die besonders wir Hüter zu verstehen lernen müssen. Aber ich will dich nicht gleich überfordern. Wir fangen ganz langsam Schritt für Schritt an. Schritt eins hätten wir hiermit schon mal.“ Ricardo schwieg eine Weile, bevor er fortfuhr: „Weißt du vielleicht, wie ich damals erkannte, dass du der neue Hüter bist?“
Diese Frage kam so plötzlich und unzusammenhängend, dass ich zuerst völlig baff war. Woher sollte ich das bitteschön wissen, wenn ich gerade mal gelernt hatte, wie man eine Kugel aus Auraenergie erzeugte? „Nein, Vater. Ich weiß es nicht“, antwortete ich schließlich.
„Nun gut, ich will es dir erklären.“ Damit deutete er auf das weit unter uns dahinfließende Meer. „Die Aura – was genau sie ist, werde ich dir später noch erklären – ist ähnlich eines Gewässers. Gewöhnlicherweise ist die eines Lucario beziehungsweise Riolu still wie ein Bergsee, das bedeutet, keine Welle trübt ihre ebenmäßig glatte Oberfläche. Setzt ein solches aber Aurasphäre ein, verändert sich die Aura. Wir Lucario sind generell in der Lage, die Aura des uns umgebenden Gebietes so zu nutzen, dass wir damit angreifen können, aber wir Hüter sind darüber noch mal erhoben. Wir können die Aura sehen, aber nicht so, wie du es wohl gewöhnt bist, mit den Augen zu sehen. So habe ich deine Aura gesehen, in welcher besonderen Art von Aktivität sie in diesem Moment war. Verstehst du?“
Ich nickte, sagte aber nichts.
„Dann gibt es davon zwei unterschiedliche Aktivitäten. Wie gesagt verändert sich unsere Aura, wenn wir die heilige Attacke einsetzen; unser Bergsee beginnt, sich zu bewegen. So wie du die sanften Wogen auf dem Meer hier vor uns siehst, so sieht dann in etwa auch unsere Aura aus. Doch die eines Hüters ist nochmals anders. Siehst du das Karpador, das im Wasser schwimmt? Wenn es dicht unter der Oberfläche ist, erzeugt es durch seinen Körper ebenso eine Welle, wie sie hier überall zu sehen sind, sie unterscheidet sich nicht davon. Aber ich habe unter die Oberfläche geblickt und erkannt, dass diese Welle von etwas besonderem hervorgerufen wurde: die Aura des Hüters.“
Als er inne hielt, traute ich mich, einen Einwand zu bringen: „Das ist eigentlich grad verkehrt herum. Wir sind die Hüter der Aura und haben die Aura des Hüters. Du hast sie schon damals erwähnt, als ich mich verletzt hatte, aber ich verstehe nicht, was sie bedeuten soll.“
Das alte Lucario setzte sich neben mich auf den Boden; ich tat es ihm gleich, dann fuhr er fort: „Das musst du auch noch nicht verstehen. Weil ich es dir erklären werde, das ist meine Aufgabe. Das Karpador, von dem ich sprach, ist jetzt also unsere bildlich ausgedrückte Aura des Hüters. Noch ist sie unter der gewöhnlichen Aura eines jeden Riolu verborgen. Noch weiß sie nicht, was jenseits der Oberfläche liegt, fürchtet sich vielleicht vor dem Ungewissen. Und dann kommt die Wahrheit. So, wie du damals erfahren hast, wer du bist, so erfährt das Karpador endlich, dass über dem Wasser nichts Gefährliches liegt, nur Luft. Also bricht es daraus hervor und sieht dann eine völlig neue Welt, eine ihm unbekannte Sonne. Und wenn es weiter schwimmt, zieht es eine Schneise durch die Wasseroberfläche – und genau so hat sich deine Aura verändert, als deine innere Aura aus ihr auftauchte.“ Wieder schwieg er.
Das war auch gut so. Ich musste das zuerst alles verdauen. Es war kompliziert, keine Frage, aber allmählich begann ich, das zu verstehen. Das sagte ich Ricardo auch und wollte dann wissen: „Und was genau ist diese Aura? Die älteren Lucario reden viel darüber, auch Du. Aber wie kann ich diesen Begriff verstehen?“
Mein Vater war sichtlich stolz darauf, dass ich diese Frage stellte – wie er mir später beibrachte, bekommt man nur die richtigen Antworten, wenn man auch die richtigen Fragen stellt – und beantwortete sie sogleich: „Die Aura ist überall. Sie ist das, was sich hinter der plastischen Welt befindet, das, was du mit deinen Sinnen wahrnehmen kannst. Das Gestein, das du unter deinen Pfoten fühlst; das Rauschen der Wellen, das du vom Meer hören kannst; der weite blaue Himmel, der sich sichtbar für dich über dir erstreckt; der Geschmack eines Steinpilzes, wenn du in ihn beißt; der…“
„…scheußliche Gestank von Reichsalz, mit dem man unschuldige Riolu aus ihrer Bewusstlosigkeit holt“, dachte ich laut, bereute es aber gleich wieder.
Doch Ricardo war weder sauer noch verletzt. Er lachte. Es war ein tiefes, freundliches Lachen, das erste Mal, dass ich es von ihm hörte. „Du hast also verstanden. Aber darunter, dahinter, daneben, wie man es auch ausdrücken will, befindet sich die Aura. Sie ist wie der Atem, wie das Blut der Welt, jedoch kaum mit dem Heben deines Brustkorbs und dem wieder Ausatmen oder dem, was durch deine Adern fließt und was dein Herz durch deinen Körper pumpt, zu vergleichen. Alles, was uns umgibt, hat eine Aura: alle Pokémon, alle Pflanzen, das Gestein, sogar das Wasser und die Luft. Für die meisten bleibt sie aber unsichtbar. Nur wenige haben die Gabe, diese verborgene Energie wahrzunehmen. Zum Beispiel wir Hüter. Wir haben tief in unserer eigenen Aura verborgen ein… Auge kann man es nur begrenzt nennen. Dieses Auge kommt bei ungeübten Hütern – jedoch auch bei sehr erfahrenen noch - nur dann zum Einsatz, wenn sie schlafen, deshalb haben sie häufig sehr seltsame Erscheinungen in ihren Träumen – noch seltsamer, als sie es für Träume sowieso sind.“
Ich erinnerte mich vage daran, dass ich vor der Wahrheit – so nannte ich den Tag, als ich erfuhr, dass ich der Hüter der Aura bin – in meinen Träumen immer… Schemen gesehen hatte. Es mag verrückt klingen, schließlich benehmen sich Träume nicht unbedingt anders, aber meine waren noch mal seltsamer als die meiner Altersgenossen. Während sie von vergangenen Ereignissen träumten, die sich mit allerhand Unzusammenhängendem vermischten, waren es bei mir ebenjene Ereignisse, jedoch immer mit bläulichen Schatten im Hintergrund, als wäre mein Traum nur ein Schleier und dahinter befänden sich diese Schemen. Seit der Wahrheit hatte ich nur noch Träume, in denen der Schleier weggerissen worden war. Doch was die blauen, schwach glühenden Lichtgestalten, die vor einem schwarzen Hintergrund hingen, in meinen Träumen bedeuteten, konnte ich mir nicht erklären. Aber jetzt schon. „Soll das bedeuten, dass ich im Schlaf Auren sehen kann?“, fragte ich vorsichtig.
„Nicht ganz. Wie gesagt, sehen ist nicht das richtige Wort, du spürst sie, nimmst sie wahr – man müsste wohl ein neues Wort erfinden.“ Ricardo ließ den Kopf kurz hängen, dann setzte er sich wieder gerade hin. „Das Auge öffnet sich nur dann, wenn das Bewusstsein abgeschaltet ist, da es nur über das Unterbewusstsein fungiert. Im Schlaf gewinnt das Unterbewusstsein die Oberhand, daher auch die besonderen Träume. Wenn du es schaffst, dich so sehr in Trance zu versetzen, dass du dein Bewusstsein unterbinden kannst, wirst du in der Lage sein, Auren zu sehen… oder zu spüren.“
„Darf… darf ich es mal versuchen?“, bat ich langsam um Erlaubnis.
Er nickte. „Es kann gefährlich sein, wenn du beginnst, die Aura von etwas anderem mit deiner zu verbinden, da es deinen Tod bedeuten könnte, unweigerlich, aber diese Technik ist noch viel schwieriger als das Auraspüren allein, daher kann dir nichts passieren.“
Das reichte mir bereits. Ich sah auf das Meer und beschloss, dieses als Versuchsobjekt zu gebrauchen. Ich schloss meine sehenden Augen und konzentrierte mich auf mein Inneres. Leider brauchte ich eine Weile, bis ich meine Gedanken völlig geordnet und verdrängt hatte. Ich gab mich voll und ganz meinem Unterbewusstsein hin, so wie Ricardo es mir gesagt hatte. Dann hörte oder dachte ich etwas, ich kann es nicht genau beschreiben. Es war, als sage jemand in meinem Kopf etwas, ein Satz, der tief in meiner Aura verborgen lag: „Die Aura ist in mir.“ Wie hypnotisiert griff ich nach diesem einen Satz und hielt ihn fest, und er nahm mich voll und ganz ein, bis ich ihn selbst sagte, immer und immer wieder. Und dann öffnete es sich; mein inneres Auge. Ich sah oder spürte meine Umgebung anders, als ich es jemals getan hatte, so unglaublich anders, dass ich es nicht in existierende Worte zu fassen vermag. Wieder sah ich den schwarzen Hintergrund, und davor viel Blau. Es waren das Wasser und die Pokémon darin unter mir, doch das wusste ich nicht, denn mein Denken war abgestellt. Zu sehen waren schwache, kugelförmige aber verschwommene blaue Lichter. Die Aura des Wassers stellte sich mir als eine Art Wind dar, der über die Wüste zieht: Er nimmt Sandkörner mit, doch vor dem ebenso sandigen Hintergrund ist dieser kaum zu sehen. Nur, wenn er über Steine streift, kann man die Sandkörner kurz erkennen, wie sie abgebremst werden, bevor sie wieder verschwinden. So war es auch hier. Die Wasseraura war so schwach zu sehen, dass sie sich kaum und manchmal sogar gar nicht vom Schwarz abhob, jedoch gut sichtbar um die kugelförmigen Lichter spielte. Parallel dazu aber nahm ich noch etwas anderes war: es flog über dem Wasser in weiter Entfernung. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll, aber es war keine gewöhnliche Aura. Sie waberte noch weit über ihr Zentrum hinaus und war zudem nicht blau, sondern dunkelgrau, jedoch gut zu erkennen. Selbst in meiner Ungeprobtheit konnte ich sie übernatürlich genau spüren.
Ganz langsam, aber ohne mein Zutun, kehrte ich wieder in die wache, greifbare Welt zurück. Noch ganz verblüfft von meinen neu entdeckten Fähigkeiten schilderte ich Ricardo, was ich gesehen hatte, verschwieg aber die graue Aura absichtlich.
Als ich endete, nickte er nur. „Du bist talentierter als ich dachte“, war sein Kommentar. „Was aber nicht bedeuten soll, dass du jetzt weniger lernen musst. Um ein voll ausgebildeter Hüter der Aura zu werden, musst du alles wissen, was mit ihr zu tun hat.“ Er stand auf. „Aber ich denke, nach einem ausgiebigen Frühstück lässt sich leichter aufnehmen, was zu wissen ist. Ich habe dir noch nicht alles gesagt, was die Aura betrifft, aber wir sollten dennoch zunächst etwas essen.“ Damit wandte er sich um und ging zu unserem Lagerplatz, den wir unter einem Felsvorsprung errichtet hatten.
Ich saß noch eine Weile da und blickte auf den Ozean hinaus. Da erkannte ich weit entfernt etwas über dem Wasser fliegen. Es musste gigantisch sein, mindestens fünf Längen, denn trotz der Entfernung war es sehr groß. Seine Erscheinung überhaupt war höchst seltsam – es ähnelte etwas einem Habitak, jedoch waren seine Flügel länger und schmaler, zudem schlug es nicht damit, als trügen nur die Meeresbrisen seinen gewaltigen Körper. Sein Bauch war eisblau, genau wie die Federn, die es an der Spitze seines langen, schlangenartigen Schwanzes, in zwei Reihen auf dem Rücken und an den feurig glühenden Augen am Kopf hatte – aber ich wusste so gut wie gar nichts über die Äußere Welt, und als es aus meinem Blickfeld verschwunden war, stand ich auf und folgte Ricardo.

Als wir unsere Mahlzeit aus ein paar kargen Steinpilzen und einer einzigen, mehligen Beere, deren Namen ich nicht kannte, beendet hatten, setzten wir uns im Schneidersitz auf einen sonnenbeschienenen und daher glühend heißen Felsen gegenüber. So verbrachten wir eine Weile schweigend, und ich musste mich beherrschen, um nicht schmerzerfüllt aufzuschreien, weil mir die Hitze des Steines die Haut zu versengen drohte. Aber ich wagte nicht irgendetwas zu sagen, und wartete daher, dass Ricardo das Wort erhob. „Du bist unruhig“, sagte er schließlich. „Unruhig wie das Meer!“
Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass er mit dem Gleichnis meine Aura meinte und sie daher erspürt haben musste. „Ja… Vater“, erwiderte ich langsam.
„Das ist schlecht.“ Das alte Lucario öffnete die Augen. „Unruhe ist ein Zustand, den du als Hüter niemals haben darfst, in keiner Situation! Überleg doch mal: Es ist stockfinster und plötzlich greift dich jemand an. Du gerätst in Panik, weil du nicht weißt, in welche Richtung du dich verteidigen musst, weil du deinen Gegner nicht siehst. Dann versuchst du folglich, seine Aura zu erspüren, doch in der Unruhe kannst du dich nicht ausreichend konzentrieren und daher auch nicht wehren. Ist das ein praktischer Moment?“
Ich überlegte kurz. „Ich glaube nicht.“
„Es ist so. Wenn du nicht lernst, dich zu beherrschen und deine Unruhe und andere störende Gefühle auszuschalten, könnte das dein Ende sein. Dazu gehört auch Geduld. Was hast du demnach auf dem Weg hierher gebraucht?“ Ricardo wartete nicht auf eine Antwort. „Geduld. Der Weg zwischen Sonnen-Platz und Aura-Plateau hätte nicht mehr als sechs Stunden gedauert, aber ich habe absichtlich einen Umweg gemacht, um deine Geduld zu prüfen und nebenbei auch weiter zu fördern. Ich entschuldige mich dafür, denn du warst sehr erschöpft, aber ich bin ebenso auch stolz auf dich, dass du dich den ganzen Marsch über nicht beschwert hast. Der Grundbaustein ist also schon gelegt.“ Versonnen schloss er wieder die Augen und schwieg.
Das war ich schon lange gewohnt. Ich musste nun ebenso schweigen.
Nach langer Wartezeit, die ich in mindestens zwei Stunden einschätzte, sagte er endlich wieder was: „Weißt du, was Aura ist?“
Die Frage kam so überraschend, dass ich im ersten Moment nicht wusste, wie und was ich antworten sollte.
Doch Ricardo ließ mir auch nicht lange Zeit zum Nachdenken, sondern setzte gleich an: „Die Aura ist der Atem der Welt, auch wenn es nicht mit dem zu vergleichen ist, das du in dich aufnimmst und wieder ausatmest; sie ist das Blut, und doch nicht mit der roten Flüssigkeit in deinen Adern gleichzustellen, die von deinem Herzen in deinen Körper gepumpt wird. Aura bedeutet Leben, und dennoch haben auch scheinbar tote Gegenstände eine Aura, vielleicht viel schwächer als die lebender Wesen, doch nicht keine. Und die Aura von uns Pokémon ist noch einmal anders als die von Pflanzen, und auch in diesen drei Kategorien – tote Gegenstände, Pflanzen, Pokémon – gibt es Abweichungen. So hat ein uralter Baum eine stärkere Aura als eine kleine Blume, die erst wenige Tage blüht, und auch ein Felsen ist anders als die Luft. Die Aura bestimmt, wie und was wir sind; wie hart ein Stein ist, welche Farbe er hat, welche Farbe die Blüte annimmt und welche Form und Oberflächenbeschaffenheit ihre Blätter bekommen, wie wir sind und in was wir uns entwickeln, welche Attacken und Talente wir haben und erlernen können, was wir waren, was wir sein werden. Die obere Aura ändert sich ständig; sie bestimmt dein Aussehen und deine Verhaltensweise, wie du redest und dabei für andere klingst. Die innere hingegen ist ein lebenslanger Speicher, der für einen Hüter immer gleich zu fühlen bleibt – verlässt ein Habitak aus der Äußeren Welt unsere entlegene Insel, und kehrt irgendwann in vielen Jahren als Ibitak wieder zurück, so wirst du es wieder erkennen, einerlei, wie sehr es sich verändert hat; oder Wasser: für ein normales Lucario sehen zwei Schalen mit Wasser wie zwei Schalen mit Wasser aus, aber der Hüter, der schmecken kann, dass in der einen Meerwasser und in der anderen Flusswasser enthalten ist, erkennt, dass es zwei verschiedene Wasserarten sind. Die Aura bringt die Sonne, den Mond, die Sterne zum Leuchten, sie bringt uns ihr Licht auf die Erde, macht Wasser flüssig und bestimmt, wann es gefriert, verdunstet oder zu kochen beginnt, lässt die Luft in Winden stürmen und Wolken regnen. Sie ist das kollektive Wissen aller Lebewesen. Sie kontrolliert, wie Krankheiten auf uns wirken, wie sie verlaufen und ob und wie sie heilen, und auch bei Wunden übernimmt sie diese Aufgabe, wie sie sich schließen und wie sie wieder verheilen.
Mit einem Satz: Sie ist alles, und doch für die meisten nichts.“
Dann schwieg er wieder eine Weile.
Doch mir brannten Fragen auf der Zunge, und da ich sie beantwortet wissen wollte, wagte ich mich, sie zu stellen: „Wenn die Aura Wissen ist, könnten wir dann nicht einfach auf dieses Wissen zugreifen? Gäbe es dann nicht auf jede Frage eine Antwort?“
Ricardo sagte lange nichts, als ob er überlegen würde, was er erwidern sollte, aber ich war mir sicher, dass er es sich eher zurechtlegte und nachdachte, wie er am besten antworten solle. Dann endlich sagte er: „So gesehen stimmt das. Jedoch brauchst du eine greifbare Aura, die ein bestimmtes Wissen beinhaltet, die die Antworten auf deine Frage auch kennt. Und es ist auch nicht leicht, auf alle Kenntnisse zuzugreifen, meistens nur auf die, die gerade wichtig sind. Gedankenlesen, nennt man das, denn Gedanken sind im Grunde nichts anderes als einen Bruchteil eines Augenblicks alte Erinnerungen, die noch nicht ihren Weg ins Innere der Aura gefunden haben. An das innere Wissen kommst du nur schlecht ran, dazu müsstest du deine Aura mit der des Zieles verbinden, und das ist lebensgefährlich. Vor allem, wenn du es mit einer Aura machst, die wie die deine einem Lebewesen gehört. Je lebendiger der Besitzer, umso größer ist das Risiko. Aber es gibt tatsächlich ein Pokémon, das voll und ganz und ohne jegliche Einschränkung auf das ganze Wissen der Welt zugreifen kann, und das ohne große Tricks, es muss noch nicht einmal großartig die Aura erfühlen. Dafür kann es nicht so wie wir die Aura verändern, aber das lernst du noch, was genau das bedeutet.“
„Welches Pokémon ist das?“, fragte ich. „Und bedeutet das, dass es noch mehr Pokémon gibt, die ähnliche Fähigkeiten haben wie wir? Also Auren zu erspüren?“
Er nickte langsam. „Sein Name ist Selfe. Es wird auch als das Allwissende genannt, was ja auch zutrifft.“ Eine Kunstpause trat ein, als Zeichen dafür, dass er zur nächsten Fragestellung überging: „Es gibt in der Tat noch mehrere. Die meisten, die ebenso wie wir Aurasphäre erlernen können, sind dazu in der Lage, aber meistens wissen sie es nicht oder haben nicht das Talent dazu, auf ihre Fähigkeiten zuzugreifen.“
„Sehen sie die Aura eigentlich auch blau?“
Versonnen lächelte er. „Eine gute Frage. Doch darauf gibt es wohl nur eine Antwort: Die Aura hat keine Farbe. Du nimmst sie nur so wahr. Andere mögen wohl eine andere Farbe sehen, und es ist vielleicht auch eine Frage des Betrachters, so gab es in der langen Reihe der Hüter ein Sonnen-Lucario, der die Auren, die er fühlte, als gelb beschrieb. Es ist unterschiedlich.“
Das gab mir zuerst zu denken und meine Gedanken zu ordnen. Als ich glaubte, es verstanden zu haben, fragte ich weiter: „Du sagtest, dass wir Auren… verändern könnten. Und dass die Aura bestimmt, wie eine Wunde heilt. Könnten wir als Hüter nicht einfach die Heilung… beschleunigen?“
„Nein.“ Mein Vater schüttelte langsam den Kopf. „Um eine Aura verändern zu können, musst du dich leicht mit ihr verbinden. Einen Felsen könntest du dadurch spalten, ohne Krafteinwirkung auf ihn ausgeübt zu haben. Aber wie gesagt wäre das Risiko zu groß, deine eigene Aura beim Verbinden mit Lebewesen zu verlieren und zu sterben.“
Es folgte eine lange Frage-und-Antworten-Runde, die sich bis Sonnenuntergang hinzog. Als schließlich die ersten Sterne am Himmel zu sehen waren, erhoben wir uns von dem Stein und begaben uns zu unserem Lager.

In den folgenden Tagen beobachtete ich die Lucario und Riolu unten am Sonnen-Platz, so gut es aus der Entfernung nun mal ging. Oder zumindest in jeder freien Minute, und die waren höchst selten. Ricardo konzentrierte sich und vor allem mich auf die Ausbildung, die mich zum Hüter der Aura machen sollte, was beileibe nicht einfach war, insbesondere für mich. Ich will damit nicht sagen, dass es großartig anstrengend, mörderisch oder gar höllisch gewesen war, es war einfach nur… ich kann es nicht beschreiben. Viele Male, wenn die Lektionen wieder besonders hart waren, wünschte ich mir oft, zu meiner Mutter zurückkehren zu dürfen und alles zu vergessen, was passiert war, einfach wieder ein gewöhnliches Riolu sein wie alle anderen auch. Die anderen Male dachte ich nicht so, war sogar glücklich darüber, mich hoch oben über dem mal ruhigen, mal tosenden Meer mit meinem Vater pausenlos über die Aura zu unterhalten und alles über sie zu lernen. Keinesfalls ging es nur um die Aura, nein, wir trainierten auch viel, übten die verschiedensten Kampfsituationen, in denen sich die Hüter bis jetzt einmal befunden hatten, um möglichst in jeder die richtige Lösung und Taktik herauszuarbeiten. Ricardo erklärte mir, dass kein ausgewachsenes Lucario es mit einem vollwertigen Hüter aufnehmen konnte, und das machte mich in gewisser Weise stolz, war ich bis dahin doch nur das kleine, schwächliche Riolu gewesen. Und dann dachte ich wieder an mein altes Leben und sehnte mich dennoch danach zurück. Meistens in solchen Momenten tat ich mich schwer mit dem Lernstoff, den er mir aufgab, und wenn ich ihn lange nicht verstand oder zu wenig Geduld zeigte, legte er einen dicken Mantel des Schweigens über das Aura-Plateau, bis ich durch eigenes Probieren und Studieren für die nächste Lektion bereit war. Dann legte er mir immer eine Pfote auf die Schulter und sah stolz zu mir runter, lächelte zwar nicht, aber seine Augen verrieten alles. Und dann fühlte ich mich wieder gut.
Es dauerte lange, sehr lange, über drei Jahre, um genau zu sein, drei Jahre, in denen Ricardo aus dem groben, rohen, wilden Stein, der ich war, unter mühevoller Handarbeit einen reinen Diamanten schliff, und schließlich war ich es würdig, als Hüter der Aura bezeichnet zu werden. Es waren die letzten Tage gekommen, auch wenn ich es in dem Moment noch nicht ahnen konnte.
Es war früher Morgen und über dem stahlgrauen Meer bildete sich langsam die Ahnung eines Taghimmels. Wir saßen uns im Schneidersitz gegenüber, die eingravierte Sonne zwischen uns. Das gewohnte Schweigen umflatterte den jungen Tag, doch ich hatte mich in vielen harten Monaten in Geduld geübt.
Dann regte sich Ricardo und öffnete seine Pfoten, zwischen denen er schon seit wir uns gesetzt hatten, etwas verborgen hielt. Er ließ es mich im schwachen Morgenschimmer genau begutachten – sogar meine Augen waren vom Training nicht verschont geblieben, so hatte er mir viele Aufgaben gegeben, in denen ich meine Nachtsicht geübt hatte. Es war schlichtweg eine Scharfklaue, wobei das für diesen Gegenstand nicht genau zutraf; sie war abgenutzt und stumpf, und mit ihr konnte man wohl noch nicht einmal mehr einen Steinpilz schneiden, höchstens zerdrücken. An ihrem Ansatz hatte sie ein Loch, und dadurch war ein abgewetztes Lederband gezogen, wobei dies nicht ein Bruchteil so alt zu sein schien wie das Item, das er hielt.
„Diese Scharfklaue“, eröffnete mein Vater. „umwebt eine uralte Geschichte, die nicht nur von ihr handelt, sondern auch von der Entstehung der Eiseninsel, der Sterne, wie wir Lucario uns gewissermaßen selbst erschaffen haben und auch, was es mit uns Hütern auf sich hat. Ich möchte sie dir erzählen.“ Er legte den Gegenstand vor sich in die Mitte des Kreises, als sei das das Ritual, das zu der Geschichte getätigt werden musste, und begann:
„Vor sehr langer Zeit, so unvorstellbar lange, dass sie nicht in Worte zu fassen ist, waren die Tage und ebenso die Nächte beide noch viel länger. Und sie verkörperten die vollständige Finsternis und das helle Licht, denn zu Tage gab es nur die strahlende Sonne und zur Nach noch nicht einmal den Mond, auch keine Sterne. Da erhob sich aus den Fluten des Weiten Ozeans ein mächtiger Felsen, die Eiseninsel. Viele, alte Tage schon hatte sie sich aus den Tiefen emporgekämpft, einem Schimmer hinterher, der sie neugierig gemacht hatte. Endlich tat sich ihr die Antwort auf: es war die Sonne. Der Felsen war verblüfft über die ungeheure Helligkeit des Gestirns, war er doch die Dunkelheit auf dem Grund des Meeres gewohnt gewesen. Voller Freude nahm er ihre Strahlen, ihre Wärme auf und ergötzte sich an ihrer Schönheit. Doch sie wanderte seiner ungeachtet weiter und schließlich war sie verschwunden, und die Nacht brach herein. Den Felsen erfüllte Trauer angesichts der wiederkehrenden Dunkelheit, die er auch tief unter sich gehabt hatte, und war enttäuscht darüber, dass das Licht, dem er so lange nachgeeifert war, ihm nun doch wieder das triste Schwarz hinterlassen hatte. Er wollte sich sinken lassen, wieder tief hinunter in blaue Gefilde, aber die Unterwelt verschmähte ihn, hatte er sich doch selbst ein Leben oberhalb ihrer ausgesucht. Aus Frust begann er, sich immer weiter zusammenzuziehen, aber er merkte, dass seine steinerne Hülle ihm nicht gehorchte. Es war seine Aura, die immer kleiner aber fester wurde, und schließlich fand sie sich in einem viel kleineren Felsen wieder. Sie war sogar so stark, dass sich der Felsen veränderte: Er bekam Beine, Arme, einen Kopf und Augen, mit denen er die Welt nun viel anders wahrnahm als zuvor, doch wenn er sie schloss und sich seinem alten Leben wieder völlig hingab, konnte er in die alte, vertraute Welt zurückkehren. Bald fühlte er sich einsam unter dem dunklen Himmel, und so zog er sich immer öfter in diese Welt zurück. Er entdeckte, dass seine Aura die Aura anderer Dinge spüren, ja sogar anfassen konnte, und so erschuf er aus einem weiteren Felsen, indem er einen Teil von seiner Aura abspaltete, ein ihm ähnliches Wesen. Nun waren sie zu zweit und entdeckten, dass sie sich liebten, und nicht lange darauf gebar sie ein Kind. Genau in diesem einen, wunderbaren Augenblick breitete sich ein Streifen Licht am Horizont aus, und der Erste erkannte, dass es seine Sonne war. Voll Freude darüber, dass sein Sohn genau zu diesem glücklichen Zeitpunkt das Licht des zweiten Tages erblickte, schnitt er mit einem scharfen Gegenstand, den er kurz zuvor gefunden hatte, von einem sterbenden Strauch einen noch lebendigen Ast ab und pflanzte ihn an den Ort der Geburt, zum Zeichen der Hoffnung. Dieser wuchs auch tüchtig im Lichte des ersten Tages. Er und seine Zweite zeugten noch viele Nachkommen, doch kein einziges fühlte sich in der alten Welt so an wie sein Erstgeborener, und dieser hatte eine ähnliche Aura wie er. Daher lehrte er den Jungen in allem, was er wusste. Doch als dieser erwachsen war, begehrte auch er eine Familie. Er empfand nichts für seine Geschwister, und so spaltete sein Vater seine Aura erneut und machte auch ihm eine Zweite. Sein Sohn war glücklich, doch der Erste war nicht mehr in der Lage, sein Leben fortzusetzen. Er nahm den scharfen Gegenstand, verband seine sterbende Aura mit dessen und vermachte seinem Sohn diesen. Dann starb er. Sein Sohn erkannte das Opfer, das sein Vater ihm gebracht hatte, und schwor, gut auf das Scharfe zu achten. Er band seine Aura an die seines Vaters, aber nicht so sehr wie dieser, um nicht auch zu sterben. Eine lange Zeit ging ins Land, und schließlich entdeckte der junge Erste eine seiner Aura ganz ähnliche. Es war aber nicht sein Sohn, wie es bei ihm und dem älteren Ersten der Fall gewesen war, sondern der Sohn eines seiner Geschwister. Aber aus Pflichtgefühl unterrichtete er ihn, wie es seinerzeit sein Vater getan hatte, und als er seine Aufgabe erfüllt hatte, gab er seinem geistlichen Sohn das Scharfe und trug ihm auf, auch seine Aura an es zu binden. Als dies getan war, öffnete er seine eigene der Nacht, die gerade herrschte, und hoffte, zum Teil dessen zu werden, weswegen sich sein Vater verzehrt hatte: der Sonne. Aber ihre Aura war zu stark, so wurde seine zu einem Stern am Himmel, dem ersten Stern, der ab sofort die dunkle Nacht erhellen sollte. Er war zwar kein Teil der Sonne, aber dafür selbst eine, in weiter Ferne. Und wie er es getan hatte, so tat es auch sein geistlicher Sohn, nachdem auch er seinen Schüler ausgebildet hatte.“
Ricardo ließ das Gesagte eine kurze Zeit wirken, in der sich die Sonne weiter den Himmel emporzog, und ich überlegte, wie lange wohl die Nächte in der Geschichte damals gewesen sein mussten, dass ein Lucario darin eine Gefährtin erschaffen und dann auch noch einen Sohn zeugen konnte.
„Verstehst du die Legende?“, fragte er schließlich.
„Legende?“ Ich war leicht verblüfft. „Bedeutet das etwa, sie ist wahr? Legenden sind doch Überlieferungen, wahre Begebenheiten… das hast Du mir gesagt.“
Er nickte. „Gut, dass du dir das gemerkt hast. Aber es gibt auch Legenden, in denen vielleicht nur der Kern, der Ursprung Wahrheit ist. Jedoch kann man das bei den meisten nicht mehr feststellen, weil sie schon zu lange zurückliegen, so wie bei dieser, wobei sie die älteste aller unserer Geschichten ist.“ Er fixierte die Scharfklaue, bevor er wieder zu mir sah und nochmals fragte: „Hast du sie verstanden?“
Zuerst musste ich alles ordentlich verdauen, aber ich wusste, dass er mir dazu keine Zeit geben würde. Also sagte ich, was mir geradewegs einfiel und aufgefallen war: „Ich glaube, dass die Geschichte… ich meine Legende zeigt, dass alles aus dem Meer entstanden ist… weil die Eiseninsel aus ihr auftauchte und sich die Sonne jeden Morgen aus ihm erhebt.“
„Das ist eine gute Beobachtung. Aber du gehst viel zu tief.“ Er grinste belustigt – ein äußerst seltener Anblick. „Du bist der Ansicht, dass Legenden einen sehr tiefen Sinn haben. Das stimmt auch, aber du darfst nicht zu tief bohren, sonst übersiehst du das Wesentliche. Ich werde es dir jedenfalls erklären:
Wasser ist der Ursprung allen Lebens, das ist wahr, denn ohne Wasser würden wir nach kürzester Zeit sterben, deshalb ersteht die Eiseninsel aus ihm. Aber sie entsteht nicht aus ihm. Sie taucht lediglich aus seinen Fluten auf. So kommt sie zwar aus den Tiefen des Ozeans, ist aber dennoch nicht eins mit dem Wasser. So wie die Sonne, die auch jeden Morgen neu auftaucht.
Die Eiseninsel ist aber aus einem besonderen Grund aufgetaucht: Wegen der Sonne. Uns ist das Licht heilig, ohne es können wir nicht leben, nichts mit unseren sehenden Augen wahrnehmen, uns auch nicht entwickeln. So wird ja auch aus bloßem Gestein eben wegen der Sonne ein Lucario – zwar weil sie nicht scheint, und Riolu entwickeln sich nur unter der Sonne, aber sie ist der Grund dafür.
Die ersten Lucario entstehen aus bloßem Stein, als Symbol dafür, dass nur durch die Kraft der Aura aus einem toten Gegenstand ein lebender werden kann – und dass Lucario eben auf und von Stein leben müssen, denn er ist unser natürlicher Lebensraum, unser uns erschaffender Lebensraum.
So viel zum Philosophischen“, endete er schließlich. „Nachdem sich die Aura der Eiseninsel zusammengezogen hatte, bekam sie >richtige< Augen, jedenfalls solche wie die, mit denen wir geboren werden. Zuvor hatte sie nur das Innere Auge, mit dem sie nur Auren sehen konnte, und das uns heute ebenso diese Fähigkeit verleiht.
Der erste Hüter, der auch das erste Lucario war, bekam einen Sohn, das erste Riolu, das nicht durch einen Felsenen geboren wurde, wobei beide seine Eltern natürlich Felsen gewesen waren. Dieser Sohn war ebenfalls ein Hüter – seine Mutter war es nicht, da sie nun mal nur das Bruchstück der Aura des Ersten als ihre eigene hatte – und deswegen, weil der erste und der zweite Hüter Vater und Sohn waren, ist es heute noch genau so, dass der Schüler den Lehrer als Vater, und der Lehrer den Schüler als Sohn sieht.
Und die Aura dieser Scharfklaue hier“ Er deutete auf den genannten Gegenstand. „ist nach wie vor die des ersten Hüters, jedoch können wir auf sein uraltes Wissen nicht zugreifen, eben deswegen, weil wir dann unsere eigene Aura dafür opfern müssten.“
Fasziniert betrachtete ich die Scharfklaue. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass sie so alt war, und dennoch so verhältnismäßig in gutem Zustand. Ich fragte Ricardo, warum dies so sei.
„Ganz einfach.“ Mit vorsichtigem Griff, als könnte sie jeden Moment von einer lauen Meeresbrise fortgeweht werden, nahm er die Scharfklaue vom Boden und hielt sie mir hin. „Wenn du ihre Aura erfühlst, wirst du erkennen, wie überaus stark sie ist. Das liegt daran, dass meine Aura mit ihrer verbunden ist und sie somit stützt. Daher ist die Lebenserwartung dieser Scharfklaue so lang, wie ich lebe, aber bevor ich sterbe, wird deine Aura bereits ihre stützen, wie es meine getan hat, und ihr Alter wird kaum sichtbar länger. Sie könnte, wenn die Kette der Hüter niemals unterbrochen wird, noch einmal so lange unbeschadet durchhalten, wie sie es bis jetzt getan hat, vielleicht sogar noch länger. Sie ist lediglich nicht mehr so scharf, aber da man sie zum schneiden nicht mehr benutzt, ist das nicht so schlimm. Die Hauptsache ist, dass sie nicht zerbricht.“ Eine auffordernde Handbewegung ließ das Band baumeln. Ich sollte die Klaue entgegennehmen. Mit fragendem Blick tat ich das auch. Ricardo erklärte: „Mache dich mit ihrer Aura vertraut. Betaste sie, wie du gerade ihre für normale Augen sichtbare Oberfläche betastest.“
Damit stand er auf und für die nächsten drei Tage sprach er nicht mehr mit mir.

Eifrig lernte ich nun die Aura der Scharfklaue kennen, so wie er es mir aufgetragen hatte. Ich experimentierte, wie sehr sie auf die Berührung meiner reagierte, wie sie bei sanftem Streicheln nur leichte Wellenbewegungen von sich gab und bei härterem Anpacken wie geschlagen zurückwich, dann aber gleich wieder ihre ursprüngliche Form annahm. Sie war die sonderbarste Aura, die mir in den drei Jahren auf dem Plateau untergekommen war – sie wirkte fest und gleichzeitig so unbeständig wie Morgennebel unter der aufgehenden Sonne. Einmal schien sie fast mit der Aura der Luft um sie herum zu verwischen, dann wieder waren ihre Konturen so hart und fest wie die des robustesten Steines. Es war, als sei sie im ständigen Wechselspiel zwischen einer Umarmung mit ihrer Umgebung und der völligen Ausgrenzung von dieser. Es faszinierte mich.
Schließlich schien ich das hinbekommen zu haben, was ich auch hinbekommen sollte, selbst wenn mir nicht ganz klar war, was es denn genau war, geschweige denn, wie ich es mit ein bisschen rumprobieren erreicht haben sollte. Jedenfalls sprach Ricardo nun wieder mit mir, aber seine Worte waren ganz anders, irgendwie… trauernd, erwartend, als ob bald etwas Großes geschehen sollte. Noch am Abend desselben Tages, an dessen Morgen er wieder Worte mit mir wechselte, stellten wir uns gegenüber dem anderen, zwischen uns die Sonnengravur. Die untergehende echte Sonne berührte gerade den unbeständigen Horizont und verschmolz immer mehr mit den im Abendlicht goldenen Fluten. Ich hatte sie im Rücken, während auch das Gesicht meines Vaters so wie das Wasser in rötliches Licht getaucht wurde. Er hatte die Augen geschlossen und die Scharfklaue in den Pfoten. Er sagte nichts, als er erste öffnete und mir den Gegenstand gab. Danach herrschte wieder Stille, bis aus dem orangerötlichen Licht ein violettes geworden war.
Ricardo legte eine Pfote auf meine Schulter. „Sieh nach oben“, sagte er. Ich tat es; die ersten Sterne ließen sich am immer dunkler werdenden Himmel blicken. „All unsere Vorväter sind dort oben und wachen jede Nacht über uns, wenn die große Sonne nicht da ist. So auch der erste Stern, der zweite Hüter.“ Staunend betrachtete ich die vielen kleinen und größeren Lichtpunkte, die so unvorstellbar weit weg waren, und dennoch so nahe, als schwebten alle ihre Auren in Gestalt der früheren Hüter neben uns auf der Hochebene. „Manche sind schon verloschen, für immer“, erklärte das Lucario. „Aber nur deshalb, weil sich ihre Aura mit der des Himmels vermischt hat, so wie sich ein Klumpen Erde in Wasser auflöst.“ Ich musste an das seltsame Verhalten der Klaue denken und fragte mich, ob sich auch ihre Aura eines Tages auflösen würde. „Der Stern des zweiten Hüters aber leuchtet noch immer. Er ist stets der erste, den du abends am Himmel sehen wirst, und immer der letzte, der gegen das stärker werdende Licht der Sonne am Morgen verliert. Er ist unser Urvater im Meer unserer Großväter; denk immer daran.“ Damit nahm er den Arm wieder runter und drehte sich um.
Etwas verdattert sah ich ihm nach, als er sich in Bewegung setzte, jedoch nur wenige Schritte, und dann zum Himmel aufsah. „Tu das, was der erste Stern tat, nachdem sein Vater gestorben war.“
Es dauerte eine Weile, bis der Groschen fiel. Ich sollte meine Aura an die der Scharfklaue binden. „Aber ist das nicht…?“, fragte ich zögernd.
„Halte dich nur an das, was ich dir gesagt habe“, antwortete er. „Dann wirst du es schaffen. Du bist ein Hüter, du hast es im Blut.“ Er drehte sich nicht um, sondern stand weiterhin mit dem Rücken zu mir gedreht und den Blick erhoben. „Wende dich zur Sonne. Ihr Licht wird dich stärken.“
Also drehte auch ich mich um und sah zu der Halbkugel, die sich mühsam unter den Horizont schob. Es war wie die Vereinigung völlig verschiedener Gegensätze, Feuer und Wasser, Licht und Dunkelheit, die sich jeden Abend in einer gewaltigen Umarmung empfingen und sich zu einem bezaubernden Naturschauspiel vermischten, wenn die Glut der Sonne in den Fluten des Meeres glänzte und durch die erlosch, um von der Dunkelheit niedergerafft zu werden, und dann am nächsten Morgen in alter Stärke wieder ihren Weg über den Zenit fortzusetzen, Tag für Tag für Tag. Und genau wie sie immer wiedergeboren wird, so reiht sich Hüter an Hüter in der unendlichen Kette, und ich sollte das nächste Glied werden; ein neuer Tag.
Ich sah zu der Klaue runter, die an dem Lederriemen baumelte, den ich fest in der Pfote hielt. Dann nahm ich sie in beide, um sie an meine Brust zu pressen, dort, wo das Herz lag, wo die Aura bei einem einzelnen am stärksten vertreten war. Ich tauchte tief in die alte Welt ein, in die unbewusste Welt, in der ich die Aura sehen konnte, so tief wie die Sonne in der finstersten Nacht. Schließlich fand ich den Satz, den ich über drei Jahre immer wieder erspürt und gedacht hatte, wenn ich in diese Phase gelangen wollte. „Die Aura ist in mir!“, sagte, fühlte, dachte ich ganz deutlich. Schließlich konnte ich wieder die unbeständige und dann wieder feste Aura sehen, die sich zwischen denen meiner Hände befand.
Ich sollte meine an sie binden. Aber das war doch lebensgefährlich, oder? Ricardo hatte es selbst gesagt, dass ich sterben könnte, sollte meine Aura meinen Körper verlassen. Es sei denn… Ich erinnerte mich, dass er vor ein paar Monaten etwas darüber erwähnt hatte, wie man seine Aura mit einem nicht lebendigen Gegenstand binden konnte, aber es war so beiläufig gewesen, dass ich es nicht für wichtig befunden hatte. Vielleicht war das ja seine Absicht gewesen; dass ich nicht in Versuchung kommen würde, es vor diesem Moment auszuprobieren.
Also versuchte ich es.
Mit größter Konzentration, auch in vielen Monaten immer wieder geübt, löste ich meine äußere Aura von ihrem Kern – die äußere, die sich immer veränderte, bei Entwicklung oder Charakterwechsel, und der Kern, der abgesehen von tiefen Erinnerungen immer gleich blieb – und schickte sie nach der Aura der Klaue aus, aber hielt sie an einem seidenen Faden fest, der nicht zerreißen durfte, sonst war es aus mit mir. Dieser eine Faden war ein Gedanke, ein flüchtiges Bild, das tief in meinem Herzen war, denn nur so eine Erinnerung war stark genug, die Hülle nicht vom Kern zu trennen. Es war das Bild meiner Mutter, aber seltsamerweise auch von Lucia, als habe sich die eine mit der anderen vermischt und bildeten nun in mir eine einzelne Person. Es versetzte mir einen schmerzhaften Stich, denn es bedeutete wohl, dass ich sie lange nicht gesehen hatte und die Erinnerung an sie verschwommen war. Doch ich durfte nicht loslassen und fokussierte mich wieder auf die Scharfklaue. Meine äußere Aura drang in sie ein, aber nicht brutal, sondern so, als wären sie der gleiche Stoff, wie ein Tropfen in Wasser fällt, obwohl das eine Salz- und das andere Flusswasser war, und trotzdem wirkte es wie die Sonne, die abends ins Meer eintaucht und mit ihm verschwimmt, es zum glühen bringt und schließlich erlischt. Ich kann nicht sagen, was für eine Empfindung es war, was ich dabei für ein Gefühl gehabt hatte, denn ich kann mich daran nicht erinnern, als wäre dieser eine Moment aus meinem Gedächtnis gelöscht. Schließlich tauchte ich wieder auf, als sei der Morgen gekommen. Doch die Aura der Klaue hielt mich fest, und dann sagte sie etwas, nein dachte, oder ich dachte es, es ist schwer zu erklären… auf jeden Fall hörte ich in meinen Gedanken den Satz: „Willkommen im Kreis der Hüter. Lukas.“ Wobei die körperlose Stimme meinen Namen wie eine Weißsagung aussprach.
Schließlich konnte ich in die bewusste Welt zurückkehren. Es war mittlerweile stockfinster, nur die Sterne leuchteten herab und der Mond lächelte aus seinem halben Gesicht. Die Sonne war untergegangen, als habe sie meine Aura bis zu ihrem Morgen nachgeahmt. Das Aura-Plateau war in diffuses, bläuliches Licht getaucht. Es kam von hinten – mein Schatten zeigte nach Westen. In banger Erwartung drehte ich mich um, und erschrak sogleich: Dort, wo zuvor noch Ricardo gestanden hatte, schwebte nun ein paar Längen über dem Boden eine blaue Lichtkugel, die die Quelle des Schimmers zu sein schien. Plötzlich leuchtete auch die Gravur zu meinen Füßen auf, die mich einen Moment blendete. Als ich wieder sehen konnte, war die Kugel höher gestiegen, und mit zunehmender Entfernung schien sie immer weiter zu verblassen.
„Vater…“, murmelte ich, doch sie hielt nicht an und sandte mir keinen Gedanken, wie es die Klaue getan hatte. Dann war sie so weit oben, dass sie mit dem dunklen Himmel verschmolz und verschwand. Jetzt würde Ricardo wohl zu einem Stern werden. Er hatte mich aber zurückgelassen, in völliger Hilf- und Ahnungslosigkeit. Wie sollte ich nur vom Plateau runter kommen? Und warum hatte er sich nicht richtig von mir verabschiedet? Nach den fünf Jahren, die ich bei ihm in die Lehre gegangen war, drei davon als sein geistiger Sohn… Es machte mich traurig, dass er so von dieser Welt geschieden war.
Ich musste auf die Aura hören. Das war es.
Somit wusste ich, was zu tun war, hing mir die Scharfklaue mithilfe des Lederbandes um den Hals und sah dann noch einmal zu den Sternen hinauf. So viele… ob ich jemals herausfinden würde, welcher Ricardo war? Beziehungsweise seine Aura?
Ohne weitere Gedanken machte ich mich auf einen mühevollen Abstieg, denn ich konnte nun zwar den kürzeren Weg nehmen, aber es war dunkel, ich hatte keinen Führer und zudem ging ich ihn zum ersten Mal. Aber ich würde es schaffen.

