Leben und lernen - Die Celebi-High

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  • Part 5: Helden sind einsam


    Die Hitze gärte wie ein tagealtes Geschwür in dem kleinen Jungen-Zweibettzimmer. Selbst bei weit geöffnetem Fenster hatte Eagle eine seiner bislang schlaflosesten Nächte verbracht. Seinen Pyjama längst im Laufe der vergangenen Nacht wütend in die Ecke gefeuert, klebte nun das weiße Bettlaken an seinem nacktem Oberkörper wie eine zuckerversessene Fliege auf einem frisch beschmierten Honigbrot haftete. Irgendwann dann – die frühe Morgensonne reckte sich gerade über die Wipfel der jüngsten Bäume des östlich gelegenen Waldes – rappelte sich Eagle, der nach stundenlangem Kampf gegen die Schlaflosigkeit endlich seine Niederlage mehr oder weniger akzeptiert hatte, aus seinem völlig verwüsteten und vom eigenen Schweiß benetzten Bett.
    Dem Anschein nach war es seinem Zimmerkameraden Ray – im krassen Gegensatz zu ihm selbst – nicht sonderlich schwer gefallen, Ruhe zu finden. Fast Kopf an Kopf und bis zum Hals zugedeckt genoss er gemeinsam mit seinem Pokémon die wohl süßesten Träume, fast so als ob keiner von beiden auch nur das kleinste Wässerchen trügen konnte. So mochte er Ray und seinen wandelnden Flohzirkus am liebsten: schlafend. Und doch verzog Eagle bei diesem Anblick mürrisch sein Gesicht und wandte sich schnell wieder von diesem Bild ab. Die zwei konnten ihm auch gut und gerne gestohlen bleiben ...


    Frisch geduscht, befreit von dem noch so hartnäckigsten Quäntchen Schweiß und, da Wochenende war, endlich von der Schuluniform erlöst, die ihm wie Ketten der Sklaverei über die Woche auferlegt worden waren, nun wieder in seinen Wohlfühlklamotten, begegnete ihm kaum eine Menschenseele auf dem Weg zur Schule – und so auch in der Schulcafeteria, die fast gänzlich ausgestorben war. Nur wenige bettflüchtige Schüler, wie er selbst einer war, teilten ihm beim Frühstück Gesellschaft; wenn man es so nennen durfte, schließlich genoss der stolze Raikouianer es, sich von dem Rest der Welt abzusondern, weswegen er – wie immer – seinen angemessenen Stammplatz, fern von den belebten Haustischen, besetzte. Eagle hatte es noch nie wirklich verstehen können, was nur in den Köpfen seiner Mitmenschen vorgehen musste. Seiner Auffassung nach mussten sie irgendwie bekloppt sein, dem Lärm und Trubel der Ruhe und Einsamkeit vorzuziehen, anders konnte es sich zumindest nicht vorstellen. Aber was scherte es ihn überhaupt? Sollten sie doch tun, was auch immer sie in ihrem Irrglauben für richtig hielten – solange sie ihn dabei seinen Frieden ließen ...


    Als sich den wenigen seiner versprengten Schulkameraden immer weitere gähnende und lärmende Neuankömmlinge anschlossen und ohnehin der Inhalts seines Tabletts restlos getilgt war, entschied sich Eagle kurzerhand dazu, das Feld zu räumen und wieder in idyllischere Gefilden einzutauchen. Das Wochenende war, wenn man von der Nachsitzrunde mit dem Quälgeist Ray absah, viel zu schön, als dass er es länger als irgendwie nötig mit anderen Menschen verbringen wollte.
    Ungeachtet der Tatsache, dass Ray seine Abwesenheit offenbar überhaupt nicht realisiert hatte und immer noch seelenruhig auf sein Kopfkissen sabberte, schnappte sich Eagle nach seiner Heimkehr seine Schultasche und verschwand, so schnell wie er gekommen war, wieder aus dem Zimmer, das sich seiner Auffassung nach wohl in den nächsten Stunden in einen Hochofen verwandeln würde. Etwas passendes musste gefunden werden ...


    Finch war eine einzige Plage. Nicht nur, dass seine Auffassung von einem vernünftigen Unterricht und seine Lehrpraktiken einem gigantischen Witz gleich kamen und er die Dreistigkeit besaß, ihm Nachsitzen aufzubrummen, auch war er der einzige Lehrer, der ihnen für ihr erstes Wochenende Stoff zum Büffeln auf dem Weg gegeben hatte. Eagle stöhnte laut auf, während er seine Angaben zur Kalkulation des effektiven Schadens zum zweiten Mal in Folge korrigierte. Staralili betrachtete mitfühlend seinen Trainer von dem Ast eines Baumes aus, in dessen Schatten sein Trainer sich niedergelassen hatte und leise über seinen Pauker fluchte. Zumindest ein flüchtiges Lächeln huschte über das Gesicht des Menschen, als das Vogel-Pokémon seinem geplagten Freund und Trainer ihre erlegte Beute präsentierte – ein sich in ihrem Schnabel in alle Richtungen windender Wurm. Eagle tätschelte Staralili liebevoll den Kopf und betrachtete – halb angewidert, halb stolz – wie seine gefiederte Partnerin ihre Mahlzeit verschlang.
    „Ich glaube, du hast Recht“, sagte Eagle und klappte seine Unterlagen zu, sein Gesicht zu einem zufriedenen Lächeln gekräuselt. „Zeit, sich eine kleine Auszeit zu gönnen – und ein paar Flaschen aufzureiben.“


    „Du hast es echt drauf, muss man dir einfach lassen. Toller Kampf!“ Der geschlagene Suicune Schüler aus dem ersten Jahrgang, Marco Haywood, rief sein besiegtes Pokémon in seinen Pokéball zurück. Er schritt seinem siegreichen Kontrahenten entgegen und streckte diesem seine Hand entgegen. Eagle erwiderte, wenn auch etwas zögernd, diese freundliche Geste seines Gegners. Es war zu leicht, keine wirkliche Herausforderung; genauso wie die beiden anderen Kämpfe, die er bereits am Vormittag ausgetragen hatte.
    „Ja – toller Kampf“, log er. „Mach es mir nächstes Mal aber nicht ganz so leicht.“ Er wandte seinem Gegenüber den Rücken zu, der aufgrund seines Kommentars nun leicht beleidigt aussah, und schritt von dannen.
    Er brauchte starke Gegner. Gegner, die seiner würdig waren. Zukünftig wollte er sich seine Herausforderer ein wenig gezielter aussuchen und nicht jeden x-beliebigen die Ehre zuteil werden lassen, sich mit ihm zu messen. Schließlich war er ja nicht irgendjemand.
    In der Ferne beobachtete er, wie sich zwei seiner Hausbewohnerinnen einen hitzigen Pokémon-Kampf lieferten, wobei eine von beiden sich deutlich in der Defensive hielt und ihrem Pokémon am laufenden Band Ausweichmanöver zurief. Selbst aus der Distanz konnte Eagle deutlich den Zorn der anderen Schülerin ausmachen, der ihren Kopf wie einen roten Luftballon aufblies. Eagle schüttelte bei diesem Anblick gelangweilt seinen Kopf.
    „Keine würdigen Gegner“, sagte er zu sich selbst.“
    Nur ein Schüler auf dem gesamten Campus verdiente seiner Auffassung nach das Recht, gegen ihn anzutreten, oder besser gesagt, gegen ihn zu verlieren. Doch das Schicksal hielt andere Pläne für ihn bereit. Statt sich nämlich mit diesem zu messen, sollte er nun mit seinem Rivalen das gleiche Schicksal teilen – nämlich beim gemeinsamen Nachsitzen.


    * * *


    Ihr erstes freies Wochenende im August brach nicht weniger schwülwarm an, als es bereits am Vortag der Fall gewesen war. Bereits jetzt, in den frühen Morgenstunden, war es bei geschlossenem Fenster in den weichen Federn kaum noch auszuhalten. Mit dem allmählichen Regen ihrer Zimmerkameradinnen und den Sonnenstrahlen, die sich verbissen ihren Weg durch die kleinen Schlitze in dem zugezogenen Rollladen suchten, erwachten auch Sonjas Lebensgeister. Während sich die Mädchen in ihrem Zimmer einen guten Morgen wünschten und eines nach dem anderen das Zimmer Richtung Bad verließ, starrte Sonja schlafestrunken in das Unterholz von Linseys Oberbett. Anfangs wusste sie das stechende Gefühl in ihrer Magengegend nicht richtig zu deuten. Warum war sie nur solch schlechter Laune, obwohl doch gerade erst das Wochenende angefangen hatte und sie bereits sämtliche Hausaufgaben für die kommende Woche am Vortag erledigt hatte? Schneller als ihr lieb war rief sich dann aber ihr Verstand wieder das gestrige Gespräch mit Linsey und somit dem bevorstehenden Pokémon-Kampf in Erinnerung, woraufhin sich ihre Laune zunehmend verschlechterte und ihre Magenprobleme nur noch schlimmer wurden.


    Durch ihre Klassenkameradin Linsey wurde die Situation für Sonja nicht unbedingt zum Positiven gewendet. Linseys übersensible, fast pokémongleichen Sinne schienen Sonjas inneren Zwist gespürt zu haben, weswegen sie Sonja während des gesamten Morgens auf Schritt und Tritt begleitete. Die Mensa, die Schulbibliothek, ja selbst die Toilette – Linsey war wie ein zweiter Schatten, der ihr jegliche Möglichkeit nahm, sich doch noch irgendwie aus der Affäre zu ziehen und sich klammheimlich vor dem, was ihr an diesem Nachmittag bevorstand, zu verstecken. So sehr sie sich auch bemühte, ihren wachsamen Augen zu entkommen – die Nervensäge war ihr immer einen Schritt voraus und so gab sie resigniert ihre zum Scheitern verurteilten Fluchtmanöver auf. Zu allem Überfluss suchte Sonja vergeblich Ray, ihren Mitleidensgenossen. Kein Ray, kein Sheinux. Nicht beim Frühstück und auch nicht beim Mittagessen.


    Der Zeitpunkt der Entscheidung rückte unterdessen näher und näher. 13:00 Uhr, 14:00 Uhr, ... Der Sand der Zeit entglitt regelrecht dem Griff ihrer Finger und rann unermüdlich zwischen deren Spitzen hindurch. Ehe es sich Sonja versah, stand nur noch eine Stunde zwischen ihr und dem Aufeinandertreffen mit den Enteis. Zunehmend schwieriger fiel es ihr nun, sich auf die umstehenden Dinge zu konzentrieren.
    „Jetzt bleib doch mal bei der Sache! Sogar mein kleiner Bruder könnte das besser machen – und der ist fünf“, donnerte Linsey.
    „Tut mir Leid ...“
    Linsey hatte den glorreichen Einfall, vor der großen Auseinandersetzung noch einige Trainingseinheiten mit Sonja abzuhalten. Statt aber das Selbstvertrauen ihrer Kameradin zu stärken, lagen stattdessen die Nerven der beiden Mädchen blank, wobei nicht deutlich zu erkennen war, wer kurz vor dem endgültigen Nervenzusammenbruch stand. Sonja, die ihrem Pokémon bislang nur Ausweichkommandos zugerufen hatte, aber keinen einzigen Angriffsbefehl, oder Linsey, deren Kopf vom vielen Rumbrüllen bereits tomatenroter Natur war und deren Zornesfalte auf ihrer Stirn alarmierend pulsierte.
    Das Kampffeld stand mittlerweile nahezu völlig unter Wasser. Evoli war es inzwischen schier unmöglich geworden, einen weiteren Schritt zu tätigen, ohne dass sie in eine von Marill verursachten Wasserlachen landete. Die Spuren des Kampfes hatten Sonjas Pokémon nach einem besonders waghalsigen Ausweichmanöver deutlich gezeichnet. Ihr buschiges, kastanienbraunes Fell war völlig schlammbeschmiert, wie ein kleines Schweinchen, das sich vor wenigen Augenblicken genüsslich in einer Drecklagune gewälzt hatte. Nur wirkte Evoli bei weitem nicht so glücklich und machte einen sehr leidigen Eindruck.
    „Können wir nicht endlich Schluss machen – bitte?“, flehte Sonja eindringlich. Sie hätte sich lieber freiwillig dem Suff ergeben, als noch eine weitere Trainingseinheit mit Linsey durchstehen zu müssen.
    Linseys Blick bohrte sich auf vernichtende Weise in Sonjas Brust, dass es selbst eine Scharr Taubsi auf gut und gern fünfzig Meter Entfernung in die Flucht geschlagen hätte. Sonja war klar, was sie erwarten würde, wenn sie den bevorstehenden Kampf ihretwegen verlieren würden, was nur zur Folge hatte, dass der letzte noch nicht erloschene Funken Selbstvertrauen gefährlich zu Erlischen drohte.


    * * *


    Ein jäher Blitz erschütterte den Frieden des Jungen-Quartiers und ließ Ray ruckartig aus seinem Schlaf aufschrecken. Der Geruch von etwas Verschmortem drang dem Raikou-Schüler in die Nase, als dieser erst seinen Blick auf seinen unschuldig ihn anschauenden Freund Sheinux und dann auf ein auf dem Boden liegendes qualmendes und langsam zu Asche zerfallenes Etwas richtete, was vor wenigen Momenten wohl noch eine dicke Fliege gewesen sein musste. Obwohl das Fenster sperrangelweit offen stand, verirrte sich kaum eine müde Brise in das kleine Zimmer, das sich zunehmend in einen Backofen verwandelte. Das Bett von Rays Zimmerkameraden war bereits verwaist; wie lange, konnte er selbst nur mutmaßen.
    Ray rieb sich den restlichen Schlaf aus den Augen und schwang sich – nicht aber ohne einmal laut aufzugähnen – aus dem Bett. Wie er es überhaupt in diesem Brutkasten hatte aushalten können, war ihm ein Rätsel. Sein ganzer Körper triefte vor Schweiß und eine beißende Duftnote, die sicherlich selbst einem Sleimok die Tränen in die Augen hätte treiben können, hing ihm unter den Achseln. Ray schenkte dem Display seines MP3-Players, der mit leuchtender Schrift 10:32 Uhr anzeigte, ein müdes Lächeln und verließ, bepackt mit frischen Klamotten und Sheinux im Schlepptau, den Raum.
    Mit dem kleinen, aber kräftigen Windstoß der zuknallenden Tür verwehten die sich langsam in Staub verwandelnden Überreste von dem, was einst ein lästiges Insekt war, in alle Richtungen.


    Man traf schon die ersten Vorkehrungen, das Mittagessen baldig aufzutischen, als Ray die Mensa betrat. Nur noch traurige Krümel und achtlos liegen gelassene Butter- und Marmeladenpäckchen zeugten davon, wie schwer beladen die unzähligen Körbe, Teller und Schüsseln vor wenigen Stunden noch sein hatten müssen.
    „Den Letzten beißen die Hunde.“ Andy, wie immer von Sarah begleitet, kam Ray entgegen.
    Wie bei vielen anderen seiner Mitschüler auch, denen Ray diesen Morgen begegnet war, trugen sowohl Andy als auch seine Freundin nicht die Farben ihres Hauses, sondern waren mit schlichten kurzen Hosen und T-Shirt bekleidet. „Wo hast du den ganzen Morgen gesteckt?“
    Ray zuckte unschuldig die Schultern. „Geschlafen. Mach ich am Wochenende immer, weißt du?“
    „Na dann.“ Mit Sarah händchenhaltend zog Andy an seinem jüngeren Mitschüler vorbei, wandte sich dann aber noch einmal kurz zu ihm. „Übrigens: Sonja hat dich schon gesucht. Frag mich aber nicht, wo sie gerade steckt. Hat mich nur ganz flüchtig auf dich angesprochen und sich dann verdrückt. Glaub, sie war vor irgendwas auf der Flucht – keine Ahnung.“
    Ray verdrehte die Augen. „Werde sie schon finden, aber erst später. Ich kratz erstmal die Krümel zusammen, die ihr mir dankenswerterweise übrig gelassen habt. Wir sehen uns.“


    Doch der Vormittag wich schon bald dem frühen Mittag und von Rays Freundin fehlte jede Spur. Nirgendwo wollte ihr sonnengelber Haarschopf auftauchen; an keinem Ort, an dem man sein freies Wochenende verbringen würde. Nicht in der Mensa, dem Sportgelände, im kühlen Schatten nächst zum See und auch in ihrem Haus wurde sie nicht gesehen. Im Schulgebäude oder gar in einem Klassenzimmer konnte sie natürlich unter keinen Umständen stecken, schließlich war ja Wochenende.
    Welkes, vergilbtes Gras beugte sich widerstandslos den schweren Füßen Rays. Seine von Planlosigkeit gezeichnete Suche hatte den Raikouianer bereits knapp an den Rande des Schulgeländes geführt. Während ihm die Anstrengung in Form von nassem Schweiß wie ein Rinnsal über die Stirn und Rücken lief und seine Füße von der langen Wanderschaft bereits Blasen warfen, baute sich vor ihm langsam ein rechteckiges, in die Länge gezogenes Gebäude mit braunen Dachziegeln und schneeweißer Fassade auf; wesentlich größer, als sein Schulhaus, übte auf ihn aber eine gar verlockende Anziehung aus. Bereits an seinem ersten Tag auf Celebi-Island hatte es Ray beinahe magisch an diesen Ort, dem Schülertreff, hingezogen, doch war dieser bei seiner Ankunft wie ausgestorben gewesen. Nun aber, fern von Unterricht und Lehrern, versammelten sich Schüler aller Jahrgangsstufen, waren es nun Raikous, Suicunes oder Enteis, in den geweihten Hallen dieser Einrichtung und genossen ihre lernfreie Zeit.


    Niemand wirklich beachtete den Neuankömmling, als Ray durch die Tür in das Innere des geschäftigen und lärmenden Schülertreffs schritt. Die Tür war noch nicht richtig in ihre Angeln gefallen, und doch fühlte sich Ray an diesem Ort bereits richtig heimisch. Hier gab es alles, was ein jedes Schülerherz höher schlagen ließ. Besucher fanden sich bereits auf der Türschwelle in einem in die Länge gezogenen Raum wieder. Eine schwarze Ledercouch und etliche gemütliche knallbunte Sofas säumten den Raum; am äußersten Rand des Zimmers flimmerte ein von der Decke hängender Fernseher das Samstagvormittags-Zeichentrickprogramm auf seiner Mattscheibe wider; noch im selben Zimmer gab es einen kleinen Getränkeausschank in thekenform, der von zwei gelangweilt aussehenden Oberstuflerinnen besetzt war; neben einfachem Mobiliar gab es auch kniehohe Tische, auf denen sich Zeitschriften aller Art – und offenbar auch aller Dekaden – sammelten; von beiden der abgrenzenden Nebenräume drangen die markanten Geräusche von Kugeln, die sich ihren Weg durch das Innere eines Flipperautomaten suchten, oder in eines der vielen Löcher auf einem Billardtisch zusteuerten, oder aber auch am gegnerischen Keeper vorbei in das sich dahinter befindende Tor geschossen wurde; Pfeile wurden auf Dartscheiben geworfen; man plauschte über noch nicht angefangene Hausaufgaben, die hübsche Blondine des Nachbarhauses, die regionalen Pokémon-Meisterschaften und natürlich über alles, was auch nur in irgendeiner Weise erwähnenswert war.


    Hier geh ich nie wieder weg.

