Zerbrochene Chance...
(Black)
Ich bewegte mich kein Stück, nicht einen einzigen Zentimeter. Mit Ausnahme meines Brustkorbes, der sich stetig hob und senkte. Ich wünschte, ich könnte die Luft einfach ohne diesen unaufhaltsamen Rythmus in mir aufnehmen, über die Haut zum Beispiel, nur, um das Geschöpf nicht zu reizen, welches da vor uns stand und bedrohlich die Zähne fletschte. Dieses Knirschen jagte mir eine Gänsehaut über meinen Körper. Ein tiefes Knurren kroch aus der Kehle jener Kreatur, während es einen nach dem anderen von uns musterte. Es schien zu überlegen, wen es zuerst mit seinen messerscharfen Zähnen und Klauen überfiel.
White versuchte trotzig, den Blick des schwarzen Hunde-Pokemon zu erwidern. Sie wollte ihre Furcht verbergen. Denn sie wusste genauso gut wie ich, dass Pokemon Angst riechen konnten. Es klappte nicht. Sogar ich spürte ihre Ehrfurcht. Außerdem sah ich, wie sie kontinuierlich an den Zipfeln ihrer Hose herumspielte. Erstaunlich, was so kleine, unbedeutende Gesten über einen Menschen verrieten. Trotzdem war Unsicherheit nicht das Einzige, was sich in ihren Augen widerspiegelte. Es war Unsicherheit, vermischt mit einer Spur Zorn. Waren die jüngsten Ereignisse der Grund dafür, dass sie Wut empfand? Natürlich, es nahm uns alle sehr mit, zumindest ging ich davon aus, was mit Araragi passiert war und dass wir nun auf unbestimmte Zeit hier in Jotho festsaßen, aber Rage? Jeder von uns hatte andere Pläne in seinem Leben gehabt, doch schob man die Schuld dafür einem gefährlichen Pokemon zu, das drohte, uns zu zerfleischen? Wohl kaum.
Neben White ließ unser schwarz-haariger Cheren seine Augen hastig umherwandern. Nicht, dass er zitterte oder so, aber man sah ihm die Panik an. Seine eingeschüchterte Körperhaltung ließ keine Fehlschlüsse zu. Er suchte scheinbar nach irgendetwas, das Schutz bot oder wenigstens zur Verteidigung diente. Fehlanzeige. Hinter uns lag lediglich diese feuchte Höhle, in ihr säßen wir in der Falle. Und vor uns erstreckte sich eine weite Wiese, bewachsen mit etwa knie-hohem Gras. Vereinzelt ragten üppige Bäume aus dieser Landschaft hervor.
"Black?" Der Höllenhund wandte seinen Kopf ruckartig in unsere Richtung, als Belle mit mir sprach. Warum um Himmels Willen konnte sie nicht still sein? Sie lehnte sich für meinen Geschmack zu weit aus dem Fenster. Ich könnte es mir nämlich nie verzeihen, wenn ihr etwas zustieß. Immerhin war ich im Augenblick an ihrer Seite, also trug ich die Verantwortung für ihr Leben. Und der Blick des Pokemon war nicht nur gefährlich, er war zusätzlich auch... Welches Wort beschrieb es am besten? Skrupellos? Nein, viel zu milde ausgedrückt. Seine entsetzlich eisigen Augen würden jeden bei einer falschen Bewegung umbringen.
"Was ist denn, Belle?", zischte ich der Blondinen zu, die sich schmerzhaft an mir festkrallte.
"Dieses Hundemon ist böse."
"Was du nicht sagst.", entgegnete ich spöttisch. Wollte sie mich damit auf den Arm nehmen? Die Situation ins Lächerliche ziehen, sodass man dem vermeintlichen Tod grinsend entgegentrat? Eigentlich eine gute Idee, aber ihr Tonfall war zu ernst, als dass sie diese Wirkung hatte erzielen wollen.