Bei Tagesanbruch erreichte ich tatsächlich den Sonnenplatz.
Als hätten sie gewusst, dass ich heute wiederkehren würde, erwarteten mich alle Mitglieder meines Volkes, als empfingen sie einen Heiligen. Obwohl ich nicht als solch einer dastehen wollte, tat es mir dennoch gut, altbekannte Gesichter wieder zu sehen, die genauso froh über meine Rückkehr waren. Vor allem meine Mutter war zu Sturzbächen gerührt, ging aber ab diesem Tag an anders mit mir um als früher. Aber es machte mir nichts aus – einen Diamanten kann man nicht so leicht beschädigen.
Und dann sah ich ihr Gesicht in dem Gedränge der anderen, und zum ersten Mal seit drei Jahren wurde ich wieder nervös. Eine Kante vom alten Stein war noch geblieben, die genauso war wie zuvor. Die sich niemals geändert hätte, egal wie viele Jahre ich auf dem Aura-Plateau verbracht hätte.

> Und jetzt, mehr als fünf Jahre danach, ist tatsächlich jemand gekommen, der den Diamanten noch mal neu schleift…
Es ist eigentlich nicht viel… fünf Pokémon, ein Taubsi, ein Endivie, ein Panpyro, ein Moorabbel und ein Pikachu. Ich habe vorher noch nie eines von ihnen gesehen, geschweige denn ihre Auren erfühlt, aber dennoch erkenne ich sie eben daran. Obwohl das Pikachu eine höchst seltsame hat… der Kern gleicht ganz und gar nicht dem eines Pokémon, und wenn ich ihn genauer betrachten will, stoße ich gegen eine Art Mauer, eine Membran, die ganz deutlich „Arceus!“ ruft, obwohl ich keine Ahnung habe, warum und was für ein Pokémon das nun wieder sein soll.
Sie kommen einfach auf unsere Eiseninsel, mit ihrem schwimmenden Ding – Boot, wie ich später erfahren werde – reden irgendetwas über ein Dunkles Trio und verschwinden dann wieder. Wenn es nur das gewesen wäre.
Denn bei ihrer Abreise sagt das Pikachu: „Vielleicht könnt ihr ja auch zu diesem Krieg und hoffentlich auch zu unserem Sieg beitragen!“ Und da bricht alles zusammen; beinahe meine ganze Ausbildung, die harten Jahre… wegen diesem einen Satz.
Die Worte des Pikachu – unser Sieg – haben eine ganz konkrete Bedeutung… Ricardo lehrte mich, stets auf das Volk aufzupassen und die richtigen Entscheidungen zu treffen. Doch was ist, wenn die ganze Welt ein Volk ist? Unsere Insel, die ganze Äußere Welt und das darüber hinaus? Vielleicht hatte ich die Bedeutung dieses Wortes, Volk, falsch verstanden. Oder Ricardo hatte tatsächlich nur die Lucario und Riolu gemeint, und selbst wenn es so ist…
Plötzlich ergreift jemand meine Pfote. Ich wende den Blick von dem sich entfernenden Boot ab und sehe hin – eine blaugraue hat sich um meine schwarze gelegt; Lucia. Zum ersten Mal werde ich nicht nervös in ihrer Gegenwart, im Gegenteil, denn ich bin zu tief in Gedanken versunken. „Du willst ihnen helfen, nicht wahr?“, fragt sie.
Ich nicke. Sie kennt mich gut genug. „Ich muss nur noch herausfinden wie.“

Epilog:
Das ist nun zwei Tage her. Und ich habe immer noch keine Lösung für das Problem gefunden, wie wir dem Pikachu und seinen Freunden helfen könnten.
Ich schlafe. Aber nicht gewöhnlich, sondern befinde mich in einem Auratraum – mein Inneres Auge ist in vollem Einsatz. Aber ich streife nicht auf der Eiseninsel umher, wie ich es sonst mache, sondern halte mich einfach in meiner eigenen Aura und denke nach. Ganz plötzlich taucht in meinem tiefen Grau ein gleißend helles, blaues Licht auf. Ich spüre, dass das Pokémon, dem sie gehört, sehr alt sein muss, jedoch ist sie sehr stark – höchst ungewöhnlich für ein Wesen mit fortgeschrittenem Alter.
Ich nehme meine ganze Kraft zusammen und schicke einen Gedanken: „Wer bist du?“
Die Aura scheint belustigt zu sein. „Wer ich bin?“ denkt sie zurück. „Mein Name ist Alexander. Ich bin ein Wissenssammler, wohl so etwas Ähnliches wie du der Hüter, Lukas.“
„Wissenssammler?“ Ich bin verdutzt. „Was ist das? Und woher kennst du mich? Meinen Namen?“ Vorsichtig wagte ich mich heran und betastete seine Aura – „Altaria“ sagte sie.
„Es ist nicht so wichtig, wer ich bin. Wissenssammler sind einfach nur Altaria, die ein für uns sehr langes Leben erreichen können und so lange ihr Wissen vergrößern, bis sie blind sind. Ich kenne dich, weil ich auch Ricardo kannte – wir waren Freunde, doch vor seinem Tod haben wir nur sehr selten miteinander gesprochen.“ Alexander macht eine kurze Pause. „Du hast einen Wunsch. Du denkst immerzu an ein Pikachu und seine vier Freunde. Ich kenne es. Wir haben uns nur heute getroffen. Aber zurück zu dir: Dein Wunsch ist so stark, dass ich ihn unter all den Stimmen der Nacht am lautesten hörte. Entschuldige, die „Stimmen der Nacht“ sind dir wohl eher unter dem Begriff Aura vertraut.“ Wieder eine Pause. „Ich möchte dir ein Angebot machen. Wir – mein Stamm – haben dem Pikachu schon geholfen, aber ich finde, dass es noch nicht reicht. Und du willst auch helfen, weißt aber nicht, wie ihr von eurer Insel runterkommen könnt. Wie wäre es, wenn ich dir einige Altaria für von dir ausgewählte Lucario und ein paar Wablu für die Riolu, die Aurasphäre beherrschen, bereitstellen würde? Dark Dialga ist ein schwerer Gegner, aber durch seinen Stahltypen sehr anfällig für eure Aurasphäre. Was sagst du?“
Das Angebot klingt gut, doch ich bin mir noch nicht sicher, jemandem zu vertrauen, den ich noch nie gesehen und von dem ich noch nie etwas gehört habe. „Mal sehen“, sage ich schließlich.
Die Aura fühlt sich nickend an. „Ja, Ricardo war dein Lehrer. Entschuldige, dein Vater. Du handelst wie er. Ich habe mit dieser Antwort gerechnet. Überdenke es, morgen Nacht werde ich dich wieder besuchen.“ Dann verschwindet die Aura und lässt mich allein.
Allein mit einem guten Gefühl, etwas richtig gemacht zu haben.

Ich hörte es. Die Menge jubelte. War doch eigentlich zu erwarten, oder? Alan war ein klasse Koordinator und er räumte ein Band nach dem anderen ab. Nur heute nicht, heute würde er mit leeren Händen nach Hause radeln; denn ich hatte mir fest vorgenommen, mit meinem Pokémon eine bessere Punktzahl zu erzielen als er – ganz sicher. Doch meine Selbstsicherheit, die mich seit diesem Morgen in jeder Minute, jeder Sekunde begleitete, schwand unter der Euphorie, mit der die Zuschauer meinen Sandkastenfreund bejubelten.
Ich ballte die Fäuste. Nein, nicht heute. Heute wäre mein Applaus größer als seiner.
Die Zurufe klangen langsam ab, und als noch nicht alle im Publikum ihre angespannte Ruhe wiedergefunden hatten, gab eine Lautsprecherstimme – die ich klar und deutlich vernehmen konnte, weil an der Wand neben mir ein solcher Lautsprecher hing – das Ergebnis von Alans Auftritt kund: „Nummer achtzehn Alan und sein Pokémon Nachtara legen eine Glanzleistung von 9.7 Punkten hin! Da waren die Juroren aber sehr großzügig. Nun, was sagen die werten Herrschaften – und die Dame – denn im Einzelnen dazu?“
Aus den Lautsprechern drang ein unangenehmes Knistern, während Dexter sich das Mikrofon richtete und dann fast verführerisch hineinschnalzte: „Ich bin wirklich sehr beeindruckt von dir, Alan. Du und dein Nachtara bilden eine wunderbare Einheit! Also, wenn du heute nicht gewinnst – aber sag es keinem – fress´ ich ´nen Besen!“ Seine Stimme hatte einen „Ich mache gerne Witze“ – Ton angenommen, der mir auf irgendeine Weise auf die Nerven ging. >Dann hol schon mal ein Lätzchen und Besteck raus<, dachte ich schadenfreudig, musste mir aber Alans Punktzahl ins Gedächtnis rufen. 9.7… Das war nur sehr schwer zu toppen. Ich griff in meine linke Hosentasche und holte den kleinen Pokéball daraus hervor. Ich hielt ihn zwischen zwei Fingern und betrachtete ihn eingehend. Gleich würde ich da raus gehen, auf den Knopf drücken und…
„Und das waren Julias und Erics Kommentare dazu. Vielen Dank“, ertönte es aus den Boxen. „Und natürlich auch an dich, Alan, und dein Pokémon für diese bezaubernde Vorführung!“ Wieder fing das Publikum zu klatschen und zu applaudieren an, jedoch nicht mehr so übereifrig wie zuvor – Alan stieg gerade von der Bühne. „Damit“, redete die Ansagerin weiter wie bei einem Plausch beim Kaffeekränzchen. „kommen wir zu Nummer neunzehn, Elli!“
Ich atmete tief durch. Jetzt war es so weit. Langsam stand ich von der Bank auf und durchquerte die Umkleide der Koordinatorinnen. Als ich aus dem Gemeinschaftsraum trat, stand Alan direkt vor mir. „Herzlichen Glückwunsch“, sagte ich ehrlich in das breit grinsende, jedoch coole und lässige Gesicht.
„Danke“, sagte Alan ebenso ehrlich. „Viel Glück.“ Er klopfte mir freundschaftlich auf die Schulter und ging an mir vorbei, ohne mich noch einmal anzusehen. Sollte mir recht sein… aber…
„Alan?“ Ich drehte mich um. Er blieb stehen, sah aber nicht zurück. „Ich…“
„Nummer neunzehn, bitte auf die Bühne kommen“, erklang die leicht ungeduldige Stimme der Ansagerin. „Dank dir auch“, murmelte ich schließlich noch und beeilte mich, den Flur zu durchqueren. Lichter weißer Neonröhren begleiteten mich, aber ich nahm sie kaum wahr.
Ich vertiefte mich wie jedes Mal in meinen bevorstehenden Auftritt. >Nur nicht die Nerven verlieren, nur nicht die Nerven verlieren<, schärfte ich mir immer wieder ein. Schließlich erreichte ich den Hintereingang der Bühne und betrat diese eilig. Ich zupfte noch mein Oberteil zu Recht und prüfte ein letztes Mal die Frisur. „Und hier ist Nummer neunzehn, Elli.“
Der Vorhang wurde zurückgezogen. Die Scheinwerfer brannten auf. Alle Lichter, alle Blicke fokussierten sich auf mich. Es war erschreckend leise. Nur mein Herz raste… ich atmete tief durch, um es zu beruhigen und suchte unter all den tausend Augen die beiden meiner Schwester. Sie lächelte und nickte. Ja, ich würde es schaffen. Langsam sah ich zu dem kleinen Ball in meiner Hand und verkrampfte sie einen Moment um ihn, dass meine Knöchel weiß hervortraten. Wie geistesabwesend – was ja überhaupt nicht der Fall war – drückte ich auf den Knopf und der Ball vergrößerte sich. Wie auf ein Neugeborenes oder einen höchst kostbaren Schatz legte ich die andere Hand auf ihn, nur um ihn im nächsten Moment zu werfen mit den Worten: „Los, Ruby!“ Das rotweiße Objekt drehte sich in der Luft zweimal um sich selbst, und in diesem Augenblick schien die Zeit für mich kurz stehen zu bleiben, als würden die vielen Blicke den Ball dort schweben lassen. Doch dann verlor er wieder an Höhe und öffnete sich schließlich: In einem Wirbel violetter Sterne tauchte mein Pokémon auf.
„Elli hat sich für Psiana entschieden!“, gaben die Lautsprecher bekannt, was sowieso alle sehen konnten. „Eine höchst interessante Wahl, wenn man bedenkt, dass der letzte Kandidat ein Nachtara gewählt hat. Wir sind gespannt.“
Endlich hatte sie aufgehört. So eine dämliche Ansage hatte sie heute noch den ganzen Abend nicht gebracht. Aber darauf durfte ich mich nicht konzentrieren… „Ruby, Morgengrauen!“ Mein Psiana schloss seine hellen, klugen Augen und begann die Attacke. Es wusste genau, was es tun sollte, aber damit ich nicht nur wie der Trainer rüberkam, der seinem Pokémon einen Trick beibringt und der dann nicht mehr benötigt wird, gab ich eben die entsprechenden Befehle. Der Kristall auf ihrer Stirn begann von innen heraus zu glühen und rötliche Energiewellen breiteten sich im Raum aus wie Kreise auf flachem Wasser, auf das ein Tropfen fällt. Mit jedem neuen Ring wurde das Licht dumpfer, beruhigender, was auch mir eine gewisse innere Geborgenheit gab. Das Licht war jetzt nur noch so orangegold wie ein Sonnenuntergang überm Meer. Jetzt kam Stufe zwei: „Sternschauer.“ Aus dem karmesinroten Glühen wurde ein weißes Leuchten, und aus dem Stein flogen sich um ihre eigene Mitte drehende Sterne. Durch Morgengrauen wirkten sie alle heller und fast göttlich, was ja auch Absicht war, und warfen im ganzen Stadion gelbe Lichtreflexe.
„Elli überrascht uns mit einer perfekten Komposition zweier völlig verschiedener Attacken und beweist erneut ihr Talent für Wettbewerbe. Doch an der Regel stehen drei verschiedene Attacken… womit wird sie uns wohl als nächstes verzaubern?“
„Ruby, Psychokinese“, beantwortete ich die Frage der nervtötenden Stimme der Ansagerin. Ruby setzte sich und hob den gespaltenen Schweif. Die beiden Spitzen bebten und ihre Schnurrbarten vibrierten. Sie hob den Kopf. Ihr Rubin glühte erneut und ein Ring aus rotem Licht bildete sich um sie, der zu rotieren begann. Die Sterne und das abgebrochene Morgenrot wurden davon angezogen wie von einem Strudel und sammelten sich um Ruby. Jetzt kam das Finale: Mein Psiana machte einen eleganten Satz und bei diesem Sprung explodierte der Ring in tausend bunte Funken, die wie wild gewordene Miniatur-Volbeat durch die Luft flitzten und erstauntes Raunen bei den Zuschauern auslöste. Als schließlich fast alle Funken erloschen waren, boten die Boxen wieder die Meinung der Ansagerin feil:
„Was für eine atemberaubende Vorführung! Nummer neunzehn Elli und ihr Psiana Ruby legen einen wunderbaren Auftritt ab. Doch was sagt die Jury dazu?“ Ein paar Sekunden verstrichen, in denen die Juroren ihre Punktzahl eingaben und das Endergebnis berechnet wurde. „Und jetzt werden wir erfahren, was Ellis Darbietung bei den Herrschaften – und der Dame – ausgelöst hat…“
Sämtliche Augenpaare richteten sich auf die Anzeigetafel, auf der in diesem Moment meine Punktzahl in quarzigen, grünen Ziffern eingeblendet wurde.

Tagverträumt schlurfte Lara durch den Park. Zu hoch gewachsene Gänseblümchen, die sich durch das dichte Gras der Wiese gequetscht hatten, kitzelten ihre nackten Knöchel dicht über dem Riemen ihrer Sandalen. Sternchen hopste vergnügt neben ihr her und piepste mit seiner dünnen Stimme bei jedem Sprung seinen Namen: „Piepi, Piepi, Piepi!“, blieb dabei aber oft an einem Baum stehen und beschnüffelte die Duftmarken anderer Pokémon. Nervös zupfte Lara an ihrem Top, das ihre nicht wirklich füllige Oberweite bedeckte. Werde ich es heute schaffen?, fragte sie sich. Oder werde ich wieder…?
Nein!, schrie sie in sich hinein. Daran darf ich nicht einmal denken! Heute ist der große Tag, ganz bestimmt! Hier irgendwo müsste er jetzt sein… Sie und Sternchen bogen um eine Hecke. Und da war er!
Wusste ich es doch! Er kommt doch jeden Sonntag hier her, also lässt er es auch heute nicht aus. Schnell verkroch sie sich hinter einem Baum. Ihr Piepi machte einen großen Satz, um sie rasch einholen zu können, und versteckte sich hinter ihrem für es viel zu dünnen Bein. Als ob man es da nicht sehen könnte…, dachte sie amüsiert, sagte aber nichts. Sternchen kann warten. Dieser Moment kommt so schnell nicht wieder! Wer weiß, ob ich ihm noch mal so ungestört begegnen kann?
Er warf gerade einen Stock, damit sein Frizelbliz hinterher rennen und ihn holen konnte. Wie ein Blitz schoss es davon und brachte das Spielzeug seinem Herrchen wieder. Sogar seine Pokémon sind der Hammer! Doch es ging Lara ja nicht um das Elektropokémon. Jerome… Ich Blick wurde verträumt. Allein sein Name klingt schon wie die schönste Musik! Kein Wunder, dass sich ihm alle Mädchen an den Hals werfen. Doch dann musste sie überlegen: Na ja, ein Name sagt nicht unbedingt etwas über die Persönlichkeit aus. Aber ein schöner Name = gute Eltern = eine gute Erziehung = ein perfekter Charakter! Sie merkte, wie sie wieder rot wurde, als Jerome sein Frizelbliz anlächelte und zärtlich streichelte. Hastig drehte sie sich um, aus Angst, das Hundepokémon könnte sie vielleicht bemerken, und damit auch er. Wie es wohl wäre, wenn er so mit mir umgehen würde?
„Piepi!“, flüsterte Sternchen.
„Jaja, ich weiß!“, drängte Lara. Ich hab es mir fest vorgenommen. Verträumt sah sie herauf in die Baumkrone der Pflanze, zu dessen Füßen sie saß. Eine Kastanie mit roten Blüten… Im ganzen Park hat es nur sehr wenig rotblütige Kastanien! Sonst sind sie weiß oder gelb. Das ist ein Zeichen, ein gutes Zeichen! Es wird klappen, ich werde es schaffen! Wie zur Bestätigung fingen die Kinoso, die zwischen den hell erleuchteten Blättern in ihrer Blumenform saßen, ein wortloses, flüsterleises Loblied an die Sonne zu singen an. Noch einmal stierte Lara zu Jerome. Gerade gab er seinem Pokémon – obwohl es ständig „Frizelbliz!“ kläffte, da es in Deutschland geboren war, nannte er es dennoch Dynavolt, der französische Name – ein paar Knurspe. Heute frage ich ihn, ob er mir Französischnachhilfe geben will. Ich bin zwar nicht schlecht in Französisch. Ich liege auf dem Durchschnitt. Aber ich würde töten, um nur ein paar Stunden allein mit ihm verbringen zu dürfen, nur wir zwei! Ich würde alles tun; so wie die Mädchen in diesen kitschig-schönen Mangas! Egal, wie lange der Angebetete sie nicht bemerkt, am Ende lieben sie sich doch gegenseitig, weil sie nicht aufgegeben hat. Und so wird es bei mir heute auch sein! Dass er Französisch kann, ist ja sowieso klar – er ist doch erst mit vier Jahren her nach Deutschland gezogen! Daher auch dieser romantische Akzent und…
„Piepi!“ Sternchens Stimme klang dringlicher.
Lara nickte und ging um den Baum. Mist!, dachte sie und fasste sich an das brennend heiße Gesicht. Mit einem so hochroten Kopf brauche ich nicht mit ihm reden… Mit einem flinken Schritt verkroch sie sich wieder und sank auf die Knie. Es ist eigentlich zwecklos. Warum sollte überhaupt jemand wie er jemanden wie mich bemerken? Er ist doch in der elften Klasse, in der Oberstufe! Ich hingegen bin nur in der Mittelstufe… zwar im letzten Jahrgang, aber dennoch liegen zwischen uns Welten! Und überhaupt – ich bin auch keine besonders herausragende Schönheit… Bei all den Mädchen auf unserem Gymnasium, die ihn vergöttern! Das kleine rosa Pokémon legte tröstend eine Pfote auf ihr Bein. „Ach, Sternchen“, sagte Lara und streichelte es. „Ich glaube, ich kann das nicht!“
In das kleine Gesicht trat ein finsterer Ausdruck. „PIE-PI!“ Es grub seine Krallen tief und schmerzlich in ihre Haut.
Vor Qualen aufgeschreckt stand sie auf. „Ist ja gut, ist ja gut, ich mach es ja!“ Musst ja nicht immer gleich gewalttätig werden! Erneut trat sie hinter der Kastanie mit den roten Blüten hervor. So, und jetzt werde ich…!
„Sophie!“, rief Jerome auf einmal. Wem winkt er da? Ich sehe niemanden… Und warum bellt Dynavolt so aufgeregt? Im nächsten Moment rannte ein Mädchen mit flatternd langen, goldblonden Haaren und einem eleganten, kastanienroten Sommerkleid, das ihre perfekte Figur betonte, hinter einer Weide hervor auf Jerome zu. Wieder bot Lara der Baum Sichtschutz, als sie die beiden beobachtete. Wer ist denn das? Der eben erst Hinzugekommenen folge ein Guardevoir, das, gleich eines ihr überall hin folgenden Schattens, lautlos über die Wiese schwebte. Die Blonde warf sich Jerome um den Hals.
Nein! Entsetzen packte Lara, und sie wandte sich ab. Er hat schon eine Freundin!
In diesem Moment hörte sie Jerome voll Freude: „Cordialement bienvenu en Allemagne!“ sagen. Herzlich willkommen in Deutschland… Sophie? Ein Guardevoir? Er redet französisch mit ihr?! Ihr Herz schlug in unmöglicher Schnelligkeit. Er muss sie vor sechs Monaten kennen gelernt haben, als er in Paris gewesen ist! Wut staute sich in ihr auf. Warum? Das ist alles meine Schuld! Warum hab ich ihn nicht schon vorher auf meine Gefühle für ihn angesprochen?! Ich wünschte, ich hätte jetzt ein Kissen zum reinschreien… Oder etwas anderes. Sie donnerte mit der Faust gegen den Stamm des Baumes. Sofort zog sich ein unangenehmer Schmerz durch ihren Arm, der ihn beinahe lähmte. Sie sackte wieder in die Knie. Mist, jetzt fang ich wieder zu heulen an! Rote Blüten hatten sich durch den Schlag von ihren Dolden gelöst und nieselten jetzt auf das kontraste Gras. Wie Blutstropfen… Mein Herzblut! Ein Kinoso, das sich vor Schreck in seine Knospenform verwandelt hatte, fiel von seinem Platz in der Baumkrone mit einem donnernden >Krawumm!< genau auf Laras Kopf.
„Au!“, rief sie. Durch den Schlag landete sie flach auf dem Rücken. Na toll, wenn das nicht alle Toten in der Umgebung geweckt hat, dann sind sie taub!, dachte sie bitter. Zuerst sah sie nur Sterne, dann Sternchen, das sich über ihr Gesicht gebeugt hatte und besorgt seinen Namen sagte.
„Alles in Ordnung?“
Oh, Mist! Der Akzent, die Stimme… Das ist Jerome! Sie schaffte es, den Blick zu heben und sah ihn neben dem Baum stehen. Wie ein Engel… ein von durch grüne Blätter gefilterten Licht beschienener französischer Engel. Da hat nur ein anderer Engel eine Chance, nicht so eine dämliche Sterbliche wie ich!
„Soll ich dir aufhelfen?“, fragte er und streckte ihr seine Hand hin.
Entsetzt blickte sie zu ihm auf. Blöde Frage, natürlich!, dachte sie, doch die Panik, die in ihr aufstieg, ließ ihren Gedanken keinen sprachlichen Lauf. Ich muss hier weg! Sie rappelte sich auf, indem sie sich auf alle Viere drehte, und stolperte vorwärts, wobei sie bei den ersten Schritten fast wieder auf volle Länge gestürzt wäre. Mir tut die Hand so weh… Ein Kissen wäre vielleicht besser gewesen, aber verdammt! Ich dumme, dumme, dumme Kuh!, schimpfte sie sich selbst. Warum habe ich auch so lange gezögert? Tränen ließen ihr Sichtfeld verschwimmen. Ist doch auch egal… ich will nur weg von hier!
Denn ihr Herz blutete. Und die Kastanien blühten.

Völlig im Regen der Kastanienblüten stehen gelassen starrte Jerome ihr hinterher. Was hat sie nur?, dachte er. Bin ich wirklich so…?
Plötzlich tauchte Sophie, so lautlos wie eine Sommerbrise, ähnlich elegant wie ihr Guardevoir, am Rand seines Blickfeldes auf. „Ist sie das? Die, von der du mir erzähltest, Brüderchen?“ Sie redete Deutsch mit ihm, was selten vorkam.
Er schüttelte den Kopf, aber nicht, um ihre Frage zu verneinen. Sie merkt auch wirklich alles. Ob das an ihrem Pokémon liegt? Versonnen sah er zu seiner drei Jahre älteren, jedoch einen Kopf kleineren Schwester herab. „Ja, das war sie.“
Sie wechselte wieder in ihre Muttersprache: „Ich muss zugeben, sie ist wirklich so, wie du sie vor einem halben Jahr beschrieben hast, als du mich in Paris besucht hast. Aber dass sie so… schreckhaft ist, hast du mir nicht gesagt. Anscheinend mag sie dich nicht so sehr, wie du sie. Greif lieber zu, bevor es ein anderer tut!“ Sie lächelte engelsgleich, jedoch mit einem Anflug von teuflischer Verschmitztheit. „Nun komm.“ Sie machte eine auffordernde Handgeste. „Ich muss gleich morgen wieder in der Uni sein. Aber zuerst will ich unsere Eltern begrüßt haben, bevor ich wieder nach Paris fliege!“
Du hättest ja den abgemachten Flieger nehmen können, dann wären Papa, Mama und ich am Flughafen gewesen, wenn du angekommen wärst, grummelte er in sich hinein.
Als habe sie seine Gedanken gelesen, sagte sie: „Ich bin früher gekommen, weil ich euch überraschen wollte. Nun, gehen wir? Du weißt doch, dass ich mich hier nicht auskenne.“
„Dynavolt zeigt dir den Weg…“, entgegnete er. Ich brauche doch nur einen Moment für mich!
Ein bedauernder Blick bahnte sich einen Weg in ihr mädchenhaftes Gesicht. „Wie du meinst.“ Damit wandte sie sich um und ließ sich von dem kleinen Donnerhund führen, ihr eigenes Pokémon schwebte nur wenige Meter hinter ihr.
Jerome schwebte ebenso, aber in anderen Sphären: Schreckhaft… Vielleicht schon. Ist ja nicht so schlimm wie schüchtern zu sein, so wie ich. Obwohl ich es zu verbergen suche… Wahrscheinlich hat Sophie ja Recht. Ich sollte sie demnächst mal zu einem Eiskaffee oder ins Kino einladen… Schon in Gedanken, wie er seine Schüchternheit überwinden konnte, drehte auch er sich um und setzte zum Heimweg an.

Stichwort TrauerTodundAufopferung ;)

Die Sonne schien, und es war ein herrlicher Tag. Quietschvergnügt jubelten – ganz zu Ehren ihrer Heimatstadt – die Kinder und rannten durch die Straßen, bespritzten sich mit Wasserpistolen und warfen sich gegenseitig Wasserbomben zu, sehr zum Leidwesen ihrer verärgerten Mütter, doch das kümmerte sie nicht. Die Kinoso in den Bäumen lachten der Sonne entgegen und feierten die sommerliche Wärme, die sie ihnen schenkte.
Und Samuel musste lernen.
An so einem schönen Tag drinnen hocken und für die Schule pauken… „Das sollte verboten werden!“, schnaubte er und schob das Buch beiseite. Es klingelte. Kurze Zeit später betrat jemand sein Zimmer.
„Guten Tag, Sam“, sagte Fred übertrieben höflich und grinste.
„Ach, halt die Schnauze…“
Sein Freund ließ sich auf das Bett plumpsen und donnerte seinen Rucksack irgendwohin. „Lernen?“
Sam nickte bloß.
„Da hast du dir aber einen schlechten Tag ausgesucht…“, war Freds Kommentar. Er setzte eine verschmitzte Grimasse auf und verkündete: „Heute gehe ich zu Nessas Poolparty!“
Sofort waren die Schularbeiten vergessen: „Du gehst da hin?“ Sam konnte sich vor Verblüffung nicht halten und setzte sich auf seinen Schreibtischstuhl. „Hast du denn eine Einladung bekommen?“
„Najaaa, Vanessa hat mir so gesehen keine gegeben, aber ich lade mich einfach selbst ein, die wissen ja nicht, was ihnen entgeht!“
Skeptisch betrachtete Samuel den etwas unförmigen Körper seines Freundes. Doch, sie wussten anscheinend ganz genau, was ihnen entging. „Wenn sie dich erwischen, bist du dran!“, warnte er.
„Sie werden mich nicht erwischen, Sam. Ich hab doch den Ring!“ Er machte eine abschätzende Handgeste, als wäre das völlig normal.
„Ganz genau, Frodo. Und damit spazierst du einfach nach Mordor?“
Belustigt grinste Fred. Der Vergleich schien ihn zu amüsieren. „Komm doch auch mit. Ich brauche schließlich jemanden, der mich vor Sauron und seiner Rache beschützt!“
Sam schüttelte den Kopf und deutete auf seinen Schreibtisch.
„Macht nix.“ Fred zuckte mit den Schultern. „Ich kann dir auch was mitbringen. ‚Entschuldigung, Sauron, sorry, ich meine Nessa. Ich würde gern bestellen: zweimal scharfe Braut ohne alles, zum mitnehmen.’“
„Hab Spaß, Frodo“, erwiderte Samuel trocken und zeigte flüchtig auf die Tür.
Seufzend erhob sich der Angesprochene und griff sich seinen Rucksack wieder. „Ich sag dir eins…“ Er beugte sich vor, als ob sie jemand belauschen könnte. „… du solltest lieber mitkommen. Ob du Physik wieder verhaust oder nicht, ist doch egal, du tust es ja sowieso.“ Ohne die Reaktion seines Freundes abzuwarten – die ohne Zweifel sehr verärgert ausfallen werden würde – huschte er zur Tür und sprang hinaus.
Grummelnd wandte sich Sam wieder seinem Buch zu. „Ich komm nicht mit…“, flüsterte er vor sich hin. „Minustemperaturen rufen mich!“ Er zog das Buch heran und las etwas über den absoluten Nullpunkt und wann Wasser seine größte Dichte hatte, bevor es sich wieder ausdehnte, bevor es gefror – und verstand nichts.
Samuel!
Erschrocken zuckte er zusammen. Was war das gewesen? Er sah sich in seinem Zimmer um. Für einen Moment hatte er geglaubt, eine hauchfeine Stimme habe seinen Namen gerufen. Seine Haare stellten sich auf. Aber nicht aus Angst – es wurde plötzlich kälter. Dann wurde es wieder normal. Als habe er sich das nur eingebildet…
Mein Gott! Jetzt fange ich auch noch an, von Kälte zu halluzinieren! Kopfschüttelnd las er in dem Buch weiter.

Es mussten vier Stunden vergangen sein, als es an der Haustür klingelte. Das energische Sirren riss ihn aus seiner Konzentration, und Samuel musste schließlich das Buch zuschlagen. Wieder war es seine Mutter, die den Besucher einließ. Dann war Fred auch schon in seinem Zimmer. Er hatte sich in seine Sommerjacke gemummt und zitterte erbärmlich. „Ist das Wasser wirklich so kalt?“, fragte Sam belustigt und betrachtete sein Gegenüber. Auf dessen Schultern und Kopf hingen winzige Wassertröpfchen. „Es ist doch warmes Wetter.“
„Du hast gut reden!“, feixte Fred. „Du sitzt ja auch hier drinnen. Guck doch raus, du Oberschlaumeier!“
Während es sich sein Freund unter einer Decke bequem machte, ging Sam seiner Aufforderung nach. Sogleich schockte ihn das, was draußen zu sehen war: Es schneite! Mitten im Hochsommer rieselten Schneeflocken vom Himmel herab! Ungläubig trat Samuel ans Fenster. „Ach du… ich… das…“ Vor lauter Verblüffung wusste er nicht, was er sagen sollte.
„Ganz genau!“ Fred rieb sich die Hände. „Die Party ist geflogen… ich wollte nach Hause, aber ihr wart war näher.“
Das wollte Sam mit eigenen Händen fühlen. Ohne auf seinen Freund zu achten, verließ er sein Zimmer, trat aus der Erdgeschosswohnung und dann aus dem Mehrfamilienhaus. Sofort hüllte ihn eisige Kälte sein und nagte an seiner Haut. Er streckte die Hand aus, um die Flocken zu fühlen, und als eine auf seiner Handfläche landete, war er sich sicher, dass es Wirklichkeit war.
Er ging in die Wohnung zurück, unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Es wunderte Sam, dass es ihn so sehr schockte, war es doch durchaus möglich, dass es mal zu früh schneite, aber egal wie er es drehte, er fand keine Erklärung für seine Verblüffung.
„Mamaaa, es schneit!“, hörte er seine Schwester rufen. „Ist jetzt bald Weihnachten, bekomme ich jetzt die Puppe?!“ Sie rannte ihm im Flur entgegen und stieß gegen ihn. Der Aufprall wurde von dem Fluffeluff in ihren Armen aufgefangen, das ihn dann aber voll abbekam.
Samuel half ihr auf. „Sam, sei vorsichtig.“
„Ich will aber die Puppe!“, kreischte Samantha ihn an. „Und jetzt ist Weihnachten!“ Sie vollführte einen Freudentanz und quiekte dabei immer wieder den Namen des Festes.
Ihre Mutter kam aus der Küche. „Was redest du denn für ein Zeug?“ Sie hatte den Schnee anscheinend noch nicht gesehen.
„Es schneit“, bestätigte Sam und schüttelte den Kopf.
„Ach was“, war der einzige Kommentar seiner Mutter. „Mitten im Juli…?“ Sie vergewisserte sich, dann wurden auch ihre Augen groß.
„Ich begleite Fred nach Hause“, verkündete Samuel und ging in sein Zimmer.

Einen ganzen Tag lang schneite es bereits. Ohne Unterbrechung. In allen Zeitungen, allen Radio- und Fernsehnachrichten wurde davon berichtet und über die Spekulationen berühmter Wissenschaftler, doch keine konnte das seltsame Naturschauspiel erklären. Die Meteorologen hatten für die nächsten Tage sommerlichen Wetter vorhergesagt, und auch ihre neueren Messungen ergaben nichts anderes, obwohl das Wetter selbst das glatte Gegenteil bewies. Noch viel wunderlicher aber war, dass in ganz Sinnoh nur Jubelstadt dieses verkehrte Wetter aufwies, in einer Entfernung von einem Kilometer löste sich die Schneegrenze.
Obwohl es mittlerweile Minustemperaturen aufwies, hatte sich Sam dennoch in passende Schale geworfen und war zu seinem Freund gegangen, weil dieser ihm unbedingt etwas zeigen wollte, wie er es in einer E-Mail erklärt hatte. „So, was ist jetzt so dringend?“, fragte Samuel, der Fred jetzt schon einige Minuten beim Rumtippen beobachtet hatte, ohne dass der etwas mit ihm gesprochen hatte.
„Du weißt ja, dass mein Vater einen Draht zum Klimainstitut in Hoenn hat, nicht?“
Sam verdrehte genervt die Augen. „Du erwähnst es auch nicht jeden Tag um die siebenunddreißig mal!“
„Genau“, erwiderte Fred trocken. „Die haben mir auf Anfrage ein Satellitenbild von Jubelstadt geschickt.“ Er öffnete eine Datei und zeigte sie ihm.
Amüsiert grinste Sam. „Ich wusste gar nicht, dass Jubelstadt dunkelblau ist!“
„Du Depp…“, murmelte Fred. „Das ist ein Infrarotbild! Wärmebild, wenn du so willst. Wirklich, du solltest in Physik mal besser aufpassen.“ Er fuhr mit dem Zeiger über einen grünen Fleck. „Das ist ein Mensch, daher ist er im Farbspektrum höher, weil er wärmer ist. Und das hier ist ein Glumanda.“ Damit zeigte er auf einen weiteren Fleck, der jedoch gelblicher war. Man erkannte ganz deutlich die Schwanzflamme des Echsenwesens, da diese rot und damit sichtlich heißer war.
„Ja, und?“, drängte Sam. Er wusste immer noch nicht, was sein Freund von ihm wollte – er musste auch schnell nach Hause, weil seine Eltern ausgehen wollten und er auf Samantha aufpassen musste – zudem erkannte er nichts außer die wenigen Menschen und Pokémon auf den Straßen, denn sonst war alles tiefblau.
Fred öffnete ein Programm. „Was den Leuten vom Institut aber nicht aufgefallen ist, ist das hier!“ Flink zog er das Wärmebild in das Programm und verschob einen Regler. Die Farben wurden intensiver, das Gelb des Glumanda fast weiß, das Grün des Menschen rot. Das Dunkelblau von Jubelstadt wurde leicht heller, jedoch blieb ein dunkler Fleck in einem nahen Wald. Darüber fuhr jetzt Freds Mauszeiger. „Hier ist es am Kältesten, das Herz des Sommerfrostes, könnte man so sagen. Hier lebt unser Eismonster: Der Cold Cage!“
„Cold Cage?“ Sam schüttelte den Kopf. „Du kommst immer auf die dümmsten Ideen!“
„Ja, aber das ist noch nicht alles. Hast du heute Mittag die Nachrichten gesehen?“ Als sein Freund verneinte, fuhr er fort: „Da war die Rede von einem Eisberg.“ Wieder öffnete er eine Bilddatei, die einen spitzen, weißen Berg inmitten eines verschneiten Waldes zeigte. „Und jetzt rate mal, wo der steht?“
„Im… Cold Cage?“, riet Samuel darauf los.
„Bingo. Also wenn dieser Sommerfrost von irgendwoher kommt, dann von dort! Denn die Spitze des Berges strahlt die größte Kälte aus.“ Fred schloss sämtliche Dateien und Programme wieder.
„War das alles?“, wollte Sam wissen.
Sein Freund seufzte. „Alter, wenn du so sehr darauf brennst, auf deinen kleinen Quälgeist aufzupassen, dann gehe. Dann gehst du mir zumindest nicht mehr auf die Nerven.“

Gelangweilt zappte Samuel durch die Kanäle. Kein einziger anständiger Sender wurde mehr ausgestrahlt, aufgrund des Sommerfrostes – wie er widerwillig von Fred übernommen hatte – konnten Jubelstadt-TV nicht mehr senden. Es kamen nur noch die außerregionalen Sender, jedoch liefen dort entweder Horrorfilme – am Freitagabend – oder Kinderfilme – leider am Freitagabend.
„Schalt zurück!“, keifte Samantha wieder und bohrte die Finger in Fluff. Es quiekte, doch sie reagierte nicht darauf.
Sam ließ das Betteln seiner Schwester kalt. „Nein, tu ich nicht!“, versicherte er trocken.
„Schalt zurühühück!“ Ihr Fluffeluff atmete erleichtert auf, als es sie los ließ und vom Boden auf das Sofa sprang. „Schalt zurück!“, forderte sie jetzt eindringlicher.
Ihr großer Bruder seufzte. Kurzerhand schaltete er den Fernseher aus. „Hör, zu, Kleine. Ich…“
„ICH BIN NICHT KLEIN!“, brüllte sie ihm ins Gesicht, dann stellte sie sich auf das Polster und machte eine angeberische Pose. „Ich bin schon fünf Jahre alt!“
„Na gut, wie du willst, Große.“ Genervt grummelte er, nahm den Faden dann wieder auf: „Ich passe heute auf dich auf, freundlicherweise, würdest du dann freundlicherweise Ruhe geben? Soll ich dich ins Bett bringen?“
„NAAAIN!“, kreischte sie, griff sich Fluff und flüchtete in ihr Zimmer.
Sam nickte. Gut so. Gerade wollte er die Glotze wieder aktivieren, als es plötzlich kälter im Raum wurde. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Sofort sprang er unter der Decke, die er sich wegen der eigentlich schon herrschenden Kälte notgedrungen übergeworfen hatte, auf und rannte in das Zimmer seiner Schwester. Die saß bereits auf dem Boden und spielte mit ihren Puppen und Fluff, das sichtlich wenig Lust dazu hatte. Ihr Blick flog zu ihm hoch, als er die Tür aufwarf. „Was?“
„Ich…“ Samuel wusste auf diese Frage auch keine Antwort. „Will… willst du ins Bett?“
Große Augen leuchteten ihm entgegen. „Ja…“ Irgendetwas schien sie zu verstehen – selbst wenn er eigentlich derjenige war, der es am wenigsten verstand.
Kurz darauf hatte er die Heizung höher gedreht, um die aufgekommene Kühle zu vertreiben. Er und Samantha hatten sich schließlich ins Bett gelegt – jedoch jeder in sein eigenes. Mit geöffneten Augen lag Sam auf seinem und starrte gegen die finstere Decke. Der Schlaf wollte einfach nicht kommen, obwohl er sonst eigentlich schnell einschlafen konnte.
Nach einigen Minuten knirschte seine Tür. An die Stille der Nacht gewöhnt schoss er erschrocken auf und schaltete seine Nachtischlampe an – es war nur Samantha, die Fluff fest an ihre Brust drückte. Der Schock ließ nach. „Was willst du denn?“, fragte er ungeduldig.
Sie antwortete nicht, sondern kam nur näher. Ihre Augen schimmerten feucht und ängstlich. Die Augen ihres Pokémon waren übernatürlich glubschig, weil sie es so sehr an sich presste.
Sofort verstand er und setzte sich hin. „Hey, was ist?“ Sein Tonfall war jetzt freundlicher und mitfühlender geworden. Seine Schwester konnte oft nervig sein – vermutlich dachte sie das aber auch über ihn – aber im Grunde hatte er sie doch lieb.
Zitternd kam sie näher und ließ sich auf den Schoß nehmen. Trost suchend kuschelte sie ihren Kopf an ihn. „Ich hab Angst…“, flüsterte sie schließlich.
„Angst?“ Vorsichtig streichelte er ihr den Kopf. Er wusste, es würde ihm noch diese Nacht leid tun, aber er brachte es nicht übers Herz, es ihr nicht anzubieten: „Möchtest du vielleicht… heute… bei mir schlafen?“
An anderen Tagen hätte sie sich gefreut, bei anderen zu schlafen – das tat sie grundsätzlich, weil sie ihr eigenes Bett warumauchimmer nicht mochte – doch jetzt nickte sie nur kraftlos. Also legte sie sich neben ihn und ließ sich zudecken, Fluff natürlich nach wie vor im Quetschgriff.
Schon seltsam, dachte Sam. Sonst hat sie doch nie Angst im Dunkeln… Vielleicht beunruhigt es sie nur, dass Mama und Papa nicht da sind…

Es war kurz nach Mitternacht, als er wieder aufwachte. Sein stockfinsteres Zimmer umgab ihn, als er sich im Halbschlaf aufrichtete. Seine Hand berührte etwas hartes, und nur im dritten Moment erinnerte er sich wieder, dass Samantha bei ihm im Bett lag. Aber irgendetwas stimmte nicht… Erst, als sein Bewusstsein nach und nach aus den verträumten Sphären zurückkehrte, gewahrte er es: es war schlicht und einfach kalt. Ein paar Sekunden horchte er auf das leise Atmen seiner Schwester und das des kleinen Fluffeluff, dann stand er schließlich auf und griff sich die Taschenlampe, die er für Not – was Stromausfall und nicht schlafende Schwester, die durch die Nachttischlampe wach werden konnte, bedeutete – unter sein Kissen gelegt hatte, und bahnte sich mit ihrem leitenden Strahl einen Weg durch die Dunkelheit.
Er sah ein grünliches Blinken auf dem kleinen Tischchen im Flur. Es dauerte eine Weile, bis er verstand, dann drückte er den Abspielknopf. „Hallo, Kinder“, ertönte die mechanisch verzerrte Stimme seiner Mutter. „Tut mir leid, dass wir noch nicht zurück sind, aber es hat einen Schneesturm gegeben und wir dürfen nicht mit dem Auto fahren. Wir sind bei Beate und kommen wohl erst morgen früh wieder. Gebt euch gegenseitig Küsschen von uns! Bis morgen.“ Das Telefon piepste und sagte noch die Uhrzeit des Anrufes an. Immer noch leicht benommen vom Schlaf ging Sam weiter.
Schließlich fand er die Kellertür und ging die paar Treppen runter in den Heizraum. Wie er es sich gedacht hatte: Die Heizung war ausgefallen. Seufzend fingerte Sam an den Knöpfen rum, deren Bedeutung er nur spärlich verstand, und brachte sie irgendwie – er würde wohl nie erfahren, wie genau – wieder zum Laufen.
Dennoch fiel die Temperatur mit einem Mal in einen tiefen Abgrund. Das tropfende Rohr, das durch keine Diagnose keines Klempners erklärt und damit auch nicht repariert werden konnte, verstummte, als das Wasser, das es stetig abließ, gefror. Sams Atem beschlug so sehr, dass er fast undurchsichtig wurde wie der dickste Nebel. Fröstelnd sackte er aus Instinkt zusammen und rollte sich ein, um nicht zu viel Wärme zu verlieren.
„Ich will dich, Samuel!“
Sam wirbelte herum. Einen Moment lang hatte er geglaubt, eine Stimme gehört zu haben. Eine hauchende, flüsternde, fast lautlose Stimme einer jungen aber verbitterten Frau. Im nächsten Moment zeigte sich die Kälte gütig und zog sich wieder zurück. Dennoch spannte sich über seine ganze Haut eine hartnäckige Gänsehaut. Er blieb noch eine Weile so hocken, starrte weiterhin in den von seiner Taschenlampe erhellten Keller. Langsam begann nun auch, das Wasser des kaputten Rohrs wieder zu tauen und zu tropfen.
Zuerst war es nur sehr leise, dann nahm es plötzlich eine unwirkliche Lautstärke an. Im ersten Moment dachte Sam nicht weiter darüber nach – schließlich war es so still im Keller und nebenbei auch noch höchst unheimlich, dass ihm natürlich jedes Geräusch wie durch tausend Boxen verstärkt vorkam. Doch dann kam ein „gewöhnliches“ Tropfen, kurz darauf das lautere Geräusch.
In Gewissheit, dass immer noch nicht alles wieder zur Normalität zurückgekehrt war, griff er sich seine Taschenlampe und ging dem Klopfen nach. Es führte ihn die Treppen hoch zur Kellertür. In unregelmäßigen Abständen pochte von außen etwas gegen das Holz. Samuel konnte sich nicht erinnern, sich jemals so einsam und hilflos, nein, er musste sich es eingestehen, ängstlich gefühlt zu haben, als er mit zitternder Hand die Türklinke berührte. Er zuckte unwillkürlich zurück, als wieder geklopft wurde. Doch dann riss er sich zusammen und drückte die Klinke schließlich runter.
Das etwas, das vor der Tür stand, wollte erneut dagegen rennen, jedoch war diese nicht mehr da, und es traf ins Leere. Fluff rannte zwischen seinen Beinen durch und purzelte schließlich in blindem Entsetzen die Treppen wie ein losgelassener Hüpfball runter. Es bekam zu viel Schwung und sprang unkontrolliert durch den Keller.
Samuel reagierte schnell, nachdem der erste Schreck überwunden war, und fing es schnell auf. „Was ist denn los?“, fragte er das kleine Ballpokémon, das endlich die roten, verängstigten Augen öffnete, ihn erkannte und sich in seine Arme kuschelte. Entschlossen stellte er es zurück auf den Boden und fragte erneut. Die Rubinchen glitzerten ihm verweint entgegen, dann sprang es auf seine kurzen Beinchen und trippelte zurück zur Treppe. Jedoch war es zu klein und konnte die erste Stufe nicht von selbst erklimmen, geschweige denn hüpfen, da es das aus dem Stand nicht konnte.
Kopfschüttelnd kam Sam hinterher und nahm es auf den Arm. Als sie wieder im Flur waren, ließ er Fluff wieder runter, das, noch bevor er die Tür geschlossen hatte, gleich die Initiative ergriff und weiterrannte. Sam tat dies noch schnell und folgte ihm, was ihm keine Schwierigkeiten bereitete, weil er es mit wenigen Schritten eingeholt hatte. Das Fluffeluff hielt direkt auf sein Zimmer zu und drückte die Tür schließlich auf. Seufzend betrat er es.
Als der Schein seiner Lampe sein Bett erreichte, wollte er nicht glauben, was er da sah.