  • Part 6: Vom Nachsitzen und lästigen Pflichten


    Laut krachend flog die Tür von Professor Finchs Büro auf und ein schwer atmender Ray Valentine betrat das Innere des Heiligtums seines Mathematiklehrers. Selbiger musterte den Neuankömmling mit hochgezogener Augenbraue.
    „Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist? Ich nehme an, Sie wissen, wie man eine Uhr ließt?“, fragte Professor Finch.
    „Jaah“, sagte Ray mit stechendem Schmerz in seiner Brust. „Hab die Zeit verloren, tut mir Leid.“
    „Offenbar auch Ihre Manieren“, entgegnete Professor Finch kühl. „Gerade wenn Sie zu spät kommen, entschuldigt das keinesfalls, dass sie nicht anklopfen – setzen Sie sich. Sie werden die verlorene Zeit nachholen.“


    Professor Finchs Büro war sehr spartanisch eingerichtet. Wenig Platz zum Leben, dafür umso mehr zum Arbeiten. Der Arbeitsraum des Büros maß etwa den Platz eines Klassenzimmers. Das Fehlen von genügend Bankreihen, um den Schülern dreier Häuser ausreichend Platz zu bieten, verdoppelte allerdings die eigentliche Größe und ließ das Zimmer gigantisch erscheinen. Alles im Raum wirkte unnatürlich rein, sauber und pikobello aufgeräumt. Angefangen von dem mächtigen Schreibtisch, an dem Professor Finch saß und den typischen Lehrergeschäften nachging, bis hin zu dem absolut fusselfreien, roten Perserteppich am anderen Ende des Raumes. Nicht einmal ein Körnchen Staub konnte Ray auf den dicken Wälzern ausmachen, die in den zwei- bis dreistöckigen Regalen thronten. Passend dazu lag ein markantes Duftgemisch aus Druckertinte, frischem Papier und natürlich Langeweile, die dieser Raum regelrecht ausstrahlte, in der Luft. Zumindest aber herrschte dank eines leise summenden Deckenventilators, wie er auch im Schülertreff vorzufinden war, angenehme Kühle im Raum.


    Ray hatte sich unterdessen seinen beiden Leidensgenossen angeschlossen. Einen kannte er natürlich bestens – Eagle. Er tat das, was er seither scheinbar am besten konnte: So zu tun, als sei Ray Luft für ihn. Eine weitere Schülerin, dem Anschein nach aus dem zweiten oder gar dritten Jahrgang, tat es Eagle gleich, wenn wahrscheinlich allerdings nicht aus demselben Grund. Die Gleichförmigkeit ihrer bunten Fingernägel war einfach nur interessanter, als es Ray war. Auf den für die drei Straftäter bereitgestellten Schulbänken gab es absolut nichts, womit man sich beschäftigen konnte. Ray blieb also nichts weiter übrig, als zu ...
    „Warten ...“, fluchte er leise, verstummte aber gleich wieder, als er Finchs Aufmerksamkeit auf sich ruhen spürte.
    Wie lange sollte er warten? Wie lange musste er überhaupt nachsitzen? Konnte er es vielleicht sogar schon jetzt riskieren, sein Ablenkungsmanöver zu zünden, um genügend Unruhe zu stiften, dass er fliehen konnte? Nein, eine Stimme tief in seinem Inneren warnte ihn davor. Es war noch nicht soweit. Noch nicht ...



    * * *



    16:52 Uhr, es waren nur noch acht Minuten, die Sonja vor der der gewaltsamen Auseinandersetzung mit den drei Enteis trennten. Sie und ihre anhängliche Begleiterin Linsey warteten bereits seit einigen Minuten auf das Erscheinen ihrer Gegner, aber auch auf ihren Hauskameraden Jake, der ebenfalls nicht mit seiner Anwesenheit glänzte.
    Linsey schritt unterdessen rastlos auf und ab. Ihr Zorn, der sich bei ihrer kleinen Trainingseinheit aufgebaut hatte, zeichnete noch immer ihr dichtes Haar, doch wirkte sie wesentlich entspannter, als noch vor etwa einer halben Stunde. Sonja hingegen machte auf den ersten Blick den Eindruck, als sei sie die Ruhe selbst. Sitzend und mit herangezogenen Knien gegen den selben Baumstamm gelehnt, in dessen Schatten sie noch gestern unbeschwert gelacht und über ihre Lehrer hergezogen hatten, warf sie minütlich einen Blick auf ihre Uhr, verharrte sonst allerdings regungslos. In ihrem Inneren aber tobte ein bitterer Zwist. Zum ersten Mal hoffte sie insgeheim, dass Ray nicht kam. Doch nicht nur er, auch Jake, nicht zu vergessen Rico, Billy, und Nicholas – sie alle. Wenn die fünf doch alle nur nicht kämen, könnte sie einfach wieder gehen, ganz als ob die gestrigen Vorkommnisse niemals geschehen wären.
    Wenn doch nur ...
    Ihr Wunsch aber blieb unerfüllt. Mit Linseys unüberhörbarem Schnauben und einem zänkigem Kichern wurde Sonja ohne einen Blick zu riskieren gewiss, dass nun die Farbe Rot hier dominierte. Das Herz sackte der Schülerin entmutigt zu Boden.
    Ray, wo bleibst du?



    * * *



    Eagle riskierte einen flüchtigen Blick auf seine Uhr. Er hatte jetzt schon fast zwei Stunden seines Lebens hier verschwendet und im Gegensatz zu Ray war er zumindest pünktlich gewesen. Wann durfte er endlich gehen? Die Zeit drängte. Es waren nur noch wenige Minuten, bis die Schlacht um die Ehre seines Hauses stattfinden sollte. Eine Schlacht, die sicherlich in einer schmachvollen Niederlage für die Farbe Gelb enden würde, sollte er nicht rechtzeitig eintreffen. Die Knie des Raikouianers wippten gereizt auf und ab.
    Wie lange denn noch ...
    Konnte er es wagen, Finch einfach zu fragen, ob er gehen durfte? Nein, diese Genugtuung wollte er ihm nicht geben. Ohnehin wusste er auf diese Frage längst die Antwort. Sie würde wohl nur eine Verlängerung seiner ohnehin ungerechten Strafe mit sich ziehen.
    Eagles Blick huschte flüchtig zu seinem Banknachbarn hinüber. Warum grinste er nur so zufrieden? Reichte es denn nicht, dass nur er allein die Schuld für diese Ungerechtigkeit trug? Musste er jetzt auch noch so dämlich grinsen und damit möglicherweise den Zorn Finchs auf sich lenken? Wenn Eagle Finch richtig einschätzte, dann würden ohnehin alle Anwesenden die Dreistigkeit für Rays Zuspätkommen bitter zu spüren bekommen.
    Eagles Kiefer malmten. Sollte dies etwa eine Geduldsprobe sein? Und warum zur Hölle grinste dieser Idiot neben ihm nur die ganze Zeit?
    Ich halts nicht mehr aus ...



    * * *



    „Wo ist denn der Rest von eurem traurigen Haufen? Muss euch ganz schön peinlich sein, die Farbe eures Hauses zu tragen.“ Rico Tariks breites Grinsen hätte gut dem von Rays Konkurrenz machen können, wenn dieser nur da gewesen wäre. Doch stattdessen waren die Raikou-Mädchen unter sich und die Entei-Fraktion dagegen vollzählig. In Linsey bebte ein Vulkan, der trotz Unterzahl den Ofen ihres Kampfeswillens nur noch weiter anheizte. In Sonja aber rumorte nur das Mittagessen, das sich seinen Weg auf unangenehme Weise langsam die Speiseröhre empor bahnte. Bevor Linsey aber zu einer sicherlich gepfefferten Antwort ansetzen konnte, tauchte plötzlich Jake hinter ihr auf. Schweiß stand ihm auf der Stirn und er atmete schwer. Linseys Lippen kräuselten sich zumindest ansatzweise zu einem zufriedenen Lächeln und auch in Sonja entflammte wieder ein Funken der Hoffnung. Hinter Ricos Rücken tuschelten Nicholas und Billy leise.
    „Hab Ray eben zu Finchs Büro gebracht ...“, schnaufte Jake kurz angebunden, seine Hand gegen die Rippen gepresst. „Er hats völlig vergeigt und sein Rendevouz mit Finch völlig verpennt.“
    Linseys Grinsen erstarb und auch der winzige Funke in Sonjas Brust erlosch wieder, so schnell wie er entflammt war.
    „Hat wohl eher das große Flattern bekommen“, lachte Billy. Nicholas dagegen knackste zufrieden mit seinen Fingern.
    „Egal“, sagte Rico. „Ihr seid da, das reicht mir fürs Erste. Granger kriegen wir noch früher oder später. Ihr seid dran, macht euch bereit!“

  • Oaah, ich bin so dumm. SO dumm. Es tut schon fast weh, so dumm bin ich. So unglaublich dumm. Wie dumm ich... Okay, reicht.
    Aber ernsthaft, ich habe ÜBERSEHEN, dass es eine neue Seite gibt. *Kopf -> Tisch*
    Manmanman... Aber jetzt, um 1:13 Uhr bin ich hier und werde mein Kommentar abgeben.
    Ich kann Eagle gut nachvollziehen, dieses „Es-ist-einfach-zu-warm-um-schlafen-zu-können-Problem“ habe ich in letzter Zeit auch immer... Verdammter Sommer. -.-"
    Außerdem scheint er mir immer überzeugter von sich selbst zu sein, was sein Können angeht. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass er bald böse auf die Schnauze fallen wird, obwohl ihm das ja bereits passiert ist. ;)
    Ray scheint mit sich und der Welt ja recht zufrieden zu sein (von Finch mal abgesehen). Trotz des Zeitdrucks ist er am Grinsen - Erste Anzeichen vom Wahnsinn oder wird da etwas geplant? Ich vermute, beides. Bin jedenfalls gespannt, wie's weitergeht. :bear:
    Sonja ist ja schon so ein ziemliches Weichei, ich kann's nicht anders sagen. Aber gut...
    Irgendwie ist Linsey mir sympathisch. So schön arschig. ;D
    Okay, das war's auch schon wieder von meiner Seite - erstmal. Ich entschuldige mich schonmal für dieses unkonstruktive Kommentar, aber... Ich bin so'n bisschen müde. Nächstes Mal wird's wieder besser, versprochen. :geek:
    Bis (hoffentlich) bald,
    Cat_Mew

  • Part 7: Vergebliches Unterfangen


    Nicht einmal der Hauch eines Luftzugs wehte über die Köpfe der Schüler hinweg. So unterschiedlich die sechs Studenten waren, so unterschiedlich waren auch die Gefühlsregungen, die in ihnen regierten. Sonja schluckte schwer. Obgleich um sie herum fast subtropische Verhältnisse herrschten, waren ihre Glieder stocksteif gefroren und ihre Beine wie aus Stein gemeißelt. Wie hatte es nur soweit kommen können? Wie nur, ja, wie war sie nur in diesen Schlamassel geraten? Bislang war sie Streitereien immer erfolgreich aus dem Weg gegangen. Sollte dies etwa der Preis dafür sein, Freunde zu haben? War es das überhaupt wert? Eine schwere Frage und ein noch schwereres Los, das sie nun gezogen hatte.


    Vielleicht war es ein Wink des Schicksals, wie sich aus zwei starken Einheiten drei versprengte Paare bildeten; vielleicht aber auch nur purer Zufall. Sonja fand sich Auge in Auge mit Billy konfrontiert, Jake musste sich mit Rico als seinen Gegner zufrieden geben und Linsey blickte mit tiefer Abscheu Nicholas entgegen. Ein jedes Kampfpärchen hatte zu den anderen beiden Parteien gehörigen Abstand eingenommen, sodass keiner in den Kampf des anderen eingreifen konnte; so zumindest war der Gedanke. Man sah sich einander mehr oder weniger – in Sonjas Fall eher weniger – erwartungsvoll an. Ein Jeder wartete gebannt auf die nächsten Schritte ihres Gegenübers. Die Ruhe vor dem Sturm ...



    * * *



    „Du bist so ein Idiot, weißt du das?“
    „Und weiß du, dass dies das netteste war, was du jemals zu mir gesagt hast?“
    Zwei Raikou-Schüler – einer uniformiert, einer lediglich in zivil – hechteten über den steinigen Kiesweg direkt auf die gigantische Brücke zu, die über den Lumineon-Weiher schlug. Eagle gab sich weniger darüber glücklich, hinsichtlich wie er und sein Klassenkamerad Ray dem Nachsitzen entkommen waren und nun endlich wieder an der schwülwarmen Nachmittagsluft waren. Die Freiheit hatte ihn wieder, doch zu welchem Preis?
    „Wenn das rauskommt ... Wir sind so was von tot.“
    „Wärst du lieber bei Finch geblieben? Kannst ja gerne zurückgehen und wieder gesiebte Luft atmen. Ich halte dich nicht auf“, entgegnete Ray.
    „Ich für meinen Teil bin zumindest nicht zu spät gekommen und habe meine zwei Stunden fast abgesessen!“, fauchte Eagle. „Er hätte mich sicherlich bald gehen lassen, auch ohne, dass du so eine Show abziehst!“
    „Dann darfst du dich jetzt glücklich schätzen: Finchs Nachsitzen dauert nämlich immer exakt 3,14 Stunden – haben zumindest die anderen im Schülertreff gemeint.“
    Eagle spuckte auf den Boden. „Was willst du jetzt von mir hören? Erwarte bloß keinen Dank von mir.“
    Das schweißgeschmückte und von Anstrengung gezeichnete Gesicht Rays verzog sich zu einem zufriedenen Lächeln. „Aber nicht doch.“



    * * *



    Rico war der erste, dem der Geduldsfaden riss und nur Sekunden später standen sich auf der einen Seite Jake mit Samurzel und auf der anderen Seite Rico mit einem hellorangefarbenen, auf zwei Beinen stehenden, echsenartigen Pokémon mit lodernder Schwanzspitze und fiesem Gesichtsausdruck gegenüber. Ihnen schlossen sich daraufhin Linsey mit Marill und ihr gegenüber Nicholas mit einem bronzefarbenen, leicht zerzaust wirkenden, kleinen Raubvogel mit kurzem gekrümmtem Schnabel an. Auch Sonja sah sich inzwischen mit Billys Partner-Pokémon konfrontiert. Regungslos verharrte die Schülerin in großzügiger Distanz zu dem zartgrünen, hundegleichen Pokémon, mit auffallend weit nach hinten gekrümmten Ohren, dreigezackten Hinterteil und äußerst angriffslustiger Miene. Sonjas Blick wurde in Angesicht ihres Gegners glasiger, ihr Puls schneller und der Klos im Hals größer. Um sie herum hatte der Tanz dagegen längst begonnen. Feurige Argumente und rasiermesserscharfe Drohgebärden krachten zwischen Jakes und Ricos Pokémon aufeinander und hüllten ihr Kampffeld in dichten Qualm ein. Unter den Anweisungen ihrer Trainerin, tänzelte Marill derweil links und rechts an dem aus dem Himmelreich hervorschnellenden Schnabel und den scharfen Klauen vorbei und entgegnete die Angriffe ihres gefiederten Widersachers mit kalten Wasserfontänen, die ziellos gen Himmel emporstiegen.
    „Penn hier nicht rum! Was ist los – ich warte.“
    Sonja zuckte erschrocken in sich zusammen. Inmitten des Kampftobens, den überkochenden Gemütern und den mit ohrenbetäubendem Lärm aufeinander krachenden Attacken, hatte Sonja schon fast völlig vergessen, dass sie selbst ebenfalls ein Teil dieses Akts der Gewalt war, in den sie nun, durch Billys Worte, unbarmherzig zurückgezogen wurde. Viel länger konnte sie das Unausweichliche nicht mehr hinauszögern – insgeheim wusste sie das. Rein Ray oder sonst jemand anderes, der ihr aus der Patsche helfen konnte. Sie war allein; einmal wieder ... Es halft nichts ...


    Langsam tasteten sich ihre Hände durch das Wirrwarr von Stiften, kleinen Randnotizzetteln, einer Schere und einer Klebstofftube, die sie in der Fronttasche ihres Rucksacks aufbewahrte. Insgeheim hoffte sie aber, dort nicht mehr als ihre Schulutensilien zu finden; ein Wunschdenken, schließlich hatte sie selbst vor keiner halben Stunde den Pokéball an diesen Ort verfrachtet. Es kam, wie es kommen musste: Ihre Hand schloss sich schließlich doch um die kleine, glatte Kugel, die sie unfreiwillig in den Rang einer Pokémon-Trainerin erkoren hatte. Das unausweichliche Schicksal nahm somit ihren Lauf. Der Pokéball zog eine Schneise durch die Luft, bevor er seinen kleinen, pelzigen Inhalt auf dem Rasen Preis gab und noch im Flug in die Hand seiner Besitzerin zurückeilte. Pokémon und Trainerin sahen sich einander an. Ihre Blicke sprachen Bände. Bände, die jedoch von derselben Geschichte erzählten. Beide sahen in dieser unerfreulichen Begegnung ein lästiges Übel, dem sie nur zu gern den Rücken zugekehrt und niemals wieder ein Wort darüber verloren hätten. Billy präsentierte sich den beiden Damen allerdings als ganz und gar lesefaul und ließ dagegen Taten statt Worte sprechen. Von einem knappen aber unmissverständlichen Befehl seines Trainers angestachelt, spurtete das Pokémon, welches auf den Namen „Frizelbliz“ hörte, los und peilte mit der gesamten Wucht seines heranstürmenden Körpers Evoli an, die stocksteif, fast schon brav, die Ankunft ihres Gegners und somit den nahenden Schmerz abwartete. Dem Zusammenprall entging sie dann aber knapp mit dem gerade noch rechtzeitigen Ausweichbefehl ihrer Trainerin. Vier kastanienbraune Pfoten setzten nach dem rettenden Sprung einige Meter entfernt im sicheren Gras auf. Der Sturm war allerdings längst nicht überstanden und auf jeden Ausweichbefehl folgte, nur Augenblicke später, die nächste vernichtende Attacke.