"Nein, jetzt hör mich doch mal zu!", drängelte sie lauter werdend. Die Augen des Hundes beobachteten uns misstrauisch. Konnte er alles verstehen, was sie mir sagte? "Ich meine, er ist nicht er selbst..." Was hatte das jetzt wieder zu bedeuten? Klar, auch ich sah sein Verhalten: das Knurren; das Zähnefletschen - und darunter seine kalten Augen, die keine Gnade zuließen. Keiner konnte ihm in Sachen furchteinflößend etwas vormachen, bestenfalls dieser unheimliche Schatten aus Isshu, der... nun ja. Aber sie meinte, Hundemon wäre nicht es selbst. Was sah sie, das mit unerkannt blieb? Moment... wenn das der Fall war (ich war leider nicht in der Lage, dies zu beurteilen), musste sie theoretisch auch meinen Nebel sehen können. Doch darüber würde ich mir später den Kopf zerbrechen. Im Augenblick beanspruchte das schwarze Feuer-Pokemon meine volle Aufmerksamkeit. "Fang es."
Belle's Vorschlag kam zwar überraschend, klang jedoch absolut plausibel. Bevor dieses Pokemon uns in Stücke riss, fing ich es kurzerhand ein. Vielleicht fand ich dann auch die Gründe für die Kaltherzigkeit, die es in sich trug. Wenngleich die Umstände eher seltsam waren, dies war mein erster Pokemon-Kampf. Ich hatte mich schon seit meiner Kindheit mit Elementklassen und Attacken beschäftigt, somit wusste ich, welche Angriffe Mijumaru besaß und was seine Stärken waren. Leider konnte ich diesen Gedankengang nicht rückgängig machen.
Kindheit. Für mich eine verschwendete - nein, verlorene Zeit. Es schmerzte jedes Mal, sich daran zu erinnern, ob zwangsweise oder durch Zufall. Die Bilder, die sich mir aufdrängten, bildeten den einsaugenden Rand eines schwarzen Lochs, wie im All. Geriet man erst einmal in seine Fänge, war es unmöglich, zu entkommen. Man wurde erdrückt von Massen an Energie, bis man eine solch unglaubliche Dichte besaß, dass man nicht mehr richtig zu existieren schien. Diese Energien waren in meinem Fall Einsamkeit, Ignoranz, Verlorenheit, Intoleranz und Gleichgültigkeit, wobei im Prinzip nicht sonderlich große Unterschiede zwischen diesen Werten bestanden. Sie verkörperten ein und dasselbe Gefühl, lediglich unter verschiedenen Synonymen: innere Leere. Egal, wie man es drehte, über kurz oder lang lief es darauf hinaus. Einsamkeit und ihre Abwandlungen.
Aber wenn ich nun mein Leben betrachtete, konnte es nicht besser sein. Ich hatte endlich ein eigenes Pokemon, einen Partner, und Leute in meinem Umfeld, die mich mehr oder weniger mochten. Naja, Belle mochte mich ganz sicher, so, wie sie mich gelegentlich anschaute oder sich verhielt. Nur wie stand ich eigentlich zu der Sache? Mochte ich sie um ihrer selbst Willen oder weil sie die erste war, die normal mit mir redete und mich akzeptierte?
Cheren und White konnten mich auch irgendwie leiden, auf eine spezielle Art und Weise. White äußerte ihre Zuneigung anderen Menschen gegenüber wohl nur durch Sticheleien und bei Cheren würde ich es noch herausfinden. Dazu würde ich demnächst genug Zeit haben, wie es aussah. Allein aufgrund diesen und der Tatsache, dass ich ohne Vorwarnung abgehauen war und mich in einer weit entfernten Region aufhielt, würden meine Eltern mir hoffentlich nie verzeihen. Endlich war ich frei von ihnen. Mit Pokemon quer durch das Land zu reisen war das Schönste, was ich mir je hatte vorstellen können. Das hatten sie nie verstanden. Sie bevorzugten ein schlichtes Leben, Alltagstrott und ab und zu ein kleines Amusement in Form einer Gala innerhalb der gehobenen Kreise. Jemand wie ich war da total fehl am Platz, das hatten sie und ihre "Bekanntschaften" mich stets spüren lassen. Ich war nunmal kein feines, wohlerzogenes Mädchen, das sich hübsch machte und versuchte, gehoben zu reden. Meine Eltern hatten lediglich einen in ihren Augen vollkommen verzogenen Sohn. Ich durfte keinen Spaß haben, musste durchweg höfliches Benehmen an den Tag legen, lächeln und durfte nicht widersprechen. Jedoch wurde das mit der Zeit recht eintönig, ebenso wie die Strafen bei Missachtung dieser "Gebote". Taschengeldkürzungen oder Spielverbot waren die einzigen Maßnahmen, die ihnen zu widerspenstigem Verhalten einfielen. Wenn sie je gewusst hätten, dass mich dies beinahe freute. Einige wenige Male handelten sie wie normale Eltern, die ihre Kinder zwar liebten, ihnen trotzdem aber bestimmend ihre Grenzen zeigten. Damit musste ich mich jetzt nicht mehr beschäftigen.