Es war neun Uhr vormittags. Schon zwei Stunden waren seine Eltern wieder zu Hause, aber in ihrer Wohnung schien die Zeit stehen geblieben zu sein.
„Tut mir wirklich sehr leid, Frau Friedrichs. Da lässt sich nichts mehr machen…“ Der Arzt ließ den kleinen Arm los und stand auf. „Auch wenn…“ Er verstummte sofort, als die Angesprochene zum Bett stürzte und erneut in Tränen ausbrach. Ihr Mann stand neben Samuel und blickte grimmig drein.
Sam selbst hatte nicht die geringste Ahnung, was er fühlen sollte. Als er letzte Nacht seine Schwester so vorgefunden hatte, hatte er auch keinen blassen Schimmer gehabt. Im Grunde wollte er nur nicht großartig darüber nachdenken – er traute sich vielleicht einfach nicht. Sein Vater zupfte ihn am Ärmel und die drei Männer verließen den Raum. Der Arzt ließ die Tür leise zufallen und wandte sich schließlich an den älteren: „Ich kann es mir nicht erklären, wie das hatte passieren können“, gestand er. „Wenn ich nach der Aussage Ihres Sohnes gehe, hätte es nicht passieren dürfen. In einer solch kurzen Zeit kann das nicht geschehen. Aber lassen wir ihr ihre Ruhe…“ Er warf sich seinen Wintermantel über – höchst paradox, da im Hintergrund an einer Wand ein Kalender hing, auf dem „Juli“ stand – verabschiedete sich und verließ schließlich die Wohnung.
Kaum, dass die Tür ins Schloss gefallen war, ballte Sams Vater in blinder Wut die Fäuste. Dann jedoch erschlafften sie und auf das Gesicht des sonst so selbstbewussten Mannes trat ein Ausdruck tiefster Trauer. „Warum waren wir nicht da?“, fragte er tonlos, jedoch ohne eine Antwort zu erwarten. „Vielleicht hätten wir dann wieder…“ Sofort hielt er inne und fingerte an einem Hemdknopf herum – das tat er immer, wenn er in seltenen Fällen nervös war.
„Was bedeutet ‚wieder’?“, traute sich Sam zu fragen.
„Ach, ich… nein, es zu leugnen ist nicht richtig. Komm mit.“ Er bat seinen Sohn ins Wohnzimmer und sie nahmen zusammen auf dem Sofa platz. Sein Magen verkrampfte sich, als er daran dachte, dass dies der letzte Fleck war, an dem er zum letzten Mal mit seiner Schwester gestritten hatte. „Als du noch sehr klein warst“, begann sein Vater schließlich. „hatten wir einmal in Blizzach Urlaub gemacht. Du lagst in deinem Gitterbettchen neben unserem Bett. Plötzlich wurde es ganz kalt… Obwohl die Heizung bis zum Anschlag aufgedreht war und beinahe glühte!“ Er machte eine längere Pause, bevor er fortfuhr. „Uns war es relativ warm, zusammen unter einer Decke, aber Mama hat sich um dich gesorgt. Sie hatte Angst, du könntest erfrieren. Als sie dich dann aus dem Gitterbett nahm, da…“ Seine Stimme stockte, und er musste sich sichtlich überwinden, um fortzufahren. „Du warst ganz kalt und blau, und geatmet hattest du auch nicht mehr. In Panik haben wir dich dann ins Krankenhaus gebracht, und die dortigen Ärzte haben dich dann gerettet…“ Trauer übermannte ihn und er verbarg das Gesicht in den Händen.
„Warum habt ihr mir das nie erzählt?“, wollte Samuel wissen. Er erschrak, als er feststellte, wie ruhig seine Stimme klang.
„Wir wollten es vergessen… Du hast keine Ahnung, was für ein Schock das für uns war…“ Die Stimme seines Vaters klang, als ob er jeden Moment zu weinen anfing. „Es war genau wie heute. Niemand konnte sich erklären, wie du in so kurzer Zeit so schnell abkühlen konntest. Du wärst fast gestorben! Der Notarzt meinte, dass es eine Stunde bei der Temperatur gebraucht hätte, um in diesen Zustand zu kommen. Es war einfach schrecklich. Und jetzt…“ Schließlich konnte er nicht mehr an sich halten und begann zu schluchzen.
Samuel wusste nicht recht, was er sagen sollte. Schließlich meinte er: „Ich gehe frische Luft schnappen…“
„Zieh dich gut an.“ Seine Mutter betrat das Wohnzimmer – ihr Gesicht war fleckig und die Augen rot vom Weinen. An ihre Brust gedrückt hielt sie Fluff und im ersten Moment wirkte sie wie eine ältere Version ihrer Tochter – eine Version, die diese nie mehr erreichen würde. Sie setzte sich neben ihren Mann auf das Sofa und ließ sich in seine Arme sinken. Ihr Gesicht war fast ausdruckslos, und es wirkte, als könne sie nicht mehr weinen.
Sam beschloss, seine Eltern mit sich allein zu lassen, zog sich seinen dicken Wintermantel und die Stiefel an. Zur Sicherheit nahm er sein Arbok, das er mit elf gefangen hatte, als er noch der Illusion nachgestrebt war, Trainer zu werden, und ließ den Ball in seine Manteltasche gleiten.
Die draußen herrschende Kälte schlug ihm sofort ins Gesicht und biss ihm scharf in die Haut, auch in die, die unter dem dicken Pelz verborgen war. Es schneite nicht, jedoch lag die weiße Pracht in Bergen um das Haus herum. Ich kann auch beißen, dachte er grimmig und öffnete den Ball des Pokémon. Die lila Schlange züngelte verwirrt – immerhin saß Tox nun schon über zwei Jahre in dem rotweißen Objekt fest – und gewahrte dann schließlich Sams Anwesenheit.
Dieser hätte sich nicht gewundert, wenn es nun geflüchtet wäre, er hatte es in letzter Zeit viel zu sehr vernachlässigt. „Tox, Feuerzahn“, versuchte er es schließlich und deutete auf den Schnee auf dem Gehweg. Tatsächlich gehorchte es ihm noch, denn seine Zähne flammten auf und es bis in die weißen Massen, die daraufhin schmolzen, während er seinem Trainer einen Weg freischlug.
Sam überließ ihm die Führung und folgte nur der hin- und herwackelnden Spitze seines Schwanzes. Er musste nachdenken. Irgendwie – zumindest glaubte er das – gab es einen Zusammenhang zwischen dem Ereignis, als er noch ein Baby gewesen war, und dem Tod seiner Schwester. Die beiden Fälle ähnelten sich viel zu sehr, als dass dies nicht so sein konnte. Zwei Mal war die Temperatur abgefallen, und er hatte eine Stimme gehört, und das zweite Mal hatte sie ihn ganz deutlich gerufen, ja immerhin seinen Namen gesagt. Und genau in dem Moment war es geschehen…
Er hob den Blick und sah zurück – sie hatten Jubelstadt verlassen und waren nun auf direktem Wege zum…
Auf der Stelle blieb er stehen, als er dies bemerkte: Vor ihm fing der Wald an, und zwischen den Baumstämmen ließ sich der Eisberg erkennen. Hier war also Freds „Cold Cage“, wie er es so schön nannte. Es kam ein Wind auf, der den Schnee aufwirbelte und an seinen Klamotten zog – genau auf die Lichtung zu.
Und plötzlich ergab alles einen Sinn.
Im Cold Cage war tatsächlich ein Eismonster, oder etwas Vergleichbares, das den Sommerfrost ausgelöst hatte. Und es wollte ihn. Es begehrte ihn schon seit damals, als er fast erfroren wäre, und es hatte deswegen seine Schwester getötet, um an ihn zu kommen.
Tox war stehen geblieben, und kroch nun weiter, als auch er wieder Tritt fasste. Als sie auf die Lichtung kamen, zögerte das Arbok aus einem inneren Instinkt heraus. Es musste ihn nicht unbedingt begleiten, weil auf der Lichtung nur der Eisberg stand; sonst war sie von gefrorenem Gras überdeckt, das wiederum in Raureif gekleidet war. Hier brauchte er keine Hilfe mehr von ihm. Widerstrebend holte er den Pokéball aus seiner Tasche heraus und betrachtete ihn nachdenklich.
Ein Gefühl sagte ihm, dass er es unbedingt tun musste. „Tox…“ Das Arbok drehte sich zu ihm um und kam näher heran. Ein roter Strahl ließ es zurück in den Ball kommen, dann öffnete er sich und ein blaues Licht ließ das Giftpokémon wieder erscheinen. Es bemerkte sofort, was er getan hatte, und starrte ihn entsetzt an. „Geh ruhig. Du bist jetzt frei“, sagte er aufmunternd. Er wusste, es war nicht gut, ein Pokémon von seinem Typ in diese Umgebung zu entlassen, aber es konnte schließlich Feuerzahn und war dadurch wenigstens etwas gegen die Kälte gewappnet. Bis es die Schneegrenze überschritten hatte, und dadurch fernab vom Sommerfrost in Jubelstadt, würde das schon ausreichen.
Die violette Kobra züngelte noch ein letztes Mal unschlüssig, dann ließ sie sich durch den nächsten Busch gleiten.
Sam schritt langsam weiter auf den Eisberg zu. Je näher er ihm kam, umso kälter wurde die Luft. Seine Füße fühlte er bereits nicht mehr, und auch seine Hände waren taub. Doch irgendwie kümmerte ihn das nicht, er musste zu diesem Berg. Was auch immer dort war, es wollte ihn, und hatte ihm und seiner Familie dafür seine Schwester genommen, und dafür würde er es zur Rede stellen, egal wie.
Schließlich erreichte er den Berg und betrachtete ihn eingehend. Er wirkte wie ein eisiger Dorn, den jemand von unten durch die Wiese der Lichtung getrieben hatte. Zögernd streckte er die Hand aus und versuchte seine Oberfläche zu berühren. Wie ein Gebiss mit messerscharfen Zähnen fühlte sich die Kälte an. Unsicher umrundete er den Eisberg und sah sich ihn von allen Seiten an. Schon seine Lunge drohte zu erlahmen, aber er setzte seinen Weg unbeirrt fort. Als er an die Stelle kam, an der er seine Umdrehung begonnen hatte, merkte er, dass etwas anders war. Zuerst konnte er nicht sagen, was genau das war, dann erkannte er eine Öffnung in dem Berg, die vorher nicht da gewesen und fast unsichtbar war. Vorsichtig schritt er darauf zu und ging in den Berg.
Vor Samuel lag eine schmale Treppe, die sich nach einigen Metern um die Rundung des Berges wandte wie eine Wendeltreppe. Wieder kam ein Wind auf, doch hinter ihm war nur eine Eiswand, von dort konnte er nicht kommen, obwohl er es tat. Sam fasste sich ein Herz, atmete tief durch und begann den Aufstieg…
Obwohl der Eisberg von außen gar nicht so hoch und vor allem breit gewirkt hatte, ging Samuel dennoch schon lange, ohne ein Ziel zu finden. Als er erneut an einem Absatz angekommen war, sackte er erschöpft zusammen. Seine Beine schmerzten, obwohl sie sich anfühlten, als habe er keine. Seine Hände waren nur noch steife Gebilde, deren Finger sich nicht bewegen ließen. Sein Atem beschlug schon sehr lange nicht mehr, was ihn keineswegs beruhigte, eher erschreckte, denn dies bedeutete, dass seine Körpertemperatur der der Umgebung gefährlich nahe gekommen war – und dennoch konnte er sich noch mehr oder weniger bewegen.
Er beschloss, lieber nicht zu lange sitzen zu bleiben, und wollte aufstehen, jedoch hielten seine Beine sein Gewicht nicht mehr, und er stürzte auf voller Länge und landete auf dem Bauch. Grimmig grub er das Gesicht in den Schnee. Los, Sam, mach weiter!, versuchte er sich anzuspornen, doch es brachte nichts. Sein Körper reagierte nicht mehr auf seine Befehle.
Es ist aus…, dachte er bitter. Es tut mir so leid, Papa… Mama… Samantha…“ Und im nächsten Moment versank sein Bewusstsein in tiefem Schneesturm…

Als er die Augen wieder öffnete, befand er sich in einem reinweißen Raum, durch den sanfte Schneeflocken rieselten. Sam bemerkte, dass er unbekleidet war, jedoch fror er nicht im Geringsten – es war nur ein leichtes Ziehen auf der Haut zu spüren, als ob die Kälte sie nur berührte und nicht unter sie drang. Seine Füße standen auf etwas Weichem, wie Schnee. Und dennoch war es nicht kalt. Als würde er nur von der Kälte träumen…
Da bildete sich vor ihm aus dem Schneegestöber etwas heraus. Es wäre nichts gewesen, was Samuel hätte beschreiben können; es wirkte, als entstehe ein winziger Wirbelsturm, der die Flocken aufwirbelte. Die Luft begann, sich bläulich zu färben, was vor dem weißen Hintergrund gut zu erkennen war. Nicht hinsehen!, mahnte er sich in Gedanken und senkte den Blick. Seine nackten Füße wurden Objekt seiner Betrachtung, die in einem nicht zu spürenden, fast nicht vorhandenen Nebel eine zarte Blässe erhalten hatten.
Zunehmend spürte er eine Präsenz eines anderen Wesens in dem Raum. Es war eigentlich nur eine Zusammenballung der Kälte auf einen einzigen Punkt, der an der Stelle schwebte, wo vorher noch die Verfärbung gewesen war. „Du bist gekommen…“, hörte er die hauchende, aber wunderschöne Frauenstimme, die wie eine kalte Brise klang, die durch vereiste Blätter weht. Die Luft um ihn kühlte leicht ab.
Er ging nicht darauf ein, sondern sagte: „Wer bist du?“
Das Wesen drehte eine Runde um ihn, als betrachte es ihn von allen Seiten, und entgegnete dann: „Namen? Was sind schon Namen, wenn man ewig zwischen Leben und Tod gefangen ist?“ Samuel spürte den eindringlichen Blick, der ihn wie ein Pflock aus massivem Eis durchstieß. „Deinen jedoch kenne ich genau. Und er klingt wie Musik…“ Sie summte eine melancholische Melodie, die wie die Ode an eine verlorene Liebe klang.
Sam atmete tief durch, was seine Lungen mit eiskalter, beißender Luft füllte. Er musste bei Verstand bleiben. Durfte sich nicht von ihrem Gesäusel einlullen lassen. Ein bestimmter Grund war es, der ihn hergeführt hatte… „Warum hast du meine Schwester getötet?“ Voller Bitterkeit schloss er die Augen.
Das Wesen schwebte näher heran und war jetzt ganz nahe. Sie legte eine Hand auf seine Brust, und ein kalter Schauer lief durch seinen Körper, der sich aber schnell auf den einen Punkt ihrer Berührung konzentrierte. Er wagte es, die Augen zu öffnen und betrachtete die Hand. Es war nur eine kleine, weiße Hand, die lediglich drei plumpe Finger hatte. Um sie herum jedoch flackerte der blasse Schatten einer Hand einer jungen Frau, zart wie feinste Seide. Sie war nicht wirklich da; mal sah man sie gar nicht und mal wurde sie so weit sichtbar, dass sie die weiße fast verdeckte, jedoch nie ganz plastisch wurde. Sam fühlte zwar nur die kleinere der Beiden, jedoch war die Haut um sie herum kälter, wenn die Frauenhand besser zu sehen war.
„Ich brauche Wärme!“, hauchte sie ihm entgegen. „Lebendige Wärme…“
Langsam glaubte Samuel, dass er verstand. Deshalb terrorisierte dieses Wesen Jubelstadt. „Und warum bist du immer noch hier? Warum gehst du nicht? Du hast doch meine Schwester!“ Sein Blick war auf ihre Hand geheftet, die immer noch stetig Kälte aussandte.
Die Finger verkrampften sich und unsichtbare Krallen aus Eis bohrten sich in seine Haut. „Weil sie nicht genügt hat!“, fauchte der Geist, und diesmal färbte Zorn ihre Stimme, brachte sie aber nicht aus ihrem hauchfeinen Zustand heraus. Dann lockerten sich die Finger wieder und bewegten sich auf die Stelle zu, unter der Sams Herz lag. „Ich brauche ein wärmeres.“ Er spürte die Gier in ihren Augen, auch wenn er sie nicht ansah.
Die seinen schloss er wieder und richtete sein Gesicht ihr entgegen. Trocken meinte er: „Warum hast du mich dann nicht gleich genommen? Anstatt zuerst meine Schwester umzubringen!“
Er spürte, wie ihr Gesicht näher kam und nur anhielt, als sie sich fast berührten. „Ich wollte dich hier!“ Die winzig geringe Entfernung zwischen ihren Gesichtern nahm noch mehr ab.
Als Sam gewahrte, was sie vorhatte, drehte er den Kopf weg.
Was sie auch zu deuten wusste. Nach einer eisigen Welle der Enttäuschung wandte sie sich ab und entfernte sich ein paar Meter.
Als er sich sicher war, dass sie sich umgedreht hatte, öffnete Sam vorsichtig die Augen. Der Geist schwebte knapp über dem Boden. Es war eine seltsame Erscheinung: Den Kern bildete ein gewöhnliches Frosdedje. Doch um es, wie die Atmosphäre der Erde, nur viel unbeständiger, flackerte, wie ein Hologramm, wie der Schatten einer Kerzenflamme, genau so kalt und leblos, das Bildnis einer Frau in einem langen, weiten, eisblauen Kimono, mit hellblauen Flecken und gleichfarbigem Saum, von einem langen, roten Band um ihre Hüfte zusammengehalten, der in einer nicht vorhandenen Brise flatterte, genau wie die langen, schneeweißen Haare der Frau. Da sie ihm den Rücken zugedreht hatte, konnte er ihr Gesicht nicht sehen. Leise summte sie die Melodie von zuvor.
Hastig wandte Samuel den Blick ab, als sie eine Drehbewegung ansetzte.
Der eisige Hauch, der sie paradoxerweise wie ein leichtes Sommerparfüm umwehte, nahm wieder die Luft um ihn ein. „Seit vielen Jahrhunderten“, murmelte sie. „bin ich auf der Suche nach einem warmen Herz, das meinen kalten Käfig zu schmelzen vermag.“
Hier lebt unser Eismonster: Der Cold Cage! Die Worte von Fred bahnten sich ihren Weg in seine Erinnerung. Mit dem Eismonster hatte er wohl tatsächlich recht gehabt. Und jetzt, da sie ihn mehr oder weniger zitierte, nahm Samuel an, dass sie ihm nachspioniert hatte. Doch dieser Gedanke ließ sich nicht lange festhalten…
„So lange Zeit suche ich schon… vielleicht habe ich es jetzt gefunden…?“ Sie streichelte seine linke Wange, und die unangenehme Kälte von zuvor durchströmte ihn erneut.
„Was willst du?“, wagte er zu fragen.
Er spürte ihre eisige Belustigung, und ihre Hand glitt seinen Hals entlang runter zu seiner Herzstelle zurück. Dann beugte sie sich vor, bis ihr Kopf direkt links neben dem seinen war, und flüsterte: „Komm mit mir!“
Zuerst schockte ihn diese Vorstellung – welche auch immer sie sein mochte. Dieses Wesen hatte seine Schwester getötet, das durfte er nicht…
Der Gedanke verflüchtigte sich wieder.
„Wenn ich mitkomme“, fing er an, und die eisigen Krallen stachen erneut zu, jedoch etwas sanfter. „versprichst du dann, Jubelstadt in Frieden zu lassen?“
Die Hand lockerte sich, jedoch nicht ganz, als habe sie Angst, ihn loszulassen. „Alles, was du willst…“ Bei diesen Worten legte er allen inneren Widerstand gegen sie ab, was sie auch bemerkte. Sie entfernte ihren Kopf wieder von dem seinen, nur um sich ihm wieder zu nähern. Ihr Gesicht kam immer näher, bis sie sich ganz leicht berührten. Er sah es nicht, aber er spürte, wie sie mehr und mehr ihre menschliche Gestalt annahm, bis das Frosdedje nur noch eine vergessene Erinnerung war. Zuerst zaghaft, dann extrovertierter drückte sie ihren Mund auf seinen. Es folgte ein leidenschaftlicher Kuss, der seine Lippen sprengte und seinen Körper in einem eisigen Feuer wie in einer Umarmung verbrannte, während eine tiefkalte Hand sich um sein Herz legte und ihm die Wärme entzog, es immer weiter gefror, bis es nur noch aus Eis bestand und schließlich in einem Feuerwerk explodierte, und das einzige, was von ihm noch zeugte, waren abertausende winzige Schneeflocken…

Jubelstadt-TV, Sinnoh-News am Montag:
(Bild: Studio, Moderator mit Bild eines ergrünenden Baumes im Hintergrund)
Moderator: „Nach ganzen drei Tagen extremer Kälte, die mittlerweile als ‚Sommerfrost’ bezeichnet wird, ist nun der scheinbar verfrühte Winter in Jubelstadt wieder zurückgegangen. Nachdem der Schnee und das gröbste Eis nun wieder tauen, kehren die Natur sowie die Menschen in ihren Alltag zurück…“
(Bild: „Jubelstadter Eisberg“ kracht in sich zusammen)
Moderatorstimme: „Der spitze Eisberg, unter dem Namen ‚Jubelstadter Eisberg’ bekannt, von dem laut dem Klimainstitut in Hoenn die größte Kälte ausgegangen war, ist vorigen Samstag zusammengefallen, wie dieses Video der städtischen Polizei zeigt. Gleich darauf normalisierte sich das Wetter wieder. Jedoch gibt es ein ungeklärtes Rätsel um ihn, das wohl niemand lösen können wird.“
(Bild: Polizist von der Kripo Herzhofen vor den Trümmern des Berges, dazwischen Kollegen der jubelstadter Polizei mit Feuer speienden Fukano)
Polizist: „In den Bruchstücken des Eisberges haben unsere Leute ein Frosdedje gefunden. Laut Obduktion hat es mit dem Sommerfrost jedoch nichts zu tun, da es bereits über fünfhundert Jahre tot ist. Die extreme Kälte seines Blutes und sein Geisttyp haben seinen Körper größtenteils vor dem Verfall bewahrt und es regelrecht konserviert.“
(Bild: Totes Frosdedje auf vereister Wiese, die Linke wie gegen eine Wand gepresst, die Lippen wie zum Kuss gespitzt)
Polizistenstimme: „Wie es allerdings auf die Lichtung kam, ist unklar.“
(Bild: Studio, Moderator mit Bild von Jugendlichem im Hintergrund)
Moderator: „Neben den Arbeiten auf der Lichtung ermittelt die Polizei von Jubelstadt auch im Fall Samuel F., der nach Aussage seiner Eltern am Freitag zwei Stunden vor dem Zusammensturz des Eisberges das Haus verlassen und nicht mehr zurückgekommen ist.“
(Bild: Officer Rocky vor einem Mehrfamilienhaus)
Rocky: „Unsere besten Spürhunde suchen in und um Jubelstadt nach dem Vermissten, aber wir haben noch keine Erfolge erzielt. Natürlich liegt die Vermutung nahe, dass er der Kälte erlegen ist. Jedoch konnten wir auch seine Leiche nicht finden.“
(Bild: Samuels Eltern vor einem kleinen Straßengedenkkreuz mit Kerze und Blumengesteck)
Moderatorstimme: „Die Eltern des 17-jährigen, die erst seit Freitag auch den Tod ihrer Tochter zu beklagen haben, die unter mysteriösen Umständen in ihrem eigenen Haus erfror, wollen sich zu diesem Thema noch nicht äußern. Zu groß ist der Schmerz, den der Verlust ihrer beiden Kinder in ihnen auslöst. Sie werden zurzeit von Psychologen betreut.“
(Bild: Studio, Moderator mit Bild von Sommerhimmel im Hintergrund)
Moderator: „Und jetzt, nach ein paar Tagen gezwungener Pause, nun endlich wieder das Wetter…“

Müßiggang…

Die Dunkelheit ist perfekt. Alle Welt hat mich verlassen; meine besten Freunde, meine Eltern, die sich getrennt haben, und jetzt sogar mein Körper…
Die Dunkelheit ist perfekt, obwohl ich auf eine weiße Decke starre. Lampen beleuchten den Raum. Ein stetes Piepsen füllt meine Ohren, die sich wie zugeklebt anfühlen. Auch meine Augenlider scheinen… selbstständig zu sein. Und dann erfassen meine Augen zwei Personen… meine Eltern. Es musste so kommen: wenn ihr Kind in Lebensgefahr schwebt, können sie sich auf einmal wieder ausstehen. Vielleicht hat mein Tod dann ja wenigstens einen Nutzen.
Wobei, ich bin noch nicht tot. Zumindest fühlt sich das bestimmt nicht so an, glaube ich.
Es war doch ganz normal, ein normaler Tag. Auf dem Fahrrad zum Bäcker, wie immer eigentlich, wenn wir Brot brauchen. Und dann dieses Auto… ich hab es doch gesehen, warum bin ich nicht ausgewichen oder so etwas? Warum? Warum hat dieser Unfall nur mein ganzes Leben zerstört, das ohnehin nicht mehr heil war?
Jetzt kommt noch eine Krankenschwester rein. Irgendwas mit Hirntod sagt sie… und nicht mehr selbstständig lebensfähig.
>Aber ich bin nicht tot!< Ich sehe, höre, fühle alles, was um mich herum geschieht. Aber mein Körper gehorcht mir nicht mehr. Meine Atemzüge laufen von selbst und lassen sich nicht steuern, meine Finger zucken nicht, wenn ich ihnen den Befehl gebe, meine Augenlider blinzeln nicht, wenn ich es will. Es ist, als würde ich bei irgendeiner Arztserie einfach nur zusehen und sonst nichts. Aber ich bin mitten drin! Die Hauptperson!
Vielleicht sollte ich es positiv sehen. Ich bin bestimmt nicht alleine. Sicher gibt es auch andere, die im Koma liegen. Es heißt ja immer: „Sie mit ihren großartigen Talenten!“ – „Ausgerechnet er, der größte Künstler!“ Ob das wahr ist? Ob es immer nur die guten, wichtigen Menschen trifft? Aber warum hat es dann mich getroffen, das ergibt keinen Sinn… Ich hab noch nie etwas Besonderes vollbracht, geschweige denn irgendein Talent. Um mich weit niemand. Vielleicht denkt man ja nur, dass es die wichtigen Personen trifft, weil nur darüber berichtet wird. Welcher halbwegs vernünftige Leser würde schon einen langweiligen Artikel über den tragischen Tod irgendeines Niemandes lesen? Ich würde ihn noch nicht einmal lesen, wenn er von mir handeln würde; eine schmerzhafte Ironie.
Die Schwester verlässt den Raum. Meine Mutter sieht bedauernd zu mir herab und drückt meine Hand. „Es wird alles wieder gut!“ Nein, das wird es nicht, ganz bestimmt. Ich weiß das. Dann gehen auch sie.
Einige Zeit später – ich weiß nicht wie lange wirklich, denn ich lebe ohne Zeit, lebe ja nicht mehr wirklich – kommt jemand in mein Zimmer. Schon seltsam, dass ich es bereits so bezeichne. Das hier wird mein letztes Zimmer sein, bestimmt.
Es ist ein Mann. Ich kenne ihn nicht. Er trägt einen weißen Kittel, ein Arzt vielleicht. „Dr. Fuji“ steht auf seinem Namensschild, glaube ich. Die Krankenschwester von zuvor erscheint an seiner Seite. „Und, Doktor? Ist die Situation zu Ihrer Zufriedenheit?“
„Selbstverständlich.“ Er richtet sich auf und sieht in ihre Augen. „Ihren talentierten Händen würde ich mein Leben anvertrauen.“ Wieder wendet er sich mir zu. „Und den Eltern wird nichts auffallen?“
„Sie glaube, dass sowieso keine Überlebenschancen mehr bestehen. Ein plötzlicher Kollaps wird gewiss keinen Verdacht erregen.“
Dr. Fuji nickt. „Dann werde ich alles Restliche dem Bestatter überlassen. Schalten Sie die Geräte ab.“ Er dreht sich um und verlässt den Raum. Die Schwester wendet sich mir zu und schaut mich entschuldigend an. Dann hebt sie den Arm, zögert noch kurz, und führt dann die Bewegung zu Ende.
Das Piepen verstummt.
Mein Sichtfeld verschwimmt.
Mein Atem stoppt.
Was passiert nur…?

… ist aller Laster Anfang

Wo bin ich?
Was ist das?
Stimmen?
Ein einziges Murmeln…
Die Dunkelheit verfliegt. Ich sehe Blasen… helle, fast lustige Blasen, die nach unten absinken. Kopfschmerzen… und die Blasen steigen auf. Alles ist grau. Oder, nein… es wird… gelb? Ja, so nennt man das wohl.
Stimmen. In meinem Kopf. Stimmen, die immer wieder dasselbe sagen, obwohl sie nie das gleiche sprechen: Angst, Trauer, Wut, Einsamkeit…
Sie sollen aufhören damit. Das zu sagen. Ich soll aufhören damit, das zu denken. Aber es sind nicht meine Gedanken, und doch gehören sie mir.
Tod, Verzweiflung, Schmerz…
>Hört auf!< Meine Augen werden heißt, mein Kopf fühlt sich an, als würde er platzen; und irgendetwas tut es tatsächlich. Ein Klirren ertönt, gefolgt von einem Plätschern, das langsam aber stetig leiser wird. Und überraschtes und erschrecktes Aufatmen. Ich sehe fast nichts. Alles ist so unscharf. Nur irgendwelche weißen Gestalten, so nah und doch so fern. Und eine nähert sich mir.
„Willkommen im Leben!“, sagt sie. Es dröhnt in meinen Ohren.
Dieses Ding steht genau vor mir. Weißer Stoff… Ich hebe den Kopf, mein Nacken ächzt. Das Gesicht dieses Wesens ist mir vertraut und doch fremd. Ich blinzle, und mein Blickfeld wird klarer, zumindest ein wenig. >Wer… wer bist du?<, frage ich, und es klingt, als habe ich es nur gedacht, aber als könnten alle anderen es auch hören.
„Sehr interessant!“, ruft das Ding aus und schreibt etwas auf ein Klemmbrett. >… Interesse an der Existenz anderer<, höre ich mit jedem Wort deutlicher, als seien es meine eigenen Gedanken; es hat aber nichts gesagt. „Wenn ich mich vorstellen dürfte…“, sagt es. Eine seltsame Frage; ich habe es doch zuvor wissen wollen, warum muss es mich jetzt noch nach meinem Einverständnis fragen? „Mein Name ist Doktor Professor Fuji.“
>Wo bin ich hier?< Meine Augen gleiten fast wie von selbst durch den Raum. Ich sehe schon viel klarer. Die Wesen sind Menschen, eindeutig. Dennoch sind sie nach wie vor beinahe gesichtslos, da sie keine wirklichen Konturen haben. Über einen großen Bildschirm flimmern Reihen von grünen Flecken; vielleicht Buchstaben oder Zahlen.
Wieder krakelt Fuji. >Das Versuchsobjekt zeigt Interesse an seiner Umgebung.<, höre ich wieder fremde Gedanken, als seien es meine, die ich nur nicht steuern kann. Doch ihre Bedeutung bleibt mir fremd. Wieder redet Fuji: „Das hier…“ – er macht eine weit ausladende Geste – „ist das geheime Versuchslabor einer noch geheimeren Organisation auf der Neuen Insel. Hier forschen wir schon seid Jahren…“
>Wer bin ich?<, unterbreche ich ihn.
„Nun, das ist durchaus eine angebrachte Frage…“ Fuji reicht sein Klemmbrett einem anderen Menschen. Eine Frau, wie ich erkennen kann, deren Gesicht mir ebenso unbekannt wie bekannt ist. „Unsere Forschungsgruppe ist schon seid ihrer Gründung darauf spezialisiert, den genetischen Code bestimmter Lebewesen zu entschlüsseln, zu erklären und für die Allgemeinheit nützlich zu machen. Doch darauf konzentrieren wir uns schon lange nicht mehr, seitdem wir auf diese Insel umgezogen sind. Unsere Aufgabe ist es, aus den fossilen Resten einer Wimper eines so genannten Mew – den angeblichen Urvater aller Pokémon – ein neues Wesen zu kreieren. Leider ist in so einem Fossil nicht immer genügend Genmaterial vorhanden und der Auftrag sagt klipp und klar, dass wir die DNS so original wie nur möglich halten sollten. Geringfügig haben wir sie verändert, beziehungsweise ersetzt und Lücken aufgefüllt, aber das dürfte nicht besonders viel ausmachen.“ Er sieht mich an, dann kichert er hinter vorgehaltener Hand. >Oder doch!<, höre ich. Seine Erklärungen gehen weiter: „Mit dem vorhandenen Erbmaterial also begannen wir, Embryonen zu züchten; jedoch kamen sie alle in ihrer Entwicklung nicht sehr weit – irgendwann stoppten sie zu wachsen, die einen früher, die anderen später, aber kamen nie so weit wie wir es gerne wollten. Das Problem war, dass sie keine Nervenzellen ausbilden konnten. Sie hatten nur ein paar wenige, mit denen sie Stöße und Lichtveränderungen leicht wahrnehmen konnten. Aber für die Zwecke unseres Generaldirektors reichte das bei Weitem nicht aus.
Also mussten wir mit anderen Mitteln ran. Zuerst pflanzten wir einigen neuen Zellen Nervenzellen ein, die die Zygote dadurch anregen sollte, ebendiese zu erzeugen. Jedoch wurden sie entweder abgestoßen oder verkümmerten, weil sie sich mit dem Rest des Embryos nicht ausreichend verbinden konnten. Künstliche Nervenzellen brachten dann den gewollten Effekt, aber das brachte uns auch nicht weiter – wir brauchten ein Lebewesen, das intelligent war und selbstständig denken konnte, mit ein paar wenigen Sinneszellen war uns nicht geholfen, und für unsere Ziele ist die Technik noch nicht weit genug, um ein solch komplexes Hirn künstlich herzustellen.
Wir mussten das Problem also an der Wurzel packen: die Gene. Wir veränderten das Immunsystem so, dass es auf Fremdkörper nicht mehr abstoßend reagierte. Dadurch starben uns aber viele Embryonen sehr früh, weil sie gegen Infektionen nicht sicher waren. Nach vielen Versuchen schafften wir es aber dann doch, das Immunsystem nach unseren Vorstellungen zu generieren. Aber bei allen Versuchsobjekten dieser Reihe bekamen die Nervenzellen keine Verbindung zum Körper selbst und waren dadurch umsonst eingepflanzt.“
Er macht eine Pause. Vielleicht denkt er, ich müsse das erst alles verstehen.
Mein Sichtfeld ist schon schärfer. Die Menschen haben jetzt richtige Gesichter; ich kann sogar die Wimpern eines einzelnen Lides zählen wenn ich wollte. Gedanken schweben durch den Raum, wirr durcheinander gedacht, und ich verstehe sie nicht.
>Wer bin ich?<, frage ich noch einmal.
„Na sicher“, beeilt sich Fuji zu sagen. „Auf das wollte ich gerade zu sprechen kommen. Also:
Nach langem Hin- und Herüberlegen kamen wir zu dem Schluss, dass wir es mit komplexeren Gehirnen ausprobieren sollten – vielleicht schlugen sie ja sogar an? Als wir dann mit den Hirnlappen verschiedenster Lebewesen die nächste Versuchsreihe starteten, waren wir verblüfft über das befriedigende Ergebnis: sie bildeten Nervenzellen aus und wuchsen prächtig! Aber wir kappten ihre Versorgung und… entsorgten sie, weil sie noch nicht so waren, wie wir es wollten, es waren schließlich nur Versuche gewesen.
Wir verbrachten viel Zeit damit, alles ganz genau zu planen, es sollte nichts schief gehen. Wie schon davor bastelten wir gewissermaßen aus Hirnlappen verschiedener Pokémon ein neues.“ Wieder eine Pause. Da er so nahe ist, höre ich seine Gedanken ganz klar heraus: >Und auch von Menschen, aber das ist ja nicht so wichtig.< „Die Embryonen reagierten wie gewollt auf die Fremdkörper: sie stießen sie nicht ab und stellten sogar Verbindungen zu ihnen her. Natürlich nicht alle – trotz gleicher DNS gab es immer noch Individualität, in gewissem Maße. Endlich wuchsen sie so, wie wir es uns vorgestellt hatten, die meisten stoppten aber nach einiger Zeit, andere starben an Herzversagen oder anderen Problemen.
Alle sind sie uns durch die Finger gerieselt. Bis auf eins, und das bist du. Du bist das einzige, das so weit gekommen ist und anscheinend jetzt auch selbstständig lebensfähig.“
Ich schaue ihn fest an. Die beiden Worte „selbstständig lebensfähig“ in einem Zusammenhang kommen mir bekannt vor, aber ich kann nicht nach der Erinnerung greifen, als sei sie nur ein ferner Traum. >Und wer bin ich nun?< Die Menschen, die sich bis jetzt im Hintergrund gehalten haben, horchen interessiert auf. Manche sehen mich, andere in bangem Erwarten den Professor an.
„Du bist der Klon eines Pokémon mit dem Namen Mew“, verkündet Fuji stolz.
>Und wie ist mein Name?<, will ich jetzt dringlicher wissen. Die Luft vibriert, die Lampen an der Decke flackern kurz auf und der Bildschirm zeigt nur noch Nullen an. Geschocktes Raunen weht zwischen den Wissenschaftlern auf und einige versuchen mit heftigem Tastenhämmern, den Monitor wieder zum Laufen zu bringen. Anderen tritt die Skepsis in die Augen, mit denen sie Fuji ansehen.
Dieser ist sichtlich unzufrieden. Anscheinend habe ich eine Frage gestellt, für die er keine Antwort parat hat. Ungeduldig sagt er: „Du bist M-Clon Nr. 157 aus der Versuchsreihe Delta.“ Als ich ihn nur weiter unbeeindruckt anstarre, schnaubt er: „Mew zwei, wenn du so willst.“ Er macht eine wegwerfende Handgeste, verdreht die Augen, denkt wohl, ich sehe es nicht, und stellt sich zu seinen Kollegen, die jetzt eine hitzige aber flüsternd gehaltene Diskussion begannen.
Ich lasse den Kopf wieder sinken. Eine Erleichterung für meinen Hals und Rücken.
Mew zwei also. Ein Klon. Wie eine Kopie. Eigentlich nur eine unscharfe Schwarz-Weiß-Kopie, zu nichts zu gebrauchen. Damit ich leben kann, haben unzählige Pokémon und Menschen sterben müssen. Weil ich keine Nervenzellen habe ausbilden können. Als habe man die billige Kopie mit von einem kleinen, unschuldigen Kind geklauten Holzbuntstiften ausgemalt. Ich höre die Wissenschaftler reden, auch wenn sie nur flüstern: „Es zeigt alle notwendigen Lebensfunktionen.“ – „Gewiss, aber noch kurz bevor es ausgebrochen ist, hat es nicht mehr davon gezeigt als die Monate davor.“ Es nennen sie mich. Sie haben mir noch nicht einmal einen richtigen Namen gegeben, ich bin nur irgendeine Nummer in ihrer Kartei. Ich bin nur ein Objekt für sie, wie ein lebloser Gegenstand.
Ein Bild von diesem Mew hängt an der gegenüberliegenden Wand. Ich hebe den Blick und sehe es an.
Ein Gegenstand. Eine Kopie. Ich will keine Kopie sein. Und der einzige Weg, dies zu schaffen, ist wohl, das Original auszulöschen.
Genau. Ich muss das Original auslöschen; ich muss…
>Ich muss Mew vernichten!<, schreien meine Gedanken, immer und immer wieder. Die Luft vibriert noch mehr als zuvor, die Wissenschaftler erschrecken und wirbeln zu mir herum. Auf dem Bildschirm verschwinden die Nullen, es kommen nur noch diese zwei Worte: Mew vernichten Mew vernichten Mew vernichten Mew vernichten Mew vernichten Mew vernichten Mew vernichten Mew…
Plötzlich springt er und wird schwarz. Die Lampen platzen, Funken regnen herab, verbrennen die Haut einiger Menschen, die vor Schmerz zu schreien anfangen. Auch auf mich fallen sie, doch ich spüre sie nicht, als ich mich aufrichte. >ICH BIN ALSO NUR EINE KOPIE?<, dröhnen meine Gedanken durch das Labor und bringen kleinere Monitore und Gläser zum brechen. Einige der Anwesenden halten sich die Ohren zu.
Sie sind so dumm. Die Menschen sind dumm. Sie haben mit mir ihren eigenen Untergang geschaffen!
Ich fixiere eine kleine Gruppe, meine Augen werden heiß. Eine unbeschreibliche Energie fährt durch meinen Körper, wie von selbst, als hätte ich nie etwas anderes getan. Im nächsten Moment explodiert das Labor. Ich erhebe mich in die Luft, als sei es nie anders gewesen. Und unter Knall und Schreien höre ich einen Satz ganz deutlich heraus:
„Wir wollten das stärkste Pokémon erschaffen. Und es ist uns gelungen…“