    Frizelblitz schnaufte bereits schwer und entblößte dabei seine kleinen, spitzen Zähne, denen seine Gegnerin bei dem letzten seiner Angriffsversuche nur haarscharf entkommen war. Sonjas Pokémon rappelte sich derweil auf. Bei ihrem jüngsten Ausweichmanöver hatte sie nach dem Sprung das Gleichgewicht verloren und war nach hinten umgekippt. Auch sie pfiff nach etlichen Fluchten aus dem letzten Loch. Die Ruhe war aber nur von kurzer Dauer und Billy hetzte sein Pokémon abermals gegen Evoli auf, die diesen Attacken weiterhin gekonnt mit schnellen Seitensprüngen parierte. Sonja wusste sich nicht zu helfen. Im Ausweichen war ihre kleine Leidensgenossin offenbar unschlagbar, doch so konnte Evoli auf Dauer nicht weiter machen, geschweige denn, den Kampf für sich gewinnen. Beide Parteien verloren zunehmend an Eleganz ihrer Bewegungen. Frizelbliz büßte immer mehr Geschwindigkeit ein und ließ schlapp die Zunge in der aufgepeitschten Nachmittagsluft hängen, auch Evolis Sprünge waren nur noch ein schwaches Überbleibsel von dem, was sie zu Beginn der Auseinandersetzung präsentiert hatte. Von der Seite hämmerte das erneute Zusammenkrachen zweier unterschiedlicher Meinungen und Interessen in Sonjas Trommelfell, nur dicht von einem leichten Beben der Erde und einem jähen panischen Aufschrei gefolgt. Um zu schauen, wer seinem Schicksal nun in diesem kranken Spiel erlegen war, blieb allerdings keine Zeit: Frizelbliz’ Krallen wetzten erneut über das von den Spuren des Kampfes bereits deutlich gezeichnete Kampffeld und seine spitze Schnauze näherte sich einmal wieder bedrohlich seiner aufmüpfigen Gegnerin.
    „Du bist eine Schande für dein Haus, weißt du das?“ Auch diesem Angriff war Evoli – diesmal durch eine rettende Seitwärtsrolle – entgangen. Billy schien mit seinen Nerven am Ende zu sein. Sein leicht rundes Gesicht war von etlichen Angriffsbefehlen und der Frustration danebengehender Attacken deutlich rot untermalt. Dieser Kampf hatte bereits alles in ihm gefordert und doch war er noch nicht weiter, als zu Beginn dieser Auseinandersetzung.
    Sonjas Herz raste und drohte schon fast, aus ihrer Brust auszubrechen. Sie nutzte diese unerwartete Pause um seit etwa einer geschlagenen Minute endlich wieder Luft zu schnappen. „Wir könnten uns ja auf ein Unentschieden einigen ...“, schlug sie ihrem Kontrahenten mit zittriger Stimme vor.
    „Unentschieden?“ Billy spuckte angewidert auf den Boden. „Ich bin kein Versager.“ Völlig unerwartet warf er einen Blick nach links zu dem Feld, auf dem Linsey und Nicholas ihre Kräfte miteinander maßen; doch waren sie nicht mehr allein, wie Sonja feststellen musste. Das kleine echsenartige Pokémon, welches auf Ricos Befehle hörte, hatte sich in den Kampf zwischen Marill und Nicholas’ Pokémon eingemischt und ließ ein wahres Sperrfeuer aus glühenden Feuerbällen in Marills unmittelbarer Umgebung einschlagen und das spröde Gelb zu Asche werden. Sonja erschauderte bei diesem Anblick. Linsey brüllte aus Leibeskräften und auch Jake, dessen Pokémon wohl dem von Rico unterlegen war, schimpfte laut; all dies unter dem Johlen von Nicholas und Rico, die sich köstlich darüber amüsierten, wie Marill von zwei Seiten zunehmend in Bedrängnis geriet.
    „Was seid ihr nur für ein feiger Haufen?!“, brüllte Sonja. Noch nie zuvor hatte in ihr solch ein Zorn regiert. Sämtliche Haare an Arme und Beinen standen ihr zu Berge; nicht aber vor Angst oder gar Kälte. Wut breitete sich wie ein Lauffeuer durch ihre Adern und Venen aus und bahnte sich in Sonjas Kopf. Die unerschütterliche Schwelle von Gelassenheit und rationalem Handeln, von der sie niemals geglaubt hätte, dass sie von außen zu durchbrechen sei, bröckelte und wurde schließlich gänzlich von Hass übermannt.
    „Wir wollen gewinnen. Für was also Fairplay?“ Billy grinste über beide Ohren hinaus. „Zöger er ruhig noch etwas hinaus. Deine Freundin hält sich sicherlich nicht mehr lange und dann bist du fällig.“
    „Ihr seid erbärmlich!“, tobte Sonja. Während Billy zunehmend an Farbe im Gesicht verlor, verfärbten sich Sonjas Wangen schnell rot.
    „Erbärmlich?“, lachte Billy. „Wir werden sehen, wer erbärmlich ist, wenn ich dich erst zerstampft habe.“


    Frizelbliz setzte mit wiedergewonnener Kraft zur nächsten Attacke an. Die Bühne war die gleiche, das Stück aber ein anderes: Evolis und Frizelblitz’ Körper krachten aufeinander. Der Zorn in Sonja hatte nun endgültig über ihre Vernunft triumphiert und erstmals setzte sie zum Gegenangriff an. Evoli und Frizelbliz standen sich Stirn an Stirn gegeneinander gepresst gegenüber und testeten, wer von ihnen die größeren Kraftreserven besaß. Gespeist von dem Zorn ihrer Trainer, waren die Gesichter der Pokémon Anstrengung, gezeichnet und bis zum Anschlag in die Weite gezogen. Das Kräftemessen zog sich in die Länge und keiner der Vierbeiner wollte im direkten Angesicht des Feindes klein bei geben. Ganz langsam schien allerdings Billys Pokémon die Oberhand zu gewinnen. Kleine Äderchen traten aus den Beinen heraus, während er Evoli wie ein schweres Hindernis ganz langsam nach vorne schob. Frizelbliz’ Krallen gruben sich bei jedem seiner Schritte tief in das harte Erdreich ein und hinterließen dort, wo er vor wenigen Augenblicken noch gestanden hatte, einen deutlichen Pfotenabdruck.
    „Stemm dich dagegen, Evoli! Los, gib alles!“, feuerte Sonja ihr Pokémon an, doch vergebens: Evoli war am Ende ihrer Kräfte und wurde nur noch schneller von Frizelbliz weggedrückt. Ihr Gesicht war inzwischen vor lauter Anstrengung zu einer solchen Fratze verformt, dass Sonja ihr Pokémon beinahe nicht mehr wieder erkannte.


    Es war nur ein Wimpernschlag eines Moments, in der Sonja ihre Augen geschlossen hatte, und doch hatte dies plötzlich grundlegend alles auf dem Kampffeld verändert. Evoli hatte es von den Beinen gerissen und einige Meter von ihrem Kräftemessen mit Frizelbliz hinfort geschleudert. Ein Bündel bronzefarbener Federn, an denen ein spitzer Schnabel und ein Paar scharfe Krallen endeten, war plötzlich über Frizelbliz aufgetaucht und hatte Evoli wie einen Baum gefällt. Sonja schlug sich die Hand auf den Mund, um den Aufschrei ihres Entsetzens zu dämpfen. Neben Billy hatten sich seine beiden Kumpanen Rico und Nicholas eingefunden, was hieß, dass Sonja als einzige von ihrem Haus noch übrig war.
    „Brauchst wohl Hilfe“, neckte Nicholas seinen Kameraden Billy. Rico lachte auf.
    „Hättest dich nicht einzumischen brauchen“, erwiderte Billy, machte aber einen zutiefst zufriedenen Eindruck dabei. „Wir sind hier gleich fertig.“
    „Unfair!“, kam es aus gleich drei Hälsen. Neben Sonja hatten sich ihre besiegten Kameraden Linsey und Jake eingefunden. Obwohl keiner der drei gekämpft hatte, waren Körper und Geist durch das Mitfiebern wie ausgemergelt, Haare zerzaust und Nerven blank liegend.
    Billy, samt Kumpanen, warf einen abschätzigen Blick auf die Raikou-Fraktion herüber. „Und warum sollte uns das kümmern? Wir, die Stärkeren, gewinnen und ihr verliert, weil ihr schwach seid - so einfach ist das.“
    „Und außerdem: Wer sollte uns daran hindern?“, höhne Rico.
    Sonja warf einen Blick zu ihrem Pokémon herüber. Die Attacke von Nicholas’ Pokémon hatte ihr Ziel keinesfalls verfehlt. Ein dunkler Fleck klaffte an Evolis noch vor wenigen Augenblicken fast makellosem Fell. Mit zitternden Beinen rappelte sie sich langsam auf. Wäre sie liegen geblieben, hätte das wohl ihre Pein gelindert, schoss es Sonja durch den Kopf. Doch dafür war es nun zu spät. Wie Aasgeier um ein verwundetes Tier näherten sich die drei Pokémon ihrer angeschlagenen Artgenossin und zogen ihre Kreise immer enger.


    Zum zweiten Mal wurden plötzlich sämtliche Karten neu gemischt. Wieder wurde ein ahnungsloser Erdbewohner Opfer eines völlig unerwarteten Angriffs. Nicht aber Evoli, sondern Frizelbliz fegte es plötzlich von den Beinen und ähnlich wie es bei Evoli der Fall war, wurde er einige Meter vom Schauplatz weggeschleudert. Zwischen Sonjas Pokémon und ihren Gegnern hatte sich ein schwarzweißer Vogel geschoben, dessen Schnabel leicht dem von Nicholas’ Pokémon Paroli bieten konnte. Staralili stieß ihren markanten, spitzen Kampfesschrei aus und schlug dabei so kräftig mit den Flügeln, dass das Gras weit unter ihren Schwingen bedrohlich zitterte. Die Blicke, sowohl der Raikous als auch der Enteis, waren auf den Neuankömmling gerichtet. Menschen tuschelten untereinander, während Pokémon aufgebracht fauchten, krächzten und Drohgebärden austauschten.
    „Hab ich dir nicht gesagt, dass sie ohne mich aufgeschmissen sind?“
    „Du meinst wohl, ohne uns.“
    „Pah!“
    Die Augen aller Anwesenden folgten den beiden leicht rauchig klingenden Stimmen und stoppten bei zwei Jungen, die sich mit auf die Brust gepressten Händen langsam dem Kampffeld näherten.
    „Ray!“, jubelte Sonja.
    „Ihr habt euch verdammt viel Zeit gelassen!“, fauchte Linsey.
    „Endlich ...“, stöhnte Jake.
    Die Freude hielt sich bei der Entei-Fraktion arg in Grenzen. Missmutig sah man zu, wie sich Ray und Eagle zu ihren Hauskameraden gesellten. Die zweite Runde konnte beginnen.

  • Part 8: Gemeinsam sind wir stark


    Flüchtig betrachtete Ray den rußgeschwärzten und mit Narben überzogenen Boden, auf dem er stand, wandte sich aber schnell wieder der orangefarbenen Echse zu, gegen die sein Kamerad Jake erst vor wenigen Augenblicken den Kürzeren gezogen hatte. Selbst aus der Distanz konnte Ray die unbändige Hitze fühlen, die von der lodernden Schwanzspitze ausging und dabei die Spitzen des verwelkten Grases schwärzte. Es war nahezu undenkbar, dass dieses kleine Geschöpf die Schuld an dieses Desaster trug, inmitten Ray nun stand. Er wusste aber auch, dass Rico zu einer solchen Schandtat sicherlich in der Lage wäre und eben dessen Befehlen folgte sein Pokémon leider blind.
    „Angst?“ Ricos Worte waren nichts weiter als ein Flüstern, dennoch konnte Ray ihn so verstehen, als ob sie sich direkt einander gegenüberstanden.
    Ray fasste tief in seine Hosentasche, zog einen Wimpernschlag später Sheinux’ Pokéball hervor, hielt ihn in geschlossener Faust unmissverständlich Rico entgegen und zwinkerte ihm entgegen. „Das ist meine Antwort.“



    * * *



    Eagle hatte darauf bestanden, es mit Nicholas und seinem Flug-Pokémon aufnehmen. Bereits unmittelbar bei seiner Ankunft hatte er den Partner des Entei-Schülers an seinem leicht zerzausten, bronzefarbenen Kopf- und Schwanzgefieder und natürlich an seinem markanten gekrümmten Schnabel als ein Habitak identifizieren können. Das war genau die Sorte von Gegner, nach dem es ihn verlangte: Ein Manöver in den Weiten des Himmels.
    Der Boden war noch vom letzten Kampf aufgeweicht. Schlecht, um sich schnell abzustoßen, gut, wenn der Gegner erst vom Himmel gefegt wurde und dann im Morast steckt. Ha, es war gänzlich ausgeschlossen, dass er diesen Kampf verlieren würde. Nicholas, dieser Stümper. Er hatte keine Ahnung, worauf er sich da einließ, geschweige denn, dass er überhaupt das Privileg verdiente, ein Flug-Pokémon in den Kampf zu führen.
    „Na, Nicki? Bereit für eine kleine Flugshow?“, höhnte Eagle.
    „Du bist fällig, Granger, so fällig. Verlass dich drauf“, knurrte Nicholas.
    Eagle lachte spöttisch. „Augen zum Himmel. Let’s party!“



    * * *



    Nun bereits zum zweiten Mal standen sie sich gegenüber: Sonja und Billy, Auge in Auge, dasselbe Spiel, nahezu dieselbe Situation, die Schachfiguren standen wieder in Reih und Glied, wie zu Anfang der Partie. Staralili hatte die Chancengleichheit zwischen ihnen wiederhergestellt, denn sowohl an Evolis als auch an Frizelbliz’ Fell klaffte nun ein blauer Fleck, der mit jeder Sekunde, die verstrich, dunkler wurde. Sonja schöpfte mit der Ankunft ihrer beiden Hauskameraden neuen Mut, doch für den Augenblick musste sie sich wieder einmal auf sich selbst verlassen, das war ihr klar. Sie musste durchhalten. Durchhalten, bis einer ihrer beiden Gefährten zu ihren Gunsten in den Kampf eingreifen würde. Die Frage war nur: blieb Evoli noch diese Zeit? War ein solches Spiel vielleicht die falsche Entscheidung? Andererseits: war Gegenteiliges zu gewagt? Ein direkter Kampf war aussichtslos, das hatte ihr vorheriges Kräftemessen eindeutig bewiesen. Wie sollte sie sich entscheiden, ja, wie nur ...
    „Spielst du wieder auf Zeit? Es ändert nichts. Du zögerst das Unvermeidliche nur auf.“
    Ganz langsam hob Sonja ihren Kopf. Erst Evolis Körper, hinter diesem tauchte dann der von Frizelbliz auf und schließlich kreuzten sich ihre und Billys kalte Augen. Wie auch immer sie sich entschied – sie musste es jetzt tun.



    * * *


    Glühend heiße Geschosse prasselten wie Regentropfen auf den Boden. Nicht aber eine erfrischende Wasserpfütze in der sengenden Sonne blieb an jenen Stellen zurück, sondern nur ein weiterer rußgeschwärzter Fleck auf der verdorrten Erde. Sheinux war bislang allen Feuerbällen seines Gegners gekonnt ausgewichen. Je näher er allerdings sich seinem Gegner näherte, umso waghalsiger waren seine Ausweichmanöver. Dem letzten Geschoss war er nur dank eines rettenden Purzelbaums entgangen; Sekunden, bevor sich das Gras, wo er soeben noch gestanden hatte, zu Asche verfiel. Mit robbenden Bewegungen und dabei mit seinen Pfoten in das Erdreich kleine Furchen schlagend, suchte Sheinux das Weite und entfernte sich dabei immer weiter von Ricos Pokémon. Kleinere Explosionen verfolgten ihn auf seiner Flucht in Rays Richtung zurück, doch war er mittlerweile so weit von seinem Gegner entfernt, dass die Feuerbälle nicht einmal ansatzweise ihr Ziel fanden.
    Ray atmete erleichtert auf und auch Sheinux schnappte nach Luft. Rays Plan hatte es eigentlich vorgesehen, Ricos Pokémon auf dieselbe Art zu besiegen, wie er Staralili geschlagen hatte. Doch musste Sheinux hierfür viel näher an seinen Gegner heran und eben dies wollte Rico nicht zulassen, als ob er bereits ahnte, was seinem Pokémon dann blühen würde. Er musste sich etwas anderes überlegen ...


    „Hast also doch Schiss? Wie enttäuschend ...“ Ein spöttisches Grinsen zeichnete sich auf Ricos Lippen ab, während er Ray nicht minder spöttisch zuwinkte. Rico wirkte tatsächlich so, als würde er sich langweilen und doch ahnte Ray, dass es nichts anderes als eine Finte sein konnte. Ein Köder, den er schlucken sollte, um dann in sein Verderben zu stürzen. Darauf durfte er sich um nichts in der Welt einlassen. Ganz egal, welche Beleidigungen er dafür einstecken musste.
    „Wo denkst du hin? Wir haben nur keine Sonnencreme dabei und bei euch ist’s uns einen Ticken zu heiß“, entgegnete Ray aalglatt.
    Rico täuschte ein Gähnen vor. „Dein Kumpel Jake war eine weitaus größere Herausforderung, als du es bist. Was ist das für ein Gefühl, noch schlechter als so eine Flasche zu sein?“
    Ray zuckte die Schulter. „Ach, Rico, tut mir ja Leid, es dir zu sagen, aber Jake hat mit eben gesagt, dass er freiwillig das Handtuch geworfen hat.“
    „Laber kein Müll.“
    „Ja, es ist schwer, die Wahrheit selbst einzusehen, ich weiß“, antwortete Ray. „Aber um ehrlich zu sein: Ich glaube, er hat tatsächlich Recht.“ Er wedelte sich mit der Hand vor seinem Gesicht, ganz so als wollte er eine lästige Fliege vertreiben. „Schon schwer, gegen jemanden mit solchem Mundgeruch zu kämpfen.“
    Ricos Ohren färbten sich Sekundenschnell rot. „Du Abschaum!“
    Ray wedelte aber nur noch kräftiger mit der Hand und wandte sich dabei etwas von Rico ab. „Puh ... Junge, Junge. Kennt ihr Enteis eigentlich Zahnbürsten? Das sind so kleine Dinger mit Borsten, mit denen man sich seine Beißerchen weiß schrubbt, weißt du?“
    „Deine Zahnbürste greift Morgen ins Leere, wenn ich mit dir fertig bin“, brüllte Rico über das ganze Kampffeld hinweg.
    Lachend und immer noch wild mit der Hand fächernd, entfernte sich Ray mit einem gebührenden Schritt von Rico „Ach, nimm es einfach nicht so schwer. Dein Pokémon scheint ja mit denselben Problemen zu kämpfen“, lachte Ray. „Vielleicht bekommt ihr ja Gruppenrabatt, oder aber auch Preisnachlass wegen Mitleid?“
    „Glumanda! Nein, zurück!“
    Wenn sich auch Rico von Rays Beleidigungen nicht ködern ließ: sein Pokémon schon. Tiefe Zornesfalten durchzogen jeden Winkel von Glumandas fast makellos glattem Gesicht. Der vernarbte Boden bebte regelrecht unter seinen beiden krallenversehenen Füßen. Mit in dem aufgepeitschten Wind flatterndem Schwanz und bedrohlich in die Höhe gerichteten blitzenden Pranken, stürmte er direkt auf Sheinux zu. Seine Verteidigung war während dieses Akts des blinden Zorns ganz und gar entblößt. Darauf hatte Ray gewartet.
    „Sheinux, Funkensprung!“, donnerte Ray.
    Noch auf dem Höhepunkt seines geplanten Angriffs, kam Glumandas Zorn urplötzlich zum Erliegen. Ein knisternder, gelber Stromschwall hatte die Feuerechse völlig verschlungen und seinen Vorstoß bis zum absoluten Stillstand abgebremst. Die Kraft, die von den elektrischen Fesseln unaufhörlich ausging, richtete selbst Rays weniges Haar an Armen und Beinen beängstigt auf.
    Sekunden verstrichen wie Minuten, Minuten wie Stunden. Stunden, in denen Sheinux den Stromfluss unaufhörlich durch jeden Muskel und jede Faser seines Artgenossen jagte, bis Glumanda schließlich entkräftet und mit jäh aufzuckenden Gliedmaßen bewusstlos auf den vom Kampf pervertierten Boden aufschlug.


    Rico heulte vor Wut und Frustration laut auf, Ray aber hatte kein Gehör für die Beleidigungen, die ihm der Entei-Schüler entgegen schleuderte. Ganz flüchtig hatte er während alledem einen jähen und äußerst panisch klingenden, menschlichen Schrei vernommen. In seiner Stimmlage zu hoch, als dass es sich bei diesem um seinen Klassenkameraden Eagle handeln konnte. Es konnte nur eins bedeuten: Sonja steckte in Schwierigkeiten ...



    * * *



    Auf seinen Lippen zeichnete sich ein höchst zufriedenes Lächeln ab, während Eagle Staralili dabei beobachtete, wie sie anmutig auf den Luftströmen ritt, mit gekonnten Wendemanövern hervorschnellenden Krallen und Schnäbeln auswich und ihren Gegner dabei mit akrobatischen Loopings bloß stellte. Der Kampf dauerte bereits einige Minuten und bislang hatte Nicholas’ Pokémon noch nicht einmal eine Spur Land gegen Staralili gesehen. Nichts aber wirklich Außergewöhnliches oder gar Verwunderliches in Eagles Augen.
    Nicholas ... dieser Möchtegern-Flugpokémon-Trainer. Ein Stümper, nichts weiter. Niemals würde er die Erhabenheit und die Eleganz dieser gottesgleichen Geschöpfe so zu schätzen wissen, wie es ihnen eigentlich zustehen müsste. Wenn hier überhaupt jemand das Recht besaß, ein Flug-Pokémon in den Kampf zu führen, dann war er es – Eagle.
    „Was grinst du da drüben so saublöd? Stell dich endlich, oder muss ich erst nachhelfen?“, rief Nicholas, beide Hände zu Fäusten geballt.
    „Das würde ich gerne sehen, wie du mir nachhelfen willst“, höhnte Eagle. „Sorry, ich genieße es einfach so sehr, dich in der Luft zappeln zu sehen.“
    Eagle spürte, wie sich sein Nacken vom vielen Himmelstarren langsam verhärtete, doch entsagte er seinen Krämpfen und dem steifen Gefühl, das sich wie Gips um seinen Hals schloss. Dieses Katz-und-Maus-Spiel und Nicholas kurz vor dem Nervenzusammenbruch war jegliche Pein wert, die es zu ertragen galt.