Meine neue Lebensweise barg eine Menge Gefahren, ja, doch gerade diese machten das Leben lebenswert, nicht? Es gab so viel mehr als Arbeit, schlafen und Routine. Diese Art, die Zeit tot zu schlagen, war reine Verschwendung. Man existierte doch nicht, um in einem ewigen Rythmus zu funktionieren, wie ein Uhrwerk. Man lebte, um frei zu sein; um die Welt zu erkunden, neue Freunde zu finden und um ein einzigartiges Abenteuer zu erleben, das jedes Individuum anders empfand. Und was wäre das alles ohne Hindernisse? Eintönig. Man hatte für alles nur je eine Chance. Hier kam meine einmalige Gelegenheit, meine Zukunft in die Hand zu nehmen.
"Los, Mijumaru! Tackle!", rief ich und warf den Pokeball meines Partners in die Luft. Das blau-weiße, otterartige Pokemon erschien, begleitet von einem strahlenden Licht. Unverzüglich stürzte es sich voller Tatendrang auf seinen Gegner. Es traf Hundemon frontal und dieses wurde durch die Wucht einige Meter zurückgeschleudert. Ich wusste, es war weder für mich noch für meinen Partner hilfreich, nervös zu werden, dennoch klopfte mein Herz bis zum Anschlag, ich hörte das Blut in meinen Ohren rauschen. "Cheren, White, schnell! Lauft weg!"
"Oh, nein!", widersprach White üblicherweise. "Ich sehe nicht einfach tatenlos zu, ich habe auch meinen Stolz! Außerdem besitze ich ein Pokemon, wie du, und ich - Ah!" Cheren hatte sie unvermittelt am Arm gepackt, er zerrte sie hinter den nächsten Baum. "Cheren! Lass - "
"Halte dich ein einziges Mal zurück.", fuhr er sie an. "Black wird wissen, was er tut." Verblüffend, dass er es tatsächlich schaffte, sich gegen sie durchzusetzen; dass er es überhaupt wagte... Die Braunhaarige öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, klappte ihn jedoch sogleich wieder zu. Das hatte ihr wohl die Sprache verschlagen, was bei ihr äußerst selten vorkam. Der normalerweise schüchterne, in White verknallte Cheren, traute sich, seiner Angebeteten Paroli zu bieten.
Der alte, grüne Baum, hinter dem sie standen, bewahrte die beiden wenigstens vor den gröbsten Querschlägern des Kampfes, zugleich konnten sie das Spektakel von dort aus gut mitverfolgen. Belle hingegen versteckte sich hinter keinem Anderen als mir. Ängstlich lugte sie hin und wieder hinter meinem Rücken hervor. Eigentlich wäre es mir lieber gewesen, sie würde sich zu White und Cheren hinter den Baum stellen, aber dafür musste sie an Hundemon vorbei. Und ich hatte keine Ahnung, wie lange ich seine Aufmerksamkeit auf mich lenken konnte. Doch irgendwie genoss ich ihre Gegenwart schon, selbst in solch einer bizarren Situation.
Unterdessen hatte sich Hundemon von der Tackle-Attacke erholt und startete einen Gegenangriff. Jetzt umgab es sich sichtbar mit einer violetten Strahlung, ehe es sich mit weit aufgerissenem Maul auf Mijumaru stürzte. So ein schnelles Pokemon hatte ich noch nie gesehen, meinem kleinen Partner gelang es nur in letzter Sekunde, auszuweichen. Diese Art von Attacke war vollkommen neu für mich und ich hatte in der Sicht schon gewisse Erfahrungen. Beherrschten die Wesen in Jotho andere Angriffe? Sehr unwahrscheinlich.