„Die Spielhalle?“, fragte Meditie und klopfte gelangweilt auf den Tisch.
„Ach, da gewinnen wir doch sowieso nie“, war Haspirors Kommentar. „Da will ich die wenigen Münzen doch lieber behalten.“
Meditie seufzte. „Du bist durch nichts zu beeindrucken…“ Er überlegte. „Ich kann seit kurzem Psychokinese. Vielleicht kann ich die Banditen manipulieren?“
Haspiror atmete geschlagen aus. Doch sie wollte es vor ihm nicht zeigen, also sagte sie bestimmt: „Wenn das rauskommt, schmeißen die uns für immer raus, dann brauchen wir dort gar nicht mehr anzutanzen! Zudem würden sie uns alle Münzen wegnehmen, und das Risiko will ich nicht eingehen.“
„Dann lass uns zum Kühnheitsufer gehen!“, drängte Meditie weiter.
„Während die anderen schuften? Tut mir sehr leid, aber selbst wenn wir keine Aufträge abgestaubt haben, ist das noch lange kein Grund, dass wir uns zurücklehnen.“
„Von mir aus…“, seufzte Meditie und klopfte weiter auf den Tisch, diesmal in vorgegebenem Rhythmus einer Melodie, die nur er zu hören schien.
Die Heiteira-Gilde von Sinnoh war in letzter Zeit eine vielbesuchte Gewerkschaft, und nur die besonders guten Teams wurden mit den besonders schwierigen Dingen beauftragt. Die schlechteren mussten sich während dessen anderweitig die Zeit vertreiben, weil sie den Fällen noch nicht gewachsen waren. Und diese schlechteren waren nur Haspiror und Meditie. Vielleicht kam ja dennoch ein Auftrag für sie rein… hoffte sie zumindest.
Und tatsächlich ließ ein Klient nicht so lange auf sich warten, wie sie gedacht hatten.
Es war zuerst nur ein Schluchzen zu hören, dann wurde die Tür zum Gildehaus geöffnet. Es war das kleine Kikugi aus der Nachbarschaft. Es weinte herzzerreißend und tapste nur zögerlich herein.
„Willkommen“, begrüßte Haspiror es dennoch freundlich. „Können wir dir irgendwie helfen?“
Das kleine Pflanzenpokémon zögerte eine Weile, als fürchte es sich davor, es zu sagen. „Nun ja…“, piepste es dann leise. Wieder schluchzte es auf.
„Möchtest du dich zuerst setzen?“, bot Haspiror an und führte die kleine zu dem Sessel, in dem es sich Meditie bequem gemacht hatte. Sie warf ihm einen warnenden Blick zu, der sagen sollte: „Verzieh dich auf der Stelle!“ und als er dies mehr widerwillig getan hatte, ließ sie Kikugi Platz nehmen. „So, und jetzt erzähle uns alles.“
„Also ich…“, fing die Kirsche zögernd an. „Ich bin… spazieren gegangen, und…“
„Wo?“, unterbrach Haspiror.
„Im… im… Frühlingswald…“, flüsterte sie halblaut und sank tiefer in den Sessel hinein.
„In den WAS?!“, entfuhr es Meditie. „Lieber Himmel, da trauen sich noch nicht einmal unsere besten Teams hin! Was hast du dort verloren?“
„Bitte, komm du erst einmal wieder runter“, besänftigte Haspiror ihren Teampartner, bevor sie sich wieder dem Fruchtpokémon zuwandte: „Höre nicht auf ihn. Was du dort getan hast, klärst du dann lieber mit deinen Eltern. Erzähle uns lieber, was dir im Frühlingswald passiert ist. Warst du auch bei der Scheidequelle?“
Die Augen der Kirsche wurden ganz groß. „Nein, dort war ich nicht. Aber im Wald kam mir so etwas entgegen… es war groß und schwarz, wie ein Ball sah es aus. Und es hatte ein Maul mit großen Tohaido-Zähnen, mit denen es mir meine Minikirsche abgebissen hat.“
„Was, deine Minikirsche? Was ist denn das?“ Meditie schien nicht gerade überzeugt von der Beschreibung des Wesens, von dem Kikugi berichtet hatte.
„Das ist die kleine Frucht, die ein Kikugi ab seiner Geburt mit sich trägt“, erklärte Haspiror. „Dort sind alle wichtigen Nährstoffe für sein Wachstum enthalten. Ist dir denn nicht schwindelig geworden, als das passiert ist?“, fragte sie dann wieder das Pflanzenpokémon.
Dieses schüttelte den Kopf. „Sie war fast leer. Mama sagt, dass ich mich wohl bald entwickle.“
„In Ordnung“, meinte Haspiror. „Das ist gut. Kannst du uns dieses Ding, diesen Ball noch näher beschreiben?“
„Er hat gebellt, sonst nichts. Oder…“ Die Kirsche wirkte nachdenklich, als müsse sie sich erst genau an die Begebenheit erinnern. „Er hätte mich fast ganz erwischt, doch dann blieb er plötzlich auf einer Stelle stehen. Er war an einer Kette dran, glaube ich…“
Meditie drehte sich schnaubend um. „Eine Kette! Das wird ja immer sonderbarer!“
Haspiror schüttelte den Kopf. „Wir werden danach sehen“, versicherte sie Kikugi. Das Psychopokémon sah sie entsetzt an, doch sie ignorierte ihn: „Verlass dich auf uns!“ Das kleine Pflanzenpokémon nickte eifrig, sprang vom Sessel und verließ eilig das Gebäude.
„Na Klasse.“ Genervt wandte Meditie sich zu Haspiror um. „Da hast du uns ja was Tolles eingebrockt! Der Frühlingswald? Hast du sie noch alle? Überlege bitte zukünftig, was du versprichst.“
„Das habe ich“, entgegnete das Hasenpokémon. „Und ich bin der Ansicht, dass sich irgendwer diesem Fall annehmen muss, und weil sonst niemand dafür da ist, sollten wir das tun!“
Meditie wirkte, als wolle er widersprechen, doch überlegte es sich besser. Egal, mit welchem Argument er sonst noch antanzen würde – seine Teampartnerin war durch nichts zu bekehren, und das wusste er auch.
Also betraten auch die beiden die Straßen von Schleiede und schlugen die Richtung zum Frühlingswald ein. Auf ihrem Weg begegneten sie einer besorgten Pikachu, die mit kummervollem Blick die Gegend nach etwas absuchte. Als sie Haspiror und Meditie sah und als Mitglieder der Gilde erkannte, hastete sie gleich auf sie zu. „Bitte, helft mir!“, war das erste, was sie mit zittriger Stimme hervorbrachte. „Mein kleiner Pichu ist weggelaufen!“, berichtete sie schließlich.
Haspiror versuchte sie zu beruhigen, und sagte: „Machen Sie sich keine Sorgen, wir werden ihn schon finden. Wissen Sie vielleicht, wohin er gegangen ist?“
Pikachus Miene wurde nachdenklich. „Ich weiß nicht genau… er sagte etwas von einem Taubsi und einem goldenen Stern und ist dann in diese Richtung davongerannt.“ Sie wies zögernd die Straße runter, dort entlang, wo das Ziel des Rettungsteams lag und wo bereits die ersten dunklen Baumkronen des Frühlingswaldes zu sehen waren. Über dem Wald schwebte eine einzelne Wolke am Himmel, die seltsam scharfe Konturen aufwies.
Haspiror und Meditie tauschten einen kurzen Blick aus, dann vertrösteten sie Pikachu, dass sie ihr bestes tun würden, und setzten ihren Weg fort. Sie hatten den Waldrand noch nicht erreicht, als Meditie langsam fragte: „Meinst du, dass dieser schwarze, bellende Ball und der goldene Stern von Pichu zusammenhängen?“ Haspiror sah zu ihrem Partner. Sein Blick war völlig starr – er meinte es ernst. „Mein Gefühl sagt mir, dass sie etwas miteinander zu tun haben.“ Die beiden blieben stehen und sahen jetzt in den dunklen, unheimlichen Frühlingswald hinein. So wirklich hineingehen wollte keiner von ihnen.
„Glaubst du wirklich, dass…“, begann Haspiror, um auf seine Aussage zurückzukommen, doch er zischte sie nur zur Ruhe und schloss die Augen.
Nach einer Weile sagte er: „Da ist etwas…“ Er öffnete sie wieder und konzentrierte sich auf das Innere des Waldes. „Jetzt ist es wieder weg…“ Er stieß einen Laut der Enttäuschung aus und tat die ersten Schritte.
„Wie, jetzt willst du doch mit?“ Das Hasenpokémon holte schnell auf.
Meditie antwortete zunächst nicht, sagte aber dann: „Ich will es nach wie vor nicht, aber dort war etwas, ich habs genau gespürt. Es ist, als ob es uns riefe…“
„Und dann sagst du, dass Kikugi seltsame Dinge erzählt“, brummte sie leise. Ihr Partner ging nicht darauf ein.
Sie waren jetzt schon tiefer im Wald, als sie eine dünne, piepsige Stimme hörten, die freudig und jubelnd zwischen den Bäumen schallte. Als ihre Quelle näher kam, erkannten sie schließlich den vermissten Pichu. Anders, als Haspiror es vielleicht erwartet hatte, war er keinesfalls angesichts der Düsternis hier verängstigt, wie es kleine Kinder in einer solchen Kulisse sonst waren, sondern strahlte nur so vor Freude. Er hielt etwas in den Armen, wie ein Plüschtier fest an sich gepresst.
„Da bist du ja!“, rief Haspiror überrascht aus. „Deine Mama macht sich Sorgen um dich. Warum bist du weggelaufen? Im Übrigen… was ist das überhaupt?“ und deutete mit einer Pfote auf das Ding.
Pichu wurde leicht rot, aber sein glücklicher Gesichtsausdruck blieb. „Guckt, ich hab einen goldenen Stern gefunden!“ Wie einen Schatz hielt er den Gegenstand vor, den er in Händen hielt; es war tatsächlich ein Stern – alles andere als gold – mit fünf Zacken, der zwischen gelb und weiß ständig hin- und herblinkte und es damit einem schwer machte, ihn genau anzusehen. Doch das merkwürdigste waren wohl die beiden Striche in seiner Mitte, die wie Augen schienen.
Haspiror sah zu Meditie, der den Stern mit erstauntem Gesicht anstarrte. „Wo hast du den her?“, fragte er schließlich. „Darf ich mal…?“ Er streckte eine weiße Hand aus, doch Pichu zog sein Fundstück weg.
„Niemals!“ Beleidigt wandte er sich ab, doch seine Begeisterung kehrte abrupt wieder zurück und lockerte ihm die Zunge: „Ich habe ihn aus einer Schatzkiste! Da ist ein Fragezeichen drauf, und wenn man draufhaut, bekommt man ein Geschenk. Und sie hat mir genau das geschenkt, was ich wollte!“
Das Hasenpokémon räusperte sich. „Was du… wolltest? Was ist das überhaupt?“
„Ein goldener Stern!“, erklärte Pichu bestimmt, als sei damit schon alles gesagt. Dann begannen seine Augen zu glänzen: „Ich habe ein Taubsi gesehen, das hat ganz genau so einen Stern genommen, dann hat es in allen Regenbogenfarben geleuchtet und hat alle, die gegen es kämpfen wollen, besiegt, und es hat sie nur leicht berührt! Und die Attacken von den anderen haben ihm gar nichts ausgemacht, und es war ganz schnell!“ Es drückte den Stern wieder an sich. „Jetzt habe ich mir auch einen geholt, dann zeige ich diesen Bösewichten, die mich immer ärgern, was ich kann!“ Seine Augen schienen das Licht des Sternes jetzt ganz besonders zu reflektieren, so begeistert war er von seiner Idee.
Haspiror versuchte, ihn abzuhalten: „Das ist ja alles schön und gut, aber ist Rache wirklich das Richtige? Was ist, wenn die Wirkung irgendwann nachlässt? Was meinst du, wie du dann dastehst…“
„Mir egal!“, quiekte das kleine Elektropokémon und entfernte sich hastig und wieder jubelnd von ihnen in Richtung Stadt.
Die beiden sahen ihm noch kurz nach, dann fragte Haspiror: „Warum genau wolltest du den Stern berühren? Wolltest du ihm das Ding wegnehmen? Wäre vielleicht gar nicht so dumm gewesen, vielleicht hatte dieses Taubsi irgendeinen anderen Trick und Pichu ist jetzt in Schwierigkeiten oder…“
„Energie“, unterbrach Meditie sie. Auf ihren fragenden Blick antwortete er: „Als wir zum Wald gekommen sind, habe ich eine eigenartige Energie gespürt, das weißt du ja. Aber sie schien so fremd, irgendwie… und doch ein bisschen vertraut, als wäre sie mit der unseren… verwandt. Und dieser Stern, glaube ich, hat sie ebenfalls ausgesendet, wenn auch nur schwach. Hätte ich meine Hand auf ihn gelegt, wüsste ich es jetzt genau, aber…“ Er schüttelte langsam den Kopf. „Ich jage Hirngespinsten nach! Das bilde ich mir bestimmt nur ein! Jetzt lass uns das zu Ende bringen…“ Damit wandte er sich um und marschierte weiter. Seufzend folgte seine Kameradin ihm.
Nachdenklich beobachtete sie ihn die ganze Zeit über. Er sagte zwar nichts, doch sah sie ganz genau, dass sein Gefühl immer stärker wurde und dass irgendetwas nicht mit ihm stimmte. Dass er überhaupt etwas spürte, war ganz und gar nicht verwunderlich, denn viele Psychopokémon hatten die Fähigkeit, die Energien wahrzunehmen, die ein jedes Lebewesen aussandte. Was aber eine neue Frage aufwarf: War dieser Stern denn überhaupt ein Lebewesen, wenn auch er diese Energie besaß?
„Bei allen Legendären Pokémon!“, rief Meditie plötzlich aus. Sie waren auf eine kleine Lichtung getreten, und es dauerte einen kurzen Moment, bis sich Haspirors Augen an die hier herrschende Helligkeit gewöhnt hatten. Sie sah sich um; es war lediglich eine ganz normale Lichtung, ein bisschen Gras, ein Baumschößling… und ein quadratischer, gelber Kasten, auf dem ein weißes Fragezeichen die Seitenflächen entlangwanderte. Vorsichtig traten die beiden näher. „Wie in Pichus Beschreibung…“, murmelte Meditie. „Eine Schatzkiste mit Fragezeichen…“ Sein Gesicht wurde schadenfreudig. „Was hat der Kleine noch mal gesagt? Man muss draufhauen? Hey, vielleicht bekommen wir dann auch einen Stern, dann gibt es nie wieder langweilige Tage in der Gilde!“
„Du vergisst, warum wir überhaupt hier sind“, brummte Haspiror und besah sich den Kasten von allen Seiten. Sie konnte das Material, aus dem er bestand, nicht wirklich bestimmen; es konnte Metall oder Plastik sein. Doch das bewegliche, eigentlich aufgemalte Fragezeichen konnte sie sich nicht erklären. Es ging ihr zwar nicht um einen goldenen Stern oder irgendetwas anderes aus der Kiste, aber dennoch holte sie aus und schlug mit Pfund gegen eine Seite des Würfels. Er gab kurz nach, hüpfte dann wie von selbst auf seinen Platz zurück, das Fragezeichen verschwand und er wurde zu einem braunen, würfelförmigen Stein. Im selben Augenblick wuchs aus dem oberen Quadrat eine gelb-rote Blume, die – wie der Stern – zwei strichförmige Augen hatte.
Erschrocken wichen Haspiror und Meditie zurück. „Wow…“, murmelte das Psychopokémon. „Wow… was… was war das? Nein, was ist das?“ Sie kamen wieder näher und schauten sich die Blume an. Paradoxerweise benahm sie sich nicht wirklich wie so eine: sie sprang alle paar Sekunden ein, zwei Zentimeter in die Luft und schien zudem keine Wurzeln zu haben. Geistesabwesend murmelte Meditie: „Wieder diese Energie…“ Er streckte langsam die Hand aus, um sie zu berühren, als sie plötzlich ein gequältes Kreischen hörten und er zurückzuckte. Sie warfen die Köpfe hin und her, und schließlich betrat das schreiende Etwas die Lichtung: Es war ein junges Papinella, wahrscheinlich gerade erst entpuppt, denn seine Flügel waren zerknittert und es machte eher große Sätze als dass es flog. Ihm folgte eine noch viel seltsamere Blume als die, die dem Kasten entwachsen war: Sie hatte einen langen, gebogenen Stil, am Ansatz zwei kleine, stachelige Blätter und statt einer Blüte einen runden, roten, mit weißen Punkten besprenkelten Kopf, der zwar keine Augen, aber ein breites, grinsendes Maul hatte, mit dem das fremdartige Gewächs immer wieder nach dem hilflosen Käfer schnappte, dem es hinterherhüpfte. Als sie aber die Blume auf dem Steinwürfel sah – womit auch immer, denn sie schien eigentlich nicht sehen zu können – gönnte sie dem Papinella eine kurze Verschnaufpause, hüpfte zu ihrer Verwandten, verschlang sie mit einem einzigen Haps, nur um dem Schmetterling, nun kleine Feuerbälle spuckend, weiter nachzusetzen.
Eine Weile starrten sie in die Richtung, in die die zwei verschwunden waren, dann trafen sich ihre skeptischen Blicke. Meditie schnaubte: „Also langsam fühle ich mich hier wie bei Versteckte Kamera!“ Er wirbelte herum. „Hey, Leute, wenn ihr uns verarschen wolltet, dann ist euch das nicht gelungen! Kommt raus und lasst die Albernheiten, ich dachte ihr seid auf Mission?“ Doch die Gildenmitglieder, die er angerufen hatte, zeigten sich nicht. „Na gut“, seufzte er. „Dann eben nicht. Spielen wir euer dämliches Spiel halt weiter!“ Er sah sich kurz noch einmal misstrauisch um, dann setzte er ihren Weg in die Richtung fort, aus der Papinella und das eigenartige Gewächs gekommen waren.
Haspiror hatte die ganze Zeit neben ihm gestanden und ihn zweifelnd angesehen. Was sollte eben dieser Auftritt? War er sich tatsächlich sicher, dass die anderen Mitglieder ihnen Streiche spielten, während sie eigentlich Pokémon in Not helfen sollten? Höchst unwahrscheinlich, denn wenn auch viele sich über einige Aufträge, die sie erhielten, beschwerten, erfüllten sie sie doch mit genug Vernunft, um nicht währenddessen anderen nachzusetzen. Und das wusste Meditie. Haspiror vermutete, dass er einfach nur eine Erklärung für das ganze hier suchte, die plausibel genug war, um ihr zu glauben.
Das Feuer speiende Kraut sollte nicht der einzige Vertreter dieser seltsamen Spezies bleiben, mit der sie es auf ihrem Fußmarsch zu tun hatten: Ab und an ließen sich Wesen aus den Baumkronen zu ihnen runterfallen, bevor sie knapp über ihren Köpfen wieder hochflogen, die Ähnlichkeit mit Zubat aufwiesen, was ihre Fledermausflügel und die Farbe betraf; ebenso überfettete Ariados, die statt roten gelbe Streifen aufwiesen und Saugnäpfe an den Füßen hatten, von den Ästen fielen und nur von einem einzelnen Spinnenfaden, der beim Spannen das Geräusch einer Sprungfeder machte, vom Aufprall gerettet wurden, bevor sie sich wieder hochzogen, sobald Haspiror und Meditie ein paar Meter weiter gegangen waren; mitten im Wald begegnete ihnen ein Flämmchen, das, genau wie der Stern und die Blume aus dem Kasten, zwei strichförmige Augen aufwies und sich hüpfend fortbewegte, dabei einen Schweif aus kleineren Flammen nachziehend, und das ihnen neugierig hinterhersah, bevor es um einen Baum verschwand; auf einer Lichtung schwebten sackähnliche, weiße Geister, die ihre Gesichter schüchtern hinter winzigen Ärmchen verbargen, ihnen dann aber kichernd folgten, wenn sie sich abwandten, und wieder ertappt stehen blieben, wenn sie zu ihnen sahen; auf einer weiteren Lichtung hörten sie aufregendes Bellen, und als sie ankamen, erkannten sie den schwarzen Ball aus Kikugis Beschreibung, der gierig auf sie zugehopst kam, kurz vor ihnen aber plötzlich nicht mehr weiterkam, weil er an einer Kette festgemacht war, die wiederum an einem Pfahl in der Mitte der Lichtung hing; in einer Lücke zwischen den Bäumen sahen sie, dass die Wolke von vorhin nun eine eher eierartige Form angenommen hatte und mit zwei niedlichen Grübchen zu ihnen runtergrinste; das am meisten beeindruckende aber war, und spätestens jetzt musste sich auch Meditie eingestehen, dass sich das alles hier nicht mit einem simpel Streich erklären ließ, war der riesige Pilzkopf, ebenfalls mit zwei Augen, jedoch mit eher gequältem Gesichtsausdruck, dessen Hut gelb mit roten Punkten war, der ohne erkennbare Füße, Räder oder ähnliches durch den Wald wanderte, und dann von einem hungrig aussehendem Schluppuk entdeckt wurde, das ihn begeistert verschlang, obwohl er doch umso vieles größer war, und dann in einem Wirbel aus bunten Sternen bis unter die Baumwipfel heranwuchs, um davon unbeeindruckt seine ewige Suche nach etwas Essbarem fortzusetzen, wobei unter seiner Größe Büsche und kleinere Bäume wie Streichhölzer nachgaben.
„Ich kann nicht mehr!“, stöhnte Meditie, als das gigantische Pokémon außer Sichtweite war. „Was zum gerupften Porenta geht hier vor?!“
Haspiror überlegte, was sie als nächstes tun sollten. Sie hatten kein konkretes Ziel, sondern waren bis jetzt nur durch den Frühlingswald gewandert. Die kleine Flamme, der Pilz und die Blume vom Beginn ihrer Suche waren alle aus derselben Richtung gekommen, und in die stapften sie nun schon seit geraumer Zeit. Aber wie ging es nun weiter? Sie richtete den Blick hilflos in den Himmel und erkannte zu ihrem erstaunen, dass die Wolke näher gekommen war und sie sich nun fast unter ihr befanden. Wenn diese Wolke nun auch von dort kam wie die vielen merkwürdigen Wesen dann…
„Lass uns hier entlang gehen, ich glaube, wir sind fast da!“, strahlte Haspiror und schritt weiter voran. Plötzlich hielt Meditie sie aber an der Schulter fest und zog sie zurück. Auf ihren wortlosen Protest hin erklärte er:
„Weißt du, wo du gerade hingehen wolltest? Zur Scheidequelle! Ist dir bewusst, dass dort schon Pokémon verschwunden sind? Vielleicht sind diese ganzen Viecher hier sogar der Grund und wir rennen direkt dem Tod in die Arme!“
Sie schüttelte den Kopf und schob seine Hand weg. „Das sind doch nur Ammenmärchen!“, erwiderte sie. „Außerdem hätten diese ‚Viecher’, wie du sie nennst, schon zig mal die Gelegenheit gehabt, uns zu entführen, dann wird es jetzt ganz bestimmt nicht mehr passieren!“ Mit diesem letzten Wort ging sie entschlossenen Schrittes weiter, und zu ihrer Erheiterung folgte Meditie ihr in einigem Abstand.
Dennoch versuchte er, auf sie einzureden, um sie zum Umkehren zu bewegen: „Hast du gemerkt, dass der Wald dunkler geworden ist?“ – „Gleich kommt das Schluppuk und überrollt uns!“ – „Hier hat es bestimmt noch größere Blumen, die uns wie das Papinella auffressen werden.“ – „Die Energie wird stärker, ganz deutlich…“ Der letzte Satz hatte er eher an sich selbst gerichtet, aber sie wusste dennoch, was das bedeutete: gleich stünden sie direkt vor des Rätsels Lösung!
„Lass uns…“, wimmerte Meditie weiter, aber sie mahnte ihn zur Ruhe. Sie hatte etwas gehört…
Sie konnten nun nicht mehr weit von der Scheidequelle entfernt sein, so viel war sicher. Ein Brummen ertönte, und die beiden sahen in einigen Metern Entfernung eine schwarze, diabolisch grinsende Metallkugel, die, zwischen den Bäumend hindurchschwebend, gelbe Funken sprühte und die Luft durch elektrische Aufladung zu diesem Geräusch anregte. Aber das war es nicht, was sie gehört hatte. Dann ertönte es wieder, als die Kugel außer Hörweite war: als würde man auf eine erstickende Badeente drücken.
Als sich hinter einem nahen Busch etwas bewegte, entschlossen sich die beiden dazu, es herauszufinden, und spähten vorsichtig um die Äste der Pflanze. Dahinter war ein weiteres fremdes Wesen, ebenfalls ein Pilz, jedoch eher ein Pfifferling, mit längerem Fruchtkörper und braunem Hut und einem grimmigen Gesicht mit großen, glubschigen Augen. An seinem Ansatz hatte er zwei sperrige Füße, die bei jedem seiner Schritte dieses Geräusch machten.
Da von dem Pilz keine Gefahr auszugehen schien, trat Haspiror aus ihrer Deckung und stellte sich ihm in den Weg. Sie hoffte, mit diesem Wesen irgendwie reden zu können, denn im Gegensatz zu den anderen, die sie bis jetzt gesehen hatten, hatte es immerhin ein vollständiges Gesicht und keine eigenartigen Nebeneffekte, bis auf das Quietschen seiner Füße. Jedoch schien es an genügend Hirnmasse zu mangeln, wie sie nun feststellen musste.
„Entschuldigung?“, fing sie vorsichtig an. „Ich, ähm… mein Name ist Haspiror, ich bin ein Pokémon. Wer bist du?“ Sie versuchte, freundlich zu klingen und zu lächeln, aber sie wusste, dass es gequält war.
Der Pfifferling stampfte demonstrativ auf, sodass ein besonders lautes Quietschten entstand, und brabbelte: „Gum!“
„Gum?“, hörte Haspiror neben sich eine Stimme; Meditie war zu ihr getreten, um den Außerirdischen zu betrachten. „Heißt das, du willst Kaugummi?“
„Gum!“, wiederholte er mit einem weiteren Aufstapfen. „Gum, Gum, Gum! Gum-baaaaa!“, rief der Pilz schließlich langgezogen und rannte die beiden über den Haufen, bevor er irgendwo im Wald verschwand, weiterhin sein Kaugummigesülze von sich gebend.
Die zwei rappelten sich auf und sahen sich verwirrt an. „Also mittlerweile“, bemerkte Meditie. „wundert mich hier gar nichts mehr. Der Typ schien wirklich nicht mehr alle Tassen im Schrank zu haben!“
„Das ist nicht wichtig“, war Haspirors Kommentar. „Viel wichtiger ist es, woher er kommt.“ Schließlich erreichten sie die große Lichtung, auf der die Scheidequelle lag. Die beiden waren noch nie hiergewesen und kannten auch niemanden, der sich bis tief ins Herz des Frühlingswaldes gewagt hatte, jedoch hatten sie viele Bilder des Sees und seiner Umgebung gesehen – und keines hatte das gezeigt, was sich ihnen gerade darbot:
Über die ganze Wiese verstreut lagen die Würfelkästen mit den Fragezeichen, in den unterschiedlichsten Farben – rot, blau, gelb – und zwischendrin auch welche, die aus Ziegeln zu bestehen schienen, entweder einzeln, nebeneinander und selten auch zu kleinen Türmchen gestapelt. Ein großes, gelbes Raupy mit einer kleinen, weißen Blume auf dem Kopf wuselte gerade auf seinen unzählbaren Beinen zwischen den Blöcken hindurch und verschwand im Wald. Zwei Fragezeichenkästen, ein roter und ein gelber, flatterten mit jeweils einem paar weißer Flügel wie im Liebestanz über einen gigantischen grünen, in der Mittagssonne metallisch glänzenden Turm, der praktisch aus dem Hügel, in dessen Krater der See lag, wie ein Baum wuchs. Ob von dort all diese fremdartigen Geschöpfe kamen…?
Gerade wollten sie näher treten, als die Erde zu beben begann. In blinder Furcht warfen sie sich wieder in den Wald hinein, als das Rütteln schließlich wieder nachließ. Doch es war noch lange nicht vorbei: von oben aus dem Turm stiegen nun weitere Wesen, die große Ähnlichkeit mit Schiggy aufwiesen, jedoch eine gelbe Hautfarbe und manche sogar einen grünen statt braunem Panzer hatten. Sie ließen sich einfach von der Turmspitze fallen und landeten, ohne irgendwelche Schäden davonzutragen, auf der Wiese, um auszustreuen und in den Wald zu gehen. Doch bei den beiden Versionen mit grünem und braunem Panzer sollte es nicht bleiben, denn bald auf diese folgten Schiggy, die sich von den anderen nur durch ihre Flügel, wie sie die beiden Kästen über dem Turm hatten, unterschieden und entweder flogen oder weite und hohe Sprünge taten; eine andere Variante waren die blassgrau gefärbten, die bei näherem Hinsehen aber eher aussahen, als habe man den „normalen“ die Haut abgezogen und nur das Skelett gelassen. Wenn sie auf dem Boden aufkamen, wackelten ihre Köpfe leicht, und die beiden gelben, leuchtenden Punkte hüpften in den dunklen Augenhöhlen auf und ab. Das Schlusslicht der Armee dieser dutzenden Schiggy bildeten drei besonders große Skelette, die beim Landen auseinanderfielen, sich aber einen Augenblick später unter knöchernem Klacken wieder von selbst zusammenbauten.
Als keine mehr dieser Giganten auf der Lichtung zu sehen waren, trauten sich Haspiror und Meditie nun endlich völlig aus ihrem Versteck. Das Psychopokémon ließ den Blick weit schweifen, bevor es sich an seine Teamkameradin wandte und sagte: „Lass uns mal zu dem Ding dort gehen“, wobei er auf den grünen Turm zeugte, dem die Schiggy gerade entstiegen waren. Dass er sich so nahe an die Scheidequelle heranwagte, verblüffte Haspiror, jedoch war sie sich sicher, dass er über dem Verlangen, herauszufinden, was hier vor sich ging, seine Angst vor dem See vergessen hatte.
Beim Metallturm angekommen, hob Meditie als erstes die Hand und berührte das kalte, glänzende Material, zog sie aber sofort wieder zurück. „Was ist los?“, fragte Haspiror und legte auch ihre Pfote darauf, um festzustellen, ob es vielleicht doch heißer war, als es den Anschein hatte. Aber nichts. Man konnte es völlig ohne Bedenken anfassen, was hatte das Psychopokémon also so verschreckt?
„Diese Energie“, sagte Meditie schließlich, nachdem er seine Zunge irgendwo in seinem Mund wiedergefunden hatte. „Dieser Turm strahl mehr aus, als ich fühlen kann. Das ist nicht leicht…“ Er sah hinauf, und im nächsten Moment hatte er den Schreck vergessen. „Irgendwo sind diese Viecher doch rausgekommen, oder? Vielleicht ist dort oben ja eine Öffnung oder so etwas?“
Das Hasenpokémon folgte seinem Blick und verstand, worauf er hinaus wollte. „Vom Steg müsste man eigentlich hineinsehen können, oder?“, schlug sie vor.
Eigentlich hatte sie erwartet, dass ihr Kamerad wieder mit irgendeiner Geschichte von Pokémon, die, als sie ihr Spiegelbild in den Wassern der Scheidequelle gesehen hatten, von diesen verschlungen worden waren, oder irgend so einen Mist, aber er nickte nur stumm und nachdenklich.
Er beobachtete die beiden fliegenden Kästen, die jetzt von einer Schlange aus giftgrünen Plastikwürfeln, die auch Augen, jedoch einen grimmigen Gesichtsausdruck hatten, bestand und die ein Geräusch machte, das an zusammenschlagende Spielbausteine erinnerte, in eckigen Kreisen umrundet wurden, sodass sie nicht wegfliegen konnten. Wie um sich gegenseitig zu beschützen, hatten sie sich Rücken an Rücken – wobei das eine sehr relative Bezeichnung war, da sie eigentlich keinen Rücken hatten – gedrückt und schlugen nun scheinbar ängstlich mit den Flügeln.
Die beiden Gildenmitglieder beachteten sie nicht weiter, sondern umrundeten den Hügel, stiegen die auf dieser Seite nicht so steile Böschung hinauf und betraten den Holzsteg. Auch wenn es in den letzten Tagen oft geregnet hatte, schien der Wasserspiegel nicht so hoch gestiegen zu sein, dass er diesen überflutete, vielleicht war einiges an Wasser schon abgeflossen, denn viele Pokémon vermuteten, dass sich unterhalb des Sees ein unterirdischer Fluss befand, der sich durch ganz Sinnoh schlängelte und auch die übrigen drei Seen an der Überflutung hinderte. Bis zur Stelle, dass der Fluss unter der Scheidequelle lag, konnte Haspiror das glauben, aber dass er so lang war, dass er auch die anderen Seen erreichte, war doch sehr unglaubwürdig. Wobei sie dieses Wort noch mal neu definieren musste, wenn sie an die Ereignisse des heutigen Tages dachte.
Sie waren am Ende des Steges angekommen und standen jetzt fast in dessen Mitte, von wo sie einen guten Blick auf den Turm hatten. Aber jetzt, da sie es sahen, mussten beide ihre Ansicht über das Metallgebilde ändern, denn es war kein Turm, sondern…
„… ein Rohr?!“, rief Meditie überrascht aus und starrte in die dunkle Öffnung des Dinges. „Ich verstehe ja, wenn man irgendwo einen Turm errichtet“, plapperte er weiter. „um das Wetter zu beobachten oder sonst irgendwas, aber ein Rohr…?“ Ihm schienen die Worte zu versagen.
Haspiror konnte seine Aufregung verstehen, doch der Blick, der sich ihnen bot, war eigentlich weniger verwunderlich als die Frage, wie die Schiggy aus diesem langen und breiten Rohr gestiegen waren, denn genau wie die Außenseite war die Innenseite glatt und gewiss rutschig. Sie konnte sich vorstellen, dass die fliegenden Wesen und vielleicht auch die Ariados mit den Saugnäpfen den Rohrturm bezwingen mochten, aber die anderen?
„Haspiror?“, erklang Medities Stimme neben ihr. „Gibt es in der Scheidequelle Karpador?“
Gedankenverloren betrachtete sie weiter das grüne Metall. „Ich weiß nicht“, war ihre verträumte Antwort. „Ich glaub schon…“ Schlagartig wurde sie wieder wach. „Wieso fragst du?“ Sie folgte seinem Blick in das klare Wasser des Sees. Unter der Oberfläche bewegten sich verschwommene, orangefarbene Flecken, und hin und wieder auch ein dunkelblauer. Plötzlich brach einer dieser Kleckse durch die Wasseroberfläche und landete vor ihnen auf dem Steg. Das Fischwesen hatte durchaus Ähnlichkeit mit Karpador – Farbe, Größe, Statur – jedoch war es etwas rundlicher und hatte dickere Lippen. Aber in einem Punkt waren die beiden doch absolut gleich: der Fisch vor ihnen zappelte wild geworden, seines natürlichen Lebensraums beraubt. So wie ein Karpador war auch er dumm genug, einfach aus dem Wasser zu springen.
„Also langsam…“, murmelte Meditie, aber der Rest seines Satzes war nicht mehr zu verstehen. Er trat auf den Fisch zu und schubste ihn zurück in den See. Als sie ihm hinterher sahen, waren aber alle anderen seiner Artgenossen verschwunden, und auch er nahm vor irgendetwas Reißaus, kaum dass er im Wasser gelandet war. Ein dunkler Schatten zog unter ihnen bedrohlich seine Kreise. Sie duckten sich, um das Wesen besser sehen zu können, aber in diesem Moment sprang es wie das Karpador zuvor ihnen entgegen.
Den Bruchteil einer Sekunde konnte Haspiror es ganz klar sehen – ein riesiges Baldorfish, jedoch braun und mit stählernen Stacheln überzogen – bevor sie schreiend vor ihm flüchten mussten, weil es ebenfall auf dem Steg landete und ihnen mit einem breiten, hämischen Grinsen nachsetzte, wobei es das Holz unter sich zum bersten brachte. Schließlich retteten sie sich ans Ufer, und im letzten Moment brach der ganze Steg ein und das Baldorfish krachte mit einem lauten Platschen wieder in den See.
Haspiror und Meditie saßen eine Weile im Gras, völlig ungläubig zum See starrend. Als der Schreck nachgelassen und ihre Atmung sich wieder normalisiert hatte, rappelten sie sich auf und sahen sich sprachlos an. „Also ich habe jetzt das Bedürfnis, wieder nach Schleiede zu gehen und das hier zu vergessen“, meinte Meditie und klopfte sich Staub ab.
„Nein“, sagte Haspiror sicher. „Ich glaube, dass wir das hier nicht so schnell vergessen werden…“, murmelte sie. Sie hatte das ungute Gefühl, dass es noch nicht zu Ende war – noch lange nicht, nicht für heute und auch nicht für morgen. „Aber ich muss dir zustimmen. Wir sollten nach Hause gehen und es den anderen erzählen. Heiteira will bestimmt, dass wir Bericht erstatten und…“
Meditie unterbrach sie: „Den anderen erzählen? Bericht erstatten?“ Er machte eine weit ausladende Handgeste, die mehr umfasste als nur die Scheidequelle und ihr fremdartiges Geschwür. „Ich kann das hier noch nicht einmal selbst glauben! Was sollen die anderen denken, wenn wir ihnen von Flammen mit Augen und kichernden Geistern berichten? Man wird und direkt von der Gilde in die Klapse verweisen, ohne Umwege, das sag ich dir!“
Sie hätte es zwar nicht zugegeben, aber er hatte durchaus Recht. Das alles hier war so unglaublich, dass… sie es einfach nicht beschreiben konnte. In tiefen Gedanken versunken nickte sie, wobei auch sie sich nicht ganz klar war, wieso überhaupt, und machte sich dann mit ihm auf den Rückweg.
Sie hatten den Hügel zur Scheidequelle noch nicht ganz umrundet, als plötzlich ein lautes, tiefes Brüllen erklang und die Erde erzittern ließ. Das Klackern der Spielbausteine verstummte, als die Schlange zitternd innehielt und dann auseinanderfiel. Die Würfel, die sie bis vor Kurzem noch gefangen gehalten hatten, schienen sich erst über ihre zurückgewonnene Freiheit zu freuen, aber als das Brüllen erneut dröhnte, ergriffen auch sie die Flucht. Meditie, der ein paar Schritte voraus war, warf seiner Kameradin einen vielsagenden Blick zu: In den Wald! Schnell versteckten sie sich hinter einem Baumstamm und beobachteten, was geschah:
Das Rohr bebte, und plötzlich griffen zwei breite Pranken über den Rand und zogen etwas hoch. Als es zur Gänze emporgestiegen war und nun auf dem Rand stand, konnte Haspiror er genau erkennen: es hatte die Färbung der gelben Schiggy mit den grünen Panzern, jedoch war es eher von der Statur eines Turtok, wenn nicht noch größer und imposanter. Genau wie beim Baldorfish zuvor schmückte jeder seiner Panzerplatten ein spitzer Dorn aus Metall, das in der Sonne bedrohlich glänzte. Das Turtok ließ den Blick schweifen. „Es stimmt also“, sagte es mit einer tiefen, donnernden Stimme, zu der, da war sich das Hasenpokémon sicher, das Brüllen gehörte. „Die Weltenröhre ist das Tor zu anderen Dimensionen. Hier werden mich diese Möchtegernhelden von Klempnern nie finden!“ Es wandte sich nach unten an das Innere des Rohres: „Lass uns gehen, Sohnemann!“
Damit sprang es runter, wobei die Erde so Übelkeit erregend bebte, dass die Würfel auf der Wiese hochsprangen und beim Wiederaufkommen voneinander fielen, die aus Ziegel zerbrachen in ihre Einzelteile und aus den Fragezeichenblöcken wuchsen die ihnen bereits bekannten Blumen und goldenen Sterne, aber auch blaue Panzer wie die eines Schiggy, und Miniaturformen des Riesenpilzes im Wald, jedoch entweder grün oder rot mit weißen Punkte, die wie ihr größerer Vetter ohne erkennbares Fortbewegungsmittel über die Wiese flutschten und, wenn sie gegen die zu Stein gewordenen Würfel stießen, von diesen wieder wie reflektiert in die andere Richtung weiterrutschten und dann irgendwann ihren Weg in den Wald fanden; das gelbe Turtok hatte sie jedoch keines Blickes gewürdigt, was nur darauf schließen ließ, dass es mit solcherlei Seltsamkeiten vertraut war und folglich aus derselben Dimension stammte, wenn das, was es zuvor gesagt hatte, der Wahrheit entsprach.
„Ich bin direkt hinter dir, Paps!“, war nun eine weitere Stimme zu hören, die aber eher von einem kleinen Jungen stammte. Aus dem Rohr stieg nun noch so ein Turtok, jedoch war es eher die verkleinerte Karikatur des größeren, das anscheinend sein Vater war.
Dieser drehte sich nicht um, als er seinem Sohn befahl: „Sprenge die Röhre mit einem Bob-Omb. Das wird den Brüdern noch mal erschweren, uns aufzuspüren.“
Das Kleinere der beiden sprang vom Turm, wandte sich dann dem Metall zu, holte von irgendwoher eine kleine schwarze Kugel und brachte diese an dem Rohr mit einem Klebeband an. Dann holte es schnell seinem Vater ein, der die Lichtung um Scheidequelle Richtung Süden verließ, und unter jedem seiner Schritte erzitterte die Erde aufs Neue, und jedes Mal rieselten von den umliegenden Bäumen einige Blätter herab. Irgendwo auf seinem Weg floh ein Schwarm Vogelpokémon, deren Art sich von hier aus nicht ausmachen ließ.
Erst jetzt merkte Haspiror, dass sie den Kiefer anspannte und ängstlich zitterte. Sie atmete einmal tief durch und erlangte wieder Kontrolle über ihren Körper. Und dennoch war sie nach wie vor völlig regungslos vor Entsetzen, Erstaunen und Schreck.
Es heißt, die Scheidequelle sei das Tor zu anderen Welten. Und die Bewohner einer davon hatten sie und Meditie gerade gesehen.

Licht und Dunkelheit; schwarz und weiß – zwei Dinge, wie sie gegensätzlicher nicht sein könnten, und dennoch bilden sie eine Einheit, denn wo kein Licht ist, gibt es auch keine Schatten. Aber Licht ist nicht immer die gute Seite der Welt – man denke nur an die Menschen, die durch plötzliche Helligkeit das Licht ihrer Augen verloren – und die Dunkelheit ist nicht immer das Böse – so wie es uns die gewaltigen und beeindruckenden Tropfsteinhöhlen lehren, die seit unzähligen Jahren kein Licht mehr erreicht hat.
Und dennoch tendieren sie oft zu Extremen, die man ihnen nicht zugetrauen würde…

Die Sonne war gerade untergegangen, und der Himmel war in ein unheimliches Grau gehüllt, auf dem sich die ersten Sterne wie die Juwelen auf teurem Stoff abzeichneten. Doch immer wieder verblassen sie – Fackeln, tausende Fackeln, getragen von der Armee des Lichts, schwängerten die Luft mit rauchigem Qualm. Funken, wie vergessene Kinder der Sterne, rissen sich von der Erde los, ihren Eltern entgegen, nur um kurz darauf einen eiskalten Tod zu sterben, und das Feuer, das sie gebar, warf glänzende Reflexionen auf die weißen Rüstungen der Krieger, auf die goldene ihres Königs, und ließen das goldbestickte Banner wie eine zweite Sonne funkeln, als würde diese den Platz ihrer großen Schwester einnehmen.
Auf der anderen Seite standen die Ritter der Dunkelheit, wartend, bereit, ihre Festung zu verteidigen. Blutrote Fackeln ließen auch ihre schwarzen Rüstungen schimmern, nur die des Königs war tiefschwarz wie die Nacht, die sich über sie zu senken plante. Auch das seine Banner prangte über der Szenerie und kündigte das baldige Erscheinen des Sichelmondes an.
Die Krieger des Lichts blieben stehen.
Die Kämpfer der Dunkelheit hoben ihre Schwerter.
Die Pokémon beider Seiten machten sich bereit.
Und im nächsten Moment, mit dem Erstrahlen des zwölften Sternes, entbrannte die Schlacht.