    Der Kampf spitzte sich mehr und mehr zu. Nach einigen waghalsigen, aber treffsicheren Angriffsmanövern, hatte Staralili mehrmals ihre scharfen Krallen in Habitaks Gefieder schlagen und ihn somit auf bis zu zehn Fuß über den Boden zurückdrängen können. Mit einer ebenso scharfen Kehrtwende beendete Staralili ihren jüngsten Angriff und schnellte erneut mit ausgefahrenen Klauen auf Nicholas’ Pokémon zu. Erstmalig, in dem bislang von Staralili dominierten Kampf, täuschte Habitak aber diesmal nur eine seiner langsamen Rechtskurven vor, mit denen er bereits zig Mal erfolglos versucht hatte, seiner mordslustigen auszuweichen. Im letzten Moment aber, als Staralili schon siegessicher ihre nächste vernichtende Attacke starten konnte, gewann Habitak mit zwei kräftigen Flügelschlägen schlagartig wieder Höhe und entging den Klauen seiner Widersacherin. Damit aber noch nicht genug, bohrten sich nun Habitaks Fänge in das weiche Gefieder des überraschten Flug-Pokémon unter ihm. In seiner Vorstellung hatte Eagle Habitak bereits wie einen schweren Stein zu Boden fallen sehen. Entgegen dieses Wunschdenkens war es aber nun Staralili, die schwer strauchelte, schlagartig an Höhe verlor und sich somit gefährlich dem harten Boden näherte.
    „Mit dem Wind, Staralili! Schnell!“, brüllte Eagle panisch seinem langsam fallenden Pokémon zu.
    Noch im Fall spreizte Staralili erneut ihre zierlichen Flügel. Ein jäher Aufwind fächerte durch das Gefieder und verlieh ihr im letzten Moment den rettenden Auftrieb, bevor man eine äußerst schmerzhafte Begegnung mit dem erbarmungslosen Erdboden machte.
    Ganz langsam und unter kräftigem Schlagen ihrer beiden Flügel stieg Staralili wie ein Senkrechtstarter wieder in das Himmelsreich empor und war binnen weniger Momente wieder mit Habitak in einer Augenhöhe. Sie krächzte ihrem gut und gern zwanzig Meter entfernten Gegner den verächtlichsten Fluch in Pokémon-Sprache entgegen, den Eagle jemals gehört hatte, und auch ihr Trainer tobte vor Wut.
    „Na, wie war das?“, spottete Nicholas.
    Das selbstzufriedene Grinsen seines Gegners; der Spott, auf dem eigenen Gebiet fast eine bittere Niederlage erfahren zu müssen und natürlich der Schmerz, den Staralili erdulden musste, waren wie Schläge mitten in das Gesicht des Raikouianers. Diese Beleidigung durfte nicht ungesühnt bleiben!
    „Schluss mit den Spielchen! Zeig ihm unsere Antwort, Staralili!“, brüllte Eagle und richtete bedrohlich seinen Zeigefinger auf Habitak. „Feg ihn vom Himmel - du weißt, was zu tun ist!“
    Es war ein riskantes und sehr ungewisses Unterfangen, das wusste Eagle. Die Kombination war gegen Möchtegern-Himmelsstürmer absolut vernichtend, doch war sie gleichzeitig leider noch nicht wirklich erprobt. Kurz bevor er – Ray sei es gedankt – an diesem Tag zum Nachsitzen antreten musste, hatte er dieses Angriffsmanöver mit Staralili trainiert. Nun aber hieß es, am lebenden und atmeten Ziel erfolgreich zu sein. Ein Ziel, das dieser Attacke auch ausweichen und diesem missglückten Angriffsversuch auf fatale Art bestrafen konnte. Dies war sie also, die Bewährungsprobe ...


    Das Federkleid Staralilis begann schlagartig hell zu glänzen und ließ dabei schon fast die Sonne vor Neid erblassen. Auf dem Höhepunkt der Intensität schließlich, gewann das Pokémon einen enormen Geschwindigkeitsschub, wie eine Kanonenkugel, die aus der dazu passenden Kanone gefeuert wurde. Staralili hinterließ nur eine Schneise, als sie, das gefiederte Geschoss, auf Habitak zuraste; doch zu hoch, als dass sie ihn direkt vom Himmel fegen konnte.
    „Daneben!“, brüllte Nicholas bereits mit siegessicherem Funkeln in den Augen.
    „Von wegen!“, schleuderte Eagle ihm entgegen. „Jetzt Flügelschlag!“
    Es war ein Wimpernschlag der Zeit: Staralili war bereits fast über ihren Gegner hinweggefegt, als sie schlagartig in der Luft zum Stillstand kam – direkt über den bloßgestellten Rücken Habitaks. Zwei vernichtende, grauschwarze Flügel krachten mit ungeheurer Wucht ins Ziel. So schnell Staralili ihre Geschwindigkeit zum absoluten Nullpunkt reduziert hatte und so schnell Habitak im Fall zu Boden stürzte, so schnell wich sämtliche Farbe aus Nicholas’ Gesicht, was ihn aber nicht daran hinderte, sein Pokémon mit einem rettenden Satz noch rechtzeitig vor der schmerzhaften Bekanntschaft mit dem harten Erdreich zu bewahren.


    Der gleichzeitige Siegesschrei Eagles und Staralilis war noch nicht richtig verhallt und den Gedanken an die ihnen gebührende Feier bereits binnen weniger Sekunden wie herbstliches Laub hinfort geblasen. Eagle warf einen raschen Blick über die Schulter auf das Kampffeld, wo sich seine Klassenkameradin Sonja Lynn befand. Etwas war dort ganz und gar nicht in Ordnung. Ein schriller und panischer Aufschrei hatte das Kampffeld erschüttert ...



    * * *



    „Wird dir eigentlich nie langweilig?!“
    „Dasselbe könnte ich auch dich fragen ...“
    Zahlendes Publikum hätte für dieses Schauspiel sicherlich ihr Geld wiederverlangt, das war Sonja klar. Doch hier ging es nicht darum, irgendwelche Leute zu unterhalten und schon gar nicht, eine gute Show darzubieten. Es war mehr wie Krieg zu vergleichen. Ein Krieg, den sie niemals hatte anfangen wollen und nun aber irgendwie zu Ende bringen musste. Eine Neuauflage ihrer offensiven Taktik hatte Sonja nach einem katastrophalen Start schnell wieder aufgegeben und widmete nun ihre ganze Kraft darauf, Evoli vor weiterem Unheil zu bewahren – sehr zum Leid von Billys Nerven.
    Evolis buschiger Schwanz und ihre spitzen Ohren hingen schlaff hinab. Die kurzen Beine zitternden heftig und drohten, unter dem Gewicht des restlichen Körpers einzubrechen. Auch Frizelbliz hatte wahrlich schon bessere Tage gesehen. Seine jüngsten Attacken hatten mehr Ähnlichkeit mit einem vorsichtigen Herankauern als mit einem stürmischen Frontalangriff. Weißer Schaum quoll ihm aus dem Mund, während er in diesem Moment der Ruhe nach der rettenden Luft hechelte. Etwas aber hatte sich scheinbar noch an ihm verändert, wie Sonja feststellen musste. Sie hätte schwören können, dass sie vereinzelte Funken aus Frizelbliz’ Fell aufblitzen sah. Spielten ihr ihre Augen einen Streich, oder schlummerten in Frizelbliz etwa mehr Kräfte, als Billy vielleicht wusste?


    Abermals dirigierte Billy sein Pokémon zu seiner flüchtigen Gegnerin. Sonja konnte das Leid und die Qual in den Augen ihres Pokémons aufflammen sehen, als Evoli ihre Kraftreserven aufs Neuste bis zum Limit mobilisierte und zum rettenden Sprung in Sicherheit ansetzte. Schwer taumelnd kam Frizelbliz dort zum Stillstand, wo Evoli noch vor just wenigen Augenblicken gestanden hatte – und da war es wieder: ein jähes, gelbes Aufleuchten von Frizelbliz’ Schwanzspitze, knisternde Funken, die sich aus seinem Fell lösten und so schnell wieder verschwanden, wie sie aufgetaucht waren. Sonja wagte es kaum, zu atmen. Nein, es war keine Täuschung. Frizelbliz hatte Fähigkeiten entwickelt, von denen selbst sein Trainer nichts wusste. Vielleicht sollte sie den Kampf schnell beenden, bevor auch Billy dies realisierte. Das schien ihr das einzig logische ...


    „Evoli, ... Tackle!“
    Es tat ihr Leid, unendlich Leid. Innerlich loderten die Gewissensbisse auf, Evoli erneut zum Angriff zu zwingen, obwohl ihr Pokémon bereits längst am Ende ihrer Kräfte war. Doch was hätte sie sonst tun sollen? Schon einmal hatte Sonja versucht, das Handtuch zu werfen, und Billy hatte dieses Angebot mit Füßen getreten. Dennoch: Die Schuld, die sich wie eine kleine Nadel immer und immer wieder in ihr Herz bohrte, war so stark, dass Sonja den Blick von diesem Angriff abwenden musste. Sie kniff beide Augen fest zusammen, hoffend, dass Bilder und Geräusche niemals in ihr Innerstes eindringen würden. Evolis Schritte aber hämmerten wie das unheilvolle Stampfen einer ganzen Streitmacht in den Ohren der Raikou-Schülerin. Immer und immer lauter ... Ihr Trommelfell krümmte sich vor Leid und das Herz schrie vor Schuldgefühlen laut auf. Doch noch ein weiterer Schrei war zu vernehmen – Evolis Schrei.
    Abrupt, wenn auch irgendwie widerwillig und ängstlich vor dem, was sie erwartete, riss Sonja die Augen auf. Sie konnte Evoli erkennen, wie sie Stirn an Stirn vor Frizelblitz stand. Doch etwas schien ganz und gar nicht in Ordnung. Hatte sie vor wenigen Minuten noch Blitze aus Frizelbliz’ Fell aufsprühen sehen, schien die Elektrizität nun auf Evoli übergesprungen zu sein. Kleinere Funken lösten sich sporadisch aus dem kastanienbraunen Fell des Pokémons, Haare standen ihr steil zu Berge, das süße Gesicht war schmerzverzerrt und ein Zittern durchzog jedes ihrer Gliedmaßen. Sie war wie gelähmt – offenbar von einer statischen Ladung getroffen. Unfähig, sich auch nur einen weiteren Schritt zu bewegen, geschweige denn, einer weiteren Attacke ihres Gegners auszuweichen.
    Sonja entfuhr ein lauter Aufschrei. Als ob sich Evolis gesamte Qual auf sie übertragen hätte, war auch ihr Körper durchdrungen von Schmerz und Leid – die Gewissheit, verantwortlich für das Elend ihres Pokémons zu sein. Sie konnte das nicht mehr länger ertragen, es nicht mehr länger sehen ...


    „Bring es zu Ende, Frizelbliz!“
    Sonja fiel auf die Knie, die Arme über den Kopf geschlagen. Eine einsame Träne entfuhr der in sich kauernden Schülerin aus ihren fest zusammengekniffenen Augen und versickerte langsam und ungesehen in dem harten Erdreich.
    Hier war es schön. Es war schwarz, schön dunkel. Hier war sie abgeschieden. Nichts von alledem konnte sie erreichen. Nur noch der qualvolle und leiderfüllte Aufschrei ihres Pokémons musste sie ertragen, dann war es vorbei – endlich ...
    Und da war er auch schon. In sich zusammengerollt zuckte Sonja zusammen, als das gewaltige Hämmern der unbändigen Wut ihr Pokémon traf und die Stimmen ihr Ohr erreichten. Evoli hatte die Strafe für das Scheitern ihrer Trainerin am eigenen Leib erfahren. Sonja wollte die Bilder nicht sehen. Die Bilder, die sie wohl noch ihr ganzes Leben verfolgen würden.
    Sonja lauschte plötzlich auf. Zu der einen Stimme hatten sich merkwürdigerweise noch weitere gesellt. Wer waren sie? Hellhörig hob sie etwas den Kopf. War es ... Konnte es sein ... Ray?


    Vorsichtig öffnete Sonja nun gänzlich ihr schützendes Versteck, hob den Kopf und blinzelte in die Ferne. Noch immer stand Evoli wie gelähmt an Ort und Stelle, Frizelbliz aber war verschwunden. Dafür aber zwei andere Gestalten: Sheinux und Staralili, die sich in unmittelbarer Nähe zu Evoli befanden, sahen sich einander an. Unergründlich und gleichzeitig hatten sie zweifelsohne Ähnlichkeit mit den Gesichtszügen ihrer beiden Trainer.
    „Was denkst du dir dabei? Du siehst doch, dass alles unter Kontrolle ist“, rief Eagle.
    „Natürlich! Jetzt wo ich da bin“, entgegnete Ray grinsend.
    „Pah! Besser zu spät als nie, was?“, erwiderte Eagle.
    „Was fällt euch ein?!“, brüllte Billy. Er hatte Frizelbliz in seine Arme geschlossen und funkelte böse zu den zwei Raikou-Schülern herüber. Ihm hatten sich seine Kameraden Rico und Nicholas angeschlossen, die nicht weniger stocksauer aussahen.
    Sonja riss endgültig die Augen auf. Ein Gefühl der Kraftlosigkeit breitete sich sekundenschnell von ihren bebenden Knien bis in ihren Kopf hinauf aus. Sie konnte es kaum fassen. Sie war gerettet, sie und Evoli.
    „Ray!“ Mehr schwankend als rennend fiel sie ihrem Freund in die Arme.
    Die Ereignisse überschlugen sich: Ray keuchte unter dem Gewicht seiner Freundin und tätschelte ungewöhnlich zaghaft den blonden Haarschopf; Tumult brach explosionsartig aus dem näheren Umfeld von den Schaulustigen aus, die von Nah und Fern von den Klängen des Kampfes herangelockt wurden; Suicunes pfiffen, Enteis buhten und Raikous johlten; Eagle, nächst zu dem Brandherd, genoss es sichtlich, sich von seinen Klassenkameraden feiern zu lassen; Evoli stolperte zu ihrer Trainerin herüber und piepste leise und noch immer stark benommen; und Sonja ... Finsternis breitete sich langsam vor ihren Augen aus und das letzte Gefühl der Körperkontrolle sickerte aus ihrem Körper. Ihre Knie klappten zusammen und noch während sie in Rays Armen lag, verlor sie das Bewusstsein.

  • Part 9: Sonjas stummes Leid


    Die späte Abenddämmerung kleckste die wenigen sonst so weißen Wölkchen mit einem lieblichen rosaroten Farbton an. Der bislang heißeste Tag dieses Sommers kam ganz langsam zum Erliegen. Ihm würden sicherlich noch etliche weitere und nicht weniger heiße folgen, doch davon wollte im Moment keiner der drei Raikou-Schüler etwas wissen. Zufall, Schicksal, vielleicht aber auch nur, weil dieser Ort dem Raikou-Schulhaus am nächsten war ... Schlussendlich konnte man es nennen, wie man wollte: Erneut am Stamm des Kastanienbaums - die Wiegestube der Streitereien mit den Enteis - angelehnt, verwöhnte Ray seinen tapferen Freund Sheinux mit Streicheleinheiten. In dem Herz des Raikouianers schwellte der Stolz für die Leistung, die sein Pokémon jüngst an den Tag gelegt hatte. Sonja und Evoli hatten sich, wie zum Vortag, am Ufer des Sees niedergelassen. Kein Wort war seit ihrer Ankunft ihren Lippen entfleucht und beide, Sonja und Evoli, beobachteten stillschweigend, wie das orangefarbene Himmelsgestirn ihr Haupt selbst zur Ruhe bettete. Auch Eagle beobachtete, wie die Sonne am fernen Firmament langsam seinem Blick entglitt, allerdings hatten er und Staralili ihren Ehrenplatz auf einen der niedrigeren Äste des Kastanienbaums eingenommen. Ein breites Grinsen huschte über seine Lippen, als er eine der stacheligen Früchte in seiner Hand hielt und in Erinnerungen an die gestrigen Blicke der Enteis schwelgte.


    Professor Joy hatte an diesem Tag bewiesen, dass sie nicht nur im Bereich der Pokémon-Heilkunde äußerst bewandert war. Nichts erinnerte mehr daran, welchen Qualen Evoli vor just wenigen Stunden noch ausgesetzt war. Frei von jeglichem Makel glänzte das kastanienbraune Fell wieder in dem abendlichen Schein der Sonne und auch Sonjas plötzlicher Schwächeanfall war wieder kuriert. Hitze, in Kombination mit zu wenig Flüssigkeit und einer geballten Ladung Stress, lautete die Diagnose der Professorin. Ihr Angebot aber, dass Sonja die Nacht im Krankenflügel verbringen sollte, hatte ihre Patientin vehement abgeschlagen. Sonjas Ausflüchte, sie könne sich in den sterilen und tristen Räumlichkeiten nicht sonderlich gut ihren Schulaufgaben widmen, klangen allerdings sehr stark nach einer schlechten Ausrede in den Ohren Rays. Doch war es ihm auch so viel lieber. Hier, in der freien Natur und unter freiem Himmel ...