"Schnell, ausweichen und Aquaknarre!", befahl ich. Je länger es Mijumaru gelang, seinem Gegner geschickt zu entwischen, desto zuversichtlicher wurde ich. Nicht leichtsinnig, auf keinen Fall, aber mutiger. Doch mir war auch bewusst, dass jede Sekunde, die verstrich, das Risiko erhöhte, einen Fehler zu machen. Ich musste es so schnell wie möglich fangen. Mein Pokemon entkam Hundemon mittels flinker Fußarbeit und als sich die passende Gelegenheit bot, schoss es einen gewaltigen Schwall kalten Wassers auf seinen Gegner. Das Feuer-Pokemon scheute zurück, es röchelte tüchtig. Mein Part. Es kam mir beinahe selbstverständlich vor, eine leere rot-weiße Kapsel auf den schwarzen Hund zu werfen. Wahrscheinlich, weil ich es früher so oft mit unbeweglichen Zielen und kleinen Bällen geübt hatte.
Der Pokeball öffnete sich, als er Hundemon berührte, bereit, es in sich verschwinden zu lassen. Doch dann passierte etwas mir Unbegreifliches. Anstatt sein Ziel in einen roten Energiestrahl zu verwandeln, schloss der Ball sich wieder und fiel zu Boden. Helle Funken sprühten, es glich einer Miniatur-Explosion - das sollte es gewesen sein. Über den gesamten Ball zog sich ein einziger, tiefer Riss. Hundemon nutzte diese unerwartete Wendung schamlos aus. Es rappelte sich auf und floh. Zurück in die Wildnis. Ich blickte ihm nach, wie es über die grasige Wiese stürmte, die sich jenseits der Höhle und der angrenzenden, steilen Felswand befand. Der Wind wiegte das lange Gras in dieselbe Richtung, die das Hunde-Pokemon einschlug. Leichtes Blätterrascheln unterstützte meine schiere Fassungslosigkeit. Üblicherweise gehörte ein Pokemon bereits jemandem, wenn der Fangversuch fehlschlug, aber das konnte nicht sein. So, wie sich dieses Hundemon verhalten hatte, war es eindeutig wild. Wieso hatte ich es nicht fangen können?
(Cheren)
Wenn ich sagen würde, Black sei mutig, besäße das eine völlig andere Größenordnung, als wenn ich das von mir behauptete. Von mir hatte man es bis jetzt nie wirklich abverlangt. Naja, man hatte es vielleicht schon erwartet, aber bevor sich daraus eine langwierige Angelegenheit entwickelte, hatte man mir diese Entscheidungen lieber abgenommen, mir somit keine Wahl gelassen. Mut bedeutete nicht nur, Heldentaten zu vollbringen, es schloss auch ein, vollends hinter seiner Meinung und seinen Handlungen zu stehen und über seinen eigenen Schatten zu springen.
Ein ganz simples Beispiel war der Spielplatz. Junge Geschöpfe tobten mit ihren Eltern und deren Pokemon. Im Sand, an der Rutsche, auf der Schaukel, auf dem Klettergerüst. Letzteres hatte es mir angetan, schon in früheren Zeiten. Aber ich hob es mir bei jedem Aufenthalt bis zum Schluss auf, damit ich etwas hatte, auf das ich mich freuen konnte. Mein größerer Bruder hielt sich für zu alt und zu erwachsen, er blieb lieber zu Hause und lernte. Das hatte er sehr oft in seiner Freizeit getan. Freunde waren die erste Zeit nur sehr selten zu Besuch gekommen. Als er schließlich an die Universität gewechselt hatte, gingen bei ihm ständig Leute ein und aus. Auch Mädchen. Schlagartig war er richtig beliebt geworden. Nahm man dazu sein relativ gutes Aussehen und seine Intelligenz, hatte man den perfekten Sohn.