Nami saß auf ihrem Bett in dem Schlafgemach der Prinzessin. Dako, ihr treues Magnayen, lag zu ihren Füßen auf dem steinernen Boden und schlief – scheinbar, denn tatsächlich horchte er in die Festung hinein auf das Zeichen nahender Feinde. Die Schritte der Armee des Lichts waren nun schon seit einigen Minuten verklungen. Gewiss verhandelt der König mit meinem Vater, dachte sich Nami, oder vielmehr redete es sich ein, denn sie wollte lieber, dass das alles friedvoll zu Ende ging, als dass die feindlichen Krieger die Festung gewaltsam einnahen. Nicht, dass sie nicht an die Chancen der anderen Seite geglaubt hätte – immerhin unterlagen die besten Kämpfer des ganzen Landes dem Befehl ihres Vaters – aber so oder so war sie strikt gegen das ganze Blutvergießen.
Plötzlich hob Dako den Kopf und lauschte in den Korridor hinein. Er knurrte. Auch Nami konnte es jetzt hören: die schweren Schritte von Stiefeln, drei oder vier Paar. Dako sprang auf und trat vorsichtig zur Tür. „Nein, warte.“ Gehorsam blieb das Magnayen auf den Befehl seiner Herrin stehen. Nami sah sich in ihrem Raum um und suchte nach möglichen Verstecken – bestimmt wollten die Krieger des Lichts sie als Geisel nehmen, um ihren Vater zur Kapitulation zu erpressen. Aber so weit würde sie es nicht kommen lassen. Sie beschloss, dass sich in ihrem eigenen Zimmer zu verstecken nicht das richtige war, denn sie würden alles durchsuchen, also griff sie nach einer Fackel, die neben ihrer Tür in einer Halterung hing und der Petroleumlampe auf ihrem Nachttisch, und ergoss den Inhalt dieser über die Gardinen an dem einen Fenster.
Die Schritte kamen näher.
Nachdem Nami sich vergewissert hatte, dass ihre übrigen Möbel nicht sofort auch Feuer fingen, stieg sie aus dem Fenster und auf den darunter liegenden Vorsprung. Er war nicht besonders breit, aber für sie und Dako, wenn sie hintereinander gingen, reichte er aus. Auch ihr Pokémon folgte ihr nun, aber sie wartete noch, bis die Schritte nah genug waren. Als plötzlich einer ihrer Verfolger um die Ecke bog und verdutzt über die Prinzessin, die er eigentlich hatte entführen sollen und die jetzt vor dem Fenster stand, bei jedem falschen Tritt in die Tiefe stürzen könnte, im Türrahmen stehen blieb, ließ sie die Fackel in das Innere ihres Raumes fallen. Die tiefroten Flammen entzündeten blitzschnell das Öl, sodass eine grelle, gelbe Stichflamme allen Umstehenden für eine gute Zeit die Sicht nahm. Nur Nami und Dako blieben verschont, weil sie im letzten Moment den Blick abwandten. Eine flimmernde Hitzewelle schoss aus dem Fenster, doch die Prinzessin hatte sich zur Sicherheit neben die Öffnung in der Mauer und nicht davor gestellt. Dennoch verkohlten die Spitzen ihres schwarzen Haares, und auch ihr Gewand bekam schwarze Flecken.
Mit dem Entschluss, sich später darüber zu ärgern, riskierte sie einen Blick durch das Fenster, wo nur noch wenige Flammen an den Resten des Stoffes der schwarz gewordenen Gardine nagten. Es hatte drei Ritter erwischt. Wahrscheinlich waren sie, um sich gegenseitig vor einem plötzlichen Angriff zu schützen, gemeinsam durch die Festung gestreift und waren nun alle drei von dem grellen Licht geblendet.
Nami grinste in sich hinein und drückte sich fest an die Wand, bevor sie, Dako im Schlepptau, den Sims entlang zum nächstliegenden Fenster schlurfte. Unter ihr glänzten die Spiegelbilder der Sterne im Wasser des Burggrabens, und sie zwang sich, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Besonders hoch war es nicht bis runter und schwimmen hatte sie zwar gelernt, aber sie plante nicht unbedingt, von den Kanivanha, die unsichtbar in den Tiefen des Wassers ihre bedrohlichen Kreise zogen, verspeist zu werden.
Ihre Hand griff plötzlich ins Leere. Ohne schnell nachzudenken, zog sie sich am Rand des Fensters in den nächsten Raum hinein und ließ sich erst entspannt zu Boden sinken, bis auch Dako durch das Loch gesprungen kam. Sie ließ ihrem Herzschlag keine Zeit, sich zu beruhigen, denn sie war nur ein Zimmer weiter als ihre Verfolger, und in dieser Zeit konnten sie ihr Augenlicht wieder finden und dann höchstwahrscheinlich auch sie. In diesem Raum – das Schlafgemach ihres sich auf Reisen befindenden Bruders – schienen sie schon gewesen zu sein: das Laken, das jetzt schon viele Wochen unangetastet und ordentlich auf dem Bett gelegen hatte, war zerwühlt, und auch der Schrank war seines Inhaltes auf der Suche nach ihr entledigt worden. Nur die schwarze Ritterrüstung, die dem Vater ihrer Mutter gehört hatte, stand stolz und erhaben in ihrer Ecke, so wie sie es immer tat.
Nami stand auf und trat zu dem hohlen Ritter hin, der sich auf ein altes Schwert mit grauroter Klinge, so wie sie die besten Kämpfer des Königs erhielten, stützte. „Tut mir leid, Großvater“, flüsterte sie spaßeshalber – sie war noch nie besonders gut darin gewesen, in solchen Situationen Ernst zu zeigen, weil es sie beruhigte, alles mit Humor zu sehen. „Aber das muss ich mir mal leihen.“ Sie griff nach dem Knauf des Schwertes und zog daran. Entgegen ihrer Erwartung ließen die toten Eisenfinger der Rüstung ihr ihre kostbare Waffe zu leihen gewähren. Doch diese war viel schwerer, als Nami geglaubt – oder eher gehofft – hatte: das Gewicht des Schwertes kam so überraschend, dass sie zusammenbrach und sich mühsam wieder aufrappeln musste. In Bangem erwarten betete sie, dass die Rüstung nicht umfallen möge, und irgendwer schien sie tatsächlich zu erhören. Doch ihr eigener Sturz und das Klimpern des Schwertes auf dem Steinboden waren ohnehin laut genug gewesen.
In der Hoffnung, die Ritter hätten dies als irgendein Pokémon vermutet, das durch die Festung tigerte und nach Unrat suchte, machte sie Anstalten, sich aus dem Zimmer ihres Bruders rauszuschleichen.
Doch in diesem Moment trat jemand vor sie.
Sie erschrak, aber der Fremde hatte sie bereits am Handgelenk gepackt. „Lasst mich los!“, rief sie und wand sich. „Ich befehle Euch, lasst mich los!“ Als sie merkte, dass Gegenwehr keinen Zweck hatte, warf sie einen Blick auf ihren Peiniger: er war offensichtlich ein Krieger der feindlichen Armee, jedoch hatte er keine kostbare Metallrüstung, sondern lediglich eine aus robustem Leder. Unter strohblonden, verklebten Strähnen mahnten wasserblaue Augen sie streng zur Ruhe. Er war in etwa in ihrem Alter, aber wie sie zu ihrem Entsetzen feststellen musste, war es nicht unter den dreien gewesen, die sie geblendet hatte. Hinter ihr konnte sie Dako bedrohlich knurren hören.
„Liam!“, erklang plötzlich eine Stimme aus dem Korridor aus der Richtung zu ihrem Schlafgemach. Der junge Ritter drehte den Kopf hin und trat, ohne sie loszulassen, einen Schritt aus dem Zimmer, damit sein Gefährte ihn sehen konnte. „Hast du sie gefunden?“
Liam, wenn das sein Name war, schüttelte den Kopf. „Hier ist niemand. Geht weiter, vielleicht ist sie in diese Richtung geflohen. Ich komme gleich nach!“ Die anderen drei antworteten nichts, dann waren nur noch weitere Schritte zu hören, die sich rasch entfernten.
Nami nutzte Liams Unaufmerksamkeit und riss sich von ihm los, als sie spürte, wie sein Griff lockerer wurde. Mit einer – vergleichsweise, denn sie hatte nie gelernt, damit umzugehen – hob sie das Schwert ihres Großvaters mit viel Mühe und hielt dem jungen Ritter die Spitze der dunkelroten Klinge nur wenige Zoll vor die Nase. „Wenn du dich bewegt“, drohte sie langsam. „werde ich dich aufspießen!“
Gelassen legte Liam einen Finger auf die Spitze und schob sie von seinem Gesicht weg, um sie von oben herab anzusehen. Mit sanfter, ja fast freundlicher Stimme meinte er: „Ich bitte Euch, Ihr könnt dieses Schwert noch nicht einmal halten, ohne zu zittern, dann wollt ihr einem Ritter auch noch damit drohen?“ Mit einer raschen Bewegung trat er zu ihr hin, riss ihr den Knauf aus der Hand und schleuderte das Schwert beiseite, wo es scheppernd zu den Füßen seiner anvertrauten Rüstung liegen blieb.
„Ritter?“, entgegnete sie in noch herrischerem Tonfall – immerhin war sie hier die Blaublütige –. „Dass ich nicht lache! Du bist kein Ritter.“
„Jedenfalls noch nicht“, war die nun etwas untergebenere Antwort Liams. „Hätte König Ari keinen Angriff auf Eure Festung befohlen, wäre ich morgen schon zum Ritter geschlagen worden.“
Eine kurze Zeit herrschte Schweigen, und erst jetzt bemerkte Nami, dass zu dem tiefen, kehligen Knurren ihres Magnayen nun auch ein zweites dazugekommen war – höher, leiser, aber zugleich fordernder. Da erblickte sie hinter Liam die Schwänze eines Vulnona, die es bedrohlich zu einem weiten Bogen aufgestellt hatte und wie eine riesige Flamme flackern ließ.
Sie sah ihn wieder an. „Du hättest mich an deine Gefährten verraten können!“
„Und den Ruhm mit ihnen teilen?“ Liam lachte. „Nein, so weit kommt es noch! Ich will viel lieber, dass sich künftige Generationen sich meines Namens erinnern als ein Held, der den Sieg über Euer Königreich herbeigeführt hat, noch bevor er den Titel Ritter erhielt. Allein.“ Sein Blick wurde nachdenklich, träumerisch.
Dann wurde es wieder still, und die Geräusche des draußen wütenden Kampfes – das Klirren von aneinanderschlagenden Schwertern, das Abwehren eines Schwerthiebes mit einem Schild, das Lodern dutzender Feuer, die Rufe von Menschen und das aufgebrachte Brüllen von kämpfenden Pokémon – bahnten sich zu tausend Variationen gebrochen ihren Weg durch die weiten Korridore, Irrwege, Sackgassen und verschlossenen und geöffneten Toren der Festung ihren Weg zu ihnen.
Plötzlich sprang das Vulnona hinter seinem Herrn hervor und warf sich auf Nami, die Pfoten der Vorderläufe fest auf ihren Brustkorb gepresst, das zu einer blutrünstigen Grimasse verzogene Wolfsgesicht so nah an dem ihren, dass sie seinen feuerheißen Atem spüren könnte, und ihre noch zuvor vor Schreck geweiteten Augen begannen zu tränen. Dako, der den Schock erst zu überwinden schien, dass dieser Angriff so hinterhältig gekommen war, sprang dem Feuerpokémon gegen die Seite und schleuderte es durch den halben Raum. Während Nami sich aufzurichten versuchte, attackierten sich die beiden gegenseitig immer wieder mit Pfotenhieben und Bissen, und sie war froh darüber, dass das goldene Pokémon das Zimmer ihres Bruders nicht in Brand setzte.
„Aurora, das reicht.“ Das Vulnona hielt in einem Schlag inne und wandte sich ungläubig an Liam. Dako, der ganz offensichtlich in diesem Kampf den Kürzeren zog, weil er es mit der Größe und der Kraft seines Gegners nicht aufnehmen konnte, nutzte die Gelegenheit und zog sich schnell zu Nami zurück. Das neunschwänzige Pokémon legte – ängstlich oder ärgerlich konnte Nami nicht erkennen – die spitzen Ohren an und trat unterwürfig an die Seite seines Herrn. Dieser ging in die Hocke und streichelte sie am Kopf. „Wenn wir die Prinzessin jetzt schon verletzen, werden wir…“, doch den Rest seines Satzes verstand Nami nicht mehr, weil er mit jedem Wort immer leiser redete. Als er sich wieder aufrichtete, verklang der Kampflärm langsam.
Nami krampfte sich der Magen zusammen – hatten sie verloren? –, und gleichzeitig machte ihr Herz einen freudigen Satz – hatten sie gewonnen? –, und wagte gespannt einen Blick aus dem Fenster, jedoch war dort nichts zu sehen, weil die Krieger des Lichts von der anderen Seite angegriffen hatten und der Kampf diese Seite der Festung noch nicht erreicht hatte.
Liam hingegen wandte sich von ihr ab und trat zurück in den Flur; Aurora folgte ihm zwar, hielt aber dennoch ein aufmerksames Ohr auf sie und Dako gerichtet. Da Nami ohnehin wusste, dass eine Flucht oder auch nur der Gedanke daran zwecklos war, wagte auch sie sich hinaus und blickte nun wie Liam aus dem nächsten Fenster gegenüber dem Schlafgemach ihres Bruders auf der anderen Seite des breiten Ganges.
Dort unten, auf dem Innenplatz der Feste, standen Krieger in schwarzen und weißen Rüstungen beisammen – wenn auch deutlich nach den beiden Parteien getrennt – oder hielten sich noch gerade so, leicht oder schwer verletzt, und in einigen Lücken konnte Nami – und wieder spielten Magen und Herz ihre gegensätzlichen Gefühle wieder – einzelne oder gar zu kleinen Hügeln angehäufte Leichen oder gerade im Sterben liegende Kämpfer sehen, sowohl weiß als auch schwarz, und unter all dem lag ein fast alles überflutender Teppich aus blutgeröteten Steinen, auf denen sie so oft mit anderen Kindern gespielt oder das Reiten gelernt hatte.
In der Masse der Ritter bildete sich ein weiter Kreis. Zwei Männer, einer in pechschwarzer, glanzloser, der andere in goldener Rüstung, standen sich dort gegenüber.
„Was dort wohl passieren mag?“, dachte Nami unabsichtlich laut nach.
„Ein Königsduell“, kam prompt die Antwort von Liam, der wohl ebenso wie sie jede unnötige Unterhaltung mit ihr vermeiden wollte, angesichts der ungewohnten Situation wohl doch weicher wurde. Auf ihren skeptischen Blick hin – den er aus den Augenwinkeln wohl eher nicht sehen konnte – erklärte er: „Ein Königsduell wird nur dann ausgefochten, wenn beide Seiten sich im Kampf ebenbürtig sind und sein Weiterführen zu viele weitere Tote fordern würde. Die Heerführer beider Seiten – in diesem Fall König Ari und König Ocal – stellen sich zu einem Duell der Ehre, in dem die Seite gewinnt, deren Befehlshaber in diesem Kampf nicht fällt.“
Sie zuckte zusammen angesichts der Gelassenheit, mit der er diese Tatsache erläuterte, und auch deswegen, weil die beiden Könige den anderen in diesem Duell töten mussten, um sich und ihre Untergebenen zum Sieg zu führen. Sie wagte eine Frage: „Und was ist, wenn einer der anderen eingreift und den feindlichen Heerführer erschlägt?“
Liam verzog das Gesicht. „Es herrscht unter den anderen Kämpfern absoluter Waffenstillstand. Wenn einer von ihnen eingreift, den feindlichen König mordet – oder einen der Umstehenden, wobei das nicht so viel Gewicht hat – so wird er aller Ehre beraubt, trotz seiner scheinbar guten Absichten, und das Heer, zu dem er gehört… Warum erzähle ich Euch das eigentlich?“, schnaubte er plötzlich und trat einen Schritt zurück.
Doch gleich darauf näherte er sich wieder dem Fenster, als das Zischen von Klingen ertönte – die beiden Könige zogen ihre Waffen.
„Es ist klar, dass König Ari unterliegen wird“, meinte Nami. „Mein Vater ist von den besten Schwertmeistern unterrichtet worden, die unser Königreich beheimatet!“
Liam lachte höhnisch. „Das glaubt Ihr wirklich, was? Wenn unser König seine Doppelschwerter zückt, hat keiner eine Chance. Euer Vater wird jämmerlich verlieren.“
Es folgten noch einige Sticheleien, doch dann wurden sie beide des Spieles überdrüssig; auch deswegen, weil sich das Duell als nicht so spannend erwies, wie Nami eigentlich gehofft hatte: die beiden Kämpfer hielten nur selten weniger Abstand als zwei Schritte, und wenn sie sich doch näher kamen, folgte nur ein eher als neckisch anzusehender Schwertstreich, der ohnehin sein Ziel verfehlte, bevor der Angreifer wieder in sichere Entfernung zurückkehre.
Fast gleichzeitig seufzten Nami und Liam auf, sahen sich überrascht an – und lachten. Bevor sie wieder ernst wurden und sich schließlich mit dem Rücken zur Wand zu Boden sinken ließen. Dako und Aurora beobachteten sie, wobei sie auch immer auf den anderen achteten.
„Eigentlich könnte ich euch jetzt runterschleppen und König Ocal erpressen“, meinte Liam verträumt. Dann schüttelte er den Kopf. „Nein, im Königsduell geht das nicht. Und überhaupt…“ Er verstummte abrupt, als habe er etwas Unrechtes gesagt.
Auch die beiden Pokémon verloren zusehends das Interesse aneinander und setzten sich zu ihrem Herrn und seiner Herrin.
Aurora legte nach einer Weile das Kinn auf Liams Bein und blickte ihn aus kugelrunden, wie rote Edelsteine wirkende Augen mitleiderregend an und wirkte – so empfand das Nami zumindest – wie ein Junges.
„Hast du Hunger?“, fragte Liam das Vulnona zärtlich. Dann griff er in einen Beutel an seinem Gürtel, in dem ein Ritter für gewöhnlich Proviant mit sich trug, und holte einen Brocken Trockenfleisch daraus hervor. Wie vom Blitz getroffen hob Aurora den Kopf wieder hoch und trippelte ungeduldig – erneut wie ein Junges – auf und ab. Liam warf das Fleischstück, und sein Pokémon fing es aus der Luft, bevor sie genüsslich und mit Freude im Gesicht seinen Happen.
Nachdenklich betrachtete Dako das zufriedene Vulnona, mit dem er eben noch um die Sicherheit seiner Prinzessin gerangelt hatte. Dann schaute er abwechselnd Liam und Nami an, bevor auch er seinen Kopf auf ihr Bein legte und herzzerreißend jaulte.
Überrascht sah Nami ihrem Pokémon in die schwarzen Knopfaugen. „Willst du etwa…?“ Dann begriff sie, dass Dako – freiwillig – etwas von dem Pokémon gelernt hatte, dass er bis jetzt die Zeit, die sie sich kannten, eigentlich gehasst hatte. „Tut mir leid“, entschuldigte sie sich schließlich. „Aber ich habe nichts…“
„Sorgt Euch nicht darum“, meinte Liam, kramte erneut in seinem Beutel und warf auch dem Magnayen ein Stück Fleisch zu. Dieser schnappte es zwar nicht aus der Luft, sprang ihm aber heftig mit dem Schwanz wedelnd hinterher und griff es sich heißhungrig vom Boden. Dann kehrte er kauend an Namis Seite zurück, nun ebenso zufrieden wie Aurora.
Nami lachte leise. Dann jedoch betrachtete sie Gedanken versunken den Beutel mit dem Trockenfleisch, der noch längst nicht leer und auch nur mit diesem gefüllt schien. „Du nimmst Kleinigkeiten für dein Pokémon mit und hungerst dabei selbst?“, erkundigte sie sich und sah abwechselnd zu Liam und zu Aurora.
Liam lächelte stumm griff noch ein weiteres Mal in seinen Beutel und gab dem Vulnona wieder einen Brocken. „Lieber breche ich völlig entkräftet und ausgehungert zusammen“, erklärte er. „als dass mein Pokémon unglücklich kämpft. Und auch sonst sehe ich sie so lieber als niedergeschlagen.“ Da nun auch Dako einen weiteren Leckerbissen erbettelte, gönnte er ihm ebenfalls einen.
Nami streichelte das Magnayen und dachte nach. Von dem, was sie bisher über die Krieger des Lichts gehört hatte, hatte sie eigentlich einen anderen Eindruck von ihnen als diesen. Bestimmt war er nicht der einzige, der auch Proviant für seinen Begleiter mitnahm, vielleicht sogar alle, die ihre Pokémon in den Kampf einbezogen, und diese waren überhaupt weniger als die Hälfte, so weit sie wusste.
„Euer Magnayen hat ein sehr kräftiges Fell“, bemerkte Liam. „Das deutet auf Gesundheit hin.“
Sie nickte und vergrub ihre Finger tief in den tiefschwarzen, glänzenden Haaren. „Ich sorge mich sehr um ihn, nicht nur deswegen, weil er mein Beschützer ist. Er war in meiner Kindheit mein hauptsächlicher Spielgefährte, wenn ich in diesem goldenen Käfig eingeschlossen war, ist mein gutmütiger Tröster, wenn ich traurig bin… er ist so vieles für mich, aber am allermeisten ein Freund.“
„Freund…?“ Der junge Ritter sprach dieses Wort wie eine Zauberformel. Er lehnte sich zurück und starrte an die Decke. „In der Burg des Lichts wird uns schon von klein auf erzählt, wie schrecklich ihr mit euren Pokémon umgehen sollt… dass ihr sie bis zur Erschöpfung zur Übung gegeneinander kämpfen lasst und sie dann auspeitscht, damit sie weitermachen, obwohl sie schon viel zu schwach sind, um überhaupt noch zu stehen, und wenn ihr sie dann endlich in Frieden lasst, sperrt ihr sie in viel zu kleine, deprimierend dunkle Räume wie in einen Kerker, wo sie nur karge, ranzige Essensreste und abgestandenes Wasser bekommen – wenn überhaupt.“ Damit wandte er den Blick zu Dako und fixierte schließlich Nami eine ganze Weile.
Was auch immer in ihr vorging, irgendetwas regte sich in ihr. Wieder waren es Magen und Herz, aber auf eine völlig andere Art und Weise, nicht Bestürzung oder Triumphgefühl, sondern etwas, das sie absolut nicht kannte. Sie wich seinen eisblauen, aber feuerwarmen Augen aus und sah zu Aurora, die sich mittlerweile hingelegt und die neun Schwänze weit um den Kopf geschlungen hatte. Dako begann zu zittern, als er das goldene Fell betrachtete – weil, wie Nami glaubte, er die Wärme des Vulnona anstatt der ungemütlichen Kühle des Steinbodens verlangte, doch mit ganz ähnlichen Gefühlen zusammenhing, die sie eben beim Anblick Liams empfunden hatte – und er sich schließlich ein Herz fasste, vorsichtig an einem der Schweife schnüffelte, die sich plötzlich wie ein Fächer öffneten. Zuerst zuckte das Unlichtpokémon ertappt zurück, bereit, einen möglichen Angriff abzuwehren, aber als er die Güte in dem Blick seines Gegenübers erkannte, legte er sich langsam neben den weichen Körper Auroras und ließ sich von ihren flammenähnlichen Schwänzen zudecken und wärmen.
„Uns wird dasselbe beigebracht“, murmelte Nami, dann lachte sie, als ob er sie beim Keksklauen in der Küche der Festung erwischt hätte – wie es ihr so oft mit der Oberköchin passiert war – und fügte dann hinzu: „Wobei das mit den dunklen Räumen bei uns wohl stimmt. Nur, dass sie groß genug sind. Und dass sie nun mal dunkle Ecken lieber mögen, liegt nur daran, dass die meisten Unlichtpokémon sind; wie Dako.“
„Ihr habt das auch gelernt?“ Nami spürte seinen überraschten Blick. „Und dabei stimmt das ebenso nicht – wenn Ihr die Wahrheit sagt. Wobei… wenn ich mir Dako ansehe, dann ist es wohl sicher, dass Ihr nicht lügt.“
„Es heißt sogar, dass ihr so grausam seid, dass eure Pokémon noch nicht einmal Namen bekommen“, fuhr Nami unbeirrt fort. „Aber als du dein Vulnona Aurora genannt hast, hab ich gesehen, dass sie darauf hörte, sie hat nicht gespielt.“
Nach einer weiteren kurzen Schweigepause sagte Liam: „Aber wenn das gar nicht stimmt… dann ist dieser Kampf…“
„Sinn-, verstand- und rücksichtslos.“
„Da habt Ihr wohl ins Schwarze getroffen.“
Nami fing an, mit einem ausgefransten Faden ihres Gewandes zu spielen. „Wir sind eigentlich gar nicht so verschieden.“
„Was, wie?!“ Sie sah ihn aus dem Augenwinkel zusammenzucken. „Was meint Ihr mit… wie?“
Sie schaute ihn direkt an und sagte dann trocken: „Wir. Das Volk des Lichts und das der Dunkelheit.“ Wieder wandte sie den Blick ab, zog die Beine an und setzte sich gerade hin. „Unsere beiden Völker sind gleich. Was den Umgang mit Pokémon betrifft – und die Niedermachung der anderen Seite. Warum gibt es dann Krieg?“
Er rutschte näher an sie heran, ob absichtlich oder aus Reflex, und wieder zuckte etwas in ihr, aber sie wagte es nicht, sich zu bewegen, aus Angst, es könnte tollpatschig wirken, weil sie so sehr zitterte.
Und so saßen Nami und Liam, Prinzessin der Dunkelheit und (baldiger) Ritter des Lichts, nebeneinander auf dem kalten Steinboden, zu ihren Füßen ihre beiden Pokémon, eng umschlungen und sich gegenseitig wärmend, und draußen unter dem Fenster wurde nach wie vor das Duell der beiden Könige ausgefochten, sinn-, verstand- und rücksichtslos…

Dahlien ist ein wunderschönes, blühendes Land inmitten schneebedeckter Gebirge und zugefrorener Bachläufe und Wasserfällen. Es heißt, dass die Sonne nur für den grünen, fast kreisförmigen Flecken Erde scheint. Ihr himmlisches Feuer hält die eisige Kälte des Winters für das ganze Jahr zurück und lässt das prachtvolle Reich erblühen und erstrahlen. Klare Flüsse schlängeln sich zwischen saftigen Wiesen und geheimnisvollen Wäldern hindurch und münden in hellen Seen, in denen sich der blaue Himmel spiegelt. Es gibt keine Blume, die sich hier nicht finden lässt, aber am schönsten sind die göttlichen Dahlien, nach denen das Reich benannt ist, und die wie die kleineren Schwestern der Sonne in unterschiedlichsten Farben leuchten und das Gebiet um das prachtvolle Königsschloss säumen wie das Gras die Wiesen und Bäume die Wälder.
Unter König Vinco ging es dem dahlischen Volk, so wie schon seit vielen Generationen, sehr gut, und die schon seit vielen Jahrhunderten herrschende Blütezeit Dahliens war noch lange nicht zu Ende. Viele benachbarte Reiche und Könige hatten im Laufe der Jahre versucht, die Grüne Blüte, wie Dahlien weitläufig genannt wurde, einzunehmen, waren aber bereits im Ring des eisigen Gebirges, das das Königreich umschloss, der Kälte erlegen. So herrschte ohne viel Zutun des Königs ständiger Frieden, und seine Untertanen hatten nichts zu befürchten, keinen Krieg, keinen Hunger, keinen Winter.

Linda saß auf einem schlichten Holzschemel und spielte eine süße Melodie auf ihrer Flöte; ebendiese, auf der auch schon ihre Mutter, ihre Großmutter, alle Königinnen des Reiches gespielt hatten, und die aus einem Ast der Ewigen Eiche geschnitzt worden war. Auf dem Brett ihres großen, weit geöffneten Fensters saßen Käfer- und Pflanzenpokémon, ein PalimPalim hielt sich hinter ihnen in Schwebe, und an der Wand hingen Webarak. Ihr Gemach lag zwar so weit oben in einem der höchsten Türme des Schlosses, aber um ihrem Flötenspiel zu lauschen, vergaßen alle Pokémon ihre Feindseligkeiten, und Ibitak trugen Raupy, die sie sonst gefressen hätten, hinauf zu ihrem Fenster, und rivalisierende Schwalboss schlossen stille Bunde.
Noch keine ihrer vielen Ahninnen hatte diese Wirkung auf Pokémon gehabt. Das hatte man immer zu ihr gesagt, als sie die Heilige Flöte zu spielen gelernt hatte. Man sagte Linda immer, dass ihre Mutter stolz auf sie gewesen wäre; da war sie sich so sicher, wie sie die Griffe, die sie mit ihren sanften Fingern auf der Flöte erzeugen musste, wie von selbst zu spielen wusste, auch wenn sie die Frau, aus dessen Schoß sie stammte, nie gekannt hatte. Sie war noch im Wochenbett gestorben.
Auch wenn es Linda im Herz wehtat, zum Ende zu kommen, setzte sie zum Ende an und zog die letzte Note in himmlische Längen. Schließlich verstummte das süße Lied. Die Pokémon um sie herum erhoben sich mit Widerwille, aber kaum, dass der letzte Ton verklungen war, klang auch seine Wirkung ab, und instinktiv begann man, sich wieder vor den ewigen Feinden in Sicherheit zu bringen oder mit der Zeit zu realisieren, dass das Mittagessen genau vor dem Schnabel saß.
Mit vorsichtigen Händen legte Linda die kostbare Flöte in die Schatulle zurück, in der sie aufbewahrt wurde. Zwar war das Holz der Ewigen Eiche vor jeder Zerstörung gefeit, aber der volle Ton der Flöte war sehr empfindlich und reagierte schmerzhaft auf Feuchtigkeit, vor der er aber in dem Kästchen geschützt war. Liebevoll strich die Prinzessin von Dahlien über die feine Maserung, fühlte die raue Oberfläche auf ihrer Haut, und klappte schließlich den schützenden Deckel darüber.
An der Wand hing ein Spiegel, der mit einem zu kunstvoll verschlungenen Mustern in Blatt- und Blütenformen geschnitzten Holzrahmen verziert war. Sie betrachtete sich lange in der reflektierenden Oberfläche. Ihr dunkelbraunes, hüftlanges Haar, das in allen Tönen der Natur zu schimmern vermochte und nie so wirklich eine feste Farbe aufwies, floss ihr wie flüssiges Gold über Nacken und Schultern, und eine einzelne Strähne wurde traditionsgemäß von einer hölzernen Perle zusammengehalten. Zwischen ihrer pfirsichfarbenen Haut leuchteten ihr zwei strahlende Bernsteinfarben entgegen, die genau dieselben waren wie die von Königin Kamilla. Ihre vollen Lippen, die von einem natürlichen, dezenten Rot waren, waren zu einem sanften Lächeln geschwungen, welches sie immer trugen, wenn Linda spielte, und rundeten ihre zarten Gesichtszüge perfekt ab. Ihr Vater sagte oft zu ihr, dass ihre Schönheit der ihrer Mutter gleichkam, die auch noch von größerer Schönheit gewesen war als so manch andere Frau, als sie mager und zusammengefallen ihr erstes und einziges Kind in die Arme genommen hatte, sie schon fast übertraf, und dass kein Spiegel der Welt sie zu fassen vermochte. Als die kleine Prinzessin ihn einmal gefragt hatte, was er damit meine, hatte er freundlich und gütig geantwortet: „Ganz einfach, meine Tochter: Jeder Spiegel schämte sich, spiegele er deinen alles überragenden Glanz, so wie er weiß wird, wenn er das Licht der Sonne zu zeigen versucht. Egal wie oft du in einen Spiegel schauen wirst, du wirst deine wahre Schönheit nie sehen können.“
Aber mit zunehmender Reife hatte sie erkannt, dass sein Gerede über sich schämende Spiegel nur eines der Märchen war, die man kleinen Kindern zu erzählen pflegte. Mit ihren stolzen sechzehn Sommern war sie zu alt für so etwas – ein Spiegel zeigte das, was vor ihm stand, und genierte sich nicht dabei, er war nur ein Gegenstand, nichts weiter.
Lindas Hand glitt wie von einer unsichtbaren Macht gesteuert zu dem Anhänger ihrer Kette, die sie stets um den Hals trug. Es war eine Dahlienblüte, gefertigt aus dem reinsten und klarsten Bernstein, der genauso hell und schön strahlte wie ihre Augen, wie die heilige Sonne, die alles mit ihrem Leben spendenden Licht erwärmte.
Es wurde an die Tür zu ihrem Gemach geklopft, und weil sie niemand anderen dahinter erwartete als ihre Leibeigene, gewährte sie Einlass. „Prinzessin?“, ertönte eine schüchterne Stimme hinter der sich öffnenden Tür, und schließlich trat Lindas Dienstbotin zaghaft ein. „Prinzessin Linda.“ Tessa verbeugte sich tief vor ihrer Herrin und richtete sich erst wieder auf, als es ihr diese erlaubte. Ihr zottiges, schwarzes Haar stand ihr in dornigen Strähnen vom Kopf ab, und die braunen Augen, die tief und beruhigend dunkel in ihren Höhlen saßen und eine verborgene Gerissenheit ausstrahlten, kreuzten sich nicht mit dem Blick der Prinzessin. „Euer Vater König Vinco erwartet Euch, Prinzessin. Das Mittagsmahl ist angerichtet.“ Ihre Augen weiteten sich, als sie Linda von oben bis unten betrachtete. „Ihr seid noch ins Nachtgewand gekleidet? Ich werde Euch ein frisches bringen.“ Damit wandte sie sich zu Lindas großen Kleiderschrank und fischte mit geübten Händen ein exotisches Gewand aus den tiefen des Kastens – Linda wusste, dass man es Kimono nannte. Sie hatte viele solcher Gewänder in ihrer Sammlung, weil sie die einheimischen nicht recht tragen mochte, und die fantasievollen Blumen- und Fleckenmuster hatten es ihr angetan.
Tessa half ihr, das Nachthemd abzustreifen, und den Kimono anzukleiden. Vor ihrem reich verzierten Spiegel fühlte sich Linda wie eine ausländische Adelstochter denn wie die Prinzessin des reichsten Landes des ganzen Erdkreises. Sie folgte Tessa in den Speisesaal, an dessen reich gedeckter Tafel der König saß. Sein Teller war unangetastet, und er hatte die alten Hände übereinander gefaltet, während er auf seine Tochter gewartet hatte. Hinter fransigen Strähnen leuchteten ihm seine blauen Augen entgegen. So lange sich Linda erinnern konnte, so war das Haar ihres Vaters immer grau gewesen, obwohl er noch längst nicht so alt war; aber die Trauer um seine geliebte Gattin hatte seine Zeit vorspulen lassen, sodass aus sechzehn Jahren nunmehr vierundzwanzig geworden waren.
Linda nahm Platz. „Seid gegrüßt, Vater“, sagte sie zu König Vinco, der sich augenblicklich aufrichtete und sie lange betrachtete.
„Sei gegrüßt, meine Tochter. Möge es dir munden.“ Mehr sagte er nicht. Oft hatte er mit Kamilla gesprochen, sich unterhalten, oder einfach in unendlicher Liebe geschwiegen, so wie Tessa es Linda erzählt hatte, aber seid seine Königin gestorben war, hatte sich ihr Vater in einen Mantel von Schweigen gehüllt. Linda wünschte sich manchmal, den Schleier lüften zu können, um mehr Liebe zu erfahren, aber sie hatte den König nie anders kennengelernt. Jedoch empfand sie für ihn das, was er ihr an Liebe verwehrte, mit doppelter Intensität.
Nach dem Mittagsmahl erhob sich Linda, machte einen Knicks und fragte: „Wenn Ihr es erlauben würdet, Vater, zöge ich mich nun gerne in den Garten zurück.“
„Möge die Sonne dich behüten“, segnete der König seine Tochter, und mit dieser Erlaubnis verließ Linda den Speisesaal.
Tessa wartete bereits im Korridor auf sie. Die Dienerin machte eine höfliche Verbeugung, bevor sie schweigend den Flur entlanggingen. Linda gingen viele Dinge durch den Kopf, und sie wagte nun endlich, Tessa eine Frage zu stellen, von der sie sich zu fragen noch nicht getraut hatte, weil sie sich vor der Wahrheit fürchtete: „Wie war meine Mutter?“ Sie konnte sich darauf verlassen, dass Tessa die Antwort nicht ausschmückte, wie es ihr Vater zu tun pflegte.
Die Dienstbotin betrachtete ihre Herrin eine Weile verblüfft, bevor sie antwortete: „Nun, genau, wie euer Vater es immer beschreibt: Von einzigartiger Schönheit und engelhafter Eleganz.“
Linda strich sich die Strähne, die durch das Gewicht der Holzperle in ihr Gesicht gerutscht war. „Nein, ich meinte, wie sie vom Wesen war. Sie wird immer als gütig und gutmütig beschrieben, und es sind zwei schöne Worte, die gut zusammenpassen, aber stimmen sie auch?“
Tessa schien zu verstehen, auf was die Prinzessin hinauswollte. „Ich kannte Eure Mutter nicht, als sie in Eurem Alter war. Ich diene hier schon seit ich laufen gelernt habe, und Königin Kamilla, die Ewige Sonne behüte ihre Seele, stammt aus den Ländereien Eures Großvaters Lord Ikaros. Aber von den Dienerinnen, die sie mit sich brachte, und ihren Hofdamen habe ich so manches von ihr gehört; sie soll sehr temperamentvoll gewesen sein, wenn nicht gerade wüst, aber sie kannte ihre Pflichten und hat sie nie vernachlässigt. Ich selbst habe sie als eine treue Gattin und gute Königin an der Seite des Königs kennengelernt, und die Sonne möge alle bösen Geister bestrafen, die ihren Körper nach Eurer Geburt so gezehrt haben!“ Die Dienerin schüttelte bitter den Kopf. „Auch wenn ich nicht für Eure Mutter diente, so war sie mir doch die wahre Herrin, und als die Mutter Eures Vaters starb, fühlte ich mich geehrt, Eure Dienerin zu werden, die so ein helles Herz hat wie ihre Mutter.“
Glücklich lächelte Linda. Tessa konnte stumm und schüchtern sein, aber sie hatte eine Wortgewandtheit wie der beste Redner und Berater ihres Vaters. Es war eine Schande, sie als gewöhnliche Dienstbotin durch den Palast zu hetzen. „Temperamentvoll war sie also, wie?“
„Und stur, möchte ich sagen, wenn Ihr erlaubt!“ Sie waren am Tor zum Garten angekommen, und ein Palastwächter öffnete es ihnen. Frische Luft umwehte die beiden Frauen, als sie aus den kalten Mauern in die warme Sommersonne traten. „Dahlien ist ein wunderschönes Reich“, schwärmte Tessa. Linda erinnerte sich, dass ihre Dienerin von jenen Sklaven abstammte, die ihre frühen Vorahnen über das Gebirge aus anderen Ländern gebracht hatten. Sie wandte sich ihrer Herrin zu und sagte: „Wahrlich, Ihr solltet Euch einen Gatten aussuchen! Ganz Dahlien sprießt nur so vor jungen Herzogssöhnen und Lords. Euer Vater ist sehr krank, sowohl im Geiste als auch im Körper, und lange wird er die Königskrone nicht mehr zu tragen vermögen, und ihr müsst an seine Stelle treten. Habt Ihr denn noch niemanden im Blick? Vergesst nicht, dass Eure Eltern nur ein oder zwei Sommer älter waren als Ihr, als sie sich vermählten.“
Linda erwiderte nichts, sondern betrachtete die übermannshohen Dahlien, die ihren Weg säumten; in diesen Teil des Gartens verirrte sie sich am liebsten, schon als sie nur ein kleines Kind gewesen war. Es war ihr ganz persönlicher „Wald“. Tessa erkannte den träumenden Gesichtsausdruck ihrer Herrin, also verneigte sie sich und ließ die Prinzessin allein.
Als sich Linda sicher war, dass die Dienstbotin nicht mehr in Hörweite war, zog sie die zarten Füße aus den unbequemen Sandalen und hob den Saum ihres Gewandes. Ihr war es eigentlich nicht erlaubt, die sicheren Pfade zu verlassen, aber inmitten ihres Dahlienwaldes fühlte sie sich sicherer als unter jeden scharfen Blicken aller Schlosswächter. Schließlich erreichte sie den Stein, der schon immer im Wald lag und auf den sie sich immer setzte, kam sie her. Und auch dieses Mal ließ sie sich auf den kühlen Stein nieder.
Wieder musste sie ihrer Dienerin Recht geben – wie so oft. Hier auf ihrem kleinen Stein in ihrem kleinen Wald in ihrer eigenen kleinen Welt schien die Sonne noch heller, noch wunderbarer, als sie es ohnehin schon tat, und ihre wärmenden Strahlen drangen durch die Blüten der Dahlien wie zu Luft gewordenes Gold und ließen sie wie die dazu passenden Juwelen und Edelsteinen leuchten und glänzen. Es roch nach feuchter Erde unter den Blättern, denn nur gestern hatte es geregnet, und in ihrem Wäldchen beugte sich das kühle Nass hartnäckig der übermächtigen Kraft der Sonne. Irgendwo summte und brummte es und zeugte von Wadribie und Bibor, die auf der Suche nach Blütennektar für ihren Schwarm oder ihre Familie jeden Tag Taten vollbrachten, die kein Mensch jemals erreichen würde.
Linda hörte ein Rascheln, das sich über die üblichen Geräusche hinweghob, und drehte in gespannter Erwartung das Gesicht in die Richtung, aus der es gekommen war. Eine kleine, weiße Hand schob ein Dahlienblatt zur Seite, das augenblicklich von einer dünnen Schicht Frost überzogen wurde und sich aufrollte. Zwischen den Stängeln der Blumen tauchte ein Pokémon auf.
„Schneeblume!“, freute sich Linda glücklich bei dem Anblick ihrer liebsten Freundin. Das Frosdedje schwebte auf sie zu und setzte sich neben sie auf den Stein. Kalte Luft umgab wie immer das Pokémon, aber die Prinzessin hatte sie noch nie als unangenehm empfunden. Sie erinnerte sich immer wieder gerne daran, wie sie Schneeblume kennen gelernt hatte.
Alle Pokémon, durch deren Adern kalte Blut des Eisdämons floss, wurden in Dahlien gehasst und gefürchtet. Die Palastwachen hatten das damalige Schneppke entdeckt und mit Speeren auf es eingestochen, ihrer Pflicht nachgehend, die Königsfamilie vor dem Fluch des Herren des Gebirges zu bewahren. Linda war damals noch ein kleines Mädchen gewesen, kaum sechs Sommer alt, aber bereits befehlsgewohnt und autoritär. Ihr kleines Herz hatte Mitleid mit dem Eiswesen empfunden, das die Soldaten zaghaft, aus Furcht, der Fluch könne auf sie übergehen, niederstachen. Mit fester Stimme hatte sie sie angewiesen, das Schneppke in Frieden zu und es in seine Heimat zurückkehren lassen, wenn seine Wunden verheilt waren. Einer der Wachen hatte sich erboten, das Pokémon zurück in die Berge zu bringen, jetzt oder wenn es wieder genesen war, doch Linda war damals schon hinterhältig gewesen und hatte den Wachen gedroht, ihrem Vater zu berichten, dass das Schneppke die angegriffen hätte und ihre Leibwächter sie nicht richtig beschützt hatten. Aus Angst um ihren Hals hatten sie geschwiegen und das Mädchen machen lassen.
Linda hatte es hierher zu ihrem Lieblingsplatz in ganz Dahlien gebracht und bei der Heilerin Verbandszeug und Salben geklaut, um sich um das Pokémon zu sorgen. Jedoch war sie unerfahren und ungeschickt gewesen, und durch ihre mangelnde Kenntnis im Heilergeschäft – sie war schließlich nur eine kleine Prinzessin – dauerte die Genesung ihrer neuen und einzigen Freundin viel länger, als sie in freier Natur in Anspruch genommen hätte, und das Eispokémon war in dieser Zeit oft krank. Aber es spürte die Liebe, mit der sich das Mädchen um es kümmerte, und als es geheilt war, kehrte es nicht zurück, sondern blieb im Garten des Königsschlosses, verborgen vor den Augen der Wachen, denen des Königs und jedes anderen Menschen – nur Linda wusste um sein Dasein. Und schließlich war es gewachsen, hatte eine neue Form und Kraft angenommen, und auch wenn die Wachen es nun finden sollten, so würden sie in einem Kampf mit ihm drei gegen eins kläglich versagen. Der Name Schneeblume war im Laufe der Zeit entstanden, und Linda nannte ihre Freundin aus Gewohnheit so.
Seit sie eine so enge Freundschaft geschlossen hatten, vermochte die Prinzessin fast genau zu erkennen, was das Eispokémon ihr sagen wollte: Spielst du bitte?, schienen die eisblauen Augen sagen zu wollen.
Linda lächelte und holte ihre Flöte hervor. Es war nicht die jahrhunderte alte Flöte aus dem Holz der Ewigen Eiche, sondern eine gewöhnliche, auf der sie angefangen hatte, zu lernen, wie man dem filigranen Instrument betörende Melodien entlockte. Sie legte das Holz an ihre Lippen und blies hinein, ließ die von der heiligen Sonne erwärmte Luft durch sie fließen und klangvolle Töne herbeizaubern. Aber nie waren sie so schön wie die der Heiligen Flöte, daher lockten sie auch keine Pokémon an, sondern hüllten nur Linda und ihre Freundin in träumerisches Schweigen. Schließlich verstummte das Lied.
Die Prinzessin sah zu Schneeblume runter, die sich dösend an sie gelehnt hatte. Die Luft um sie herum hatte sich aufgewärmt, und die Haut des Frosdedje war grau. Trauer legte sich über das Gemüt Lindas, weil die gemeinsame Zeit bereits zu Ende war. Schneeblume war ein Kind des Winters, und die Wärme des ewig währenden Sommers machte es krank. Eigentlich war es seit dem Tag, als sie sich zum ersten Mal gesehen hatten, nie wieder wirklich gesund gewesen. Es lebte in einer Höhle nahe eines kühlen Baches, und durch die erdigen Wände tropfte immer wieder kaltes Nass. Nur in den Nächten, wenn das Land erkaltete und der blasse Mondschein an die Stelle des goldenen Lichts der Sonne trat, traute sie sich aus ihrem schützenden Heim.
Schweren Herzens verabschiedeten sich die beiden; Schneeblume kehrte zu ihrer Höhle zurück, und Linda schlug den Weg zum Schloss ein.
Als sie sich abends zur Ruhe legte, sinnierte sie wie so oft darüber nach, wie sie hier das Leben ihrer Freundin bessern konnte. Sie durfte niemanden um Rat fragen, denn sie hatte einem Frostkind das Leben gerettet und traf sich regelmäßig mit ihm, und allein ihre erste Tat war der größte Frevel in ganz Dahlien.