    „Was machst du eigentlich noch hier? Ist dir einsam, soll ich dir vielleicht da oben etwas Gesellschaft leisten?“ Auf das plötzliche Aufprallen einer stacheligen Kastanie in dem wenigen Gras am Fuße des Baumstamms, hatte Ray seinen Kopf in die Höhe gerichtet.
    „Du fragst, was ich hier mache?“ Eagle schnaubte mit leicht verächtlichem Unterton Luft durch die Nase, wenn auch nicht mehr ganz so angriffslustig, wie es Ray bislang von ihm kannte. „Ihr solltet euch eher die Frage stellen, was ihr noch hier macht. Das ist mein Revier, klar?“
    Rays Blick wanderte zu ein in den Baumstamm eingeritztes Herzchen, in das die Symbole „Br + Ta 4 ever“ eingeritzt waren. Er versuchte nicht einmal, sein Grinsen zu unterdrücken. „So, so“, kicherte er.
    „Was lachst du wieder so saublöd da unten? Wo willst du hin? Hey!“


    „Na, alles klar?“ Mit Sheinux an seiner Seite, hatte sich Ray am Kiesufer des Sees nächst zu Sonja niedergelassen und auch er begann, verträumt dem Abendgrauen entgegen zu starren, linste dabei aber gelegentlich verstohlen zu seiner Freundin herüber. Sie erweckte den Anschein, als wäre sie unendlich weit von dieser Insel entfernt gewesen. Nachdenklich und für alles andere in dieser Welt verschlossen ...
    Sonja seufzte schwer, blieb aber weiterhin stumm.
    „Hast du Kummer? Bedrückt dich etwas?“, wollte Ray wissen. Ein von ihm geworfener kleiner Stein schlug auf die glatte Oberfläche des Sees auf. Größer und immer größer wurden die von der plötzlichen Erschütterung verursachten kreisförmigen Schwingungen, bis sie vom Ufer verschluckt wurden.
    „Ich – ich ...“
    „Ja?“, hakte Ray nach.
    „Ich werde die Celebi-High verlassen. Noch heute pack ich meinen Koffer ...“, nuschelte Sonja.
    „Du machst Witze?“
    „Bist du bekloppt?“ Selbst Eagle hatte seinen hohen Ausguck sprungartig verlassen, um sich seinen beiden Klassenkameraden anzuschließen, und beiden, ihm und Ray, war die Anwesenheit des Anderen in diesem Moment reichlich egal.
    „Warum?“, stutzte Ray. Auch wenn Sonjas Kopf schnurgeradeaus gerichtet war und sie im Moment für nichts anderes Interesse zu haben schien, als die Sonne am Horizont verschwinden zu sehen, glaube Ray, eine einsame Träne am Kinn seiner Freundin herunterkullern zu sehen.
    „Ich - ich bin eine Flasche, das habt ihr doch gesehen“, antwortete Sonja mit trockener und zitternder Stimme. „Ich habe nicht das Zeug dazu, eine gute Pokémon-Trainerin zu sein. Ich bin Evoli eine schlechte Freundin ...“
    Ray tätschelte aufbauend Sonjas rechte Schulter. „Ach, das wird schon! Mit etwas Geduld und Spucke mach ich aus dir noch die beste Trainerin der ganzen Schule, wirst schon sehen.“
    Sonja hickste einen Schluchzer herunter und schüttelte so heftig den Kopf, dass ihr zusammengeknoteter Pferdeschwanz wild um sich schlug. Ihr Mund schaffte es aber nicht, die richtigen Worte zu formen.
    „Wer hat dich denn hier zum Pokémon-Meistertrainer gemacht?“, schnaubte Eagle, der seinen Platz mittlerweile zu Sonjas Linken eingenommen hatte.
    „Wenn ich mich nicht täusche, dann habe ich dich geschlagen“, brüstete sich Ray spitz und zwinkerte Eagle zu.
    „Mehr Glück als Verstand - müsste dir bekannt vorkommen!“, erwiderte Eagle aufgebracht.
    „Ihr seid schlimm, alle beide!“ Sonja hatte sich bereits erhoben, als sie plötzlich wieder von Eagle barsch heruntergedrückt wurde. „Schön! Bleib ich eben hier und hör euch noch etwas streiten – zufrieden?!“, schluchzte Sonja unter Tränen.
    „Hör zu“, unterbrach Eagle seine Klassenkameradin. „Gerade bei dir hatte ich eigentlich damit gerechnet, dass du besser Bescheid wüsstest. Wenn du auch nicht zur Trainerin geboren wurdest, hast du ja vielleicht mehr Glück auf anderen Gebieten. Die Celebi-High bildet schließlich nicht nur Trainer aus, oder wusstest du das etwa wirklich nicht?“
    „Doch, natürlich ...“, wimmerte Sonja kleinlaut.
    „Koordinatoren, Pfleger, Kenner, ... Die Liste ist unendlich lang und die Möglichkeiten scheinbar so unendlich, wie die Sterne am Himmel. Such dir etwas aus. Der Platz für den Top-Trainer dieser Schule ist eh bereits vergeben.“
    „Dann ist es ja geritzt“, schloss sich Ray wieder der Unterhaltung an und rieb sich die Hände. „Ich werde die Nummer eins an der Schule, Eagle hier der ewige Zweite und du suchst dir etwas aus, was dir eben gefällt.“
    Den Mund bereits zu einer gepfefferten Antwort geformt, gingen Eagles Worte aber in Sonjas hohen Stimme unter, in der sich sogar der Ansatz eines feuchten Glucksens versteckt hielt. „Vielleicht – vielleicht habt ihr Recht ... Aber ... was ist, wenn ich nicht gut bin?“
    „Dann kannst du immer noch nach deinem Vater schlagen, und Steuerberaterin werden“, feixte Ray. Eagle zu seiner Seite stieß einen missbilligenden Pfeifton aus.
    „Ihr – ihr helft mir aber dabei, oder?“
    „Verlass dich drauf“, antwortete Ray sofort.
    „Wenn’s sein muss und wenn ich wegen diesem Spinner hier“, Eagle machte eine Geste zu Ray herüber, „nicht immer, wenn es drauf ankommt, nachsitzen muss ...“
    „Du wärst eine Stunde zu spät gekommen, hätte ich nicht meine Finger im Spiel gehabt und das Notwendige arrangiert“, verteidigte sich Ray.
    „Ohne dich und deine Griffel hätte ich nicht einmal nachsitzen müssen!“ Eagle hatte sich inzwischen erhoben und seinen beiden Klassenkameraden den Rücken zugekehrt.
    Noch mit etwas verweinten Augen wandte sich Sonja Ray zu. „Warum? Was meinst du mit ,das Notwendige arrangiert’? Was soll das heißen?“
    Ray lachte, antwortete aber nicht.
    „Der Idiot hat es irgendwie geschafft, den Feueralarm in der Schule auszulösen – frag mich aber nicht“, antwortete Eagle.
    „Ein Zauberer verrät nie seine Tricks“, feixte Ray und knackste dabei zufrieden mit den Fingern.
    „Ray!“ In nur einem Augenblick hatte Sonja die alte Strenge in ihrem Blick wiedergewonnen, was dem Gelächter ihres Freundes allerdings kein Einhalt gebot. Ray hatte sich wieder Sheinux zugewandt und graulte ihm zärtlich den Nacken.
    „Wie auch immer ...“, sagte Eagle, entfernte sich langsam von seinen Hausbewohnern und warf nur noch einmal einen letzten Blick zurück. „Erwarte keinen Dank von mir, klar? Bereite dich darauf vor, dass ich dich bei unserem Rematch in den Boden stampfen werde.“
    „Ich kann es kaum erwarten“, antwortete Ray.


    Noch einige Zeit sah man stillschweigend dem einzelgängerischen Raikouianer nach, bis er schließlich hinter dem Hügel, der das Raikou-Schulhaus verdeckte, verschwand.
    „Er ist schon ein komischer Kauz ...“, sagte Sonja schließlich. „Scheint aber, als träge er das Herz am rechten Fleck.“
    „Ich hab ihn auch schon richtig lieb gewonnen. Ich wette, wir werden noch unseren Spaß mit ihm haben, nicht wahr, Sheinux?“, sagte Ray und nahm Sheinux auf seinen Schoß.
    „Shhwww!“

  • [tabmenu][tab=':3']Mhh, lange ist es her, dass hier jemand kommentiert hat.
    Hab dir ohnehin mal vor langer Zeit mein Feedback hier versprochen, also mal sehen was sich zu den einzelnen Parts so erzahlen lasst.

    [tab='Part6']
    Ich fange mal ganz spontan beim Nachsitzen an, da ich dieses Szenario einfach liebe.^^


    Es war zu erwarten, dass Ray mit seiner spontanen und gelassenen Art sich verspätet. Finch zieht wohl gerne hin und wieder die eine Augenbraune von
    ihm hoch, oder? Schätze mal, dass das sowas wie sein Ausdruck dafür ist, dass ihm...nja, etwas nicht so ganz gefällt, du weißt schon. Dann kommt noch diese formale und kühle Ausdrucksweise von ihm. Mensch, der ist mir vielleicht provokant, erinnert mich stark an einen meiner Lehrer.:) Da hast du auf jeden Fall einen super Charakter in der Geschichte eingebaut, bei dem der Leser seinen Spaß haben wird. Finchs Büro hat was klischeehaftes, nicht? Erinnert mich stark an den perfekten, arbeitswütigen Mann. Mhh, habe ich schon erwähnt, dass du anscheinend gerne sehr ins Detail gehst? Für manche kann das vielleicht zu viel sein, aber meiner Meinung nach bringst du es so rüber, dass es kaum bis gar nicht langweilig wird. Entfernst dich halt nicht zu sehr von der eigentlichen Handlung.


    Man spürt förmlich Sonjas inneren Zwist. Wie sehr sie sich gegen diese unnötige Auseinandersetzung vergeblich versucht zu wehren und hofft, dass der Kampf nicht stattfinden wird...super! Innere und offene Gefühle bringst du wie oft schon bestens zur Geltung. Wie du damals schon gesagt hast, du verleist den Protagonisten etwas "Seele" und genau das ist es, was mir schon bei simpleren Abläufen gefällt.
    [tab='Part 7']
    Der Part fängt sehr schön und spannend an. Vorwegnehmende Passagen liebe ich, dass sie die Spannung am laufen hält bzw. sie erst richtig ankurbelt.

    Zitat

    Bislang war sie Streitereien immer erfolgreich aus dem Weg gegangen. Sollte dies etwa der Preis dafür sein, Freunde zu haben? War es das überhaupt wert?

    Ganz ehrlich, das hat mich zum Nachdenken angeregt. Solche Textstellen verleiten den Einen oder Anderen bestimmt sich ein paar Gedanken zu machen. Nicht allzu oft finde ich so etwas...


    Wie auch immer, Ray und Eagle sind wirklich das ungleiche Paar überhaupt.

    Zitat

    „Du bist so ein Idiot, weißt du das?“
    „Und weiß du, dass dies das netteste war, was du jemals zu mir gesagt hast?“

    Ein Schmunzeln war nicht zu verkeifen. x) Konversationen von den beiden sehe ich absolut gerne, da dank Rays Humor alles ein gewisses Charme bekommt.


    "Na endlich, der Kampf beginnt" musste ich damals von mir abgeben und soweit wurde ich auch nicht enttäuscht, wenn auch, dass man anfangs nur den "Kampf" von Sonja und Billy mitbekommen hat. Man kann einfach nur Mitleid mit Sonja haben. Da sie sonst so zurückhaltend und schüchtern ist, ist sie diese Situation überhaupt nicht gewohnt, zu Ungunsten für Evoli. Auch wenn der Konflikt von den beiden, sich fast nur um Ausweichmanöver handelt, wundert es mich, wie viel man noch zwischendrin einbauen kann, was einen danach nicht verwundern sollte, warum so viel Text vorhanden ist. Man sollte meinen, das du direkt vor Ort das Alles dokumentierst
    Das Einmischen in Kämpfe anderer habe ich zwar schon geahnt, aber das die gute Sonja so ausrastet eher nicht. Ne (un)hübsche Wendung, die den Leser nochmals aufrüttelt. Dann noch dieser Zusammenstoß mit Habitak. Mensch, du bist ja fies.:) Dieses absolut unfaire und erniedrigende Handeln macht mich einfach nur wütend, da aber ein Ende noch verfrüht wäre, schoss es mir durch den Kopf, dass Hilfe jede Sekunde da wäre.(Wie sonst auch immer)


    Beim ersten Durchlesen, kam mir dieser Part eher einer Einleitung gleich. Eine Einleitung zum wahren Kampf, oder zu einem weiteren noch langen Part. :3
    [tab='Part 8']

    Zitat

    „Angst?“ Ricos Worte waren nichts weiter als ein Flüstern, dennoch konnte Ray ihn so verstehen, als ob sie sich direkt einander gegenüberstanden.
    Ray fasste tief in seine Hosentasche, zog einen Wimpernschlag später Sheinux’ Pokéball hervor, hielt ihn in geschlossener Faust unmissverständlich Rico entgegen und zwinkerte ihm entgegen. „Das ist meine Antwort.“

    Das ist mal ein Wort. In diesem Part habe ich mir sehr viel versprochen, und muss sagen, es ist lang einfach super!
    Die drei Kämpfe waren alle drei auf ihrer Art und Weise einzigartig. Konfrontationen zu bezeichnen, sieht bei so einfach aus...


    Ray mit seiner sehr verspottenden Finte war ja mal wirklich Klasse.

    Zitat

    Ach, nimm es einfach nicht so schwer. Dein Pokémon scheint ja mit denselben Problemen zu kämpfen“, lachte Ray. „Vielleicht bekommt ihr ja Gruppenrabatt, oder aber auch Preisnachlass wegen Mitleid?

    Zurückhaltung existiert wohl keine, wie? xD Jedenfalls, ein sehr passender und vor allem unterhaltsamer Sieg für Ray.


    Auf das Luftgefecht hab ich mich wirklich gefreut, da dort viel Freiheit bezüglich deiner Ideen existiert. Nach nochmaligen Durchlesen merke ich, wie sehr dich die Lüfte begeistern. Was aber mir vornherein klar war, das Eagle siegen wird, nicht aber ohne eine kleine dramatische Wendung versteht sich. In Angriffsstrategien zeigst du dich als sehr kreativ.


    Aber der letzte Part mit Sonja hat mich wirklich gefesselt. Da war es nicht wirklich der Kampf, der mich interessierte, sondern mehr die Situation Sonjas.

    Zitat

    – die Gewissheit, verantwortlich für das Elend ihres Pokémons zu sein. Sie konnte das nicht mehr länger ertragen, es nicht mehr länger sehen ...

    Diese innere Verzweiflung nichts tun zu können, aufgefressen von Schuld und in der Hoffnung, dass es schnell vorüber ist. Ich kann es schlecht beschreiben, wie sehr dies zu Herzen gehen kann, einfach genial. Bei so vielen Gefühlen in kürzester Zeit, war die Ohnmacht Sonjas nicht sonderlich überraschend.
    Auf jeden Fall, der Part ist dir sehr gut gelungen!

    [tab='Part 9']
    Interessanter Titel nebenbei.


    Kommt mir es nur so vor, oder hat sich sowas wie eine Freundschaft zwischen Eagle und den anderen beiden gebildet? Der ist einem ja sehr sympatisch geworden. Naja, Hauptblickpunkt ist Sonja wieder mal. In den letzten Parts hat sie enorm an Persönlichkeit gewonnen und erscheint nicht mehr ganz so passiv. Jedenfalls, neben der unterhaltsamen Konversation zwischen Ray und Eagle, ist ihre gute Freundin nach wie vor geknickt, was absolut menschlich ist. Ich schätze, nach dieser Erfahrung wird Sie ein paar Dinge etwas anders angehen.


    Wie Ray den Feueralarm ausgelöst hat, ist mir ein völliges Rätsel...
    Apropos ausgelöst, schändlicherweise hab ich damals eine Kleinigkeit übersehen...

    Zitat

    „Der Idiot hat es irgendwie geschafft, den Feueralarm in der Schule aufzulösen [Das will ich doch gerne mal sehen.xD] – frag mich aber nicht“, antwortete Eagle.

    [tab='Letzte Worte']
    Ich weiß das ich mich hier bei den einzelnen Parts recht kurz gehalten habe, hoffe es stört nicht.
    Es gab jetzt keine Kritik oder so, da in meinen Augen soweit auch alles stimmt. Bin wieder mal beeindruckt, wie gut dein Schreibstil funktioniert. Diese kleinen aber feinen Details machen eine Menge aus, aber ich schätze ich wiederhole mich, wenn ich sage, dass dein Text ordentlich und flüssig zu lesen ist.


    Solange diese Geschichte hier nun eine Pause macht, begnüge ich mich bei deinen anderen Werken.:)[/tabmenu]


    ~Nuke

  • So Eagle, jetzt hab ich´s auch hierher geschafft.^^


    Unter dem Titel "Leben und lernen - die Celebi High" kann man sich im Gegensatz zu denen anderen Storys bereits ein relativ genaues Bild davon machen, worum es in der Geschichte geht. Schule, Klausurestress, nervige Lehrer, stressende Mitschüler und ein Junge mittendrin. Storys dieser Art gibt es ja desöfteren auf dem BB und eigentlich sind sie auch nicht so mein Fall, doch da ich ja inzwischen weiß, das du schreiben kannst, hab ich mich mal herangewagt.


    Fangen wir mal mit dem Protagonisten an. Ray Valentine ist wohl einer der sympatischsten Charaktere, die ich je im Fanfiction-Bereich gefunden habe. Schon zu Beginn der Story geht er seinem Onkel, später seinen potenziellen Mitschülern und der Schulsekretärin mit seinem frechen Verhalten und dummen Sprüchen auf die Nerven. Und ganz ehrlich, ich hab mich schon zu diesem frühen Zeitpunkt super dran amüsiert. Rays Einstellung zur Schule und den damit verbundenem Lernstress und den Lehrern ist eines der schönsten Klischees überhaupt und eignet sich hervoragend für eine Internatsgeschichte. Recht schnell lernt er dann ja auch Sonja kennen, die wohl die wichtigste Nebenrolle der Story einnimmt. Wie Ray sie dabei mit seiner offenen Art förmlich bedrängt und nach und nach dazu bringt sich stückweise zu öffnen, gefällt mir dabei sehr gut.


    Sonja selbst stellt ebenfalls ein absolutes Klischee dar. Total schüchtern und verschlossen begegnet sie ihren Mitmenschen und verbringt die meiste Zeit somit mit Alleinbeschäftigung. Das wirklich Schlimme daran ist aber, das ihr das scheinbar nichts auszumachen scheint. Gut, dass Ray sie da mal ein bisschen herausholt, denn solche Leute werden nicht selten das Opfer gemeiner Mitschüler, was ja später mehr oder weniger auch eintritt. Wie sie dabei aberim Pokémonkampf auftritt, ist eine absolute Blamage. Nur ausweichen, kein Selbstvertrauen, Angst um/vor jeden noch so kleinen Mist und absolut Null Talent. Ehrlich gesagt geht sie mir inzwischen ziemlich auf die Nerven mit ihrem Verhalten. Mal schauen, was Ray und Malcom aka Eagle (kommt mir bekannt vor^^) daran änder können...


    ..was mich zum nächsten Charakter bringt. Eagle scheint ja neben Finch das größte Opfer von Rays Persönlichkeit zu sein. Schon als dieser in Eagles Zimmer stürmt, was meiner Meinung nach die bislang beste und lustigst Szene der FF ist, wird einem klar, was für ein Mensch er ist. Bislang stellt er für mich den wohl interessantesten Charakter dar, da er sich selbst meist verschließt und mit anderen nichts zu tun haben will, andererseits aberauch einige Gemeinsamkeiten mit Ray zu haben scheint. So lacht er zum Beispiel einmal zu falschen Zeitpunkt über seinen Witze gegenüber Finch, kann die "Entei-Fraktion" ebenso wenig leiden und lobt Ray sogar noch für seinen Kartoffelbreiangriff. Außerdem scheint er der einzige zu sein, der wohl schon etwas Ahnung von Pokémon hat. Bin ja mal gespannt, was wir von ihm noch alles erleben dürfen.


    "Leben und lernen" stellt somit die wohl erste Internatsgeschichte dar, für die ich mich ernthaft interessiere. Du hat eine klischeereiche, aber dennoch nette Ansammlung an Personen geschaffen und beziehst sie auch gut in die Story mit ein. Nur fällt mir gerade auf, dass es ein paar Klischee weniger vielleicht auch tun würden^^. Jedenfalls scheint jeder Charakter seinen Sinn in der FF zu erfüllen und Rays Spüche und Frechheiten sind einfach nur zum Schießen. So ist die Story gleichzeitig witzig und ernst und es gibt so ziemlich für jeden Menschengeschmack etwas lohnendes zum Lesen.


    Soooo, dann mach ich hier mal Schluss. Benachrichtigung per PN oder GB wäre wiedr nett. Ansonsten viele Grüße von mir.


  • [Tabmenu][tab=Was bislang geschah]
    Ein turbulenter Start in das erste Schuljahr der Celebi-High, der renommiertesten Lehranstalt für angehende Trainer, Koordinatoren, Beobachter, Züchter, Ranger und Professoren für Ray Valentine. Nachdem er erstmal zwei ganze Tage zu spät auf dem Campus erschienen war, seinem Ruf als Schelm bereits in der ersten Sekunde in vollem Umfang nachging und sowohl seine Mitschüler als auch seine Lehrer zur Weißglut trieb, gleichzeitig aber auch eine gute Freundin in seiner Klassenkammeradin, Sonja Lynn, fand, seinen etwas exzentrischen Zimmerkameraden Malcom Granger, Rufname Eagle, langsam aber sicher nach seinen Vorstellungen formte, und schon jetzt eine unerschütterliche Freundschaft zu dem Pokémon Sheinux aufgebaut hatte, ist er nun, zu Beginn seiner zweiten Schulwoche guter Dinge. Seine liegen gebliebenen Hausaufgaben für den Pauker und selbsternannten Mathematikkönig, Professor Finch, setzen zwar bereits Staub an, aber dafür ist schließlich noch mehr als genug Zeit. Gerade jetzt kann auch von Hausaufgaben nicht die Rede sein; hatten schließlich er, Sonja und Eagle noch ihren Triumph gegen drei anmaßende Schüler der Entei-Fraktion, eines von drei verschiedenen Schulhäuser, gebührend zu feiern.
    Die Zeit aber ist unerbittlich ... Der Dienstag geht, der Mittwoch kommt, das Leben geht weiter ...