Ich hingegen hatte mich in jüngeren Jahren eher mit dem Spielplatz beschäftigt. Zwar hatte ich ebenfalls gelernt, nur nicht ganz so viel. Zunächst jedenfalls. Ein Fehler? Ich erinnerte mich noch genau, wie es dort aussah, in diesem Kinderparadies. So etwas vergaß man nicht. Der Platz an sich lag in einem eher abgelegenen Teil von Konokota Town, trotzdem war es dort recht belebt. Wenn man die von hohen Bäumen und Büschen umringte Lichtung betrat, auf der sich diese Gerätschaften befanden, erblickte man zuerst ein buntes Drehkarussell. Viel zu schnell, nicht meine Welt. Es stand genau in der Mitte des idyllischen Sandareals. Rechts daneben fand man einige Schaukeln, mehrere Einzelmodelle und eine große Halbkugel für etwa vier bis fünf Personen. Doch da ich recht schüchtern war, gefielen mir die Einzelschaukeln natürlich besser. Auf der linken Seite der Drehkonstruktion stand ein großes Klettergerüst aus Holz, mit Überdachung, mehreren Etagen und einer silbernen Rutsche. Darunter war eine kleine Sitzgelegenheit eingearbeitet. Nicht unbedingt gemütlich, aber es ging. Dort hatte ich des Öfteren leere, teilweise zerbrochene Glasflaschen gefunden, einmal sogar eine längliche Spur weißen Pulvers. Kaum hatte sie das entdeckt, zerrte mich meine Mutter weg davon.
"Das ist nichts für Kinder wie dich.", schimpfte sie mit mir. Wahrscheinlich gehörte dies zu den Dingen, die meinem Bruder vorbehalten waren. Zumindest glaubte ich das. Ihm wurde ja schließlich alles Aufregende gewidmet. Diese Holzbaute verfügte schon über seine Reize, doch das, worauf ich mich stets am meisten freute, lag noch ein Stück weiter entfernt. Es war ein rotes Gebilde aus starken, roten Seilen. Wenn man nicht aufpasste, scheuerten sie an Armen und Händen. Oder, sofern man kurze Hosen trug, an den Beinen. Ich wusste nicht, warum gerade diese Vergnügungsmöglichkeit es mir so angetan hatte, es war einfach so. Eifrig kletterte ich zwischen den Stricken her, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt. In diesem Moment war mir alles Andere egal. Ich hangelte mich immer weiter, bis ich schließlich an der Spitze der Seilkonstruktion ankam. Von meiner jetzigen Position aus konnte ich über das gesamte Dorf blicken. Rote oder schwarze Dachziegel und dazwischen üppige Baumwipfel. In der anderen Richtung konnte ich den Wald erkennen, da der Spielplatz diesem sehr nahe war. Es vermischten sich Laub- mit immer grünen Nadelbäumen. Ein herrlicher Anblick. Über mir schwebten einige Vogel-Pokemon, deren Namen ich noch nicht kannte, grazil durch die klare, sonnenerwärmte Luft. Der azur-blaue HImmel versprach unendliche Weiten. Ich fühlte mich frei. Frei von allen Problemen, frei von dieser Welt. Nicht, dass ich das je wirklich gewollt hatte, aber für diesen Augenblick gab es niemanden außer mir.
Doch so schön dieses Gefühl auch war, die Zeit ließ sich nicht aufhalten. Sie schien an diesem Tag gewollt schneller zu verstreichen, nur, um mich auf den Boden der Tatsachen zurück zu holen. Zunächst erstmal auf irdischen Boden. Denn diesen Aspekt hatte ich in meinem Elan nicht bedacht, nämlich, wie ich von diesem Gerüst wieder herunterkam. Und hier kam der Mut ins Spiel. Eigentlich hätte ich nichts weiter tun müssen, als mir ein Herz zu fassen und in meine Fähigkeiten zu vertrauen. Sonst hätte ich es schließlich nicht hier herauf geschafft. Ob es daran lag, dass ich noch sehr jung war oder unerfahren, ich konnte nicht. Es war schlichtweg zu hoch. Wenngleich unten weicher Sand meinen Sturz im Falle eines Falles abfangen würde, ich besaß nicht den Mut, mich dieser Herausforderung zu stellen.