„Euer Vater lässt Euch ausrichten, dass Ihr heute alleine speisen müsst; er fühlt sich nicht wohl.“ Tessa rang die Hände, was sie immer tat, wenn ihr etwas unangenehm war.
Linda seufzte. König Vinco schien es immer schlechter zu gehen. Ihr letztes gemeinsames Mahl lag Tage zurück, und in dieser Zeit hatte sie allein in dem großen Saal gespeist und sich sehr einsam gefühlt. Sie war ohne Mutter aufgewachsen und fühlte sich noch nicht bereit dazu, auch ohne Vater zu leben, zumal sie dann die Regierungsgeschäfte führen musste. Sie aß nicht viel, weil ihr Hunger durch die schrecklichsten Vorstellungen verflogen war.
Ihr Vater, fürsorglich, wie er war, hatte einen Besuch in irgendeinem Herzogtum arrangiert, auf dem Linda ihren baldigen Verlobten kennen lernen sollte. Sie kannte weder seinen Namen noch den seines Vaters oder Lehnsherren, je nach dem, und ihr stand der Sinn nicht nach einem solchen Ausflug.
Gerade bestieg sie mithilfe eines Leibwächters ihr Gallopa, als die Zugbrücke verfrüht herabgelassen wurde. Durch den großen Eingang donnerte das Reittier eines Ritters und kam erschöpft zum stehen. Sein Reiter stürzte fast aus dem Sattel, und seine Kameraden kamen ihm eilig zu Hilfe, um ihn wieder aufzurichten. Aus seiner Brust ragte die Spitze eines Pfeils. „Krieger… kommen… Feuer und Schwerter…“, keuchte er Tonlos und verstummte. Blut troff an der Pfeilspitze hinab, ein letzter Tropfen, ein letztes Aufbäumen seines Herzens. Die beiden Palastwächter legten ihn zu Boden und schlossen ihm die Augen.
Linda hatte dafür aber keine Augen: Durch das geöffnete Tor sah sie – vielleicht eine Reitstunde entfernt – das rote Glimmen eines gewaltigen Feuers, und von der Stelle stieg eine breite Rauchsäule wie die Pfeiler des Himmels dem blauen Zelt entgegen. So etwas hatte sie noch nie gesehen, überhaupt ihre Leibwächter und ihre Vorgänger vieler Generationen hatten so etwas nie erlebt, wussten sie doch alle, was es bedeutete: Krieg, Angriff. Irgendein gegnerisches Heer oder vielleicht auch alle hatten es über das Gebirge geschafft und waren drauf und dran, Dahlien entweder zu vernichten oder einzunehmen. Und ihr Ziel war eindeutig: Der Königspalast. Wenn sie nicht schnell verschwand, würde Linda getötet werden, das war ebenso sicher wie die Sonne, die jeden Morgen über den Gipfeln der Berge emporstieg.
Sie wand sich im Griff ihres Leibwächters und sprang von ihrem Reittier, aber der Ritter packte sie grob am Arm. „Bei der Sonne, Prinzessin, verzeiht mit, aber seid Ihr noch gut bei Sinnen? Bleibt zu Pferde, denn wir müssen fliehen!“
Das war ihr durchaus bewusst. Aber sie konnte nicht fliehen, ohne Schneeblume ebenso zu retten. Störrisch rammte sie dem Mann einen Tritt zwischen die Beine, und augenblicklich ließ er sie los und sackte zusammen. Bevor er oder seine Genossen recht verstanden, was geschah, hatte sie ihren Kimono gerafft und Reißaus genommen. Sie hielt auf den Garten zu.
Die Geschichten über Krieg und Zerstörung hatten von Lärm und tosenden Donnerschlägen berichtet, aber dies hier unterschied sich doch sehr davon. Zwar hallten Rufe aus dem Schloss in den ruhigen Garten, Rufe, Befehle, sämtliche Wachen mögen zur Verteidigung des Landes, des Königs und der Ehre zusammenfinden. Vom anrückenden Heer war noch nichts zu hören.
Endlich fanden Lindas Füße den vertrauten Pfad zwischen den Dahlien, aber Schneeblume war nicht beim Stein. Warum sollte es auch da sein? Wenn sie nicht zu ihrem Treffpunkt kam, war auch Schneeblume nicht anwesend, denn sie hielt sich nur in der ungesunden Wärme auf, wenn sie es auch musste.
Linda bereute es, nie auf Schneeblumes Einladungen, zu ihrer Höhle zu kommen, eingegangen zu sein, denn nun wusste sie nicht, wo ihre Freundin des Tags hauste. Das feindliche Heer würde das ganze Land überrennen, und die Prinzessin hatte keine Hoffnung, dass das Eispokémon überleben oder sie jemals wieder treffen würde. „Schneeblume!“ Den Namen der Freundin rufend schlug sie panisch den Weg ein, aus dem das Frosdedje immer zu kommen pflegte. Sie wusste nicht, in welche Richtung sie sich wenden sollte, aber dann hörte sie das Pokémon, und kurze Zeit später lagen sich die beiden in den Armen. Linda zitterte vor Angst, und Schneeblume fragte sich, was wohl mit ihr los sei.
Hastig erklärte ihr die Prinzessin die Gegebenheiten. Schneeblume verstand sofort und sprühte fast vor Tatendrang. Lass mich gehen, ich will helfen!, versuchte sie zu vermitteln, aber Linda ließ sie nicht ziehen. Aber da ihre Freundin so sehr darauf brannte, konnte sie ihr den Wunsch, ebenfalls in der Schlacht zu kämpfen, nicht verwehren.
In ungewohnter Hast kehrten sie zum Schloss zurück, und zum ersten Mal in seinem Leben sah Schneeblume das beeindruckende Gebäude aus nächster Nähe. An den Tag, als es von den Palastwachen fast ermordet worden wäre, konnte es sich nicht mehr erinnern. Auch im Innern des Schlosses herrschte Aufregung, und zu Lindas und vor allem Schneeblumes Glück beachtete niemand das Eispokémon, das Kind des Dämons.
Linda fand ein herrenloses Gallopa und bestieg ungeschickt dessen sattellosen Rücken. Immerhin hatte es Zügel, und mit einem lauten Knallen, der im Lärm im Palast unterging, rauschte unbemerkt die Prinzessin von Dahlien durch das Tor der Zugbrücke zwischen vielen Rittern hindurch, gefolgt von einem der verhassten Schneewesen, dem Heer entgegen, das sie ohne zu zögern töten würde.

Schneeblume und Linda versteckten sich in einem nahen Wald und beobachteten die Schlacht. So sah also Krieg aus; so fühlte sich der Tod an. Die herrliche, dahlische Sonne war versteckt hinter einem schweren Mantel aus schwarzem Rauch, und in der Luft hing der Gestank von Verbrennung, Schweiß und Blut. Schneeblume sah gar nicht gut aus – seine sonst fast reinweiße Haut war in ein ungesundes Grau übergegangen, in dessen Richtung es sich immer verfärbte, wurde es ihm zu warm. „Bist du dir sicher, dass du helfen willst?“, fragte Linda ein vielfaches Mal. Zum ersten Mal antwortete das Frosdedje nicht, sondern nickte nur – es war zu schwach, auch nur etwas zu sagen.
Plötzlich hörte Linda hinter sich ein Rascheln. Erschrocken wandte sie sich um; aus einem Busch trat ein Mann in rostroter, im Feuer wie ein Rubin glänzender Rüstung und einem zu grotesker Länge verzerrtem Schwert – er kam aus dem Volk, von dem sie die Tracht namens Kimono erhielt. Als er sie sah und kurz darauf erkannte, zog sich ein hässliches Grinsen über sein Gesicht. „Soso, die kleine Prinzessin. Was macht Ihr denn so alleine hier draußen? Ihr solltet vorsichtig sein, denn hier wimmelt es von Feinden.“ Er hob das Katana und ließ es auf sie niedersausen. Aber es traf sie nicht, denn Schneeblume hatte sich im letzten Moment gegen seine Brust geworfen, um ihn wegzustoßen. Es schwebte über ihn wie ein bedrohlicher Schatten, und immer, wenn er nach ihm hieb, wich es seiner Klinge nach oben aus. Linda, die zusammengekauert gegen den Stamm lehnte, erhob sich, verlor aber sofort das Gleichgewicht und stürzte. Dies lenkte das Frosdedje kurze Zeit ab, und ein weiterer Schwerstreich stieß ihm in die Brust. Graublaues Blut spritzte hervor, und das Eiswesen fiel zu Boden.
Dem feindlichen Krieger dämmerte, was er gerade getötet hatte. Fassungslos glitt ihm das Katana aus der Hand und er ergriff in blinder Angst vor dem Fluch des Eisdämons die Flucht.
Endlich schaffte es Linda, auf die Beine zu kommen, und stolperte zu ihrer Freundin rüber. Das schmerzverzerrte Gesicht war wieder blasser geworden, und aus der Wunde auf seiner Brust quoll Blut. Linda wollte nicht glauben, was gerade geschehen war, und auch wenn der eisige Funke von Leben, der in Schneeblume glomm, noch flackerte, so würde er ohne Zweifel bald erlöschen. Und dieses Mal konnte die Prinzessin ihr nicht helfen…
Vielleicht nicht sie, aber die Götter! Ihr wurden viele Märchen erzählt von den Gottheiten ihres Landes, die alle in der Sonne ihren Mittelpunkt fanden und dadurch viele und doch eins waren. Diese überirdischen, übermenschlichen Wesen hatten bestimmt die Kraft, dem Frosdedje das Leben zu retten.
Vorsichtig hob sie den schlaffen, kleinen Körper vom Boden auf und brachte sie zu Gallopa, das tiefer im Wald angebunden war. Der Walsbrand hatte sich ausgebreitet, und Linda hatte in weiser Voraussicht auf die Widerstandskraft des Feuerpferdes gesetzt und es guten Gewissens im Wald gelassen, wo niemand es finden und forttreiben konnte. Hastig versuchte sie, so sanft wie nur möglich auf dem Rücken des Reittiers zu steigen, ohne dass Schneeblume dabei noch mehr Blut verlor. Irgendwie schaffte sie es, sich und das Pokémon auf dem Gallopa zu platzieren, und ließ die Zügel knallen. Linda kannte den Weg zum Tempel, doch er war weit weg; wenn sie sich beeilte, konnte sie ihn vielleicht im Viertel einer Stunde erreichen, aber ihre Hoffnungen darauf, dass Schneeblume bis dahin überlebte, waren gering.
Es war ein hastiger Ritt, während dem sie sich immer weiter vom Feuer entfernten. Das Heer hatte keine Umwege gemacht, sondern hielt auf direkter Linie von den Landesgrenzen quer durch Dahlien auf das Schloss zu. Wahrscheinlich hatten sie sogar sämtliche Dörfer stehen gelassen, um schnelle ihr Ziel zu erreichen, andernfalls konnten sie sie auch zerstört haben. Mit Tränen in den Augen blickte Linda zurück. Die Hitze des Feuers reichte nicht mehr bis her, aber auch wenn der Wind ihr entgegenblies, trieb der beißende Gestank von Rauch auch bis zu ihr. Was war das nur für ein Feuer? In ganz Dahlien lebten so viele Pokémon, die mit Wasser zu kämpfen vermochten und jeden Brand im Schlaf ersticken konnten. Aber dieses Feuer wirkte fast, als würde es leben.
Und dann erblickte sie die Quelle der Macht des feindlichen Heeres: Über dem Zentrum des Brandes schwebte ein riesiger Vogel, gelb wie die Sonne und mit lodernden Federn, aus dessen Flügel bei jedem Schlag Feuerbälle schossen und die Umgebung entzündeten. Das war Lavados, das Schlafende Feuer. Eigentlich lebte es weit weg in einem erloschenen Vulkan, und schlief schon seit die Menschen denken konnten. Irgendwie mussten ihre Feinde es geschafft haben, sich den Feuervogel zum Sklaven zu machen, denn nie wäre er erwacht oder hätte für welche Seite auch immer gekämpft, denn das mächtige Wesen stand über den Menschen und würde ihnen niemals gegen andere Wesen oder sie selbst unterstützen.
Endlich erreichte Linda den Tempel. Das uralte Gebäude, das schon seit dem ersten König vor so vielen Generationen hier stand, war aus schlichtem, grauem Stein gefertigt, in denen kunstvolle Muster gehauen waren. Eigentlich war es unangebracht, zu Pferde das Heiligtum zu betreten, aber die Furcht um das Leben ihrer Freundin war stärker als die Angst vor dem Zorn der Sonne.
Vor dem Altar, auf dem eine marmorne, vergoldete Sonnenscheibe stand, ließ die Prinzessin sich von dem völlig erschöpften Gallopa runter und nahm Schneeblume auf den Arm. Das Pokémon war nicht bei Bewusstsein und es fühlte sich kalt an. Das war nichts besonderes, schließlich floss flüssiges Eis durch seine Adern, hätte sich die sonst natürliche, lebendige Kälte nicht so tot für Linda angefühlt.
Sie trat einen Schritt auf den Altar zu und rief verzweifelt: „Oh heilige Sonne, wenn es Dich wirklich in Deiner ganzen Vielfältigkeit gibt, dann erhöre bitte die Rufe einer ohnmächtigen Prinzessin, und lass Deine leuchtende Kraft walten! Ich flehe Dich an!“ Sie warf sich nieder, den schlaffen kleinen Körper immer noch in den Armen haltend.
„Du dumme kleine Närrin!“
Linda erschrak, als sie die Stimme hörte, die machtvoll und alles umschließend durch die Kapelle hallte. Ein eiskalter Wind kam auf und riss ihr Haar um sich. Sie kauerte sich in blindem Entsetzen zusammen und beobachtete, wie sich der Stein des Tempels auflöste, immer dunkler wurde, bis er von makellosem, spiegelglattem Schwarz war und sich wie Fliesen über Boden und Wände ausbreitete. Die goldene Sonne verfloss in einen Schwall dunkelroten Blutes und bildete eine Lache vor ihr.
Lange tat sich nichts in der eisigen Dunkelheit, nur Lindas Atem bildete weißliche Wolken vor ihrem Gesicht.
Dann begann das Blut zu brodeln. Es mehrte sich, breitete sich aus, und voll Angst wich sie davor zurück. Aus seiner Mitte erhob sich ein Berg aus rotem Glas, und aus dem unheilvollen Gebilde trat eine weiße Gestalt. Linda versuchte, sie genau zu sehen, aber sie schien aus weißem, eisigen Nebel zu bestehen, der unaufhörlich umherwaberte und immer wieder eine andere Form annahm. Nur die blutroten Augen leuchteten ihr beständig entgegen.
„Wer… bist du?“, fragte Linda heiser. Die kalte Luft stach ihr im Hals.
„Ich bin vielleicht das, was ihr den Eisdämon nennt“, hauchte die Stimme, die noch zuvor wie Donnergrollen durch den Tempel gedröhnt hatte. Sie klang wie das Säuseln eines kalten Sturmes, wie das Klirren nadelspitzer Eiszapfen. Der Herr des Gebirges sah zu Schneeblume herüber. „Armes Ding. Wenn du es damals nicht gerettet hättest, müsste es jetzt nicht so leiden.“
„Aber…“, suchte Linda zu widersprechen, aber der Dämon hob eine sich eben bildende Hand, die sich gleich wieder verflüssigte. „Du willst dich rechtfertigen. Aber das kannst du nicht. Das Herz eines Frosdedje ist ein seltsames Ding. Wenn es sich aus Schneppke verwandelt, zieht alle Kälte, die es in seinem Leben erfahren hat, in das Herz ein, und wenn es stirbt, hilft sie seiner Seele, die Schwelle zum Tod zu überschreiten. Aber dadurch, dass es so lange bei dir in der furchtbaren Wärme gelebt hat, wird seine Kraft wohl nicht ausreichen. Es wird für alle Ewigkeit in den Ketten unendlichen Schmerzes gefangen sein.“
Linda traten erneut die Tränen in die Augen, und kaum, dass sie ihr Gesicht hinunterliefen, gefroren sie zu stechenden Eistropfen. „Kannst du denn gar nichts für es tun?“, fragte sie den Eisdämon.
So, wie sich der Nebel bewegte, mochte es ein Kopfschütteln sein. „Du solltest dir das hier vielleicht ansehen“, meinte er, und auf der Fliese vor Linda auf dem Boden erschien ein Bild, erst verschwommen wie durch eine Wand von Wasser, dann gefror es zu einem scharfen Gemälde, auf dem die Bewegungen der Schlacht zu sehen waren. Lavados war durchgedreht und hatte sich nun auch gegen seine Unterdrücker gewendet. Dahlische wie feindliche Krieger gingen in seinen alles verschlingenden Flammen unter und starben qualvoll. Das Bild verblasste wieder.
Linda schwieg eine Ewigkeit entsetzt. Schließlich sagte sie mit trockener Kehle: „Bitte, mach, das das aufhört.“
War das ein Lächeln unter den rotglühenden Rubinaugen des Dämons? „Was würde ich dafür bekommen?“
Sie sah zu dem toten oder halbtoten Frosdedje in ihren Armen, das nun so blass war, dass seine Haut schon gar nicht mehr die Farbe reinen Schnees hatte. „Nimm alles von mir, was du nur willst. Nimm mein Leben, wenn es dir danach gelüstet, aber bitte, beende diese Qualen!“
Als der Dämon weitersprach, schien seine Stimme belustigt zu schmunzeln: „Du bist genauso selbstlos wie deine Mutter.“ Als Linda ihn entsetzt anstarrte, lachte er tatsächlich. „Du denkst doch nicht wirklich, dass deine alles erwärmende und ach so göttliche Sonne meine frostigen Finger von deinem geliebten Dahlien forthält?! Oh, nein, ich bin es selbst. Denn ich lebe schon lange von den Opfern so vieler Königinnen, die meistens aber ihre Erstgeborenen zum Tausch für das Wohl des Landes hergeben. Die liebe Kamilla hat da anders gedacht.“ Der Nebel machte eine Bewegung, und neben ihm erschien aus dem nichts ein mannshoher Kristall aus reinstem Eis, in dem eine nackte Frau mit zusammengefalteten Händen gefangen war. Sie hatte die Augen geschlossen, ihre Lippen waren vor Kälte blau, und ihr Haar, das sie wie einen Schleier bewegungslos umwehte, wirkte durch das Eis schwarz; und dennoch erkannte Linda ihre Mutter sofort, als habe sie sie erst gestern zuletzt gesehen.
„Mutter…“, hauchte sie und streckte die Hand nach dem Kristall aus, um seine Oberfläche zu berühren und der so sehnlichst gewünschten Mutter näher zu sein, doch kaum, dass sie nahe genug war, ließ der Eisdämon sie wieder verschwinden.
„Ich wollte dein Leben als Tribut“, sagte der Dämon kalt. „Aber sie hat sich dafür geopfert. Ich würde es als Schande bezeichnen, das du dieses deine Leben jetzt doch opfern willst, aber ich habe meinen Spaß dabei.“ Eine Weile war der Nebel still. Irgendwo hörte man das Pfeifen eines Schneesturmes. „Ich bin gesättigt“, für der Dämon fort. „Und das für viele Jahre. Dein Leben kann ich momentan nicht gebrauchen.“
„Bitte!“, kreischte Linda, und sie selbst war erstaunt darüber, wie fest ihre Stimme klang. „Bitte, nimm mein Leben, mach damit, was immer du willst, aber lasse nicht zu, dass Dahlien zerstört wird!“ Sie vergrub die Hände im Gesicht und weinte. Weinte um ihre Mutter, um ihren Vater, der sicher schon mit einem überlangen Schwert in der Brust auf seinem blutübergossenen Bett lag, weinte um das wunderschöne Reich, das sie so sehr geliebt hatte.
„Wenn das dein letztes Wort ist…“ Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern griff mit einem nebligen Tentakel nach Schneeblumes leblosen Körper. Linda wollte sie zurückhalten, doch sie fand keine Kraft, und so entschwebte ihren schlaffen Händen die Freundin. „an diesen Körper, an sein nicht endendes Sterben werde ich deine Seele fesseln, und mich dafür rächen, dass ich vor sechzehn Jahren nicht das erhalten, was ich gefordert habe.“ Der Nebel breitete sich aus und umschloss Linda und Schneeblume. Der Eisdämon schloss die Bunde, die Dahlien retten sollten:
„Möge Eis dein Herz in Ketten legen, um deine Seele einen Kerker errichten, auf dass sie ewig zwischen Leben und Tod gefangen sei, bis du ein Herz findest, das warm genug ist, dich zu befreien. Mögest du an dieses Pokémon gebunden sein, das bei deiner Erlösung auch sein Heil finde. Möge dein Name für immer vergessen sein.“
Eine Hand aus purem Eis griff in sie. Nicht nach ihrem Herzen, nicht in ihren Kopf, sondern in ihren ganzen Körper, und zerrte an etwas an ihr oder in ihr, und schließlich wurde es mit gewaltiger Kraft aus ihr gerissen. Plötzlich war nichts mehr, und sie stürzte in einen Abgrund, der von frostigster Kälte und finsterster Dunkelheit beherrscht wurde…

Als sie wieder erwachte, fand sie sich im Tempel wieder. Die Sonne auf dem Altar war entzweigebrochen. Ein Spiegel stand neben dem steinernen Tisch. Es war Schneeblume, die dort schwebte, aber ihre Augen waren geschlossen. Um sie herum flackerte das neblige Abbild ihrer selbst; der einst in strahlenden Sommerfarben gehaltene Kimono war nun weiß und kaltblau, und nur die blutrote Schleife war ein wirklicher Farbtupfer an dem in seiner Herrlichkeit gebrochenen Gewand. Ihr Haar war schneeweiß, und ihre Augen von einem eisigen hellblau, ihre Haut so blass, dass sie fast nicht von ihrem Haar zu unterscheiden war.
Ein unhörbarer Wut- und Trauerschrei zerriss die Grabesstille.

Der Eisdämon besänftigte die Flamme, die Lavados´ Wut schürte, und ließ es zurückkehren in seine alte Heimat, wo es seinen Schlaf fortsetzte. Die Feuer erloschen von selbst, als ihr Herr sich entfernte.
Der König war tot.
Der feindliche König bestieg den Thron und regierte das Land mit eiserner Faust. Die einst reichen Dahlier wurden zu Sklaven gemacht. Ein letzter Aufstand nach mehr als drei Jahrzehnten zerstörte das Reich schließlich völlig. Keine Königin war mehr da, um dem Eisdämon Opfer zu sein. Er zog in die Grüne Blüte ein und verwandelte sie in das kälteste Tal, das die Welt je gesehen hatte. Ungekannte Mächte waren auch das Ende für ihn und brachen die Landmassen. Alles wurde zerstört. Nur der Tempel blieb.
Das einstige Dahlien wird heute Blizzach genannt.

Die Seele der gefangenen, namenlosen Prinzessin musste all das miterleben. Ihr kaltes Herz war zu keinen schönen Gefühlen mehr fähig; nur Trauer und Wut, Verzweiflung und Enttäuschung begleiteten sie auf ihrer Reise durch die Jahrhunderte, auf der Suche nach dem Herzen, das ihre Ketten zu sprengen vermochte.
Und mehr als ein halbes Jahrtausend später, auch wenn für sie nie ein Tag verstrich und doch wie eine Ewigkeit war, fand sie es in einem kleinen Säugling. Aber erst weitere siebzehn Jahre später sollte sie seine Wärme auch bekommen…

Wenn der erste Schnee im Winter fällt, kann man, wenn man genau hinhört, ein ganz kleines Singen vernehmen, nur flüsterleise wie eine sanfte Brise im Neuschnee, und wenn man genau hinsieht, erkennt man das schwache Glimmen eines goldenen Sternes…

Das verdorrte Gras dämpfte das sachte Trippeln zweier kurzer Beinchen, und nur Noctuh mit ihrem scharfen Gehör vermochten es wahrzunehmen. Zwei kleine Hände, viel zu winzig eigentlich, trugen einen überfüllten Beerenkorb durch den winterlichen Wald, aus dem bei fast jedem Schritt eine der kostbaren Früchte purzelte und das leise Trippeln kurz innehielt, um das über Bord gegangene Obst wieder aufzunehmen. Die kalte Luft umwehte stechend und unangenehm zwei Ohren, die mit dem ungleichmäßigen Hopsen auf- und abwippten; das linke hatte – anders als das rechte – an seiner Spitze drei schwarze Zacken.
Wieder kullerte eine der Frostbeeren aus dem Korb, und genervt schnaubend blieb Pichu erneut stehen, um sie aufzuheben. Eine Weile stand es so da, drehte die himbeerähnliche Frucht zwischen den Fingerchen und betrachtete sie. Die anderen sagten immer, dass Frostbeeren eine matschige Farbe hatten, so braun wie Erde mit Wasser und ein Schuss Moder. Aber Pichu fand das nicht; sie waren braun, ja, aber nicht wie Schlamm, eher wie… wie… wie das Fell von Evoli, das auch im Winterhort lebte. Und wie es ihrem Namen gebührte lag über dem kupfernen Fruchtfleisch eine Haut von zartem, blassem Eisblau, wie eine Schicht Raureif auf Herbstblättern.
Pichu zuckte mit den Schultern und schob sich die Beere kurzerhand in den Mund, bevor es den Griff des Korbes wieder in beide Hände nahm und weiterschleppte. Während sich der fruchtige, süße Geschmack in seinem Mund ausbreitete, dachte es über seine Aufgabe nach.
Freiwillig hätte es sich dieses Gewicht nie gemeldet zu tragen. Aber es war nun mal seine Pflicht, denn wenn es von anderen erwartete, dass sie ihm, beziehungsweise auch den anderen im Winterhort, Essen brachten, musste es ihnen auch besorgen. Pichu hatte den Korb vollgefüllt, denn die Sträucher der Frostbeeren waren voll behangen. Sie fingen zwar nur gegen Ende des Herbstes zu blühen an, bekamen ihre Früchte aber dann auch im Winter, weil sie am besten bei kälteren Temperaturen gediehen. Sobald es wieder Frühling wurde, wurden sie schnell ungenießbar; aber jetzt, da eigentlich schon Winter war aber es noch nicht zu schneien begonnen hatte, waren sie am besten und außerdem am einfachsten zu ernten. Und fast jeder im Winterhort mochte die süßen Beeren.
Eigentlich war Pichu glücklich im Winterhort. Da waren Evoli, Knospi, das alle immer Rosi nannten, Marill und der alte, weise Botogel, der so manche spannenden Märchen und Legenden über den Wald erzählen konnte. Aber Fieslinge wie Kramurx und Rettan machten Pichu das Leben nicht gerade leicht – wegen seinem Ohr, wegen den Zacken. Sie sagten immer, dass Pichus Eltern es nicht mehr gewollt hatten, weil es dieses komische Ohr hatte, und es deswegen als kleines Kind vor den Eingang des Winterhorts ausgesetzt hatten, wo Botogel und seine Freundin Chaneira es dann gefunden hatten. Der Winterhort war eigentlich kein wirklicher Winterhort, sondern ein Heim für Waisen. Nur im Winter, wenn es kälter zu werden begann, öffnete der ehemalige und weit vergrößerte Geradaks-Bau seine Pforten auch für andere Notleidende, damit sie die Strenge des Winters in einem warmen Bett und in freundlicher Gesellschaft verbringen konnten.
Endlich erreichte Pichu den Eingang in die unterirdische Höhle. Reptain, ein zwielichtiger Bursche, der jedes Jahr um dieselbe Zeit im Winterhort einzog und pünktlich zu Frühlingsbeginn wieder verschwand, saß neben dem Loch auf einem Stein und schnitzte an einem Ast. Während Pichu in sicherem Abstand an ihm vorbeischlich, beobachtete er es aus scharfen, gerissenen Augen, und drehte den Halm in seinem Mund, der irgendwie jedes Jahr derselbe war, in den anderen Mundwinkel. Gebannt starrte die kleine Elektromaus auf den Eingang, um ihn ja nicht ansehen zu müssen. Gleich hab ich´s geschafft… dachte es aufgeregt und beschleunigte seinen Schritt.
Plötzlich stolperte es über einen Kiesel und geriet ins Wanken, konnte sich aber gerade noch halten, bevor es umfiel. Das erleichterte Ausatmen hielt nur kurz an, als es die davonrollenden Frostbeeren wieder einzufangen versuchte. Ungeschickt sammelte es eine nach der anderen wieder auf, mit vor bitterer Scham geröteten Bäckchen, ohne aufzusehen. Plötzlich erschien neben seiner gelben Hand ein viel größerer grüner Fuß. Erschrocken japste es auf und wich zurück; Reptain stand vor ihm und hielt ihm eine Hand voll Beeren entgegen.
„Du solltest besser aufpassen, wohin du trittst“, sagte er langsam und ließ das Obst in den Korb plumpsen. Kurz zuckte sein Blick zu Pichus linkem Ohr rüber. Es bedankte sich knapp, schnappte sich den Korb und verschwand so schnell und vorsichtig wie möglich die aus Erde geformten Stufen hinunter in den Winterhort. Reptain blieb allein zurück. Nachdenklich sah er in den wolkenlosen aber von der kalten Sonne grauen Himmel. „Wann diesen Winter wohl der erste Schnee fällt?“, fragte er sich, bevor er zum Stein zurückging und seine Schnitzerei fortsetzte.
Die Form ließ sich schon erahnen; es würde ein Pichu werden.

Auf wundersame Weise verlor Pichu keine Beere auf der Treppe, und als es in das warme Hauptzimmer eintrat, empfing es eine Umarmung aus dem Duft von verbranntem Holz, frischen Kiefernnadeln und Bratäpfeln. Ohne Umwege verfrachtete es den mittlerweile bleischwer gewordenen Korb in die angrenzende Küche, wo Chaneira und ihre Tochter Wonneira geschäftig auf und ab flitzten, rotbackige Äpfel mit Zimt und Zucker bestreuten, in den Ofen schoben oder Wasser zum Kochen aufsetzten und ihren herrlichen Kräutertee zubereiteten.
Pichu wollte sie nicht weiter stören, also stellte es den Korb neben dem Eingang ab und ließ die beiden ihre Arbeit verrichten.
Im Hauptzimmer wurde bereits alles nötige für Weihnachten vorbereitet: Schwalbini und Endivie kümmerten sich um eine kleine Kiefer, die der freundliche Tengulist wie jedes Jahr zum Fest herangeschafft hatte, und beschmückten sie mit goldenen Girlanden und roten Glaskugeln, in denen sich das Kerzenlicht spiegelte. Auf einem kleinen Tischchen stand eine Schale mit Lebkuchengebäck, das man aber lieber nicht essen sollte – es war mindestens so alt wie Botogel selbst, und diente mehr zur Dekoration denn zur Erheiterung der eigenen Zunge. An den beiden prächtigen Gemälden, die an der Wand hingen, klebten silberne Sterne aus Folie. Irgendwoher kam der würzige Duft von Zimt und Anis und füllte den ganzen Raum wie eine alles umschwebende Aura. Noch war lange kein Weihnachten – erst in drei Wochen, wie es der schlichte Adventskranz, der auf von der Decke baumelte, verkündete, denn es brannte nur eine Kerze – aber trotzdem wurden die Gäste des Horts schon mal in Festtagsstimmung gebracht, damit sie die Sorgen des Lebens und das scharfe Messer des Winters, das draußen durch den Wald schnitt, wenigstens für eine Weile vergessen konnten.
Pichu atmete noch einmal den weihnachtlichen Duft ein, dann trat es in einen der Gänge, von denen drei vom Hauptraum abzweigten, und folgte dem diffusen Licht der Laternen, die hier aufgehängt waren, zu seinem Zimmer.
Oder eher zu dem, das es mit Evoli, Rosi und Marill teilte.
Das Knospi hatte sich in eine Decke gekuschelt und sogar seine Hände darunter versteckt, die es sonst immer über dem Kopf eingedreht und gefaltet hielt. Ihm war wieder kalt, aber das war auch normal, weil es schließlich ein Pflanzenpokémon war und die Wärme des Kamins, der im Hauptraum stand, hier nicht mehr so stark war. Evoli saß auf seiner Schlafmatte und putzte sich das schöne, glänzende Fell. Marill war nicht da – wahrscheinlich war es im Zimmer seiner Freunde, denn es und seine Zimmergenossen kamen zwar miteinander aus, verstanden sich aber nicht besonders gut. Aber die Wassermaus blieb auch nur für die Dauer des Winters, wenn die Zimmer neu aufgeteilt werden mussten, weil Gäste zum Überwintern kamen.
Als Pichu eintrat, unterbrach Evoli seine Fellpflege und sah auf. „Pichu, wieder zurück?“
„Scheint so“, scherzte die Elektromaus und ließ sich auf seine Schlafmatte nieder. Verträumt schaute es zur Decke und beobachtete das lustige Schattenspiel der Kerzen. Dort war eine Delle, die so geformt war wie ein Mund, und wenn das Licht um sie herum zu tanzen begann, wirkte es, als würde sie lachen, und wenn die Flamme schnell flackerte, schien es, als wolle sie Pichu dazu anregen, mitzulachen, so permanent riss es seinen Mund auf und stieß lautlose Freudenrufe aus.
Plötzlich tauchte Evoli in Pichus Blickfeld auf und schaute zu ihm runter. „Was machst du da?“ Der Katzenfuchs folgte seiner Blickrichtung nach oben.
Pichu richtete sich auf und sagte: „Die Schatten lachen mir zu.“ Zum Spaß ahmte es das breite Grinsen der Delle nach und verzog das Gesicht.
Evoli lächelte. „Ach so, dein kleiner tanzender Freund.“ Es sah wieder hoch und versuchte, aus dem unregelmäßigen Muster der Erde über ihnen einen lächelnden Mund herauszufinden, was Pichu daran erkannte, dass sein rechtes Augelid leicht zuckte; das tat es immer, wenn Evoli scharf nachdachte.
Pichu wusste, dass sein Freund auch dieses Mal nichts finden würde – niemand außer der Elektromaus hatte diesen Mund je bemerkt.
Es sah zu Rosi rüber, das sonst eigentlich immer so gesprächig war und wie ein Wasserfall daherquasseln konnte, doch anscheinend war das Pflanzenpokémon eingeschlafen. Auch das war nicht weiter verwunderlich: da sein Stoffwechsel noch im Wachstum war, musste es viel Energie sparen, um sie auf die Warmhaltung seines Körpers anzuwenden. Was schade für es war, denn es würde bald Essen geben, und das Knospi mochte Bratäpfel besonders gerne. Aber so wie Pichu Chaneira und Wonneira kannte, würden sie ihm bestimmt auch noch hinterher einen zaubern, wenn es wieder aufgewacht war.
Als sich Pichu wieder auf seine Matte sinken ließ, starrte Evoli immer noch die Decke an, auf der Suche nach etwas, das es niemals entdecken würde – sein Blick war ohnehin schon viel zu weit abgedriftet. Pichu erinnerte sich, es dem Katzenfuchs einmal gezeigt zu haben, mehrere Male schon, aber Evoli hatte darin nichts weiter erkannt als eine Delle im braunen Material ihrer Zimmerdecke.
Pichu seufzte und drehte sich auf den Bauch. Am Kopfende seiner Schlafmatte stand ein kleines, schlichtes Holzkästchen, das lediglich mit einem eingeschnitzten Stern verziert war. Und darin wiederum befanden sich drei seltsame Schriftzeichen:

Noch nicht einmal der kluge Botogel wusste um die Bedeutung dieser Zeichen; sicher war lediglich, dass sich das Kästchen zusammen mit Pichu in dem Korb befunden hatte, in dem man die Elektromaus als Baby vor den Eingang des Winterhorts – an dem Tag war gerade der erste Schnee gefallen – ausgesetzt hatte. Daher war es für Pichu auch sein wichtigster Schatz, denn es war das einzige, was es noch mit seinen Eltern verband.
Pichu liebte die Holzschatulle, denn es war keine normale: Wenn es den Deckel öffnete, konnte man das Innenleben des Kästchens sehen, denn es war eine Spieluhr. Nur leider klang sie nicht. Die Metallwalze drehte sich zwar, aber die Metallscheibe gab keinen Laut von sich. Beide Teile waren so abgenutzt – das waren sie schon gewesen, solange sich Pichu erinnern konnte – dass sie sich nicht berührten und die stumpfen Dornen der Trommel unangetastet blieben. Und trotzdem wusste Pichu, wie die Melodie klang. Wenn es die Augen schloss und alles andere um sich herum aussperrte, konnte es ganz fein und leise die glockenhellen Klänge der Spieluhr hören, die so zart waren, als drangen sie über einen Seidenfaden zu ihm durch.
Und genauso reißbar war das Liedchen auch; als von irgendwo das Klingeln einer Triangel an Pichus Bewusstsein klopfte, verstummte die süße, traurige Melodie, und es befand sich wieder in der Wirklichkeit.
Es spürte einen Blick im Nacken und drehte sich um. Evoli starrte es gebannt an. „Da kommt doch nix, oder?“ Der Ton seiner Stimme verriet, dass es sich ernsthafte Sorgen um die geistige Gesundheit seines Freundes machte.
Pichu ging nicht darauf ein sondern verließ wortlos das Zimmer. Nur wenige Sekunden später holte Evoli es ein und sie machten sich beide auf den Weg ins Esszimmer, wo die Bratäpfel verteilt werden würden.
Rosi schlief tief und fest. Deshalb hörte es auch nicht, wie jemand leise ins Zimmer schlich, etwas entwendete, und wieder fast genauso lautlos verschwand.

„Hier, dein Apfel!“ Chaneira hatte wie immer ihr freundlichstes Lächeln aufgesetzt, als sie Pichu einen Teller mit einem dampfenden Bratapfel hinhielt, der fruchtig-warm und nach Zimt roch. Pichu bedankte sich und ging mit Evoli in den Hauptraum, weil alle Plätze im Esszimmer bereits belegt waren. Der Speisesaal war zwar ein großer Raum, fast so groß wie das Hauptzimmer, in dem alle Waisen zum Essen Platz fanden, jedoch waren zu Winterzeiten so viele Gäste da, dass man auf diese Manieren ruhig auch verzichten konnte.
Im Hauptraum war noch ein großes Sitzkissen übrig, auf dem sich Pichu und Evoli niederließen und genussvoll ihre Bratäpfel zu verspeisen begannen. Nebenher tranken sie auch noch den besten Kräutertee, den man im ganzen Wald finden konnte, und den nur Chaneira und ihre Tochter so wundervoll zubereiten konnten.
Als sie fertig waren, brachten sie ihre leeren Teller und Tassen in die Küche, und Pichu war insgeheim froh, heute keinen Spüldienst zu haben, weil das überhaupt keine angenehme Arbeit war und dann auch noch so viele hungrige, beziehungsweise jetzt satte Mäuler ihr schmutziges Geschirr ablieferten. Sie blieben im Hauptraum und sahen einer Weile einer kleinen Gruppe Pokémon beim Kartenspielen zu, bis sie sich entschlossen, ebenfalls mitzuspielen.
Bald kam auch ein verschlafenes Rosi in den Hauptraum und fragte schüchtern bei den Meisterköchinnen nach einem Extra-Bratapfel, und nachdem die Eipokémon ihm diesen versprochen hatten, setzte es sich zu seinen Zimmergenossen, um auf sein Essen zu warten. Irgendetwas schien es zu bedrücken, das merkte Pichu, auch wenn sich das Knospi nichts anmerken ließ – irgendwie fühlte es das einfach. Doch das Rosenpokémon starrte nur stumm – was ja ohnehin seltsam für es war – auf die Karten und mied dabei seinen Blick.
Schließlich war Pichu zu neugierig und fragte es nach einer beendeten Partie: „Rosi, was ist denn los, du bist so komisch.“
Die Augen des Knospi zuckten hin und her, als suche es etwas, womit es sich ablenken konnte. Dann sah es Wonneira mit einem Teller, auf dem sie einen Bratapfel balancierte, aus der Küche kommen. „Oh, mein Apfel…!“ Gerade wollte es aufstehen, da hielt Pichu es zurück – das Essen konnte noch einen Moment warten. Rosi wirkte eingeschüchtert, und die Elektromaus bereute zuerst ihre Tat, was aber sofort verflog, als das Pflanzenpokémon zu einer Antwort ansetzte: „Deine Spieluhr…“
„Hier, Kramurx, ich steh frei!“, schallte es plötzlich durch das Hauptzimmer und erstickte Rosis restlichen, kleinlauten Worte. Pichu drehte sich in die Richtung, aus der der Ruf gekommen war, und erkannte Rettan, das in der Nähe des Weihnachtsbaumes auf und ab schlängelte und mit seinem Schwanzende wedelte. Es folgte dem Blick der Schlange und stieß dabei auf Kramurx, das im Raum umherflatterte und etwas in den Krallen hielt, das es offensichtlich seinem züngelnden Freund zuzuwerfen gedachte.
Als Pichu den Gegenstand erkannte, schoss ein unangenehmer Blitz durch seinen Körper.
„Fang, Rettan!“, rief Kramurx und ließ die Spieluhr fallen. Pichu war zu gelähmt, um sich zu bewegen, und konnte nur mit Entsetzen zusehen, wie das Holzkästchen dem zerstörerischen Erdboden näher kam. Fast wäre es erleichtert gewesen, als Rettan sie auffing und kurz das Gleichgewicht halten musste, damit sie nicht wieder runterfallen und zerschellen konnte. Es umgriff die Spieluhr ganz mit der Schwanzspitze und holte zum Wurf aus, während sein schwarzgefiedeter Freund auf das andere Ende des Zimmers zuflog.
Das ging Pichu zu weit und es konnte sich endlich aus seiner Starre lösen. „Lasst das!“, rief es und rannte auf Rettan zu. Doch dieses grinste nur verschmitzt und warf. Um ein Haar hätte Pichu seine geliebte Spieluhr fangen können, doch seine Fingerspitzen streiften nur ganz knapp das dunkle Holz.
Die wenigen Sekunden, die es seinem allerliebsten Schatz hersah, wie er sich drehte und der Deckel dabei aufging, die unhörbare Melodie erklang, kamen ihm wie Stunden, nein, wie eine Ewigkeit vor. Und am liebsten wäre ihm gewesen, dass es tatsächlich eine geworden wäre.
Dann kam sie bei Kramurx an, es griff nach ihr… und sie entglitt ihm.