    [tab=Kapitel 6]

    ~Kapitel 6: Das Leben geht weiter~



    Part 1: Der krönende Abschluss eines Tages


    Spürbar kühler als es in den vergangenen Tagen der Fall gewesen war, neigte sich der Dienstagabend seinem unweigerlichen Ende zu. Auch wenn die sonnenbrandprovozierende Scheibe am Himmel ihr Haupt unlängst hinter den schroffen Bergen im Westen zur Ruhe gebettet hatte, hielt in so manchem Schulhaus der Celebi-High noch reges Leben einige der ruhelosen Jugendlichen auf den Beinen. So auch in dem gemütlichen Zweibettzimmer des Raikou-Schulhauses, in dem nach wie vor noch ein Licht brannte – das grelle Licht eines stromfressenden Laptops.


    „Wusstest du, dass so ein völlig Bekloppter im Netz die Soundtracks von Dr. Mario mit Lyrics versehen hat? Das muss man echt gehört haben, sag ich dir!“
    „Und wusstest du, wie scheißegal mir das doch ist? Jetzt mach endlich die Drecksmucke aus, sonst lernt der Laptop gleich das Fliegen!“
    Auch in dem Jungen-Zweibettzimmer, das sich Ray Valentine seit nun bereits einer Woche mit seinem exzentrischen Klassenkameraden Malcom Granger, Rufname Eagle, teilte, war von Nachtruhe noch nichts zu spüren. Dummerweise vertrat jeder der beiden Raikouianer eine etwas eigene Auffassung von dem idealen Abschluss seines persönlichen Dienstagabends.
    Zum wiederholten Male knallte Eagle seinen dicken Schmöker, dem er sich – wie jeden Abend – hingab – demonstrativ zu, erreichte dabei aber nicht mal ansatzweise die Lautstärke der Musik seines Zimmergefährten. Staralili, die ihr Nachtlager für diesen Abend auf der hölzernen Rückenlehne des Bettes ihres Trainers aufgeschlagen hatte, reihte sich, schrill krächzend und entrüstet mit den Flügeln schlagend, in die empörten Rufe ihres menschlichen Freundes ein. Sheinux, Rays vierbeiniger Freund, schien die Aufregung der beiden Menschen nicht wirklich zu verstehen, doch hatte es auch den Anschein, dass es ihn nicht sonderlich kümmerte. Genoss er schließlich im Augenblick Rays Streicheleinheiten auf dessen Schoß in vollen Zügen und schnurrte dabei glücklich im Einklang der Melodie.
    „Sheinux gefällt’s“, stellte Ray zufrieden lächelnd fest.
    „Was interessiert mich dein wandelnder Flohzirkus?“, bellte Eagle. „Und überhaupt: Den würde es wahrscheinlich auch noch gefallen, freiwillig in einem Abfallcontainer zu wühlen.“
    Ray legte ein feistes Grinsen auf und schnalzte mit der Zunge. „Reich an Mineralien und Eisen“, schmatzte er.
    Eagle hatte sich inzwischen drohend von seinem Bett erhoben, seinen durchbohrenden Blick ununterbrochen auf der Quelle des infernalen Lärms gerichtet. Im selben Moment aber hämmerte es wütend an die Wand. Jake Foleys Stimme, einer ihrer Klassenkameraden, forderte von seinem Nachbarzimmer aus lautstark Ruhe ein.
    Ray seufzte resignierend. „Ist ja gut ... Mach dir bloß keinen Fleck ins Hemd“, sagte er mehr zu Jake, der sich wohl hinter der meterdicken Wand wieder in seine Bettdecke eingerollt hatte, als zu Eagle, dessen aufgeheizten Atem er schon fast im Gesicht brennen fühlen konnte, und klappte seinen tragbaren Computer zu. Die Musik verstummte augenblicklich und Ruhe kehrte ein – zumindest für den Augenblick ...


    * * *


    Deutlich geruhsamer ging es dagegen in dem Mädchenquartier ein Stockwerk tiefer zu. Jede der vier Grundstuflerinnen frönte ihre ganz eigene Art, diesen mehr oder weniger gelungenen Dienstag zum Abschluss zu bringen. Nea Banner, die Älteste im Raum, war unlängst den Erschöpfungen des Tages erlegen und fand sich bereits in den schönsten Träumen wieder. Serina King, Neas obrig gelegene Bettnachbarin, fand es dagegen wesentlich interessanter, ihre Kreativität an ihrer katzengleichen Partnerin Eneco auszulassen und ihr kleine Zöpfe ins Fell zu flechten. Während Linsey Mac Cullen fluchend ihre noch nicht vollendeten Kalkulationen, die Hausaufgaben für den schülerverhassten Zahlenpauker Professor Finch, im fahlen Licht ihrer Nachtlampe vorantrieb, blätterte Sonja Lynn eine weitere Seite ihres Romans um. Die Schülerin ertappte sich dabei zum wiederholten Male, dass sie keines der überflogenen Wörter in ihrem Gedächtnis mehr abrufen konnte, geschweige denn, worum es eigentlich in den letzten paar Seiten ging. Ihr nachdenklicher Blick durchbohrte Papier und Tinte und richtete sich stur auf das über ihr liegende Holz, der Boden von Linseys Bett. Sie seufzte innerlich, blätterte zurück und fing erneut zu Lesen an.
    ... Der Holzdielenfußboden knarrte verräterisch. Der Schweiß von Francescos durchnässten Händen perlte an dem erlesenen französischen Wein ab, den er eigens für diesen Moment importiert hatte lassen. Dies war der Augenblick, auf den er so lange hingearbeitet hatte, der Augenblick, in dem er seiner Liebsten seine insgeheimen Gefühle ihr gegenüber offenbaren würde. Seine Zunge lag staubtrocken in dem kargen Ödland seiner Kehle. Anspannung und Nervenkitzel forderten seinem zitternden Leib ...
    Sonja seufzte, diesmal laut hörbar. Abermals hatte sich ihr Interesse in alle Winde verflüchtigt. Irgendwie fiel es ihr in den letzten Tagen äußerst schwer, sich für Francescos verbotene Romanze zu begeistern. Sie konnte es sich einfach nicht erklären. Lag es vielleicht an den sporadischen Flüchen, die von der über ihr gelegenen Linsey an das ihre Ohr drangen, das leise Kichern von Serina, das zufriedene Schnurren von Eneco oder sogar das kaum hörbare Aus- und Einatmen von Nea? Doch nichts von alledem beschäftigte sie tatsächlich, und das wusste sie genau. Stattdessen tauchten, während sie sich in die Rolle ihres Romanhelden Francesco hineinversetzte, der klammheimlich den Gang zu seiner Liebsten durchquerte, immer wieder die Bilder der vergangenen Tage auf. Auch konnte sie sich kaum noch auf den Unterricht der letzten Tage konzentrieren, ohne dass sie sich erneut innerlich mit der Auseinandersetzung mit den Enteis oder dem Gespräch zwischen ihr und ihren Klassenkameraden Ray und Malcom konfrontierte.
    Zum dritten und letzten Mal für diesen Abend seufzte Sonja auf. Ray und Malcom – sie beide hatten ihr ihre Unterstützung zugesagt. Ob sie sich auch daran halten würden ...?
    „Hey, Superhirn! Wenn dir langweilig ist, kannst du auch mir helfen, was hältst du davon?“ Linseys Kopf tauchte in verdrehter Richtung über Sonjas Bett auf. Auf ihrem Gesicht zeichnete sich deutlich Wut und Frustration in gleichem Maße ab. Vielsagend wedelte sie mit ihren unvollendeten Kalkulationen.
    Resignierend klappte Sonja ihren Roman zu. „Also gut ...“[/tabmenu]

  • Part 2: Langweiliger geht’s nimmer, aber schlafen hilft immer


    Noch arg verschlafen rieb sich Ray am frühen Mittwochmorgen seine restliche Müdigkeit aus den Augen, als er an Sonjas Seite in Richtung der Schule marschierte. Wo war eigentlich die Nacht geblieben? Er hätte darauf schwören können, dass er kaum die Augen geschlossen hatte, als auch schon der grelle Pfeifton seines Weckers ihn aus den gemütlichen Federn herauszitiert hatte. Wirklich begeistern konnte er sich ohnehin für den ganzen Tag kaum. Schon als er einen flüchtigen Blick auf seinen Stundenplan riskiert hatte, wurde ihm schnell bewusst, dass der gesamte Mittwoch einzig und allein darauf abzielte, doch blau zu machen. Nicht einmal eine Stunde gab es, für die er sich richtig begeistern konnte; nicht einmal eine winzige Spur von interessantem Unterricht (gab es so etwas überhaupt?) lag auf dem flüchtig von Sonja abgekritzelten Stundenplan.
    „Ich trau’ mich gar nicht zu fragen – wie sieht noch einmal der Plan für heute aus?“, gähnte Ray, während das Schulgebäude mit jedem seiner weiteren Schritte immer näher rückte.
    Sonja kratzte sich an der Augenbraue, als riefe sie ihr Gedächtnis ab. „Zwei Stunden Deutsch ...“ – Ray stöhnte schwer – „... dann eine Doppelstunde Geschichte ...“ – Ray stöhnte noch schwerer – „... gleich danach noch eine Doppelstunde, diesmal aber Erdkunde ...“ – so manch ein noch verschlafen wirkender Schüler warf dem abermals laut aufstöhnenden Raikou-Schüler einen abfälligen Blick zu – „... dann noch drei Stunden Sport. Sieht ganz gut aus, wenn man natürlich von Sport absieht“, bemerkte Sonja.
    „Du machst wohl Witze?!“, rief Ray laut auf und sah seine Freundin empört an. „Tu mir bitte den Gefallen und weck mich pünktlich zur siebten Stunde, ja? Die Mahlzeiten schiebst du mir zwischendurch einfach durch die gegebenen Öffnungen durch – nur bitte nicht durch die Ohren!“
    Sonja verschränkte missbilligend die Arme, auf das keine weiteren Worte mehr notwendig waren.
    „Ist es eigentlich zu spät, um wieder umzukehren?“, bemerkte Ray und wandte sich hoffnungsvoll herum, erspähte aber nur ein Rudel schwatzender Suicune-Mädchen aus dem zweiten Jahrgang, die ihm die Sicht versperrten.
    „Wenn es dich beruhigt, Ray: Vielleicht fällt heute Geschichte aus; es wäre nicht das erste Mal ...“, meinte Sonja.
    „Ein Hoffnungsschimmer“, seufzte Ray und rückte sich die schwer in den Rücken drückende Schultasche zurecht. „Du weißt, wie man mir ’ne Freude macht.“


    Der Deutsch-Unterricht fand in einem großen Auditorium statt. Ein Saal, der, so fand Ray, bereits zum Schlafen einlud. Er war groß, nein, geradezu gigantisch. Vermied man es also, einen der vordersten Plätze mit dem Blick schnurgeradeaus auf das Rednerpult des halbkreisförmigen Hörsaals zu besetzen, konnte man seelenruhig das nachholen, was man in der vergangenen Nacht „verschlafen“ hatte. Weitaus beunruhigender war natürlich, dass ein „Redesaal“ seinen Namen nicht umsonst hatte. Wer also in der Lage war, eins und eins zusammenzuzählen - und das vermochte Ray ausgezeichnet - der wusste genau, was ihm dieses Jahr noch blühen würde. Der leitende Professor, ein junger, kaum über die Dreißig gehender Dozent mit wahrscheinlich völlig falschen Erwartungen namens Shultz, hatte sie bereits in den frühen Montagmorgenstunden mit einem einstündigen Vortrag über Sprechen in verschiedenen Situationen gelangweilt. Was er an diesem Tage vergessen hatte, holte er nun auf und so fand sich Ray schnell wieder in seinem geliebten Wachschlaf wieder. Gelegentliche spitze Ellenbogenstöße von Sonja veranlassten ihn dazu, kurze Stichpunkte wie „Argumentieren“ oder „Diskutieren“ flüchtig zu notieren, bevor es ihn wieder in das Reich des Schlafes lockte.


    „Endlich! Nach so viel Arbeit sehnt es mich nach einem herzhaften Frühstück.“
    „Arbeit? Du hast die zwei Stunden verschlafen und dabei fröhlich meinen Block zugesabbert!“
    „Gib mir doch nicht die Schuld ... Vor lauter Kaffeepausen kann ich nachts nicht mehr schlafen. Ich hol das dann irgendwann nach.“
    „Mit ,nachholen’ meinst du ,abschreiben’“?
    „Genau!“
    Zwei Stunden waren gemeistert, sieben standen noch aus – ein nüchternes Ergebnis. Einziges Trostpflaster: Das Frühstücksbuffet blieb von diesem zähen Start in den Tag glücklicherweise unbeeindruckt und war so gut wie eh und je. Der Duft von backfrischen Brötchen, Toasts und Buttercroissants lag in der Luft, Marmeladen und andere Brotaufstriche in allen Variationen und Farben lagen griffbereit, wem es stattdessen nach etwas wirklich Warmem oder Zünftigem verlangte, der fand unter anderem in Behältern mit gebackenen Eiern, Pfannkuchen oder Bratkartoffeln reichlich Auswahl. Ray lud sich begeistert Teller und Schüsseln voll und schaufelte mit demselben Elan emsig in sich rein, als ob auf diesen Tag kein weiterer folgen würde. Gelegentlich reihte man sich – ungebeten oder nicht – in die verschiedenen Tischgespräche ein, lachte, scherzte oder ließ mit Dampf ab.
    „Ich habe für den Deutsch-Krempel mal so was von gar nichts übrig“, verkündete Linsey Mac Cullen lautstark über die Köpfe ihrer Zuhörer, folglich alle an ihrem Haustisch, hinweg. „Wenn ihr mich fragt, dann schreit das regelrecht nach Präsentationen. Mich vor den Typen dort“, sie machte mit ihrem Kopf eine schnippische Geste zu dem Suicune- und Entei-Tisch herüber, „lächerlich zu machen – darauf kann ich ehrlich gesagt gut und gern verzichten!“
    „Ganz genau!“, stimmte Ray seiner aufgebrachten Hauskameradin zu, während er sich gleichzeitig Müsli in den Mund schaufelte.
    „Ich verstehe ohnehin nicht, wofür wir Deutsch-Unterricht bekommen“, meinte ihre Sitznachbarin Nea Banner zwar wesentlich leiser, dafür aber nicht weniger verständlich.
    „Richtige Einstellung“, reihte sich Ray in so manches Kopfnicken in näherer Umgebung ein.
    „Ein paar Stunden Erdkunde fände ich dafür ganz nett“, sagte Jake Foley, was aber, ignorierte man Rays „Aber sowas von!“ zu weit auseinanderreichenden Meinungen sorgte.
    „Erdkunde? Aber sonst geht es dir noch gut, ja?“, hämmerte Linsey auf den Tisch. „Sport, und nichts anderes!“ („Du sagst es!“)
    „Sport?“ wiederholte Jake und verzog abfällig das Gesicht. „Und da beschwerst du dich ernsthaft über Erdkunde?“ („Jeah!“)
    „Pokémon-Pflege wäre cool; Professor Joy ist wirklich nett“, schwärmte Nea. („Ganz genau!)
    „Ihr habt ja alle einen an der Waffel!“, mokierte sich Linsey. („Prost!“) „Sag mal, hast du irgend etwas genommen oder warum quakst du die ganze Zeit dazwischen?“ Linsey hatte sich mit bösem Blick an Ray gewand.
    Ray legte den Löffel beiseite und grinste. „Jupp! ’ne Überdosis von dir und du siehst das Endergebnis. Wer bei dir nicht den Verstand verliert, hat nie einen gehabt.“
    Alle lachten, Linsey natürlich ausgenommen, welcher stattdessen ein wütender Schatten über das Gesicht huschte; Sonja aber, wie Ray feststellen musste, blieb, wie auch die ganze Zeit über schon, ebenfalls stumm.
    „Na, dann teile deine Weisheit mit uns, du Clown“, blaffte Linsey mit geröteten Wangen Ray an. „Was würdest du für Deutsch tauschen wollen?“
    Ray kratzte sich kurz am Kinn, grinste dann aber gleich wieder über beide Ohren hinweg. „Erdkunde klingt doch gut“, sagte er unter Jakes zwischenzeitlichen „Sag ich doch!“. „Dann könnten wir vielleicht endlich die Frage klären, warum die Sommer immer wärmer und länger werden, die Ferien aber so kurz bleiben. Was meinst du, Sonja?“
    Auf allgemeines Glucksen über Rays Bemerkung schweiften die Blicke zu Sonja herüber, die die ganze Zeit über völlig still an ihrem kargen Frühstück, zwei dürftig mit Honig bestrichene Brötchen, geknabbert hatte. Sie war beim Klang ihres Namens ein wenig erschrocken zusammengezuckt und sah ebenso bestürzt in die Runde.
    „Und?“, hakte Ray freundlich nach, nachdem sich Sonja, die Zähne auf die Lippen beißend, wieder abgewandt hatte.
    „Mhmm ...“, murmelte sie leise, weiterhin die Blicke aller Anwesenden meidend, „K-Kunst wäre schön ...“
    Linsey schien ansatzweise mit der Antwort zufrieden. „Kunst? Naja, immer noch besser als Erdkunde.“ Sie und Jake tauschten gehässige Blicke.
    „Da wirst du aber mit ihm Probleme kriegen – er kann Kunst nicht ausstehen“, flüsterte Nea leise, aber trotzdem gut hörbar. Sie winkte mit dem Kopf in Richtung eines sich schnell entfernenden Schülers: ihren Klassenkameraden Malcom Granger, aka Eagle, der, wie zu jeder Pause, recht früh und stets alleine die Mensa verließ.