Nun war es von Vorteil, eine fürsorgliche Mutter zu haben. Jemanden, der einem in jungen Jahren so oft half wie nur irgendwie möglich. Ihr hübsches Gesicht betrachtete mich von dort unten eine Weile, bis es realisierte, was mich festhielt. Ohne zu zögern begann ihr zierlicher Körper, die Seile zu erklimmen. Diese Hände, so gepflegt wie immer, umschlossen Strick für Strick, während ihre langen, schwarzen Haare in der leichten Nachmittagsbrise wehten. Die warme Sonne näherte sich bereits dem Horizont, sie tauchte den Spielplatz in ein dämmriges Licht. Es verlieh der ganzen Situation eine gewisse Ruhe, in der sie verging. Alles schien wie in Zeitlupe abzulaufen. Meine Mutter, Sandra ihr Name, näherte sich mir mit jeder Sekunde etwas mehr, bis sie nichtmal mehr einen Meter von mir entfernt auf einem der dicken Seile stand. Plötzlich war alles irrelevant. Sogar die enorme Höhe, in der ich mich aufhielt. Ich hatte doch sie. Sie, die mich seit meiner Geburt umsorgte; sie, der ich blind vertraute.
Meine Mutter war es seinerzeit gewesen, die mir von diesem Gerüst geholfen hatte. Und nicht nur das. Ihre liebevolle Stimme hatte Entscheidungen für mich getroffen, über dessen Wichtigkeit ich mir damals nicht annäherungsweise im Klaren gewesen war. Ich hatte mir die durchaus weitreichenden Folgen schlichtweg nicht vorstellen können. Aber für mich war die Präsenz dieser Frau normal gewesen, in allen Lebenslagen. Heute musste ich die Ergebnisse dieser Entscheidungen und ihre Konsequenzen tragen. Auch in den darauffolgenden Jahren hatte es sich nicht verbessert. Mut war ein Begriff, der mich am Wenigsten beschrieb. Ich hätte es ändern können. Im eben vergangenen Moment hätte ich mich beweisen können, zeigen, dass ich kein völlig eingeschüchterter Mensch war, für den mich alle hielten. White unter anderem. Chance verpasst. Ich hatte nicht todesmutig mit meinem Pokemon gegen Hundemon gekämpft, White beschützt, sie alle. Ich hatte nicht (wenn auch vergeblich) versucht, es zu fangen. Nicht ich, sondern Black. Seine Besorgnis um uns alle war unübersehbar gewesen, wenngleich er uns gar nicht richtig kannte. Also, was musste ich zugeben? Wäre er nicht gewesen, wer weiß, was diesem Pokemon in den Sinn gekommen wäre. Wenn ich an seinen Blick dachte, lief mir ein eiskalter Schauer über den Rücken. Genau wie bei der Erinnerung an die Professorin. Das viele Blut an ihr und auf dem Boden; ihre gnädigen Augen, die bis zum Schluss gestrahlt hatten....
Ich musste mehrmals schlucken, um Tränen zu unterdrücken. Jungs weinten nicht sehr oft, lediglich in sehr seltenen Fällen, und diesen Eindruck wollte ich auch noch eine Zeit lang aufrecht erhalten. Doch im Augenblick fiel mir dies erheblich schwerer als sonst. Nachdem diese Schocksituation ihre betäubende Wirkung wieder mit sich nahm, fiel alles in sich zusammen. Der Schmerz kehrte zurück und das Gefühl, verloren zu haben. Keine bestimmte Sache, sondern einfach die Niederlage davon zu tragen. Sämtliche Ereignisse rissen sich um den vorrangigen Platz in meinem Kopf. Ablenkung schien unmöglich. Nicht einmal die Vorstellung von White's wunderschönem Lächeln, mir gewidmet, schaffte es, diese schrecklichen Bilder zu verbannen. Das widerum brachte die Schande mit sich, die mich wohl mein ganzes Leben verfolgen würde, zumindest in meinen Gedanken. Die Schande, sie nicht beschützt haben zu können. Natürlich waren wir schon seit Ewigkeiten befreundet, aber...