Die Scharniere des Deckels waren zerbrochen. Die Teile, aus denen sie bestand, hatten sich voneinander gelöst. Das Uhrwerk, die Walze mit den stumpfen Dornen, das Metall, von dem die Töne kamen, wenn die Dornen an ihm zupften, lagen verstreut herum. Mitten durch das zweite Schriftzeichen, mitten durch den Stern ging ein sauberer Riss, der den Deckel in zwei Hälften geteilt hatte.
Pichu saß daneben und sah auf den Trümmerhaufen, der einst seine Spieluhr gewesen war. Tränen ließen seine Sicht langsam verschwimmen, und es hoffte, dass das Holzkästchen wieder ganz war, wenn sie aus seinen Augenwinkeln flossen und sein Gesicht hinab rannen. Das taten sie auch, aber kein Zauber der Welt konnte ihre Spieluhr je wieder heilen. Bis auf sein Leben war das Musikkästchen alles gewesen, was Pichu von seinen Eltern hatte. Es hatte sie zwar nie kennengelernt, aber trotzdem verband die lautlose Melodie es mit seiner Mutter und seinem Vater. Doch jetzt war sie kaputt, und egal wie sehr die kleine Elektromaus es auch versuchte, die Melodie kehrte nicht in seine Erinnerungen zurück. Die Spieluhr schien schon Jahre zerstört zu sein, und nicht erst wenige Minuten.
Es schlug die Hände vors Gesicht und fing hemmungslos zu weinen an. Tiefe Schluchzer ließen den kleinen gelben Körper erbeben, und bis auf sie war alles still im Raum. Niemand sagte etwas.
Da spürte Pichu, wie jemand neben es trat. So gut es ging, wischte es sich die Tränen aus den Augen – und erkannte Kramurx und Rettan. Ihre Gesichter zeigten echtes Bedauern; sie waren von sich aus gekommen, nicht so wie sonst, wenn Chaneira oder ein anderer Betreuer sie erst dazu zwingen musste, wenn sie böse zu Pichu oder anderen gewesen waren, denn dann taten sie es sehr unwillig. Mit halblauter Stimme sagte Kramurx: „Tut mir leid, was mit deiner Spieluhr passiert ist… Ich hätte sie fangen sollen.“
„Und ich hätte sie nicht werfen sollen“, fügte Rettan murmelnd hinzu.
„Das wollten wir nicht“, versuchte Kramurx sich und seinen Freund zu rechtfertigen. „Das war nur ein Spiel…“
„Dann nehmt doch einen Ball, verdammt noch mal!“, schrie Pichu, und ein neuer Schwall Tränen schoss aus seinen Augen. Als der Rabe auf es zutrat, kreischte es: „LASS MICH IN RUHE!“, und unversehens zuckte ein Blitz aus seinen Backen, der den schwarzen Vogel schockte und zurückschrecken ließ. Aber darauf achtete Pichu nicht, sondern rannte davon, einfach nur weg, den mittlerweile auswendig gelernten Weg die Lehmtreppe hinauf, blind vor Wut und Trauer, raus in die Kälte, wo es bereits zu dämmern begonnen hatte.
Auf der Wiese stolperte es und fiel hin. Das eisige Gras piekste auf seiner Haut, doch es achtete nicht darauf. Sollte ihm doch kalt werden, sollte Kramurx doch geblitzt werden, das war egal, seine schöne Spieluhr war kaputt, für immer. Hinterher konnte es nicht sagen, wie lange es da mit dem Gesicht im Gras gelegen hatte, auch nicht am Stand der Sonne, denn den nahm es nur am Rande war, als es sich aufsetzte. Seine Tränen waren annähernd versiegt, aber vielmehr vor Kälte und Erschöpfung als dass seine Trauer über den Verlust seines liebsten Gegenstandes nachgelassen hatte. Sie war noch immer so gegenwärtig wie die kalte Luft und sein beschlagender Atem.
Plötzlich hörte es hinter sich Schritte. Erschrocken drehte es sich um und erschrak gleich ein zweites Mal, als es Reptain auf sich zukommen sah. Das fremde Pokémon setzte sich neben ihm ins Gras, schaute Pichu dabei aber nicht an.
Von allen Waisenkindern, die bei Botogel und Chaneira Unterschlupf gefunden hatten, hasste Pichu Reptain am meisten. Weil das Pflanzenpokémon gerade in diesem Winter das erste Mal Einzug im Winterhort gehalten hatte, in dem die Elektromaus vor dem Eingang zum Geradaks-Bau ausgesetzt worden war. Nicht nur Kramurx und Rettan kam das verdächtig vor, auch andere gerieten ins Grübeln deswegen und machten Pichu für den meist ungebetenen weil unfreundlichen Gast verantwortlich, wobei nur der Rabe und die Klapperschlange es auch damit aufzogen – wie bei allem, was sie an Pichu fanden.
„Es tut mir leid um deine Spieluhr“, fing Reptain schließlich ein Gespräch an. Nur war Pichu gerade nicht auf Unterhaltungen aus und stellte sich stur. Es wusste zwar nicht, was er mit dieser Bemerkung bezwecken wollte, aber sie machte es trotzdem hellhörig: „Heute Nacht wird es das erste Mal in diesem Winter schneien.“
Darüber erstaunt sah Pichu zu ihm auf. Es schien ihm wirklich ernst zu sein, so, wie er seinen Blick erwiderte. „Warum bist du dir da so sicher?“, fragte es schließlich, aber seine Stimme war heiser.
Reptain lächelte vielsagend und sah zum Himmel hinauf, an dem sich schon die ersten Sterne sehen ließen. „Kennst du die Mythen um das Legendäre Pokémon Jirachi, das alle Wünsche erfüllen kann?“, sagte er schließlich, was Pichu noch mehr verwirrte, weil es keine Verbindung zu seiner Frage finden konnte, aber um dem im Kopf anscheinend nicht ganz klaren Pflanzenpokémon einen Gefallen zu tun, nickte es. „Stell dir vor, du lebst in einer weit entfernten Welt, in der Jirachi seine gesamte Lebensenergie verloren hat, um den großen Wunsch nach Frieden und ewigem Glück, von allen Pokémon gewünscht, zu erfüllen. Aber dann stellt sich heraus, dass dieser Wunsch nach hinten losgegangen ist; zwar herrschen eine Zeit lang, nur ein paar Jahre, Frieden und Glück, aber dann geht man sich gegenseitig so sehr auf die Nerven, dieses ständige Grinsen strapaziert einen psychisch so schlimm, dass aus dieser Freude wieder der alte Trott entsteht.
Und dann bilden sich zwei Seiten mit zwei unterschiedlichen Meinungen: Die eine ist dafür, mit Blut und Tränen irgendwie Jirachi wiederzukriegen oder wenigstens noch einen Wunsch gewährt zu bekommen, um den letzten rückgängig zu machen oder wenigstens entschärfen zu können; das sind die Wünscher. Die andere Seite gibt die Hoffnung auf einen neuen Wunsch auf und ergreift eine neue. Sie will das Risiko eines weiteren Wunsches nicht eingehen und kämpft daher selbst um das eigene Glück; das sind die Kämpfer.
Weil die Kämpfer etwas dafür tun, dass es ihnen besser geht, und nicht wie die Wünscher auf etwas warten, das vielleicht nie eintreten wird, geht es ihnen viel besser. Und die Wünscher beginnen, ihre Nachbarn, ja Gegner zu beneiden. Wieder entbrennen neue Kriege, die doch eigentlich hätten ein Ende finden sollen.“ Nachdenklich nahm er den Halm aus seinem Mund und drehte ihn zwischen den Fingern, vollführte Kunststückchen mit dem kleinen Stock, bevor er ihn wieder zwischen die Lippen steckte. Er sah Pichu an. „Mir gefällt dein Ohr“, warf er völlig zusammenhangslos in seine Rede ein.
Pichu errötete und strich über das rechte Ohr. Das linke hatte es nie recht zu mögen gelernt, weil die meisten Sticheleien von Kramurx und Rettan immer daraus gründeten.
Reptain lachte: „Nicht doch, ich meine das andere.“ Wieder sah er in den Himmel und fuhr fort: „Mitten im Waffenstillstand, den die Wünscher selbst gewählt haben, weil ihre Kräfte zur Neige gehen, kommt bei den Kämpfern ein Kind zur Welt, und es stellt sich heraus, dass es die Wiedergeburt Jirachis ist. Das einzige lebende Pokémon, das ein einziges Mal in seinem Leben alle Wünsche erfüllen kann.
Die Wünscher erfahren von diesem Kind, wollen es haben, und planen, sich mit ihren Wünschen bei den Kämpfern zu rächen. Was würdest du mit diesem Kind tun, damit es den Wünschern nicht in die Hände fällt?“
Die Frage kam etwas unerwartet, deshalb hielt Pichu unwillkürlich die Luft an. „Ich… ich weiß es nicht“, stammelte es schließlich. „Was sollte ich schon damit machen?“
Reptain schien auf diese Frage vorbereitet und nahm erneut den Zweig in die Finger, um zu antworten: „Sagen wir, du hättest die Wahl, das Baby entweder zu töten oder dich mit ihm zu verstecken, wobei bei dieser Option die Gefahr bestünde, dass die Wünscher es finden könnten.“
Jetzt war Pichu völlig perplex. Wie sollte es denn solch eine Wahl treffen? Jemanden zu töten konnte es sich nicht vorstellen, das war einfach zu schrecklich, andererseits, wenn es zu den Kämpfern gehören würde, wäre es auch nicht besonders angenehm, wenn die Gegenseite sich alle Wünsche der Welt erfüllen könnte.
Botogel hatte ihnen einmal etwas über Selbstaufopferung erzählt. Von einem Schwarm Wingull, die auf dem Weg aus dem Süden, wo sie überwintert hatten, zurück in den Norden, auf einen späten Nachzügler des Winters gestoßen waren: Zuerst umkroch sie Nebel, dann wurde es zunehmend kälter. Doch sie hatten nicht mehr viel Flugstrecke zurückzulegen, deswegen waren sie nicht allzu misstrauisch gegenüber dem schlechten Wetter. Nur als es immer schlimmer wurde und die Jungtiere zu schwächeln begangen, ließen sie sich auf einer kleinen Insel nieder, von denen es viele vor dem Festland, ihrem Ziel, gab. Leider waren sie nicht sehr viele, und sie konnten sich und vor allem den Jungen nicht warm halten. Sie mussten weiterfliegen, um nicht auf der Insel zu erfrieren, aber sie hatten keine Ahnung, wie weit sie vom Festland, wo es eine vor Kälte geschützten Höhle gab, entfernt waren, denn wenn sie auf einer nahen Insel Rast gemacht hatten, so würden die Jungen es noch schaffen, doch je weiter die Insel entlegen wäre, umso großer wäre das Risiko, dass die Kleinen noch auf dem Weg im Flug erfrieren würden. Sie müssten auf der Insel bleiben, bis das kalte Wetter sich gelegt hatte, doch war auch das ein Risiko, denn je länger der Sturm noch lebte, umso eher würden sie auf der Insel sterben.
Da meldete sich eines der Wingull, die noch verhältnismäßig viel Energie übrig hatten, freiwillig, um auszufliegen und nach dem Land zu suchen. Wenn es den Weg zum Festland, wenn er kurz war, auch zurück überwältigen konnte, dann würden es auch die Jungen wenigstens bis hin schaffen. Mit den besten Glückwünschen seiner Familie und Freunden flog es los, und weil es das Festland schnell erreichte, wusste es, dass die Insel nicht weit entfernt liegen konnte. Trotzdem kam es auf seinem Rückweg sehr erschöpft, und vor allem unterkühlt zurück. Es war so ausgelaugt, dass es nicht landen konnte und sich beim Aufprall einen Flügel brach. Es konnte die Insel nicht mehr verlassen, und die anderen wollten bei ihm bleiben und ihm zur Seite stehen, doch dann wäre sein Opfer umsonst gewesen. Also ließen sie es, auf seinen eigenen Wunsch hin, auf der Insel zurück und erreichten kurze Zeit später das Festland. Alle, vor allem die Kleinen, waren zu Tode erschöpft, aber bis auf das Wingull, das auf der Insel zurückgeblieben war, überlebte der ganze Schwarm.
„Und deshalb“, hatte Botogel geendet. „dürft ihr euch niemals beschweren, wenn ihr den anderen Früchte bringt, denn wir sind alle voneinander abhängig, und das Heil des Ganzen ist wichtiger als das eigene.“
Wenn es also den Kämpfern half, das Kind zu töten, dann musste man es eben töten. Andererseits war es doch erst neu geboren und so unschuldig wie die Unschuld selbst, und niemand fragte es nach der eigenen Meinung…
„Ich bin mir nicht sicher“, meinte Pichu schließlich. „Es zu töten wäre sicher besser und einfacher für die Kämpfer, aber die Wünscher wollen schließlich auch gut leben.“
„Hm, eine gute Überlegung.“ Reptain biss grüblerisch auf seinen Zweig. „Das Lied heißt Hoshina“, sagte er schließlich unvermittelt.
Pichu musste sich erst neu polen, um auf dieses Thema zu wechseln. „Was, welches Lied?“
„Das Lied aus deiner Spieluhr.“ Das Pflanzenpokémon zuckte mit den Schultern, als sei das selbstverständlich. Wieder wechselte er abrupt das Thema: „Die Sterne scheinen hell heute Nacht, oder?“ Die Elektromaus folgte seinem Blick in den Himmel, und seine Augen glänzten vor Erstaunen: Auf dem dunkelblauen Samt des Winterhimmels, das im Westen noch leicht von Sonnenschein angehaucht war, hingen tausende Diamanten, hunderte von leuchtenden Pünktchen in der Ferne, so klar und schön, wie es Pichu noch nie gesehen hatte.
Und plötzlich begann einer, sich zu bewegen. Pichu musste erst genauer hinsehen, bis es darin eine Schneeflocke erkannte, die mit sachten Tanzbewegungen auf seiner Nase landete und zu kaltem Wasser schmolz. Auf die eine Flocke folgten dutzende, hunderte, tausende, die in einem glänzenden Regen aus nicht existierenden Wolken rieselten. Seit Pichu denken konnte, hatte es den ersten Schnee immer schon gemocht, doch heute war es das erste Mal, dass es auch dabei war und zusah, wie er fiel, nicht erst Stunden später darin Schneeengel und Schneebälle formte. Aber zu seinem Bedauern blieb der Schnee nicht liegen; offenbar war es doch noch ein bisschen zu warm. Reptain hob die Hand und ließ ein paar Flocken auf ihr landen. Sie schmolzen nicht sofort, weil die Haut von Pflanzenpokémon von Natur aus nicht so warm ist.
„Ich fand immer schon, dass sie wie Sterne aussehen, die Schneeflocken“, murmelte er und beobachtete einen winzigen weißen Stern, wie er sich in seiner Hand auflöste.
Erstaunt sah Pichu Reptain an. Noch nie hatte jemand dieses Gleichnis für den gefrorenen Regen angewendet – niemand außer es selbst. Plötzlich hatte es das Gefühl, dass das fremde Pokémon auch die Raureifschicht auf den Frostbeeren sehen konnte, dass es im Schatten der Delle einen lachenden Mund erkennen würde, und auf einmal war er ihm nicht mehr so fremd, im Gegenteil, er war wie ein vergessener Bekannter.
Er sagte: „Deine Eltern haben ihr Leben für deine Freiheit gegeben und dich mir anvertraut, um dich in Sicherheit zu bringen. Aber ich musste in die Vergangenheit reisen, um dich wirklich vor den Wünschern retten zu können.“ Pichu verstand nicht ganz, und als Reptain seinen skeptischen Blick bemerkte, erklärte er geduldig: „Du bist das Kind aus meiner Erzählung; du bist die Wiedergeburt von Jirachi, dem Goldenen Stern, deshalb hast du ein Ohr mit drei Zacken.“
Im Angesicht der Wahrheit wurde es Pichu ganz schwindelig. Es, das kleine, schwache, ungeschickte Pichu, sollte die Wiedergeburt eines Legendären Pokémon sein? Noch dazu aus der Zukunft? Irgendwie konnte es das alles nicht recht glauben. Aber Botogel hatte ihnen immer gesagt, dass jeden Tag irgendwo Wunder geschahen, ob wahre oder unglaubliche, und jeder einzelne hatte sein eigenes kleines persönliches Wunder. War das etwa seines? War es deswegen all die Jahre ohne sorgende Mutter, ohne liebenden Vater aufgewachsen? Seine Augen füllten sich mit Tränen, als es an seine Eltern dachte. Kramurx und Rettan hatten es damit aufgezogen, dass seine Eltern es nicht gewollt hatten, dabei war es ganz anders gewesen; sie hatten sich für es geopfert, wenn es Reptain richtig verstanden hatte. Ein stechender Schmerz schoss in seine Brust, als ihm ein schrecklicher Gedanke kam: War gar Pichu für den Tod der beiden verantwortlich?
„Sing, Pichu“, sprach Reptain es direkt an. „Sing Hoshina. Du magst die Melodie noch nie wirklich gehört haben, die Spieluhr ist vielleicht zerbrochen, aber du trägst das Lied in deinem Herzen, und das wird für immer so bleiben.“
Den Namen des Liedes hatte Reptain wie eine Zauberformel ausgesprochen, und in Pichu regte sich das Lied Jirachis, verdrängte alle schlechten Gedanken, und als es zu singen anhob, die süße, traurige Melodie anstimmte, fingen die Schneeflocken zu tanzen, wie von einem unsichtbaren Wind erfasst zu wirbeln an, obwohl keine Böe wehte, und Pichu spürte jede einzelne, wie sie wie ein Netz die sanften Töne auffingen und selber sangen, bis ihr Lied zu einem vielstimmigen Chor anschwoll, das über alle Hügel und Täler zu hören war und das Herz eines jeden Pokémon in seinem tiefsten Inneren berührte, alles Traurige für diese eine Nacht hinfortwehte.
Langsam wurde Pichu leiser und verstummte schließlich ganz, aber die Flocken setzten ihren Gesang leise fort, als wollten sie die schöne Melodie nicht gehen lassen. Als Pichu die Augen wieder öffnete, die es für die Dauer des Liedes geschlossen hatte, umschwirrten es ein ganzes Tanzbankett an Schneeflocken, und überall um sie herum lag der Schnee dick und weich wie ein Teppich aus Watte. Es war kalt, aber die Kälte war etwas, was man vielleicht spürte, aber nur am Rande des Bewusstseins wahrnahm. Aus dem Eingang zum Winterhort kamen die Pokémon, alle verträumt und glücklich in den Himmel schauend, aus dem es millionenfach Sternenkinder regnete. Und sie fingen zu lachen und zu spielen an, ließen Hoshina tief in sich eindringen, nahmen es auf wie einen lange vermissten Freund.
Pichu sah zu Reptain rüber, der genauso glücklich die Flocken bestaunte. In seinen Augen spiegelten sie sich wie hunderte kleiner Sterne; Pichu hatte ihn noch nie lächeln sehen, und wenn es ihn und die anderen so ansah, war es froh, ihnen dieses Glück gebracht zu haben. „Diese Nacht“, murmelte Reptain. „wird jedem, der um ihr Geheimnis weiß, einen Wunsch gewähren, und meiner ist es, in meine Zeitdimension zurückzukehren, denn ich habe meine Aufgabe erfüllt.“ Er schloss die Augen und murmelte etwas in einer Sprache, die Pichu nicht verstand, und vor ihnen drehten sich die Schneeflocken in einer immer enger werdenden Spirale, bis eine Scheibe aus blauem Licht entstand. „Es wird Zeit, nach Hause zurückzukehren“, sagte er. Dann wandte er sich zu Pichu um: „Auch du gehörst in diese Zeit; möchtest du mitkommen, jetzt, da die Gefahr gebannt ist?“
Lange dachte Pichu über diese Frage nach und starrte auf das Zeitportal. Es würde schon gerne mitkommen, die Pokémon kennen lernen, die seine Eltern gekannt hatten, wenn schon nicht seine Eltern selbst, in die Zeit gehen, in die es geboren wurde. Es hörte das fröhliche Rufen von Evoli, das von den lachenden Rosi und Marill mit reinweißen Schneebällen beworfen wurde. Nein, es wäre sicher schön, in diese Zeit zurückzukehren, aber es gehörte hierher; hier lebten seine Freunde.
Es sagte bestimmt zu Reptain: „Ich danke dir, dass du mich mitnehmen willst, aber ich werde hier bleiben.“
Das Pflanzenpokémon nickte, stand auf und schritt auf das Portal zu, bevor er sich noch einmal umdrehte und sagte: „Wir werden es schon irgendwie schaffen, die Wünscher zu überreden, von ihrem verwerflichen Hoffen abzudanken. Wünsch uns Glück!“ Belustigt über seinen ironischen Witz trat er durch das Loch in den Zeiten. Kurz flackerte es auf, als es Reptain verschluckte, und löste sich dann wieder in tanzende Schneeflocken auf.
Jemand trat neben Pichu, und auch ohne dass es hinsah, wusste es, dass es Kramurx und Rettan waren. Es sah nicht von der Stelle weg, wo sein Beschützer verschwunden war, bis ihm jemand etwas unter die Nase hielt: Seine Spieluhr. Sie war mehr schlecht als recht mit Holzleim und Nägeln rehabilitiert worden, aber in den Gesichtern von Rettan und Kramurx, das ihr unterwürfig das Holzkästchen hinhielt, konnte es noch viel mehr um Verzeihung bittende Trauer erkennen als davor.
„Wir haben versucht, sie wieder hinzubekommen“, erklärte Rettan, als Pichu sie nicht entgegennahm. „Aber ich glaube, die geht gar nicht mehr…“
Pichu sagte nichts, sondern nahm dem schwarzen Raben die Schatulle ab. Es öffnete den Deckel, der schief an der falschen Kante seiner benachbarten Fläche hing, und erkannte mit Belustigung, dass die beiden versucht hatten, das komplizierte Uhrwerk wiederherzustellen, was ihnen nicht recht gelungen war, denn die Walze drehte sich nicht, wie sie es sonst immer getan hatte. „Tut uns wirklich leid…“, flüsterte Kramurx und rieb sich mit dem Flügel über den Schnabel, wo es von Pichus Blitz eine kleine Schramme davongetragen hatte.
Pichu war nicht mehr böse auf die beiden. Auch wenn es sich wunderte, ließ es zu, ihnen zu verzeihen, und auch, dass sie die Spieluhr so schrecklich und eher beleidigend für ihre frühere schlichte Schönheit zusammengezimmert hatten, denn sie hatten es immerhin versucht, und vielleicht lag es auch an dem Zauber der Schneeflocken. „Danke“, sagte Pichu aufrichtig und strich mit der Hand über den Deckel, durch dessen Verzierung nun ein ungleichmäßiger Streifen grauweißen Holzklebers verlief. Es sah hinauf in den Himmel, zu den Sternen, und fuhr mit den Fingern die Schriftzeichen nach;

Zwischen den umherwirbelnden Flocken sah es am Schwarz des Himmels einen goldenen Stern hervorschimmern, der wie eine Kerzenflamme glomm, schwächer aber so unendlich magischer als seine vielen weißen Geschwister. Pichu schloss die Augen und wünschte sich auf derselben Sprache wie Reptain zuvor seinen sehnlichsten Wunsch. Ein Schwarm Schneeflocken löste sich aus dem allgemeinen Gestöber und schwirrte um die Spieluhr.
Unter Pichus Hand schoben sich die Holzplatten an ihre richtigen Stellen, mit einem Klicken rasteten die Teile des Uhrwerkes ineinander ein, und die unschönen Kleberreste und rostigen Nägel verschwanden. Die Schriftzeichen wuchsen wieder zusammen, und die Risse, die sie getrennt hatten, heilten wieder.
Der Deckel öffnete sich.
Hoshina erklang.
Und dieses Mal konnte es jeder hören.

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Kein grafisches Meisterwerk, aber ich hab alles, was ich über Paint.NET weiß, herausgekramt und ein paar Funktionen benutzt, an die ich mich bis jetzt noch nicht herangewagt habe. Finds eigentlich ganz nett <D

Es war die Nacht vor der Sommersonnenwende.
Die beiden fast vollen Monde des Planeten Eve gingen in diesem Moment auf und fluteten die flache Ebene mit ihrem milchigen Licht. Der eine, Sternmond genannt, war im vergleich zum anderen winzig und durch seinen reinweißen Schein hätte man ihn fast für einen Stern halten können – daher auch der Name. Hin und wieder kreuzten sich jedoch die Bahnen der beiden Monde, und da der kleine Weiße stets vor seinem großen Bruder zu sehen war und nicht von ihm verdeckt wurde, war seine Umlaufbahn näher zum Planeten, und kein Stern war so winzig. Außerdem verfolgten auch ihn die wechselnden Mondphasen, wenn auch in einem anderen Rhythmus als den anderen. Dieser war um einiges größer als der Sternmond und längst nicht so leuchtkräftig. Seine spiegelglatte Oberfläche glänzte je nach Phase in einer anderen Farbe, und der rötliche Schimmer in seinem ewigen Silber verriet, dass er nur zur nächsten Nacht seine volle Gänze erreicht hatte. Er wurde Perlenmond genannt.
Das Licht der Monde wanderte weiter, während sie den Ozean des Alls durchschwammen. Es flog nur so über die Landschaft, die mit feinem, blassgrünem Gras bewachsen war. Mitten drin erhob sich ein gewaltiger Tempelbezirk, dessen Bewohner zu dieser Nachtzeit schliefen – sie hatten viel gearbeitet am vorgegangenen Tag, und auch der nächste wäre anstrengend, zumal sie in der nächsten Nacht bis zum Höchststand der beiden Monde warten mussten, und das würde viel Ausdauer beanspruchen. Ein großer Flieger, der einzige auf ganz Eve, stand auf dem Festplatz der Tempelstadt, und seine silbrige Oberfläche glänzte matt. Über ihm thronte eine riesige Statue eines eleganten, majestätischen Wesens, das den Blick in die Sterne gerichtet hielt, zu dem Punkt, an dem die Monde in weniger als einem Tageslauf ihren gemeinsamen Zenit erreichen würden. Hinter dem steinernen Abbild wuchs ein Baum, höher noch als jenes, und im Glanz der Monde verlor er seine letzten Blütenblätter. Wie ein bunter Regen flatterten sie der Erde zu und gesellten sich dort zu dem kleinen See, den die zuvor herabgefallenen Blätter bildeten. Kaum, dass auch das letzte sich mit der Flut vereinte, glühte sie schwach auf, und die Blätter lösten sich vom Rand nach innen in einem silbrigen Staub auf, der von einer lauen Brise hinfortgetragen wurde. Wie ein Schleier umgab er für einen Augenblick die Statue, bevor er, Sternenstaub gleich, in die Nacht hinausgetragen wurde und sich über ganz Eve gleichmäßig verteilte.
Ein leises Knacken war zu hören, und hunderte von kleinen, braunen Nüssen, deren Verzierungen im Licht des Sternmondes aufblitzten, brachen durch das dichte Blätterdach und schlugen ohne Schaden zu nehmen auf dem mit Steinfliesen überdeckten Boden auf. Keine rollte davon, sondern blieb an der Stelle liegen, auf der sie landete, und wartete auf ihren Besitzer. Dann wurde die Szene dunkel, als der sternenähnliche Mond seine Bahn vollendete und hinter den nahen Bergen verschwand, während der Perlenmond weiter träge über den Himmel wanderte.

Wie jeden Morgen fanden sich die Novizen und Novizinnen des Götterpokémon Evola am kristallklaren Fluss der Nebellande zusammen. Dieser trug diesen Namen, weil er aus den verschneiten Bergen floss, die von der Tempelstadt aus gesehen wie von Nebel verhangen schienen. Wie jeden Morgen stiegen sie in seine Fluten und begannen mit der rituellen Reinigung. Wie jeden Morgen mussten sie dabei eine festgelegte Reihenfolge einhalten, wer was wann tun musste. Wie jeden Morgen stiegen sie frierend und zitternd aus den heiligen Wassern.
Aber es war kein Morgen wie jeder Morgen.
Lilli schüttelte gerade ihr rostbraunes Fell und versprühte winzige Tröpfchen, die im jungen Sonnenlicht glänzten. Gedankenverloren begann sie damit, auch die letzte Feuchtigkeit aus dem weichen Pelz zu bürsten, indem sie damit begann, es mit der Zunge zu säubern.
Das wäre wohl das letzte Mal gewesen, dass sie es in diesem Fluss wusch, es sei denn, sie schlug den Weg der Priesterinnen ein und zog nach ihrer Entwicklung wieder auf den Planeten, auf dem sie aufgewachsen war, zurück. Aber das hatte sie nicht vor, zumindest noch nicht. Sie teilte nicht die Auffassung ihrer Altersgenossen, jetzt schon ihr Zukunft bis ins letzte Detail planen zu müssen, schließlich konnte sich noch alles ändern, ganz besonders in der heutigen Nacht, weil der Sternmond und der Perlenmond voll waren und ihren Zenit im Blick des Heiligen Evola erreicht hatten. Genauso hatte sie sich auch noch nicht überlegt, welchen der sieben anderen Planeten sie sich als ihre neue Heimat wünschte. Immerhin hatte sie schließlich ein Jahr Zeit dazu gehabt.
Auch ihre Freundin war mit der rituellen Waschung fertig und setzte sich neben Lilli ins Gras, um sich zu trocknen. Viola war etwas größer als Lilli, wenn auch unwesentlich älter, und hatte eine Fellfarbe, die der ihren an Schönheit weit überlegen war. Ihr Fell war kupferbraun gefärbt, und egal, welches Licht darauf fiel, glänzte es immer wieder in einem anderen Braunton, fast so, als habe es ein Eigenleben. Viola war eines der schönsten Evoli, die die Tempelstadt jemals gesehen hatte, und ihr Ziel stand eindeutig fest: sie wollte ein Flamara werden, weil sie ihrer Meinung nach die eleganteste ihrer Entwicklungen war, und außerdem das schönste Fell besaß. Mit der Hitze auf dem Planeten Flare war sie jedoch unzufrieden und freute sich daher auch auf ähnliche Möglichkeiten; so waren ihr Espe, trotz seiner enormen Sonneneinstrahlung, und auch Glace, der ihr jedoch zu kalt war, durchaus eine willkommene Option, da sie Psiana und Glaziola fast so verehrte wie Flamara. „Egal, wie sich Evola entscheiden wird“, hatte sie Lilli einmal prophezeit. „ich werde mich meinem Schicksal beugen.“
Und dieses Schicksal sollte heute besiegelt werden.
„Auf welchen Planeten willst du?“, fragte Viola nun schon zum gefühlten tausendsten Mal seit dem letzten Monat – seitdem der Perlmond zum letzten Mal voll gewesen war.
Wieder schwieg Lilli zunächst. Die Antwort war klar wie der Fluss und dennoch so diffus wie der Nebel, der sein Quellland umgab: „Ich weiß es nicht.“ Als ihre Freundin mit diesen Fragen begonnen und Lilli stets diese Antwort gegeben hatte, hatte sie oft damit gekontert, dass sie das einzige Evoli in der ganzen Tempelstadt war, das sich keine Gedanken um seine Zukunft machte, was sie als Frevel Evola gegenüber empfand, da man einem Götterpokémon ihrer Meinung nach ruhig auch das eine oder andere abnehmen konnte. Lilli hatte noch nie so darüber nachgedacht, da die Priester und Priesterinnen ihnen beibrachten, dass Evola allmächtig und allwissend war und man ihm nichts abzunehmen brauchte. Natürlich hatte sie sich hin und wieder mit dieser entscheidenden Frage auseinandergesetzt, war mit sich selbst aber nie zu einem Urteil gekommen.
Für sie hatte sowohl jeder Planet als auch jede Entwicklung ihre ganz besonderen Vor- und Nachteile. So waren Blitza und Nachtara stark und standfest, während Psiana und Glaziola eher elegant und zart waren. Und auch zwischen diesen wesensähnlichen Entwicklungen gab es noch wesentliche Unterschiede, die sie sowohl besser als auch schlechter gegenüber der anderen machten:
Flamara lebten auf dem Planeten Flare, der der Leben spendenden und auch zerstörenden Sonne am nächsten war. Sein Himmel sollte besonders schön sein, denn den Planeten umgab eine feurige Aura, die ihm einen Rotton verlieh, der auch den Nachthimmel wie Glut schimmern ließ. Seine Oberfläche war so heiß, dass Erde sofort verbrannte, und das wenige feste Gestein glühte unter den hohen Temperaturen, die sowohl von oben als auch vom Inneren des Planeten auf es einwirkten. Zahllose Vulkane spieen fast ununterbrochen Lavamassen explosionsartig in die fast brennende Luft, oder gurgelten sie kontinuierlich aus ihren tiefen Kratern, die dann in breiten Strömen an ihren Hängen herabfloss. Nur wenige Pflanzen überlebten in dieser höllischen Umgebung, sehr dürre und karge Pflanzen, von denen die Flamara nicht leben konnten. Sie waren Fleischesser, Jäger, die andere Feuerpokémon auf Flare jagten, die nicht einmal annähernd die Intelligenz der Evoli und ihrer Entwicklungen besaßen, und die sich ebenso an die feindliche Gegend angepasst hatten. Vor allem dort hatte man es als Evoli anfangs besonders schwer, weil man an das milde Klima auf Eve gewöhnt war, aber wenn das Götterpokémon es entschieden hatte, war man durch sein Urteil dazu in der Lage, auf Flare zu überleben, früher oder später.
Auch noch sehr nahe an der Sonne aber schon weiter entfernt als Flare war der Lichtplanet Espe. Hier herrschten in etwa die Temperaturen vom Sommer Eve, wenn auch ohne Jahreszeitenwechsel, dafür aber war es durch die klare Atmosphäre so hell, dass der Himmel nicht blau, sondern weiß schien, und nur Psiana waren dazu in der Lage, bei dieser Helligkeit nicht zu erblinden – von den Pokémon, die sonst noch auf Espe lebten einmal abgesehen. Auch die Nacht war die hellste aller acht Planeten, und die sonst tiefblaue Schwärze des Nachthimmels war hier ein mattes dunkelgrau, das den Eindruck vermittelte, er sei krank. Und dabei wurde er von keinem Mond erhellt – bis auf Eve besaß kein anderer Planet einen Mond – und das seltsame Gebilde, das Espe mondähnlich umkreiste, trug nichts zu der eigenartigen Helligkeit bei. Es wurde schlichtweg die Wolke genannt, weil es solche aus Wasserdampf nicht auf dem Planeten der Psiana gab. Sie bestand aus weinroten Staubpartikeln, die sich kugelähnlich zusammengeballt hatten, jedoch war diese Form äußerst wandelbar; so hatte es eine Umlaufbahn um Espe, die nicht kreisrund, sondern oval war, und zweimal in einer Umdrehung kam die Wolke Espe sehr nahe. Dadurch wurde sie durch die Anziehungskraft zusammengestaucht und gedehnt, manchmal sogar so sehr, dass aus der sonst fast undurchsichtigen Kugel ein hauchfeiner Schleier entstand, der den ganzen Nachthimmel wie eine Decke überspannte. Espe besaß weder Hügel noch Berge, sondern bestand in einem Stück aus einer weiten, sandigen Ebene mit wenig Baumbewuchs, dafür vielen Büschen, die das ganze gleich bleibende Jahr saftige Früchte lieferten. Daher waren Psiana auch strikte Vegetarier.
Der Nächste in der Reihe war Leafe, der Planet der Folipurba. Hier herrschte sehr ausgeglichenes Klima, und gerademal zwei Jahreszeiten wechselten sich regelmäßig ab, nämlich eine wärmere und eine kühlere. Über das ganze Jahr regnete es aus Kübeln, und zwar immer morgens und abends, und sonst war es sehr sonnig, jedoch nicht so extrem wie auf Espe, und schwül. Nur ein halbes Jahr wanderte die Sonne über den Tag so, dass es nicht so warm wurde und eher mild blieb. Während tagsüber die Feuchtigkeit des Morgens schwer in der Luft hing, setzte sich die des Abends über die Nacht als nasser Film auf alle Oberflächen ab, daher waren die Nächte ganz besonders klar, noch klarer als auf Eve, und es waren mehr Sterne zu sehen als von dem kleinen Ursprungsplaneten. Hier war mit Abstand der größte Pflanzenbewuchs, denn jeder freie Quadratzentimeter wurde von einer Pflanze eingenommen, wie es nur möglich war. Sogar auf den meterhohen Baumriesen, die sogar den Baum auf dem Zeremonienplatz von Eve an Größe übertrafen, siedelten sich viele Orchideen und Bromelien an, in denen allerhand Käfer- und Pflanzenpokémon ein Zuhause fanden, ebenso wie in den Wurzelhöhlen der Sumpfbäume, die an einigen matschigeren Stellen wuchsen. Neben sämtlichen Grüntönen wurde die Umgebung von bunten Blumen eingenommen, die auf Bäumen sprossen oder den Boden wie Teppiche bedeckten. Viele der Pflanzen waren jedoch giftig, und so wogen sich pflanzliche und fleischliche Nahrung bei den Folipurba miteinander ab.
Entfernte man sich weiter von der Sonne, kam man auf Vapore. Seine Masse bestand fast vollständig aus Wasser, das um die Pole herum kühl und süß war und zum Äquator hin als Wärme und Salzgehalt zunahm. Seine Jahreszeiten waren sehr ausgewogen, die meiste Zeit war es im Durchschnitt sehr mild, für ein paar Monate jedoch wurde es so kalt, dass sich an Nord- und Südpol Eiskappen bildeten, die aber nicht sehr beständig waren. Es gab vereinzelt kleine Inseln, die regelmäßig von Fluten heimgesucht wurden, jedoch den Bedarf der Aquana an Festland vollständig deckten – auch wenn sich diese Entwicklung von Evoli auf ein Leben im Wasser spezialisiert hatte, so hatte sie dennoch nicht ihre Verbindung zum Land verloren. Nicht nur den gigantischen Ozean füllte das für Aquana lebenswichtige Wasser, sondern auch die Luft. Der ganze, im Vergleich zu denen der anderen Planeten eher kurze Jahreslauf verdunstete ständig Wasser und bildete eine durchsichtige Kugel um Vapore, die sich vor Winterbeginn abregnete, jedoch vor allem zur Zeit ihrer höchsten Dichte das einfallende Sonnenlicht bracht und in seine Spektralfarben aufteilte; Regenbögen waren die Folge, dutzende von ihnen, die den Himmel schmückten, sogar in der Nacht, jedoch – natürlich – viel blasser. Aquana tauchten sehr viel und vor allem tief, und aßen alles, was sie fanden, von Algen und Seetang zu Anemonen und kleineren Wasserpokémon. Die Nerven eines Evoli wurden hier ganz besonders auf die Probe gestellt, weil es die ausgesuchte Wohnstätte durch einkehrende Gezeiten ständig wechseln und neu aufbauen musste.
Der nächste Entwicklungsplanet war Jolte, auf dem Blitza lebten. Seine Umlaufbahn um die Sonne verlief direkt durch einen unsichtbaren Nebel elektrisch geladener Teilchen, die ihre Ladung auf den Planeten übertrugen. Bei jeder Bewegung knisterte die Luft und rief kleinere Blitze hervor, und wenn sie wie so oft in heftige Wallungen geriet und Stürme über das Land fegten, krachte und donnerte es nur so vor Wetterleuchten. Gewitter mit Blitzen gab es auch auf Eve, jedoch waren diese nicht die Ausgeburten sich aufgestauter Wolken; sie schossen einfach so aus – im wahrsten Sinne des Wortes – heiterem Himmel, wenn zwei unterschiedliche Ladungen gerade aufeinandertrafen. Eventuellen Wolken blieb gar keine Zeit, sich zu bilden, weil verdunstendes Wasser sofort entladen wurde und noch beim Aufsteigen wieder als kaum spürbare Tropfen zur Erde fiel. Passierte Jolte gerade die dichteste Stelle der Partikelwolke, waren in den sonst energiegeladenen und blitzreichen Nächten nur hin und wieder das Aufflackern eines Blitzes, der Himmel wurde eher von Schleiern aus Licht beherrscht, die über ihn wehten wie von unsichtbaren Winden ergriffen und in Grün- und Violetttönen leuchteten; dieses Naturschauspiel wurde Aurora genannt und fand nur auf Jolte statt, in sehr klaren Wintern auch selten auf Eve, jedoch nur an den Polen. Blitza jagten ebenso wie Flamara, jedoch gehörten auch die Wurzeln der kargen Pflanzen zu ihrem Speiseplan.
Der sechste im Bunde, wenn man Eve nicht mitzählte, war Glace, der Eisplanet. Er ähnelte in vielerlei Hinsicht seinem weit entfernten Bruder Vapore, war jedoch durch seine Entfernung zur Sonne längst nicht so warm und das Wasser auf ihm nicht flüssig. Was auf dem Wasserplanet Ozean war, war auf der Heimat der Glaziola massives Eis, und nur an wenigen Stellen und um den Äquator gab es Wasser, das jedoch kalt und salzig war, aber Glaziola lebten damit zufrieden. Ihre Jahreszeiten beschränkten sich auf einen recht kurzen Winter, in dem Schneestürme über den Planeten fegten. Den Rest des Jahres über war es zwar immer noch viel kälter als im Winter auf Eve, blieb aber konstant in dem Bereich, den Glaziola am besten vertrugen. Glace war zwar nicht der äußerste Planet, der um die Sonne kreiste, jedoch der kälteste, da seine Atmosphäre – ähnlich der von Vapore – voll mit Wasser in Form von fast unsichtbaren Eiskristallen war, die die wenige Wärme, die das Sonnenlicht mit sich brachte, reflektierten. In der Nacht waren zwar wenige echte Sterne zu sehen, aber durch das Eis in der Luft schien der Himmel zu funkeln, als hingen am Himmel von Glace noch mehr Sterne als auf den anderen – was natürlich nicht stimmte, weil Sterne weder greif- noch erreichbar waren. Pflanzen waren nur selten in der „Wärmeperiode“ an wenigen Stellen um den Äquator anzutreffen, daher griffen auch Glaziola auf die Jagd zurück und aßen Fleisch.
Ganz außen durchquerte Umbre, der Planet der Nachtara, das All. Nur sehr wenig Sonnenlicht erreichte den dunklen Planeten, und auch die Sterne schienen hier ärmer dran zu sein als auf allen anderen, obwohl die Luft fast so rein war wie auf Leafe. Sogar am Tage sah man die leuchtenden Pünktchen am Himmel, und man konnte sagen, dass der Tag hier genauso hell war wie die Nacht auf Espe. Umbre besaß als einziger Planet fünf Ringe; ein besonders breiter um den Äquator, fast geschlossene Scheiben über den Polen, und dazwischen eher blassere und schmalere. Sie waren von gelber Farbe, leuchteten schwach und erinnerten an die Ringe, die das schwarze Fell von Nachtara zierten. Seine Oberfläche war rau und bestand aus dunkelgrauem, fast schwarzem Stein, der sich in form schroffer Felsen und Gebirge in den Himmel erhob. Es war hier längst nicht so kalt wie auf Glace, und sogar denen von Eve ähnlichen Jahreszeiten existierten hier, wenngleich sie sich nicht weit fortbewegten vom Klima des Spätwinters, wenn die kalte Zeit in den Frühling übergeht. Auch Pflanzen wuchsen hier, zwar nicht üppig wegen des mangelnden Lichtes, aber genug, um Nachtara zu Pflanzenessern zu machen, die nur hin und wieder Fleisch aßen.
Eve war eine bunte Mischung aus alledem, hatte Festland, weite Wiesen und Wälder, Meere und Seen, Flüsse, Berge, Täler, sämtliche Jahreszeiten und gemäßigtes Klima, Regen wie Sonnenschein und Schneefall. Daher war es die perfekte Waage zwischen den Extremen der einzelnen Planeten und ideal zum Aufwachsen von Evoli.
Die Entwicklungen verbrachten meistens ihr ganzes Leben auf den jeweiligen Planeten, es sei denn, sie entschieden sich, Priester oder Priesterin auf Eve zu werden, wo sie die neue Generation Evoli ein Jahr lehrten und ihnen dann in einer großen Zeremonie einen neuen Heimatplaneten zuwiesen. Bekam eine weibliche Entwicklung bald Kinder, so musste sie auf Eve reiste, wo sie die Kleinen auf die Welt brachte so lange säugte, bis sie keiner Milch mehr bedurften. Die Mutter flog zurück auf ihren Planeten, und ihre Kinder lebten selbstständig auf Eve in den Städten unweit der Tempelstadt entfernt, wo sie dann mit acht Jahren als Novizen und Novizinnen aufgenommen und ausgebildet wurden. Noch als Evoli reisten sie dann zu den ihnen zugeschriebenen Planeten, um dort weitere drei Jahre zu leben und sich anzupassen, um sich in einer weiteren Zeremonie mit den anderen, gleichaltrigen zu entwickeln. Seine Eltern kannte man nicht, was aber nichts Schlimmes war. Waren die Eltern dieselben Entwicklungen, und das war zum Großteil so, war die Wahrscheinlichkeit größer, dass das Kind ihrem Planeten zugewiesen wurde, und so konnte es passieren, dass man seine Eltern dort dann wiedertraf, was Grund zur Freude, aber nichts Besonderes war. Geschwister wurden durch die Wahl des neuen Heimatortes getrennt, aber das Verbindungsnetz machte es möglich, dass sie sich auf Eve treffen konnten, denn auf den Planeten anderer Entwicklungen konnte beispielsweise Folipurba nicht leben, und so verhielt es sich auch mit den übrigen.
Heute war es endlich so weit – Lilli, Viola und all ihre Alternsgenossen, die ein Jahr lang in der Tempelstadt gelebt hatten, würden endlich erfahren, welche Zukunft Evola für sie zusammengesponnen hatte.
Nachdem alle sich in der Morgensonne getrocknet hatten, kam die Oberpriesterin Elena, ein Psiana, um ihre Schützlinge abzuholen. Den ganzen heutigen Tag mussten sie sich für die nächtliche Zeremonie vorbereiten, und das versprach einiges an Arbeit zu werden. Lilli seufzte und sah zum Himmel, wo der im Morgenlicht blasse Perlenmond hinter dem weit entlegenen Horizont verschwand.

Alles war für die Zeremonie bereit.
Die über hundert Novizen und Novizinnen standen auf dem großen Festplatz zu den Füßen der Statue von Evola, wo für gewöhnlich die ISSO lagerte. Das sternförmige Raumschiff war ein Geschenk von seltsamen Wesen gewesen, die Eve und seine Schwesterplaneten vor sehr langer Zeit besucht hatten. Damals waren Evoli noch in kugelähnlichen Gebilden von hier aus auf ihre neuen Heimatplaneten geflogen. Diese Bälle hatten aus demselben unzerstörbaren Material bestanden wie die ISSO: ein Erz, das unweit der Tempelstadt aus einem Bergewerk gewonnen wurde und aus dem man das silberne Metall gewinnen konnte, das nach seiner Abkühlung nur durch die direkte Hitze der Sonne vernichtet werden konnte. Die Evoli und die Entwicklungen, die auf Eve zurückreisten, mussten mit viel Mühe in Energie umgewandelt werden, die dann in das Innere der Kugeln geleitet wurde. Durch Berechnungen, wo der Zielplanet zu welcher Zeit war, wurden sie ins Weltall abgeschossen. Sie steuerten sich selbst, eingespeist mit den Informationen, die sie benötigten, während die Pokémon in ihnen den Flug gewissermaßen verschliefen. Zu dieser Zeit war der Bestand von Psiana und Glaziola, aber vor allem Flamara und Nachtara sehr viel geringer als heute, weil die Kugeln nicht immer den Zielplaneten trafen, zwar die Richtung wieder wechseln konnten, aber am Rande des Sonnensystems wurden sie einfach ins All hinausgeschleudert und gingen verloren, und in der Nähe der Sonne konnten sie derer Schwerkraft nicht trotzen und verglühten in ihren Hitzemassen. Allein dass ihre Vorfahren dagegen nie etwas unternommen hatten, fand Lilli wie so viele anderer ihrer Generation unmoralisch; die Evoli damals hatten es aber wohl als von Evola gegeben angesehen. Durch das ständige Neuherstellen der Kugeln drohte das Erz zur Neige zu gehen, ganz zu schweigen von den vielen verschollenen Leben. Dann irgendwann waren blaue Wesen plötzlich auf Eve aufgetaucht, hatten das verbliebene Erz genommen und aus dem Metall acht Raumschiffe in Form siebenzackiger Sterne geschaffen, ein großes silbernes und sieben kleinere in den Farben der Entwicklungen, und hatten jedem Planeten eins geschenkt, bevor sie genauso mir nichts, dir nichts wieder verschwunden waren.
Ab dem Zeitpunkt ging niemand mehr in den Weiten des Weltraums verloren oder wurde von der Sonne geröstet. Die Raumschiffe wussten immer von selbst, wohin sie fliegen mussten, und steuerten aus eigenem Antrieb. Auch um Flare gerieten sie nicht in den Einfluss der Sonne. Aber was das wohl interessanteste war: Durch die großen Scheiben konnte man während des Fluges hinaussehen, wie die Sterne an einem vorbeizogen. Das hatte sich Lilli immer schon gewünscht; in dem sternförmigen Raumschiff durch ein Meer aus leuchtenden Punkten zu fliegen und die Planeten von nahem erkennen. Sie konnte es kaum erwarten, zu erfahren, welchen ihr Flug ansteuern würde.
Genau wie die anderen Novizinnen trugen sie und Viola einen Kranz aus weißen Lilienblütenblättern; die der Novizen waren aus Lilienblättern gefertigt. Die Lilie war eine heilige Blume, denn sie war ebenfalls sternförmig, und wuchs auf jedem Planeten zu jeder Lebensbedingung und jeder Jahreszeit. Während sie hier auf Eve weiße Blüten trug, zierten die der anderen Planeten farbige Tupfen; auf Flare glutrote, auf Espe fliederviolette, auf Leafe grasgrüne, auf Vapore azurblaue, auf Jolte sonnengelbe, auf Glace himmelblaue und auf Umbre pechschwarze. Lilli war stolz darauf, nach ihr benannt zu sein.
Gebannt sah sie auf, als sie bei der Statue eine Bewegung bemerkte – Elena stieg die steinernen Stufen auf das Podest von Evola, um vor dem Abbild des Götterpokémon stehend ihre Predigt zu halten. Lilli musste nicht darauf lauschen; sie und die anderen Evoli kannten die Gebete und Preisungen auswendig, das alles war nur Anstand. Die Statue hielt wie immer den Kopf stolz erhoben zum Himmel, und das sanfte, milchige Licht der Monde erhellte den perfekt verarbeiteten Stein. Seine Flanke zierte ein Stern, dessen sieben Zacken die Zeichen der Entwicklungen trugen. Es besaß sieben Schwänze, jeder in einer anderen Farbe der sieben Entwicklungen. Jeder Planet besaß ebenfalls eine, jedoch waren die Statuen dort nicht so groß wie diese und auch nicht so bunt. Was alle acht Statuen jedoch eindeutig gemeinsam hatten, war der Perlmutterstein auf ihrer Stirn, von dem gesagt wurde, dass Evola mithilfe seiner Stärke die Evoli und ihre Entwicklungen geschaffen hatte.
Elena endete. Sämtliche Köpfe, ob Evoli, Priester oder Priesterin, richteten sich nun hinauf zu den beiden Monden. Der kleine Sternmond raste nun seit nur wenigen Stunden hell strahlend auf seinen Zenit zu, als könne er es kaum erwarten, während der Perlmond schon den ganzen Abend träge dahin trottete. Auch er war voll. Über die Mondphasen hinweg, mit dem Sichelmond angefangen, entsprach sein farbiger Glanz, der dem der Perlen glich, die Perlu auf Vapore bildeten, den Farben der Entwicklungen von außen nach innen. So war er bei Sichelmond dunkelgrau, ging über hellblau und gelb, dunkelblau, lila und rot, und wenn er schließlich voll war, glänzte er ganz wie eine Perle in allen Farben. Das hatte ihm seinen Namen gegeben. Endlich trat nun auch er seinen höchsten Stand ein und schwebte bald schwerelos neben seinem kleinen Bruder.
Alle Blicke wandten sich nun wieder der Statue Evolas zu, dessen Perlmutterstein und regenbogenfarbene Augen im Licht der Monde zu glühen anfingen. Lilli überlief ein wohliger Schauer, und den Umstehenden schien es genauso zu gehen. Ein Wind kam auf und ließ das Blätterdach des Sayuri-Baumes demonstrativ rascheln. Die Sayuri waren die eigentlichen Lilien, denn sie besaßen sieben statt nur sechs Blütenblätter und stellten daher den perfekten Stern der Entwicklungen dar. Es gab nur einen einzigen Sayuri-Baum, nur hier auf Eve in der Tempelstadt, und der trug nur einmal im Jahr für eine kurze Zeit Blüten in allen sieben Farben. Schon eine Woche vor Sommersonnenwende begannen sie abzublühen, und an ihre Stelle traten kleine runde Nüsse. Jedes Evoli bekam in dieser Nacht, wenn die kalte Jahreszeit und die warme Jahreszeit sich wechselten, wenn das Licht in der Dunkelheit am stärksten war und sie sich so ausglichen, wenn das Leben auf Eve seinen Höchststand erreichte genau wie die Monde.
Wie auf ein geheimes Signal hin setzten sich die Evoli in Bewegung, um die Statue herum auf den gigantischen Baum zu. Lilli folgte wie unter Trance dem Fluss der anderen, und doch nahm sie alles überdeutlich war, als sei die Luft auf einmal leichter geworden und läge nun wie unsichtbare Daunenfedern auf dem Platz. Es brauchte keine Eile, niemand musste vor dem anderen da sein; es waren ganz genau so viele Nüsse da wie Evoli, und für jedes gab es eine, eine ganz besondere, sodass auch nie Streit aufkam. Die Farbe der Blüte vor der Nuss bestimmte dabei die Farbe des Kerns in der kupferbraunen Schale, und die wiederum zeigte an, für welche Entwicklung sich Evola für einen entschieden hatte. Schon bückten sich die ersten Evoli, als sie die ihren erreichten, und hoben die kleinen braunen Kugeln auf. Lilli hingegen spürte ihre Beine sie um den sandfarbenen Stamm des Baumes führen, zwischen den Nüssen hindurch, ohne sie auch nur zu berühren. Immer mehr der anderen Novizen blieben stehen, während sie scheinbar ziellos immer weiter ging.
Schließlich endeten die mit silbergrünem Laub behangenen Äste des Sayuri-Baumes und das Evoli war unter freiem Himmel. Eigentlich war es unmöglich, dass ein Nüsschen so weit flog; dort, wo sie in der Nacht der Sommersonnenwende landeten, blieben sie auch liegen, ohne nochmals hochzuspringen oder wegzurollen. Endlich zeichnete sich auf dem Boden etwas Kleines, Rundes ab. Aufgeregt bückte sich Lilli und hob die Nuss mit dem Mund auf. Sie drehte sich um und kehrte mit ihrem Schatz zu den anderen zurück. Mittlerweile hatte jeder seine Nuss gefunden, daher lagen auf dem Boden auch keine mehr. Die Evoli versammelten sich wieder auf dem Platz vor der Statue und sahen erwartungsvoll zu ihr hinauf. Als hätte ihnen jemand die Erlaubnis erteilt, verließen die Monde ihren Zenit, und das geheimnisvolle Glühen der Augen des Götterpokémon erstarb für das nächste Jahr.
Elena hob erneut die Stimme und verkündete: „Ihr dürft nun in eure Schlafräume zurückkehren. Morgen Mittag finden wir uns wieder hier ein. Wann ihr eure Nüsse innerhalb dieser Zeitspanne öffnet, bleibt völlig euch überlassen. Möge Evola sein Auge über euch halten und euch beschützen.“ Damit war alles gesagt. Die Novizen folgten der Aufforderung der Priesterin und verließen den Platz.