    So manch einer hätte wohl mit Rays Vorschlag, den weiteren Unterricht auf Antrag doch in die Mensa zu verlegen, problemlos übereingestimmt. Dummerweise musste sich aber selbst der Vorschlagsgeber die Unwahrscheinlichkeit dieses Gedankens eingestehen, weswegen man sich – mit stark auseinandergehender Euphorie – schließlich dann doch im Klassensaal für den Geschichtsunterricht wiederfand. Und so wartete man ... wartete auf die Ankunft ihres Lehrers. Professor Novák hatte seine Klasse, die für seinen Unterricht nur aus dem Raikou-Schulhaus bestand, bereits am Montag – entschuldigt – sitzen gelassen. Da aber für den heutigen Tag keine Anmerkung auf dem Vertretungsplan verzeichnet war, besaßen nur wenige Schüler Hoffnung auf abermalige Freistunden. Mit jeder Minute aber, die aufsichtslos verstrich, keimte neuer Glauben auf, womit selbstverständlich auch der Lautstärkepegel im Raum wuchs. Das, was man also in den frühen Morgenstunden nicht ausgiebig genug mit seinen Kameraden debattieren konnte, wurde wieder aufgewärmt, schick mit einigen mehr oder weniger glaubhaften Gespinsten garniert und seinesgleichen mundgerecht serviert; bis schließlich eine Tür in ihre Angeln krachte, lackiertes Schuhwerk über den Boden des Klassensaals stapfte und eine schwarze Kunststofftasche auf das Lehrerpult knallte, woraufhin jeglicher Lärm und Hoffnungsschimmer in gleichem Maß erstickten.
    Dies war Professor Novák, von dem Ray flüchtig einiges gehört hatte. Der bärtige Pauker im gehobenen Alter galt unter vielen Schülern als äußerst arbeitswütig im Bezug auf seine Pflichten als Konrektor, gleichzeitig aber im Rahmen der Ausübung seines Unterrichts auch als launisch. Manche behaupten sogar, er besäße Abneigung gegen seine Schüler und ihre lästigen, zeitraubenden Fragen. Ein typischer Fall von Erwachsenen, die ihre Arbeit nicht leiden konnten.
    Professor Novák überraschte aber nicht nur mit seiner unerwarteten Anwesenheit allein, nein, er verstieß sogar gegen eine bislang ungebrochene, ungeschriebene Regel, nämlich die, dass man bei seiner ersten Unterrichtsstunde in einer Klasse erst einmal die Anwesenheit abrufen musste, ganz gleich um welche Woche – in diesem Fall die zweite - es sich handelte. Ray, der wie immer seinen Logenplatz an der Seite Sonjas in der ersten Reihe hatte, schnappte flüchtiges leises Gefluche seines in der Aktentasche kramenden Lehrers auf, das stark einem wütenden Knurren ähnelte.
    „Also ...“, begann Professor Novák, nachdem seine aktentaschenwühlenden Hände endlich ihren Frieden fanden, und klang dabei nun, da er für alle gut hörbar war, nur noch fuchsiger. „Ich erwarte in meinem Unterricht keine Mätzchen von euch. Wer denkt, er könne Ärger machen, der fliegt!“ Professor Novák blinzelte kaum, während er sprach. Dafür verstand er es außerordentlich gut, seine Stimme bei jedem einzelnen seiner Worte zu erheben und sie lauter und lauter werden zu lassen. Ohne seinen gereizten Blick von seinen Schülern abzuwenden, deutete er drohend auf die verschlossene Tür. „Bücher aufschlagen - Kapitel 1 lesen – keinen Mucks, bis ich wieder komme!“
    Unter den perplexen Blicken der gesamten Schülerschaft im Raum verließ Professor Novák mit weiten Schritten den Raum. Die Tür knallte hinter ihm zu. Kaum einer der Klasse - Ray bildete da auch keine Ausnahme - machte sich die Mühe, sein langweiliges, knochentrockenes Geschichtsbuch sofort aus der Tasche zu kramen, sondern nutzte die Gunst der Schunde, um seinen Klassenkameraden verschlagen grinsende Gesichtsausdrücke zuzuwerfen.
    „So gelob ich mir das“, schmunzelte Ray. „Gute Nacht!“ Er vergrub seinen Kopf in seinen verschränkten Armen auf dem Tisch.
    „Ray!“, zischte Sonja streng. Sie war eine der wenigen, die ihres Professors Aufforderung sofort nachgegangen war und sich seitenschlagend über den Inhalt des Geschichtsbuchs hermachte. „Das kannst du nicht tun! Was, wenn er zurück kommt? Du handelst dir gewaltigen Ärger ein!“
    Ray lachte in die Finsternis seines provisorischen Kopfkissens hinein. „Zuerst schließen wir die Augen, dann sehen wir weiter.“

  • Part 3: Schuld und Sühne


    „Und das haben tatsächlich Sie gemacht?“ Skeptisch rückte der allseits beliebte Professor Zarin Finch an diesem Donnerstagmorgen sein halbkreisförmiges Nasenfahrrad zurecht, während er naserümpfend die Mathematik-Hausaufgabe seines nicht gerade musterhaften Schülers inspizierte.
    „Gibt es da etwa einen Zweifel?“ Nicht allzu oft blinzeln und unter keinen Umständen erlauben, dass sich auf dem Gesicht eine humoristische Falte bildete, auf die der Gegenüber hellhörig werden könnte, - das waren die Überlebensmottos, wollte man seinen Lehrer mit eins zu eins abgeschriebenen Hausaufgaben gegenübertreten und somit aufs Kreuz legen. Eine Regel, die Ray Valentine wie kein anderer im Raum beherrschte. Er lebte und atmete sie. Sein ausdrucksloses Pokerface war unübertroffen wie eh und je, der Herzschlag westenrein regelmäßig und sein ganzes Auftreten scheinbar frei von jeder Sünde. Als ob er kein Wässerchen hätte trüben können, schnippte Ray seinen Bleistift mit unschuldiger Miene zwischen seinen Fingern hin und her, ließ dabei aber nicht den Blickkontakt mit sich und seinem Mathematik-Lehrer fallen. „Und“, frage Ray schließlich.
    Professor Finchs Nase berührte fast die makellos von Sonja Lynn abgeschriebenen Formeln. Ein-, zweimal glaubte Ray, seinen aufdringlichen Lehrer deutlich zu Sonja herüberlinsen zu sehen, die dummerweise aufsehenerregend ihre Fingernägel bearbeitete und sich angespannt auf die ohnehin bebende Unterlippe biss. Der Erfolg des Tages hing einzig davon ab, dass Sonja keinesfalls ihre ohnehin papierdünnen Nerven verlor.
    Die Sekunden zogen sich wie klebriger Kaugummi mit Cola-Geschmack in die Länge. Sonja, neben Ray sitzend, rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. Die Beine des Stuhls kratzten nervös über den Boden. Ein Kugelschreiber fiel ihr vom Tisch. Sie tauchte ab und grabschte ihn mit ihren zitternden und schweißnassen Fingern vom Boden auf. Kurz erhaschte sie dabei noch einen Blick auf die makellos polierten schwarzen Lackschuhe ihres Lehrers, bevor diese einen aussagekräftigen Schritt zur nächsten Bank machten.
    Ein hässliches Symbol, wohl ein geringschätziges Zeichen der Anerkennung, zierte Rays Aufgabenblatt. Zufrieden lehnte er sich zurück, indessen Professor Finch seine Klassenkameraden mit seinem Mundgeruch belästigte.


    Die Meinungen über den perfekten Start in den Donnerstag gingen hier weit auseinander. Sonja atmete erleichtert, nicht aber zu auffällig, auf.
    „Wie konnte ich mich nur von dir überreden lassen ...? Wie nur ...?“, hauchte sie mit brüchiger Stimme und das Gesicht in ihren Handflächen vergraben. „Der schöpft doch eindeutig Verdacht ...“
    „Ach, I wo!“, versuchte Ray seine Freundin zu beschwichtigen. „Was soll er tun? Mir für den einzig richtigen Rechenweg und das einzig richtige Endergebnis Punkte abziehen? – Ich könnte ja zukünftig ein paar Fehlerchen einschmuggeln, wenn es dir lieber ist.“
    Sonjas Augen blitzten aus einem Spalt in ihren Handflächen hervor. „Wie wäre es, wenn du zukünftig deine Hausaufgaben selbst machen würdest?“, trat ihre gedämpfte Stimme hervor.
    „Hm ...“, grübelte Ray. Natürlich fühlte er mit Sonja mit. Dass es ihr nicht sonderlich recht war, als er sie darum bat, von ihr am gestrigen abschreiben zu dürfen, das war deutlich aus einem minutenlangen verbalen Schlagabtausch zwischen ihnen beiden hervorgegangen. Dennoch hatte er es geschafft, sie trotz ihrer Argumente von mogeln bis zu Unrecht hin irgendwie breitzuschlagen. Ein wenig Nervenkitzel am Morgen – das weckte schon immer die Lebensgeister in Rays Schulalltag, wie ein zweites Frühstück. Ray betrachtete nun aber seine Freundin etwas genauer. Sie so mit blank liegenden Nerven dasitzen zu sehen, erweckte in ihm stark den Eindruck, dass ihr dieses „zweite Frühstück“ doch arg im Magen lag. Konnte er es auf Dauer verantworten, Sonja wegen seiner Bequemlichkeit stets ein Magengeschwür zu verpassen, sie kontinuierlich so leiden zu lassen? Nein, das konnte er beim besten Willen nicht, das meinte zumindest das Gefühl, welches in seiner Brust schuldbewusst ziepte. Das hatte sie und ihre freundschaftlich offene Art einfach nicht verdient – zumindest nicht jeden Tag.
    „Also gut ...“, seufzte Ray. „Ich werde dich dann allerdings bei offenen Fragen, also eigentlich immer, anhauen, ja?“
    Sonjas Gesicht wanderte wieder aus den Tiefen ihrer Handflächen an die Oberfläche hervor. „Kein Problem!“, strahlte sie.
    Das Stechen in seiner Brust gewann an Intensität, während er seine Freundin über beide Ohren hinweg strahlen sah. Vielleicht hätte er ihr noch sagen sollen, dass er außerdem noch die Hausaufgaben für Pokémon-Training bei ihr abgeschrieben hatte. Warum ihr aber den Tag schon jetzt ganz verderben ...?

  • Part 4: Das Leben eines Redakteurs


    Die Sonne schien hell. Es war ein schöner Tag.
    Matthias stieg aus seinem Bett auf und sagte: „Heute wird ein toller Tag!“
    Matthias ging die Treppe hinunter. Da sagte die Mutter: „Viel Spaß beim Spielen!“
    Er ging hinaus, da traf er Sebastian. Die beiden spielten. Und schon war es Mittag.
    „Matthias! Essen!“, rief die Mutter.
    Matthias ging ...


    „Was soll das sein? Was treibst du da eigentlich?“
    An dieser Stelle setzte Ray nachdenklich seinen Bleistift ab. Mit dem Ende des Lasters von Professor Finchs Mathematik-Unterrichts, der längst abgeklungenen Frühstückspause und des schon fast ersichtlichen Finales des Gemeinschaftskunde-Unterrichts rückte der ersehnte Abschluss des Schultages immer näher. Nur noch wenige Minuten trennten Professor Cenras Gemeinschaftskunde-Klasse von vom Ende der vierten Stunde.
    „Nach was sieht es denn aus? Ich schreibe, siehst du doch“, antwortete Ray seinem neugierig auf seinen Schriftzug linsenden Zimmer- und Klassenkameraden.
    Eagle lächelte amüsiert. „Ach, du kannst schreiben?“
    „Besonders gut abschreiben“, feixte Ray. Sonja, die linker Hand zu Ray saß, schnaubte merkbar auf, beugte sich aber gleichzeitig interessiert über das Manuskript ihres Freundes. Auch Eagles Augen huschten nun in aller Eile über Rays knappen Aufsatz. Es war äußerst schwierig, den Ausdruck in seinem Gesicht zu deuten; irgendein Zwischending von jemandem, dem man soeben einen äußerst vulgären Witz erzählte und ihm saure Milch servierte.
    „Und?“, fragte Ray, als sich beide, Sonja und Eagle, flüchtige Blicke über seinen Kopf hinaus zuwarfen.
    „Es ist ... nun ja ...“, begann Sonja äußerst auf ihre weiteren Worte bedacht. Eagle übernahm das Beenden ihres Satzes für sie.
    „Ein Abführmittel des guten Geschmacks“, sagte er. „Wofür soll das sein? Wen willst du damit zu Tode sülzen?“
    „Ich schreibe mich gerade für meine Arbeitsgemeinschaft ein – aber klar, dass du mit meinem Talent nicht wirklich mithalten kannst.“
    „Arbeitsgemeinschaft?“ Eagle legte theatralisch die Stirn in Falten. „Welche soll das sein? Der Club der Verlierer?“ Eagle musste über seinen eigenen Witz heftig glucksen.
    „Schülerzeitung“, knurrte Sonja anstelle von Ray knapp.
    Eagle beugte sich ein Stück weit über seine Bank, um an Ray, der zwischen ihm und Sonja saß, vorbeisehen zu können. „Er ist mit dir in der Schülerzeitung? Ernsthaft?“, lachte er ungläubig auf.
    „Ein Problem?“, fragte Sonja.
    „Wollte ich dich ohnehin mal fragen: In welcher AG hat es dich eigentlich verschlagen? Einen Club für Lackaffen gab es doch eigentlich nicht, oder?“, entgegnete Ray feist grinsend.
    „Ich geb’ dir gleich ,Lackaffe’!“
    „Mr. Granger, wollen sie vielleicht mich und den Rest der Klasse an Ihrer hübschen, kleinen Unterhaltung teilhaben lassen? Nach meiner Uhr ist noch immer Unterricht.“
    Von Professor Cenra direkt beim Namen genannt, zuckte Eagle alarmiert zusammen. Erschrocken wandte er sich um. Seine Lehrerin, die ihre Runden zwischen den einzelnen Arbeitsgruppen machte, und sämtliche seiner Klassenkameraden starrten zu ihm, Ray und Sonja nach vorne. Eagles Ohren liefen rot an. „N-nein, Professor. Entschuldigung. - Ich bin doch nicht bescheuert ...“ Letzteres flüsterte er so leise, dass es selbst kaum Rays Ohr erreichte. Dann aber wandte er sich noch einmal zu seinem Banknachbar herüber. Er grinste verschlagen. „Pokémon-Training natürlich.“


    Der Geruch von Technik und die markanten Tastenklänge lagen bereits in der Luft und stimmten perfekt in das Orchester der fröhlich summenden Computer ein, als Ray und Sonja ihre Plätze in der Redaktion der Schülerzeitung einnahmen. Professor Liva hatte offenbar ihren ganzen Einfluss als Schulleiterin spielen gelassen, denn der EDV-Raum, der in der letzten Woche provisorisch für die Vorstellung der AG herhalten hatte müssen, wurde wie eine schlechte Beziehung ohne Happy End einfach hinter sich gelassen und für ein topmodern eingerichtetes Großraumbüro eingetauscht. Schreibtische standen paarweise überall im Raum verstreut – weit genug, damit sich auf dem hauchdünnen, grauen Teppichboden große Gänge bildeten, nicht aber, dass man den Blickkontakt mit seinem Nachbar verlieren konnte. Die bequemsten Schreibtischstühle, die man sich überhaupt vorstellen konnte, standen für arbeitseifrige Jungredakteure bereit. Pinnwände und Mindmaps zierten die lange Nordwand der Redaktion, hingegen Zeitungsartikel längst vergangener Tage die beiden großen Stützsäulen einkleideten. Die breitesten und hochauflösesten Flachbildmonitore projizierten bereits erwartungsvoll die Bilder von scheinbar nigelnagelneuen und auf Hochglanz polierten PCs. Wollte man stattdessen seiner Kreativität auf einfachem Papier frönen, so waren bereits sämtliche Schreibtische mit den notwendigsten Büroutensilien gespickt.
    Ray wollte aus dem Staunen gar nicht herauskommen. Ohnehin hatte er nicht seinen Ohren trauen wollen, als Sonja zu ihm meinte, die Schülerzeitung würde für den Rest des Jahres nicht in einem hundsgewöhnlichen Klassensaal, sondern in einem Nebenraum des Sekretariats tagen. Sein Blick verharrte noch eine ganze Weile auf dem Bild eines Politikers, der ihm, mit einem anderen Krawattenträger sympathisierend und händeschüttelnd, aus einem Zeitungsartikel von vor etwa vier Jahren heraus verlogen anlächelte.
    „Ich beneide deinen Kumpel keineswegs“, meinte Sonja selbstzufrieden lächelnd, während sie leicht auf ihrem Drehstuhl auf und ab wippte.
    „Es hat schon irgendwie Stil, ja“, gab Ray anerkennend zu.


    Leere Schreibtische wurden nach und nach von Schülern in den Farben Gelb, Rot und Blau aller drei Jahrgangsstufen besetzt. Soweit Ray allerdings urteilen konnte, waren er und Sonja bislang die einzigen Vertreter ihres Hauses der Grundstufe. Doch noch schienen nicht sämtliche Mitwirkende der Arbeitsgemeinschaft eingetroffen zu sein, denn die Schulleiterin – und ihres Zeichens Chefredakteurin -, die bereits bei Rays und Sonjas Ankunft mit ihrer Anwesenheit geglänzt hatte, bearbeitete weiterhin unbeeindruckt ihre Tastatur. Nur noch einer der elf Schreibtische war schließlich noch unbesetzt.


    Ray wusste plötzlich nicht, wo er zuerst hätte hinsehen sollen. Zu den angenehmen Klängen von zufrieden schnurrenden Computern, der unaufhörlich klappernden Tastatur der Schulleiterin und leisem Getuschel zwischen den Anwesenden gesellten sich auf einmal zwei Stimmpaare wie sie unterschiedlicher nicht hätte sein können. Letztendlich entschied er sich für seine Sitznachbarin, von deren jähem Ausruf der Frustration und des Widerwillens er anfangs so geschockt war, dass er im ersten Moment tatsächlich geglaubt hatte, nicht die ihm wohlvertraute Sonja, sondern Linsey hätte neben ihm gesessen. Das Gesicht seiner Freundin sprach Bände. Ihre Augen rollten genervt in die höchsten Höhen ihrer Augenhöhlen, die Nasenflügel weiteten sich missbilligend, durch ihre makellos weißen Zähne hauchte eine niemals von Ray wahrgenommene Form von kalter Bitterkeit. Sonjas schnippische Kopfbewegung fand bei drei blauuniformierten, strohblonden Schülerinnen der ersten Jahrgangsstufe ihr Ziel, die leise giggelnd die Türschwelle überschritten. Ray hatte die Suicune-Mädchen noch flüchtig von dem letztwöchigen Schnupperkurs in Erinnerung, ihre Namen hatte er allerdings wieder vergessen.
    „Was ist? Was hast du?“
    „Das sind ...“
    Weiter kam Sonja aber nicht. Die Ankunft der Nachzügler war offenbar das Ereignis, auf das die Schulleiterin gewartet hatte, denn das unaufhörliche Klappern ihrer Tastatur erstarb mit der Tür, die gut hörbar in ihre Angeln flog („Pass doch auf, du Trampeltier!“ – „Hihihi!“).
    Professor Liva erhob sich, die drei Schülerinnen besetzten dagegen den letzten noch freien Schreibtisch im Raum, nicht unweit von Rays und Sonjas Arbeitsplatz entfernt, sehr zum Leidwesen der Letzteren. Feierlich schaute die Direktorin in die Runde, blickte zufrieden in jedes der Gesichter ihrer Studenten.
    „Willkommen!“, sagte sie strahlend. „Ich freue mich, euch hier bei diesem großen kleinen Projekt begrüßen zu dürfen und bin sogar teilweise etwas gerührt, dass einige von euch ...“, Ray glaubte, die Direktorin gezielt in seine Richtung schielen zu sehen, „... den Verlockungen der anderen Arbeitsgemeinschaften, die wahrscheinlich nicht weniger als diese hier zu bieten haben, widerstehen konnten und es in unsere hübsche, kleine Runde verschlagen haben.“
    Ein wenig konnte Ray nun doch etwas nachvollziehen, warum Sonja eine deutliche Spur der Aversion gegen die Suicune-Mädchen übrig hatte, denn waren sie die einzigen im Saal, die sich offenbar keinen Hehl aus der Rede der Direktorin machten und sich unverblümt leise miteinander unterhielten. Professor Liva aber - obgleich sich Ray sehr sicher war, dass sie dies natürlich bemerkte – fuhr unbeirrt mit ihrer Rede fort.
    „Ich möchte euch nun hier nicht mit den Einzelheiten langweilen. Dafür bietet sich im Laufe der Zeit sicherlich noch so manch eine Gelegenheit. Außerdem denke ich, dass viele von euch es sicherlich gar nicht mehr erwarten können, ihre Talente zur Schau zu stellen und zu beweisen, welch gar großer Künstler und kreative Ader in ihm steckt. Ihr wisst Bescheid, ihr wisst, um was es geht: eine Schülerzeitung, von Schülern, für Schüler. Ich bin zuversichtlich, dass wir gemeinsam, mit eurer Unterstützung, mit eurem Tatendrang, mit eurem Engagement noch dieses Jahr einige Ausgaben auf die Beine stellen können und ein Grundgerüst für kommende Generationen setzen werden.