"Großartig, wirklich!", hörte ich sie spotten. Unterdessen hatte sie die sichere Zone im Schatten des Baumes verlassen und schritt auf Belle und Black zu. Er hatte es der Blondinen wohl angetan und sie ihm. Besser so. Dann blieb White für mich. "Ich habe noch nie jemanden gesehen, der über solch ein außergewöhnliches Fangtalent verfügt wie du." Dazu klatschte sie ein paar Mal lautstark in die Hände. Bis auf das war seltsamerweise gar nichts zu hören. Kein Pokemon pfiff, brüllte, kreischte oder gab in irgendeiner Weise einen Laut von sich. Ab und zu raschelten einige Blätter, sonst herrschte Totenstille. Black ignorierte sie gekonnt. Oder war er einfach in Gedanken vertieft? Auf jeden Fall starrte er unentwegt in die Richtung, die Hundemon eingeschlagen hatte. Es beschäftigte ihn, ebenso sehr wie mich. Seine Aktion war fehlgeschlagen - warum? Mein Verstand konnte sich keinen Reim darauf machen. Black hatte die theoretische Prüfung jedenfalls bestanden, die Praxis hatte es bewiesen. Die einzelnen Schritte, wie man vorging, ich hätte es nicht besser hinbekommen. Trotzdem hatte es nicht funktioniert und sogar der Ball wurde dabei zerstört.
"Hey, es war sein erster Versuch!", verteidigte Belle ihn. Sie hatte anscheinend ihre Fassung zurückerlangt. "Außerdem lag es am Pokeball und nicht an ihm!"
"Was du nicht sagst!", erwiderte White. "Vielleicht hätte dein netter Freund vorher mehr üben sollen?!"
"Ihr habt ja keine Ahnung." Black sprach, ohne seine Augen von der hochgewachsenen Weide abzuwenden. Seine Stimme klang trocken, ohne jegliche Emotion. Vollkommen Neutral. Er wirkte mehr als nachdenklich, ihm lag noch etwas Anderes auf dem Herzen. Er war vollkommen in sich gekehrt, abwesend, weit entfernt von unserer Existenzebene. "Cheren, in welcher Richtung liegt Neuborkia?"
Ich brauchte eine Weile, bis ich verstand, dass er mit mir redete. Rasch kramte ich in meiner Tasche nach dem PokeNav, den ich letztes Weihnachten geschenkt bekommen hatte. Er beinhaltete auch eine Karte sämtlicher Regionen. Kurze Zeit später erhielt Black seine gewünschte Auskunft.
"Dort entlang." Ich zeigte auf die Weide, über die das Feuer-Pokemon entflohen war. Das Schweigen der Anderen erzeugte einen ungewollt dramatischen Effekt, wie mir auffiel. Bei jedem Film hätte ich zumindest ansatzweise gelacht - nicht jetzt. Denn es war kein billiger Horrorstreifen, in dem wir mitwirkten. Es war bittterer Ernst.
"Dann gehen wir." Mit diesen Worten rückte Black sein Kappi zurecht und marschierte voran. Er achtete gar nicht darauf, ob wir ihm überhaupt folgten, er lief stur weiter. Belle, aus dessen Griff er sich gerade gerissen hatte, eilte ihm nach. Dennoch blieb sie kurz stehen, um den demolierten Pokeball aufzuheben. Hätte ich an ihrer Stelle ebenfalls getan. Wer wusste, was er uns noch verraten konnte. Schnaubend setzte sich White in Bewegung und letztlich auch ich, ganz am Ende der Truppe. Unser nächstes Ziel hieß Neuborkia, eine fremde Stadt in einer mir unbekannten Region. White's langes, braunes Haar schwenkte hin und her, als sie fast im Laufschritt das hohe Gras durchquerte, welches ihre graziösen Beine etwa zur Hälfte verdeckte. Mittlerweile ging ich wieder neben ihr, deshalb war meine Hand der ihren ganz nah. Doch leider musste ich mich beherrschen. In meiner Vorstellung, da hätte ich es jederzeit gewagt, aber die Wirklichkeit sah anders aus. Eine kleine Bewegung und ich würde sie halten, diese sanfte und zugleich kräftige Hand. Im Augenblick eine kleine Bewegung zuviel. So waren wir nun auf dem Weg zu Professor Lind. Keine sonderlich lange Strecke, dennoch psychisch zumindest für mich eine kleine Zerreißprobe. Denn zwischen mir und White war ein beklemmendes Schweigen entstanden, das ich mich nicht traute zu brechen und sie wollte es scheinbar nicht. Und was Belle betraf... Die haftete an ihrem Black. Daran würde ich mich wohl in der nächsten Zeit gewöhnen müssen und an die Tatsache, dass er nun ein Teil von uns war.