Lilli und Viola saßen auf ihren Schlafstätten in ihrem gemeinsamen Schlafraum und betrachteten die kleinen Nüsse in ihren Pfoten. Das Licht des Sternmondes, das durch das Fenster fiel, ließ die silbernen Ornamente, mit denen die braune, raue Schale verziert war, geheimnisvoll glitzern. Es hieß, dass jedes Muster dieser Äderchen einzigartig war und den Charakter des Besitzers der Nuss repräsentierte, aber keiner wusste genau, nach welchen Regeln es sich aufbaute. Außerdem bestand es aus demselben Material wie die ISSO, das der Sayuri-Baum mit seinen weit und bis in die Tiefen Eves reichenden Wurzeln aus unbekannten Quellen bezog. Außerdem war es ein Rätsel, wie er das Erz, das nie in reiner Form auftrat, in das Metall umwandelte. Die erzielte Wirkung war jedoch klar: wenn die Nüsse aus den Höhen des Baumes herabfielen, konnten sie nicht zerbrechen, und niemand auf allen acht Planeten konnte die Nuss öffnen – außer dem Besitzer selbst.
Und eben das hatten die beiden Freundinnen jetzt vor. Mehr oder minder.
„Also eigentlich kann ich es kaum erwarten, die Nuss zu knacken“, meinte Viola und drehte die Kugel in der Pfote. „Aber irgendwie habe ich auch Angst.“
Lilli lächelte, obwohl ihr nicht dazu zu Mute war; in ihrem Magen rumpelte es, und ihr war schlecht, schließlich änderte diese Nacht ihr ganzes Leben. Um etwas lockerer rüber zu kommen, sagte sie neckisch: „Ich dachte, du wolltest dich Evolas Entscheidung beugen, egal, wie sie ausfällt?“
„Ich weiß ja…“ Plötzlich wich aller Zweifel aus Violas Gesicht, und noch bevor sie sich wieder umentscheiden konnte, war die Schale ihrer Nuss in dutzende Stücke zerbrochen. In ihrer Pfote lag nun der Kern. Ein breites Grinsen zog über das Gesicht des Evoli: „Ich werde ein Flamara!“ Verzückt warf sie die rote Kugel in die Luft und fing sie wie einen Ball wieder auf. „Ich werde auf Flare leben!“, rief Viola, dann aber verzog sich die Begeisterung, und Lillis Freundin dachte wohl an die Lebensbedingungen, die auf dem feurigen Planeten herrschten. Wie um sich zu fassen, ließ sie sich wieder auf ihrer Schlafstatt nieder. „Ich bin müde“, murmelte sie schließlich mit einer seltsamen Mischung aus Freude und Enttäuschung in der Stimme und legte sich hin. Die rote Kugel lag neben dieser auf dem kleinen Nachtschränkchen, das sich die beiden Freundinnen teilten.
Schon nach kurzer Zeit war Violas Atmung ruhiger geworden. Lilli schüttelte den Kopf; sie konnte einfach nicht verstehen, wie ihre Freundin jetzt schlafen konnte, aber so kannte sie sie nun mal. Dann jedoch wanderten ihre Gedanken wieder ihrer eigenen Nuss zu. Der Glanz war verschwunden, weil der Sternmond weitergewandert war und nun der Schatten der Wand auf die Ornamente fiel.
Welche Farbe wird mein Kern haben?
Diese Frage fing in ihrem Kopf zu kreisen an, immer schneller, und wirbelte alle ihre Gedanken um, bis sie schließlich keinen Sinn mehr ergaben und im Sog untergingen, bis nur noch die Frage ihr Denken ausfüllte. Und es gab nur einen einzigen Weg, die Antwort herauszufinden…
Doch ganz so entschlossen wie Viola war sie noch lange nicht. Anders als ihre Freundin hatte sie sich noch nie so wirklich Gedanken darüber gemacht, was nach der Sommersonnenwende, nach dem vollen Licht beider Monde sein würde. Nach dem öffnen ihrer Nuss. Lange saß sie so da, starrte auf ihre Nuss, lauschte dem Atmen des anderen Evoli und dachte nach. Konnte sie sich auch weigern, sie zu öffnen? Nein, gewiss nicht. Der Kern war nicht nur notwendig, um herauszufinden, wo sie zukünftig leben würde, sondern auch, damit sie sich entwickelte. Er diente als Same, den man auf dem neuen Planeten hinter der Evola-Statue an die Stelle pflanzte, wo auf Eve der Sayuri-Baum stand, wo ein Beet bereitlag. Innerhalb der Zeit, in der man als Evoli das Leben im neuen Umfeld kennenlernte, erwuchs daraus eine siebenblütige Lilie in der Farbe, die der Kern besessen hatte. War man zur Entwicklung bereit, pflückte man diese Blume, und die Wirkung setzte sofort ein. Die Lilie verschwand danach. Außerdem konnte man als Evoli die ISSO nur betreten, wenn man die Nuss zum entsprechenden Planeten besaß.
In den schwarzen Nachthimmel, der sich auf dem silbernen Muster spiegelte, wob sich nun das frische Grau eines anbrechenden Tages. Bis zum Mittag musste sich Lilli überwunden haben. Wobei, was wollten die Priester schon tun? Sie zwingen? Unter dem Gesetz Evolas war Zwang strengstens verboten und wurde hart bestraft, und nur, weil sie direkt unter der Gottheit dienten, hatten sie noch lange nicht das Recht, sich dieser zu widersetzen; eher sollten sie den anderen ein Beispiel sein und es eben wegen ihrem hohen Rang nicht tun.
Lilli atmete tief durch. Trotzdem half alles nichts, früher oder später musste sie die Schale öffnen, da kam sie nicht drumrum.
Langsam hob sie auch die andere Pfote und legte sie auf die Nuss. Es war nur ein leichtes Zusammendrücken notwendig, um das unzerstörbare Metall zu zerbrechen. Zuerst zögerte Lilli, doch dann nahm sie die Pfote wieder weg.
Sie zuckte zusammen, als ein winziger, weißer Funken aus den Bruchstücken hervorzuckte, jedoch gleich wieder erlosch, sodass sie sich sicher war, dass sie sich ihn nur eingebildet hatte.
Sonst war nichts zu sehen. Kein Kern. Ihre Nuss war leer.
Lilli wusste nicht, wie sie reagieren sollte: Verzweifelt? Traurig? Wütend? Oder gar glücklich? Für gar nichts, und erst recht nicht für letzteres, sah sie einen wirklichen Grund, daher löschten sie sich gegenseitig aus, sodass nur eine ungemütliche Leere in ihr zurückblieb; genau wie in ihrer Nuss.
Schließlich aber neigte sie die Pfote, sodass die hölzernen Bruchstücke zu Boden rieselten. Alles brach zusammen; ihre Welt, das Zimmer, Lilli. Verzweifelt fing sie Tränen der Trauer zu weinen an, schluchzte unter unglaublicher Wut.
Sie hatte keinen Kern. Sie würde nie auf einen anderen Planeten reisen. Sie könnte sich nie mithilfe einer Lilie entwickeln. Sie war das, was in ihrer Nuss gewesen war: Nichts.

Heute hatte es sich etwas Besonderes vorgenommen.
Für sie war der Weg, den es zurücklegte, mit viel Zeit und Mühen verbunden, er war „weit“. Doch für es existierte keine Entfernung; nicht in einer Welt, durch die sein eigenes Blut zirkulierte, wo alles zusammenhing und miteinander atmete. Immer spürte es alles, was darin stattfand, die Schritte der Pokémon, ihren Atem, wie die Pflanzen wuchsen, und auch die Menschen. Für einen von ihnen würde es sich wohl so anfühlen, als würde das alles direkt auf seinem Körper stattfinden.
Heute war das nicht so, es spürte die Welt nicht mehr so überdeutlich wie in seinem Normalzustand. Nun gut, das hatte es sich schließlich auch selbst überlegt, die Gestalt eines Menschen anzunehmen und damit auch die beschränkten Sinne dieser Wesen. Doch das nahm es gerne in Kauf, denn es wollte sie ja kennen lernen, diese Menschen, die weder Pokémon noch Gott waren und irgendwann in der Zeit aufgetaucht waren. Irgendwann? Was war für es schon eine Zeitspanne, die für andere Wesen Jahrmillionen waren? Nicht mehr als ein Wimpernschlag, vielleicht nichts. Für es lag es noch gar nicht so lange zurück, da es die Pokémon in die Welt setzte, und noch viel kürzer, da die Menschen zum ersten Mal ihr Angesicht zeigten. Genau wie seine Schützlinge waren auch sie Lebewesen, und da es ein Gott des Lebens war, hatte es außer Frage gestanden, sich in ihr Tun einzumischen.
Es hatte sich in einen von ihnen verwandelt und war in eine ihrer größten Behausungen getreten – „Stadt“, wie sie es nannten, mit den großen Bauten, für ihre Verhältnisse gewaltig wie Berge, aber quadratisch und künstlich. Kritik empfand es bei ihrem Anblick aber nicht; das war nun mal die Lebensart der Menschen, das akzeptierte es. Dass sie dafür Wälder abholzten und Seen trockenlegten, war nun mal nötig, und welches Pokémon veränderte nicht, um zu überleben, ebenfalls seine Umwelt? Es gab nur wenige, die das nicht taten, die nicht auch so handelten wie Menschen. Obwohl eine finstere Nacht, war es in der Stadt hell erleuchtet, denn aus den verglasten Öffnungen der Bauten drang vielfarbiges Licht, und auf langen, dünnen Metallstangen saßen Glasgebilde, in denen ebenfalls eine Lichtkugel schwebte; wäre es in seiner eigentlichen Gestalt, hätte es jedoch keines Lichtes bedurft, und auch so nahmen seine Augen mehr Licht auf, als ein Menschenauge es vermochte. Auf den breiten Wegen der Menschen, die mit einem steinähnlichen Material ausgelegt waren, dass keine Pflanze darauf wachsen konnte, bewegten sich ihre seltsamen Maschinen fort, einen ohrenbetäubenden Krach von sich gebend, den es ebenfalls überlaut wahrnahm, was ihm jedoch nicht sehr viel ausmachte. Der Gestank, den sie von sich gaben, roch zwar giftig und war es auch, doch ihm machte das auch in Menschengestalt nichts aus.
Was diese kleine Rasse erreicht hatte ehrte sie, so viel stand fest. Aber es wollte schließlich die Menschen selbst näher kennen lernen. Viele von ihnen gingen in der Stadt umher, ob allein, zu zweit oder in Gruppen. Manche hielten eine Hand ans Ohr, in der sie ein kleines, viereckiges Gerät hatten, und schienen mit sich selbst zu reden. Andere betraten nach belieben verschiedene Gebäude, über deren Eingängen verschlungene, grell leuchtende Schriftzeichen hingen. Dass sich diese Wesen so vertrauten, dass sie einfach in die Wohnungen anderer reinspazierten durften, zeugte von ihrer Geselligkeit. Sie schienen sehr freundlich im Umgang miteinander zu sein.
Es hatte schnell herausgefunden, dass die Erhöhungen links und rechts an den breiten Wegen, über die die Geräte fuhren, für jene war, die kein solches besaßen und zu Fuß gingen, und so erkundete es die Stadt auch von hier aus. Auf dem schmalen Weg kamen ihm zwei Menschen entgegen, und seine feinen mentalen Sinne, die es nach ihnen ausstreckte – normalerweise reichten diese ins Unendliche hinaus, doch in dem Menschenkörper waren sie auf wenige Meter begrenzt -, ertasteten sie und fanden heraus, dass die beiden der weiblichen Hälfte der Menschheit angehörten und auch noch nicht ganz ausgewachsen waren; sie standen so ziemlich an der Schwelle dazu. Heiterkeit und Freude ging von den beiden aus, denn sie unterhielten sich über Dinge, die sie anscheinend glücklich machten. Auch ihre sichtbare Erscheinung reflektierte nach Art der Menschen ihr aktuelles Befinden: Die Augen leicht zugekniffen, den Mund in die Breite und dessen Winkel nach oben gezogen. Was die eine jedoch für die jeweils andere empfand, erfüllte es selbst mit Freude: Sie schienen sich schon sehr lange zu kennen – für menschliche Verhältnis natürlich –, kannten die andere wie sich selbst, und Zuneigung für die andere ging von beiden aus; welch zärtliches Verhältnis die Menschen zu anderen hegen mussten! Als sie an ihm vorbeikamen, verstummten sie jedoch plötzlich und blickten es nach Art der Menschen staunend an. Seine Sinne erfühlten plötzliche Gebanntheit, Bewunderung. Offenbar war es sein Äußeres, das diese Reaktion bei ihnen hervorgerufen hatte. Um den Bann zu lösen, lächelte es sie an, wie es Menschen manchmal taten, um freundlich zu sein. Nun war es auch Beschämtheit, die von ihnen ausging, und für das Auge wurden sie rot im Gesicht. Sie senkten den Blick, und als sie vorbei waren, kicherten sie. Sein auch noch als Mensch hervorragendes Gehör nahm ihre geflüsterten Worte auf: „Hast du das gesehen! Er hat mich angelächelt!“ – „Nein, mich hat er angelächelt!“ Und wieder Lachen.
Es blieb vor einer großen Glasscheibe stehen und sah darin die schwache Spiegelung seiner äußeren Erscheinung. Es hatte die Gestalt eines Menschen angenommen, eines männlichen, frisch ausgewachsenen, und trug auch wie sie Kleidung, ein weißes Hemd und eine hellgraue Hose mit dunkelgrauen Längsstreifen. Wie die Menschen hatte auch es auf dem Kopf einen kleinen Teil Fell in goldgelber Farbe, und seine Augen stachen neongrün aus seinem Gesicht hervor; dieses empfanden sie wohl als attraktiv, so, wie die beiden Weibchen zuvor reagiert hatten. Ob es zu dick aufgetragen hatte?
Aus dem Gebäude, vor dem es stand, drang der Geruch von dem, was sich Menschen als Essen bereiteten; es hatte schnell festgestellt, dass diese eitle Rasse sich nicht mit rohen Beeren zufrieden gab sondern seine Nahrung oft erst in kochendem Wasser erwärmen musste. Aus Neugier betrat es diese Baute, wie es die anderen Taten. In dessen Innern war die Luft warm und schwer, und die Essensgerüche hingen wie eine alles umschließende Aura im Raum – es musste Lächeln: so wie dieser Geruch für den Raum war es die Aura für die Welt –, und aus einer kastenartigen Maschine drangen dezente, melodische Töne, die für menschliche Ohren, die nur das Oberflächliche hörten, von dem Gemurmel jener übertönt wurde, die im Raum herumsaßen, sich unterhielten und dabei dieses und jenes aßen.
Auch wenn es auch als Mensch keiner Nahrung bedurfte, wollte es dennoch aus Neugier eines ihrer Gerichte probieren, um ihre Geschmäcker herauszufinden. Also setzte es sich auf einen Stuhl an der Theke – während es seine mentalen Sinne schweifen ließ, konnte es die verschiedenen Bezeichnungen für bestimmte Gegenstände aus den Gedanken der Menschen fischen – und sofort stellte sich eine Bedienung zu ihm.
„Was darf´s denn sein?“, fragte sie. Auch sie war ein Weibchen, jedoch wesentlich älter als die, die es auf der Straße getroffen hatte, und jene Gefühle, die aus diesen bei seinem Anblick gestrudelt waren, blieben bei ihr aus. Stattdessen nahm es Langeweile und Genervtsein auf.
Natürlich wusste es nicht, wie sie bestimmte Gerichte nannten, wenn niemand direkt daran dachte. Von irgendwo im Restaurant nahmen seine empfindlichen Ohren das Wort „Sushi“ auf, und seine mentalen Sinne erspürten hinter diesem Wort die Bedeutung für eines der Gerichte, die hier angeboten wurden. „Sushi, bitte“, war also seine Antwort. Es war es nicht gewohnt, mit einem Mund und Stimmbändern zu reden, daher klangen seine Worte wohl gefühlsleer und hohl, doch daran konnte es momentan auch nichts ändern.
Die Bedienung nickte, notierte das eigentümliche Wort auf einem Zettel, drehte sich zu einer Durchreiche zur Küche um und rief: „Einmal Sushi!“, während sie das Papierchen an eine spezielle Vorrichtung dafür befestigte, die am oberen Rand der durchreiche hing.
Nun in Menschengestalt nahm es die Minuten, die verstrichen, auch als solche wahr, und während der Zeit des Wartens sah es sich in dem Lokal weiter um. Menschen waren nicht nur sehr gesellige Wesen, bestimmte wenige schienen sogar die Aufgabe zu haben, für Nahrung für andere zu sorgen und in solchen Restaurants an sie zu verteilen. Auch schienen sie sehr gesprächig, denn keines von ihnen in diesem Raum unterhielt sich nicht mit einem anderen. Das Lokal war erfüllt von tausenden Emotionen, sodass noch nicht einmal es, aufgrund der Menschenform, genau ausmachen konnte, welche es waren oder von welchem der Wesen sie genau kamen.
„Bitte schön“, ertönte es von hinter ihm, und die Bedienung von zuvor legte eine Scheibe aus härterem Papier – Pappteller, wie es herausfand – vor es auf die Theke. Darauf lagen drei kleine, dunkelgrüne Rollen, die mit etwas Weißem gefüllt waren. Seine Sinne ertasteten, dass dieses Gericht vorher wohl kein kochendes Wasser gesehen hatte. Neben den Teller legte die Bedienung zwei Holzstöcke und ging dann ihren weiteren Beschäftigungen nach.
Interessiert nahm es die Stäbchen in die Hand und betrachtete sie. Kleine, aufgemalte Blümchen verzierten das dickere Ende, von wo aus die Stäbchen schmal zuliefen und dann in ein stumpfes Ende mündeten. Etwas verunsichert sah es sich um, um herauszufinden, wie man sie benutzte – dass sie dazu da waren, das Gericht vor ihm zu essen, hatte es schon aufgegriffen. Die meisten der Menschen im Restaurant benutzten diese auch, und zwar nahmen sie beide Stäbchen in eine Hand und führten damit ihr Essen zum Mund. Da es schnell neue Eindrücke aufnehmen und verarbeiten konnte, hatte es schnell den Bogen raus und bald das Sushi gegessen. Es hatte noch nie irgendetwas essen müssen, daher war es ihm unmöglich, die Aromen, die sich in seinem Mund entfalteten, zu beschreiben, und es war sich nicht sicher, ob es ihm gut oder schlecht schmecken sollte – wenn Menschen es aber an andere verteilten, dann musste es aber gut sein. Warum sollten sie schon Essen an andere geben, das nicht schmeckte?
Als es fertig war, legte es die Stäbchen neben den Teller und wollte gehen, da kam die Bedienung und hielt es zurück. „Warten Sie, junger Mann, wo wollen Sie hin?“, herrschte sie es nicht gerade freundlich an.
„Ich würde gerne gehen“, antwortete es sachlich, seinen gefühllosen Tonfall immer noch nicht verbessert.
Sie lachte, doch es spürte deutlich, dass sie weder Freude noch Belustigung empfand. „So, denken Sie, ja? Zuerst bezahlen Sie Ihr Sushi.“
„Tut mir wirklich leid, aber ich weiß nicht, wovon du redest.“ Und das war wirklich so. Es spürte, dass es, wenn es das Sushi nicht „bezahlte“, Schwierigkeiten bekommen würde. Schwierigkeiten selbstverständlich für menschliche Maßstäbe.
Zuerst hielt die Frau inne, und es las aus ihren Gedanken, dass es ihr nicht gefiel, von ihm mit „du“ angesprochen zu werden. Dann jedoch hob sie die Hand und machte eine seltsame Bewegung mit ihren Fingern: mit dem Daumen strich sie über die Spitzen des Zeige- und Mittelfingers. „Von Bargeld, was denn sonst! 1100 Yen, um genau zu sein!“ Als es nicht reagierte, spürte es Verärgerung in ihr, als sie herausbrach: „Zahlen Sie, oder ich rufe die Polizei!“
Ihre Gedanken brachen auf es ein, und beim Wort „Yen“ sah es mit seinem inneren Auge scheibenförmige Metallstücke und viereckige, bunte Papiere. Jetzt verstand es! „Ja, einen Augenblick“, meinte es, tat so, als hole es etwas aus seiner Hosentasche und ließ dabei aus dem Nichts die von den Menschen als Geld bezeichnete Währung erscheinen. Es holte das Geld hervor; fünf dieser Scheine, auf denen Zahlen aufgedruckt waren, auf jedem „10000“. Mit einer auffordernden Handgeste reichte es der Bedienung das Geld.
Diese nahm es mit großen Augen entgegen, Verwunderung ging von ihr aus. „Sie wissen, dass das zu viel…?“
„Behalten Sie es“, versuchte es, diese seltsame Anrede zu benutzen; es kannte sich ohnehin nicht mit den Zahlungsmitteln dieser Menschen aus und hatte es, wenn es nicht wirklich nötig war, auch nicht vor. Ohne ein weiteres Wort verließ es das Lokal, seine ausgebreiteten Sinne erhaschten aber noch die Schadenfreude der Bedienung, die daraufhin einen der Scheine in die Kasse gleiten ließ und sich die anderen vier in die eigene Hosentasche steckte.
Als es aus der Tür trat, erklang das läuten von Glocken; neunmal schlugen sie laut hallend durch die Stadt, doch ihr kräftiger Klang ging unter dem Dröhnen der Autos und anderer Fahrzeuge unter.
Was hatte es bisher alles über die Menschen herausfinden können? Also sie schienen im Allgemeinen äußerlich recht freundlich zu sein, auch wenn die Bedienung andere, versteckte Gefühle aufgewiesen hatte, aber immerhin hatte sie die Höflichkeit besessen, es nicht zu zeigen. Dass es ihr nicht sofort gehorcht hatte, als es hatte zahlen müssen… da konnte es darüber hinwegsehen, dass sie hochgegangen war. Menschen waren sehr gesellige Wesen, sie mochten es offenbar nicht, allein zu sein, entweder waren sie schweigsam oder unterhielten sich stundenlang mit sich selbst und drückten eine Hand gegen ein Ohr. Waren sie mit jemandem zusammen, sprachen sie viel miteinander und erfreuten sich der Gesellschaft des anderen, die ihnen viel Spaß machte. Sie vertrauten sich so sehr, dass sie in ihren Behausungen nach Belieben ein- und auskehren konnten. Außerdem hatten sie eine große Zivilisation aufgebaut, für die es sie bewunderte.
Plötzlich streifte etwas seine eingeschränkten mentalen Sinne. Noch nicht nahe genug, fühlte es sich völlig anders an als die Präsenzen der Menschen, die um es herum zockelten. Es blieb stehen und konzentrierte sich auf die Aura, wobei alles andere vor der Sicht seines inneren Auges verschwimmen musste – wie bedrängend dieser Menschenkörper doch war! – und konnte diese Aura nun genau wahrnehmen: Es war ein Pokémon, hier in der Stadt, mitten unter Menschen! Immer noch war es nicht nah genug dran, um seine Art herauszufinden. Vorsichtig spann es einen hauchfeinen, unsichtbaren Faden zwischen sich und der Aura und konnte seine Sinne wieder entspannen und auf die ganze Umgebung ausweiten, ohne dabei die Spur zu verlieren.
Hastig folgte es der Schnur, die es mit der Präsenz verband, und nach einigen Straßenecken hatte es das Pokémon endlich im Blick: Es war ein Mauzi, das aber nicht nur an seinen Faden gebunden war, sondern um dessen Hals auch noch eine Leine hing, die eine Frau in der Hand hielt. Sie stolzierte neben einem Mann her, für den sie spürbar sehr liebevolle Gefühle empfand, ebenso auch er für sie. Was seine Aufmerksamkeit aber in den Bann zog, waren die Gefühle des Mauzi, denn diese waren tief im Innern purer Hass und abgrundtiefe Abneigung zu seinen Herren. Darüber lag eine fast undurchdringliche Schicht an Trauer und Demütigung, aber vom äußeren her wahrte es seine Haltung und hielt den Kopf stolz erhoben. Was war da los?
„Entschuldigen Sie?“ Es hatte aufgeholt und stand nun hinter dem Paar. Verwundert drehten sie sich um. „Warum läuft dieses Mauzi an der Leine?“, fragte es und deutete dabei auf das Pokémon, das es mit großen Augen ansah – es wusste zwar nicht, wer da vor ihm stand, aber sein Instinkt ließ es automatisch Ehrfurcht empfinden. >Beruhige dich, Kleines!<, sandte es ihm mittels Telepathie, die Sprache, die es sonst benutzte, nicht mit dem Mund. >Du bist auch nicht minder wert als ich.< Auffordernd sah es die beiden Menschen an und wartete auf eine Antwort.
„Na, weil Kitty mein Schätzchen ist!“, erklärte die Frau, als sei dies etwas Selbstverständliches.
Der Mann an ihrer Seite, der einen guten Kopf größer war, lächelte liebevoll zu ihr herunter und sagte: „Es war mein Hochzeitsgeschenk an meine Liebste.“ Sie lachten beide und gaben sich einen Kuss.
Aus den Gedanken des Mauzi erklangen wehmütige Worte: >Ich bin ihr Eigentum.<
So sehr es dieses innige Verhältnis der beiden auch gutsprach, das Mauzi – ein Pokémon, eines seiner Geschöpfe und Schützlinge! – als Eigentum dieser Menschen? Und wenn die Erinnerungen, die es von dem Katzenwesen erreichten, stimmten, und das taten sie ganz sicher, dann behandelten sie es nicht besser als einen Gegenstand. Aber es musste ebenfalls wie das Mauzi seine Haltung wahren, denn es war nur zur Erkundung hier und wollte keinen Aufruhr verursachen. Daher lächelte es gequält und sagte: „Ach so ist das, tut mir sehr Leid, Sie gestört zu haben.“ Damit drehte es sich um und verschwand um die nächste Hausecke, lehnte sich dann an die Wand, schloss die Augen und konzentrierte sich.
Seine mentalen Sinne schoben sich weit aus seinem Geist heraus und folgten dem Faden, der immer noch zwischen ihm und dem Mauzi gespannt war. Einen seiner seelischen Tentakel legte es um den Geist des Pokémon, mit einem anderen tastete es sich an der Leine hoch und wand ihn um sie. Im selben Moment, in dem es die Leine durchtrennte, flüsterte es dem Mauzi den Gedanken ein, zu fliehen; dabei zwang es das Pokémon aber zu nichts, denn dieser Gedanke schlief schon lange in ihm und musste nur angefacht werden.
Ein überraschtes Kreischen der Frau erklang, und als es die Augen öffnete, tauchte Mauzi in seinem Sichtfeld auf. Ihre Blicke trafen sich für den Bruchteil einer Sekunde, aber genau, wie Jahrmillionen für die Menschen für es nur ein Wimpernschlag waren, konnte eine so winzige Zeitspanne auch viel länger sein, und so reichte es für einen Gedanken, den es aus dem Geist des Pokémon erhaschen konnte: >Ich bin frei!< Und dieser Gedanke folgte ihm wie eine Fahne, als es weiterrannte.
„Ja, mein Freund, das bist du“, flüsterte es und stieß sich von der Wand ab, um weiter zu gehen. Es bemerkte zwar, dass das Paar um die Ecke gehastet kam, schenkte ihnen aber keine Aufmerksamkeit.
Eine Weile schlenderte es durch die Stadt und dachte dabei über die vorige Situation nach. Ob es noch mehr Pokémon im Besitz der Menschen gab? Es war zwar unvorstellbar für seinen Geist, der immer frei war, auch wenn er eine einschränkende Gestalt annahm, aber: Ob es auch Pokémon gab, die gerne dem Menschen unterstellt waren? Nein, das war absolut undenkbar, und es bereute, sich nicht schon vorher darauf konzentriert und mit diesem Thema beschäftigt zu haben. Wenn es wieder in der Halle des Ursprungs war, würde es sich darum kümmern.
Während es nachgedacht hatte, war es in eine dunkle Seitengasse geraten und stand nun, wo das Licht der Straßenlaternen nicht mehr schien, in fast völliger Finsternis. Doch seine Sinne konnten alles fühlen, was sich um es herum befand, so auch einen Menschen, der an einer Hauswand lehnte. Interessiert trat es an ihn heran und betrachtete ihn mit all seinen Sinnen. Er schien zu schlafen, aber irgendetwas Schlechtes glühte in ihm. Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, legte es eine Hand auf seine Stirn und erfühlte seinen Geist. Traurige Erinnerungen wallten ihm entgegen, vom Verlust der Familie und Freunde, über Berufsrausschmiss zu Obdachlosigkeit. Unabhängig davon, dass die Menschen – oder zumindest wenige davon, wie es hoffe – schlecht mit seinen Schützlingen umgingen, war dieser hier vom Schicksal gezeichnet, und es konnte es nicht verhindern, Mitleid für ihn zu empfinden. Doch da war noch mehr… Dieser Mensch war krank, schwer krank, und seine von der Zeit unberührte Voraussicht gab ihm Gewissheit, dass er nur noch wenige Tage zu leben hatte, die er in Schmerz und Qualen verbringen würde; überhaupt schlief er sehr unruhig.
Als Gott des Lebens hatte es mit jedem gequälten Wesen Mitleid und musste ihm unbedingt helfen, sonst verstieß es gegen seine eigenen Prinzipien. Es ließ seine geistigen Tentakel in den Körper des Kranken gleiten und schloss sie vorsichtig um dessen Herz, um das Feuer seines Lebens, das ohnehin schon fast heruntergebrannt war. Wie sehr es doch bedauerte, eine solch weit fortgeschrittene Krankheit nicht heilen zu können! Seine Allmacht war doch nicht so allmächtig…
Sanft zog es die Tentakel zusammen und erstickte dabei langsam und schmerzlos die Flamme. Dann zog es sich wieder zurück und nahm die Hand von der Stirn des Mannes. Wo vorher Schmerz gestanden hatte, lag jetzt Erleichterung im Gesicht des Menschen; er war tot, erlöst. Von Pokémon wusste es, dass ihre Seelen in das Totenreich von Giratina einzogen, wenn sie starben – es hatte sie schließlich so gemacht! –, doch da es die Menschen nicht geschaffen hatte, wusste es um ihre letzte Reise nicht bescheid, aber in die Totenwelt einzutreten würde bedeuten, dass seine Energie, die diese Welt am Leben erhielt, für kurze Zeit erlosch, bis es wieder zurückkehrte, und das würde den totalen Kollaps beider Welten bedeuten. Nein, es hatte Giratina die völlige Entscheidungsgewalt in seiner Welt überlassen, und nur, um herauszufinden, ob auch menschliche Seelen den Weg dort hin fanden, durfte es sein Versprechen nicht brechen.
Weil es bis eben noch die Konzentration auf den Obdachlosen gerichtet hatte, hatte es nicht gespürt, wie jemand an es herangetreten war. Doch jetzt nahm es sie wahr, die Präsenz der Frau, die das Mauzi an der Leine gehalten hatte. Wahrscheinlich war sie auf der Suche nach ihrem „Besitz“ in die gleiche Richtung gegangen wie es. Es stand auf und sah zu ihr herab.
In ihren Gesicht und auch in ihrem Innern las es maßloses Entsetzen: „Sie schon wieder! Was haben Sie gerade getan?!“
Es sah zu dem Toten runter, ließ aber keine Gefühlsregung erkennen, denn es kam mit dem Minenspiel der Menschen immer noch nicht hundertprozentig zurecht. Emotionslos, sodass es für die Frau wohl kalt herüberkam, sagte es: „Ich habe ihn erlöst; seine Seele ist nun frei allen Qualen dieses Lebens.“ Es spürte, dass sie noch was sagen wollte, doch da ihr Entsetzen nach und nach in Wut überging, drehte es sich um und verschwand in der Dunkelheit.
Nach einer Weile des Wanderns spürte es erneut die Aura eines Pokémon, nein, nicht nur eines, sondern gleich mehrerer; mindestens ein Dutzend, die genaue Zahl konnte es nicht herausfinden. Wieder folgte es der Spur und musste mit Bedauern feststellen, dass sich diese Auren nicht fortbewegten wie die des Mauzi, was nur bedeuten konnte, dass die Pokémon irgendwo festsaßen, aber gleich so viele auf einmal?
Als es die Quelle gefunden hatte, erkannte es darin eines der Gebäude mit den großen Fenstern an der Frontalseite, in dessen Innern es jedoch dunkel war. Was seinen menschlichen Augen größtenteils verborgen blieb, konnte es umso besser mit seinen anderen Sinnen wahrnehmen. Es ließ seinen Geist in das Geschäft gleiten und erspürte Pokémon, dreiundzwanzig an der Zahl – Eneco, Plaudagei, Rettan, … - alle hinter schweren Eisenstangen. Sie waren eingesperrt! Trauer ging von ihnen aus, die Sehnsucht nach Freiheit, Hoffnungslosigkeit. Auch sie waren Eigentum der Menschen.
Es musste sie befreien! Es trat zur Eingangstür und wollte sie öffnen, doch sie war fest verschlossen. Ob der Besitzer dieses Gebäudes nicht so viel Vertrauen in andere Menschen hatte? Trotzdem musste es dort rein. Doch sein Unterfangen musste geheim bleiben, denn wenn es sich die Reaktion der beiden Menschen, die törichterweise das Mauzi als ihren Besitz angesehen hatten, bedachte, hatten andere bestimmt auch etwas dagegen, wenn es diese Pokémon jetzt befreite.
Es sah sich um, tastete mit seinen mentalen Sinnen die Umgebung ganz genau ab und versicherte sich, dass niemand zusah, dann trat es um die Ecke und berührte die Wand, hinter der das Geschäft lag. Jetzt musste es seinen Menschenkörper leicht in seinen Normalzustand übergleiten lassen, was auch kein Hexenwerk war. Seine Hand wurde materielos und seine Finger glitten sanft durch die Betonwand. Seiner Hand folgte der Arm, der Oberkörper, und schließlich stand es mitten im Geschäft unter den Käfigen, in denen die Pokémon friedlich schliefen.
>Erwacht, meine Schützlinge!<, ließ es einen Gedanken über Telepathie durch den Raum hallen, und synchron schlugen alle Gefangenen die Augen auf, waren hellwach. Über eine geistliche Berührung ließ es sie wissen, wer es war, und dass sie keine Panik empfinden mussten. >Ich befreie euch<, versprach es und breitete alle Seelententakel aus, die es in Menschengestalt hatte. Jeder davon legte sich um die Gitterstäbe, und mit einer machtvollen Handbewegung riss es sie aus den Angeln. Augenblicklich sprangen alle Pokémon auf und verließen ihre Gefängnisse. Es richtete eine Hand auf die verschlossene Tür, und eine Welle purer Energie sprengte sie nach außen, sodass seine Schützlinge in die Freiheit entkommen konnten.
Es folgte ihnen, um sie ausschweifen zu sehen, doch was ihm da entgegen kam, ließ es in der Tür stehen bleiben und erschrak es zutiefst: Vor dem Geschäft standen drei der Menschenfahrzeuge, jedoch standen auf ihren Dächern, anders als bei den anderen, blaue Lampen, die immer wieder aufblinkten. Ein Scheinwerfer ging plötzlich an, und das grelle Licht hätte einen normalen Menschen zwar geblendet, doch es war nicht nur das Leben, sondern auch das Licht selbst, sodass es keine Schmerzen verspürte.
„Ist er das?“, fragte eine tiefe Stimme, die von einem männlichen Menschen kam.
„Ja, ja, er hat den Bettler umgebracht!“ Diese Stimme und auch die beiden Auren kamen ihm bekannt vor: es war wieder das Paar.
Verstärkt hallte nun die tiefe Männerstimme über den Platz und verkündete: „Hier spricht die Polizei! Das Gebäude ist umstellt, kommen Sie mit erhobenen Händen heraus!“ Auch wenn es nicht wusste, was gespielt wurde, gehorchte es und trat aus dem nun leeren Geschäft. Einer der Polizisten, der, dem die tiefe Stimme gehörte, kam zu ihm, drehte seine Arme auf den Rücken und fesselte seine Hände mit zwei durch eine Kette verbundenen Metallringen. „Wer auch immer Sie sind, ich verhafte Sie wegen Diebstahls und Mordes an einem Obdachlosen!“ Es wehrte sich nicht, als es von ihm zu einem der Fahrzeuge gebracht und in dem großen, kastenförmigen Hinterteil dieses Autos eingesperrt wurde. Es ließ sich auf eine an der Innenwand befestigten Bank sinken und lehnte sich an. Was auch immer los war, schien nicht gut zu sein.
Nun, das machte ihm nichts aus. Sie konnten ihm ja ohnehin nichts anhaben, und außerdem wollte es herausfinden, was nun mit ihm geschah. Was hatte der eine Mensch gesagt? Diebstahl und Mord? In seiner Definition war das Befreiung und Erlösung, aber das bedeutete selbstverständlich nicht, dass das die Menschen ebenfalls so sahen, und wenn es gegen eines ihrer Gesetze verstoßen hatte, musste es ihnen Folge leisten. Egal, was sie mit ihm taten, es würde jedenfalls früher oder später zur Halle des Ursprungs zurückkehren.
Das Auto begann zu vibrieren und fuhr an. Das weckte es aus seinen Grübeleien und erst jetzt fiel ihm auf, auch wenn es dies schon vorher gespürt hatte, dass es hier nicht alleine war: neben ihm auf dem Boden schlief ein Fukano. Neugierig beugte es sich vor und ließ das Feuerwesen aufwachen. >Bist du das Eigentum von einem Menschen?<, fragte es mittels Telepathie.
Das Fukano legte den Kopf schief – die meisten Pokémon waren es nicht gewohnt, Stimmen in ihren Gedanken zu hören – und antwortete auf dieselbe Weise: >Nein, ich helfe den Polizisten nur, Verbrecher zu fangen.< Auch wenn die Antwort aufrichtig klang, auch wenn es, genau wie das Mauzi, seine wahren Gefühle verbarg, spürte sein in Menschengestalt gehülltes Gegenüber ganz deutlich, dass das Pokémon mit seinem Schicksal alles andere als zufrieden war. Auch es wollte frei sein. Immerhin wurde es nicht als Gegenstand behandelt und seine Unfreiheit hatte etwas Nützliches.
Innerlich seufzend streckte es seine mentalen Sinne nach außen aus und befühlte die Umgebung, durch die sie fuhren. Sie streiften eine große Anzahl an Menschen, hunderte von Auren, und Musik und Freude wehte in seinen Geist – ein Festplatz. Das war der richtige Ort! Hier würde seine Botschaft viele Menschen erreichen. Also ließ es seine Tentakel durch das Auto gleiten und suchte nach jenen Mechanismen, die es lenkten. Schnell hatte es – im wahrsten Sinne des Wortes – den Dreh raus und steuerte langsam, sehr zur Verwunderung des Polizisten, der am Steuer saß und dessen Gefährt ihn nun an eine unsichtbare Macht verriet, den Dienstwagen durch die Menge der Menschen mitten auf den Festplatz und bremste ihn dort. Über eine schwache Menge an Telepathie befahl er den Menschen im Unterbewusstsein, sich zu dem Wagen umzudrehen und ihre Aufmerksamkeit zu zollen.
Das Fukano war wieder eingeschlafen. >Es wird sich etwas bessern, kleiner Freund, das schwöre ich dir!<, versprach es, bevor es aufstand und die Handschellen in rasendem Tempo altern und rosten ließ, bis sie schließlich als rotbrauner Staub zu Boden rieselten. Es richtete den Blick nach oben, woraufhin das Dach des Gefährts von dem Punkt aus, auf den es starrte, zu glühen und schließlich zu schmelzen begann, bis sich ein Loch gebildet hatte. Dann überwand es die Schwerkraft und schwebte aus dem Wagen heraus. Alle Lichter, die in der Stadt brannten, alle elektronischen Geräte flackerten jetzt kurz auf, nur um zu erlöschen, damit das Licht der Sterne, die sie sonst überstrahlten, ungehindert vom Himmel leuchten konnte, und damit es noch viel mehr auffiel, denn es strahlte selbst ein sanftes Licht aus. Langsam ließ es die menschliche Gestalt von sich fließen wie schmelzendes Eis, und mit jeder Sekunde nahm es seine ursprüngliche an, spannte seine Sinne aber noch nicht wie sonst über die ganze Welt, sondern ließ seine Konzentration auf dem Platz.
„Menschen!“, ließ es seine Stimme erklingen, und sowohl gedanklich als auch hörbar hallte sie über den Platz: Es sandte den Menschen seine Worte nicht nur per Telepathie, sondern brachte die Luft zum vibrieren, sodass sie auch hörbare Worte erzeugte; damit bezweckte es, doppelten Eindruck bei ihnen auszulösen. „Ich habe euch all die euren Generationen in Frieden gelassen, weil ihr als Lebewesen ebenso das Recht habt, diese Welt zu bewohnen wie alle anderen neben euch auch. Ich habe Respekt vor dem, was ihr in dieser kurzen Zeit alles geschafft habt; doch Respekt beruht auf Gegenseitigkeit, aber ihr habt nichts davon für meine Geschöpfe. Ihr behandelt meine Schützlinge, die Pokémon, wie Gegenstände, wie Eigentum, und bringt ihnen dafür nicht genug Liebe und Zuneigung rüber, wie sie es verdient hätten.“ Es stieg höher und ließ am Himmel schwarze Gewitterwolken aufziehen, in denen Blitz und Donner tobten. Die Menge japste erschrocken auf; genau, wie es das plante. „Ich mögt euch zum Herrscher der Welt aufgeschwungen haben, aber ich bin immer noch ihr Gebieter! Lasst euch das eine Lehre sein. Ändert eure Einstellung zur Natur, zu den Pokémon, oder ihr werdet es noch bitter bereuen!“ Damit löste es sich flimmernd in Luft auf, die Wolken verzogen sich wieder.
Wie die meisten Versammelten es jetzt glaubten, war es verschwunden, doch es war nur unsichtbar und flog noch zwischen ihnen umher, um ihre Reaktionen zu beobachten. Beeindruckt von dieser Ansprache waren sie alle mal, das hatte es schließlich auch so gewollt. Doch warum sie es waren, hatte es nicht vorhergesehen.
Ein Mensch sagte: „Wow, das war ja mal eine Vorstellung! Für welchen Film ist das Werbung gewesen?“
„Keine Ahnung, aber in den will ich auf jeden Fall gehen.“
„Genau, wenn die Spezialeffekte auch so gut sind, da braucht´s bestimmt mega Hightech!“
Und so weiter.
Es wandte sich ab und machte sich auf den Rückweg. Die erzielte Wirkung seines Handelns war leider ausgeblieben, aber sein eigentliches Vorhaben war ja nur gewesen, mehr über die Menschen herauszufinden. Und das hatte es. Und es hatte ersten Eindruck bei den Menschen hinterlassen, der ein bisschen fehlverstanden worden war. Doch eins war gewiss: Dieser Krieg hatte eben erst begonnen! Es war nicht umsonst Arceus.