    Fast beide Schulstunden wurden für das nachfolgende Brainstorming in Anspruch genommen. Am Ende übersäten dutzende Vorschläge über lohnenswerte Themen, die eventuell für die erste Ausgabe in Frage kamen, die zwei Pinnwände im Raum. Auf einen Veröffentlichungstermin für die Erstausgabe wollte man sich aber zu dieser Stunde noch nicht festsetzen.
    Den Kopf auf ihre abgewinkelte Handfläche gestützt, überflog Sonja die Palette an Einfällen, von denen sich ein jedes Arbeitsteam einen heraussuchen sollte. Man sah zweifelsohne, dass die Ideen von einer informativen Zeitung sehr weit auseinandergingen. Der größte Themenblock lag natürlich auf der Schule: Lehrer, Unterricht, Freizeitangebote, Gerüchteküche (wer ging mit wem?), das Essen in der Mensa, ... Das Übliche eben. Dann waren da natürlich noch die etwas extravaganteren Vorschläge: Aktuelle Politik, Weltgeschehen, Sport, Mode und Trends, ... Bei diesem - in zuckersüßem Pink geschriebenen – Vorschlag konnte es sich Sonja einfach nicht verkneifen, den drei Suicune-Mädchen, von denen dieser Einfall gekommen war, einen abwertenden Blick zuzuwerfen. Sonja zweifelte doch sehr daran, dass eine der drei aufgetakelten und modefanatischen Puderquasten das nötige Know-how hatte, wirklich eine Hilfe bei dem Entwerfen der Zeitung zu sein, geschweige denn, sich dabei bloß keinen der falschen, rosaroten Fingernägel abzubrechen. Bislang hatten die drei Mädels jede Chance genutzt, sich aus den notwendigsten Arbeiten herauszuhalten, es gleichzeitig aber nicht versäumt, über jeden anderen hinter ihrem Rücken herzuziehen. Sie waren insgeheim einer der Gründe, warum Sonja den Sportunterricht verabscheute, denn eben dort bot sich für sie stets die Gelegenheit, andere, insbesondere natürlich die unsportliche und manchmal etwas tollpatschige Sonja, mit ihren höhnischen Bemerkungen zu kränken. Sie waren einfach nur ... saublöd.
    „Sieht gut aus!“, verkündete Ray strahlend und nahm wieder an seinem und Sonjas Schreibtisch Platz. Er war einer von vielen auf der Wanderschaft von Tisch zu Tisch gewesen, um sich mit den anderen themenbezüglich auszutauschen.
    „Was meinst du?“, fragte Sonja mit hoch erhobener Augenbraue.
    „Na, unser Thema natürlich! Es ist noch frei. Reißt sich aber offenbar auch niemand sonderlich drum.“
    Ihre Augenbraue wanderte merkbar noch ein gutes Stück nach oben. „Ich wusste gar nicht, dass wir schon ein Thema haben“, deutete Sonja ihre Ratlosigkeit an.
    „Was denkst du denn?“, lachte Ray. „Von dem ganzen Krempel da vorne“, er nickte Richtung der mit Steckzetteln überquellenden Pinnwände, „kommt doch nur eines in Frage: Wir schreiben einen richtig bissigen Lehrerartikel!“
    Sonjas Lippen schürzten sich nachdenklich. Zugegeben: Der Einfall ihres Freundes war nicht von schlechten Eltern. Ein sachliches Interview, vielleicht ein paar wirklich unbekannte und interessante Hintergrundinfos ans Tageslicht bringen und den Lesern fein säuberlich und detailliert präsentieren. Eines aber störte sie doch. „Muss es denn wirklich bissig sein?“
    „Wir können natürlich auch einen Bericht über Mundwasser zu Papier bringen“, schulterzuckte Ray.
    „Mundwasser?“, runzelte Sonja die Stirn. „Wie kommst du auf die Idee?“
    „Wurde mir von den drei gackernden Hühnern dort drüben vorgeschlagen.“ Im selben Moment, als Rays und Sonjas Augen zu den Suicune-Mädchen huschten, fingen diese die Blicke ihrer beiden Beobachter auf, woraufhin sie in einem erneuten Kicherchor übereinstimmten. „Sie meinten, ich hätte es bitter nötig“, sagte Ray amüsiert grinsend und wandte sich wieder von dem Anblick seiner Schulkameradinnen ab.
    „Stört dich das gar nicht?“
    „Nö“, antwortete Ray mit gleichgültiger Stimme, während er auf seinem Schreibtischstuhl im Gleichtakt vor und zurück wippte. „Sie haben ja Recht.“ Ray hauchte sich auf die Hand, schnüffelte und verzog im Anschluss übertrieben affektiert das Gesicht. „Seit ich Finch kenne, esse ich morgens immer Knoblauchbrot. Das hält mir ihn und anderes Ungeziefer vom Leib. – Also, wie sieht es aus? Lehrerartikel: Hop oder top?

  • Heyho Eagle,
    dachte mir, es sei mal wieder Zeit, dir was da zu lassen. Sind ja inzwischen einige Parts erschienen, seit deiner Pause in dieser FF und wollte einfach mal wieder Feedback geben. Aber um ehrlich zu sein, weiß ich kaum, was ich dirsagen soll...
    Mir ist schon klar, dass die erschienenen Parts recht kurz gehalten werden, da ein einzelnes Kapitel aus 3-5 von ihnen besteht. Aber bisher snd die allesamt eher ereignislos. Das Wort "Langeweile" will ich hier zwar auf keinen Fall gebrauchen, aber zur Zeit fehlt es mir deutlich an Action und Dramatik. Die Ereignisse ziehen sich langsam und gemütlich ohne jeden Stress dahin, dabei haben Ray, Sonja und Eagle eigentlich mehr als genug zu tun. Sonja muss endlich das Kämpfen auf die Reihe kriegen, Eagle muss weiter mürrisch sein und trainieren, um Ray zu einer Revanche fordern zu können und Ray muss seine Witze und Kommentare zum Besten geben. Hinzu kommt der Zwist mit der Eintei-Fraktion. Dass gerade der Schulstress derart in den Fordergrund gerückt wird, finde ich ein wenig schade und macht die FF etwas...(sag jetzt nicht "langweilig") zäh. (Reife Leistung)
    Ich will dir dmit aber keinesfalls vorschreiben, was du zu tun hast, doch ich hielt es jetzt einfach mal für angebracht, das zu sagen. Das ganze soll übrigens nicht heißen, dass die letzten Parts Dreck sind. Schließlich sind sie wie immer sauber geschrieben und erstklassig formuliert und soweit ich das jetzt gesehen habe auch völlig frei von Rechtschreibfehlern. Denk vielleicht einmal darüber, vielleicht hilft es ja was.


    Naja, mach dann mal Schluss. Bis denne Eagle

  • Part 5: Blau – Gelb – Rot


    Der heiß ersehnte Geruch der Freiheit lag in der schwülwarmen Freitagnachmittagsluft: Wochenende! Für so manch einen strapazierten und von den Anstrengungen der Woche gebeutelten Schüler die Gelegenheit, endlich dem Plagen zu entsagen und entspannt auszuatmen. Andere wiederum, die der allgegenwärtigen Präsenz der Schule und der wie sprödes Laub an einem durchwachsenden Herbsttag in der Luft liegende Bildung nicht den Rücken zukehren konnten oder gar wollten, nutzen ihre kurze „Freizeit“ für Hausaufgaben oder zur Vorbereitungen für die in schier unendlichen Weiten liegende Prüfungen. Ein solides Mittelmaß zu finden, war für Ray bislang nicht sonderlich schwierig gewesen. Chillen bis zum Abwinken und auf den letzten Drücker – meist im matten, sonntagabendlichen Schein seiner Nachttischlampe – flüchtig die fälligen Hausaufgaben auf einen Fetzen Papier schmieren. Doch noch hatte das Wochenende für den jungen Raikouianer nicht begonnen, anders konnte er sich zumindest nicht den Umstand erklären, warum er sich noch immer in dem unangenehmen, düsteren Schatten des Schulgebäudes befand und mit Sonja über eigentlich indiskutable Schulangelegenheiten philosophierte.


    Nächst zu den Treppen, die zu dem schülerhungrigen Hintereingang der Celebi-High führten, ließ Ray lässig seine Beine von einer aus weißem Marmor gemeißelten, hohen Mauer baumeln und beobachtete dabei interessiert das Treiben der beiden vierbeinigen Geschöpfe, die nicht unweit seiner Position im Gras tollten. Es war seine Idee gewesen, Sheinux und Evoli doch einmal richtig die Gelegenheit zu geben, sich „zu beschnuppern“ und kennen lernen zu lassen. Amüsiert hatte Ray anfangs feststellen müssen, dass Evoli, die von ihrer Trainerin in spe ohnehin recht selten in seiner Anwesenheit auf der Bildfläche erscheinen durfte, von ihrer Reaktion, als Sheinux sie auf Pokémonlatein angesprochen hatte, sehr ähnlich Sonja bei ihrer und Rays ersten Begegnung reagiert hatte: Verschlossen, schüchtern, ängstlich. Nach ein paar lieb gemeinten Neckereien von Sheinux aber, konnte Evoli – wie damals Sonja – ihre Scheu zum größten Teil ablegen und sich dem Fangspiel ihres Artgenossen schließlich einreihen. Ray glaubte dabei felsenfest zu erkennen, wie Sheinux, der flink und leichtfüßig immer wieder seiner Spielkameradin auswich, Evoli wiederholt aufmunterte und Mut zusprach, es doch weiter zu versuchen. Die Ähnlichkeit von Mensch und Pokémon war in dieser Beziehung unumstritten und schon fast beängstigend.
    „Sonja, das musst du dir unbedingt ansehen!“
    Deutlich weniger lässig als es bei Ray der Fall war, hatte Sonja lediglich auf der untersten Treppenstufe gesessen, wanderte aber nun auf dem Schotterweg auf und ab und suchte etwas mehr Licht. Ihre ganze Aufmerksamkeit richtete sich dabei auf die recht komplexe Bedienung einer Digitalkamera. Ihre Gesichtszüge waren hochkonzentriert, während ihre geschmeidigen Finger zielstrebig das kleine Bedienungsfeld bearbeiteten. War sie zwar in ihrem Fokus, hinter das Geheimnis des hochtechnisierten Meisterstücks zu kommen, gefangen, runzelte sie nun, während sie auf das Display starrte, fragend die Stirn und wandte sich an ihren Freund.
    „Sag mal, Ray, was soll das sein?“
    Elegant schwang sich Ray von seiner steinernen Aussichtsplattform herab. Er beugte sich über Sonjas Schultern. „Nach was sieht es denn aus? Bilder von mir natürlich.“
    „Das sehe ich auch“, antwortete Sonja unwirsch. „Ich meine, was die Bilder sollen?“
    Ray räusperte sich wichtigtuerisch affektiert, als er die Kamera in seine Hände nahm. „Darf ich vorstellen: Sheinux beim Schlafen – ist er nicht goldig?“ Tatsächlich sah man auf der digitalen Photographie Sheinux, auf Rays Kopfkissen eingekringelt, dösen. „Dann hätten wir dann noch: Sheinux beim Essen – ein echter Gourmet, musst du wissen. Nicht zu vergessen: Sheinux beim ...“
    „Wieso Sheinux?“, unterbrach Sonja ihren Freund in dessen Ausfertigungen.
    Ray zuckte die Schultern. „Wieso nicht Sheinux?“
    Schwankend zwischen Missbilligung und Vergnügen seufzte Sonja merkbar auf. „Auf Knien habe ich Professor Liva angebettelt, um ihr diese Kamera aus den Fingern zu leiern. Ich glaube kaum, dass sie ausgerechnet darüber sonderlich erfreut wäre ...“
    „Bis wir den Artikel über Finch schreiben, kann ich doch noch etwas mein Schindluder damit treiben. Kommt doch eh keiner dahinter und schaden tut es auch niemandem. Was spricht also dagegen?“
    Der fassungslose Ausdruck in Sonjas Augen war ein bisher einzigartiges Erlebnis. Bestürzt sah sie ihren Freund an. „Finch? Du willst tatsächlich über Finch schreiben?“
    „Natürlich!“, sagte Ray. „Was dachtest du denn?“
    „Ich – äh, ich dachte nicht ... ausgerechnet du ...“
    Ray verdrehte die Augen. „Finch ist doch prädestiniert für unseren ersten Artikel. Das wird der Knüller, die Topstory schlechthin. Ich muss ihn nur noch auf frischer Tat ertappen, wie er kleine Kinder zum Frühstück frisst oder alternativ ihn beim Popeln erwischen. Ich rieche schon die Schlagzeilen. Die werden uns die Bude einrennen. – Hast du etwa andere Pläne?“
    „Die habe ich, in der Tat“, antwortete Sonja. „Ich wollte Professor Liva interviewen. Meinst du nicht, das wäre interessant? Ich meine, sie ist ja noch nicht lange Direktorin. Da würde es sich doch anbieten, etwas Licht ins Dunkel zu bringen. – Wir können ja deinen Finch-Artikel später noch bringen“, fügte sie rasch auf Rays leicht enttäuschten Blick hinzu. „Ich habe sogar schon Ideen: Ein paar berufliche Fragen, dann etwas zu ihrem bisherigen Leben – nicht aber zu persönlich – und dann noch über ihre Zukunftsvorstellungen. Als Cover natürlich eine Frontaufnahme von der Schule und dann noch ein Portrait von ihr, und dann noch ...“
    „Abgelehnt!“, warf Ray lautstark ein.
    „Wa-was? Wieso?“, stammelte Sonja und suchte den Blick ihres Freundes. „Was ist daran falsch?“
    „Tztz, Sonja“, machte Ray mit übertrieben dramatischer Stimme. „Du willst doch nicht tatsächlich so etwas Einfallsloses wie ein Bild von diesem Betonkasten in den Artikel knallen.“ Sein Daumen deutete hinterrücks auf das Heck der Schule. „Überleg doch mal: Würdest du überteuerte Limonade kaufen, wenn du sie ohnehin umsonst bekämst? Die Schule muss jeder tagtäglich ertragen, da braucht es kein Abbild mehr davon in der Zeitung.“
    „Aha. Und was schwebt dir vor?“, fragte Sonja mit äußerst kritischer Stimme.
    Ray verzog das Gesicht zu einem Schmunzeln und legte seinen rechten Arm um die Schultern seiner Freundin. Mit seiner rechten Hand machte er dagegen vor seinem und Sonjas Kopf eine ausschweifende Handbewegung. „Wir entdecken fremde Welten, unbekannte Lebensformen und neue Zivilisationen. Dabei dringen wir in Galaxien vor, die nie ein Schüler zuvor gesehen hat – wir photographieren das Lehrerklo.“
    Sonja kämpfte sich aus dem Arm ihres Freundes. „Du bist ja verrückt! Das Lehrerklo ... Echt, Ray ...“, rief Sonja, die im Arm ihres Freundes leicht errötet war und allerdings den Hauch eines Glucksens in ihrer Stimme nicht verbergen konnte.
    „Fragen wir doch einfach mal unsere werte Leserschaft. Hey, Eagle, wie siehst du das?“
    „Die Welt ist echt nicht groß genug ...“
    Die mächtige zweiflüglige Hintertür war in ihre Angeln gefallen. Ein gelbuniformierter Schüler hatte sich nur wenige Schritte von dem Gebäude entfernt, als er dann aber schon wieder kehrt machte. Beim Aufklang seines Namens war er aber stehen geblieben. „Was willst du?“, fragte Eagle, ohne seinen Zimmerkameraden und Sonja aber eines Blickes zu würdigen, zielstrebig auf den Eingang blickend.
    „Dich was fragen. Komm runter. Hab wenig Lust, so zu brüllen. Das soll vorerst noch topsecret bleiben.“
    Eagles wütendes Schnauben konnte man sicherlich auf dem gesamten Schulgelände hören. Letztendlich stieg er aber griesgrämig dreinblickend die weißen Treppenstufen zu seinen Hauskameraden hinab. „Was muss man nur tun, um an der Schule ’nen ruhigen Fleck zu finden ...? Also, was ist?“
    „Wir brauchen eine professionelle Meinung“, antwortete Ray.
    Eagle lachte spöttisch auf. „Über dich? Tut mir Leid, mein Freund, da kommt jede Hilfe zu spät.“
    „Das weiß ich doch, darum geht es aber nicht. - Seit wann sind wir eigentlich Freunde?“
    „Waren wir noch nie. Übrigens haben ein paar Läuse neulich nach dir gefragt und ...“
    „Ray will einen Schülerzeitungsartikel über Finch schreiben, ich einen über Professor Liva“, schaltete sich Sonja in die Debatte ihrer Klassenkameraden ein. „Was würde dich mehr reizen?“
    Eagle fixierte Ray mit einem äußerst geringschätzigen Blick, während er sprach. „Über Finch? Willst du Zeitungen oder Klopapier verkaufen? Wer sollte das lesen wollen?“
    „Wo wir wieder beim Lehrerklo wären“, lachte Ray stolz auf.
    „Och man, Ray ...“, seufzte Sonja.
    „Was faselt ihr da?“, blaffte Eagle.
    „Ich habe ihn! Da ist er - und Valentine und Lynn!“


    Nur Wimpernschläge, nachdem der Name eines jeden Genannten aufgerufen wurde, suchte man die Quelle des wütenden Aufrufs – und fand sie auch schnell. Einmal wieder sah Ray rot. Nicht aber Angst, nein, die dreifache Ankunft von roten Uniformen, auf denen die markante löwenähnliche Gestalt prangte, hatte bislang noch nie etwas Gutes verhießen. Mit gemischten Gefühlen betrachtete man, wie Rico Tarik mitsamt seinem üblichen Gefolge die weißen Treppen herunterstieg und mit weiten Schritten direkt die drei Raikous ansteuerte. Sonja verspürte nicht sonderlich den Drang, sich Rays fäusteballenden Zimmerkameraden anzuschließen und legte stattdessen einen alles andere als kühnen Schritt zurück ein. Die letztmalige Begegnung dieser beiden Parteien hatte Sonja noch mehr als deutlich in Erinnerungen, weswegen sie nicht sonderlich darauf erpicht war, die Geschichte wiederholen zu lassen; insbesondere wenn man bedachte, dass sich ihre Wege mit einem Ohnmachtsanfall ihrerseits getrennt hatten. Ray begegnete den Neuankömmlingen vom Hause Entei stattdessen sichtlich unbeeindruckt, auch wenn die Intensität der Rotjacken ihn unter seiner Uniform insgeheim ein wenig ins Schwitzen brachte.
    „Schluss mit dem Versteckspiel, Granger!“ Es war Rico, der als erstes die letzte Treppenstufe meisterte und sich nicht unweit von Ray und Eagle, beide auf einer Höhe, und Sonja, hinter ihren beiden männlichen und gleichfarbigen Beschützern, aufbaute. Ein, zwei Sekunden später hatten auch Nicholas und Billy zu ihrem Hauskameraden aufgeschlossen und funkelten den drei Raikous böse entgegen.
    „Wer redet den hier von Versteckspielen? Euer Mundgeruch treibt mich jedes Mal aufs Neue in die Flucht“, höhnte Eagle faustdick.
    Zwar entging Ray nicht, dass sich Billys rundliche Gesichtszüge vor Wut blass röteten und er bedrohlich mit dem Handgelenk knackte, doch hielt sich der stämmige Entei-Schüler zurück, was aber wohl nur eine Frage der Zeit war.
    „Ende der Fahnenstange, Großkotz. Diesmal bist du fällig“, fuhr Rico Eagle an.
    „So wie am letzten Mittwoch, hm?“, sagte Eagle mit einem bissigen Lächeln im Gesicht.
    Ricos Züge wurden blass, Nicholas und Billy warfen erst sich und dann Rico fragende Blicke zu, was Eagles Grimasse nur noch mehr in die Weite trieb. „Hast deinen Kumpanen wohl noch nichts von deiner peinlichen Niederlage in der Trainer-AG erzählt. Kann ich durchaus nachvollziehen.“
    „Du hast ihn platt gemacht?“, fragte Ray mit anerkennendem Grinsen im Gesicht. Rico war nicht von schlechten Eltern, das hatte er in seinem Kampf gegen Ray deutlich zur Schau gestellt. Grundgenommen hatte Ray in seiner Begegnung mit ihm sehr viel Glück gehabt, denn nur allein, dass Ricos Partner Glumanda durch die spitze Bemerkungen seines Gegners die Nerven verloren hatte, hatte Sheinux schließlich und endlich die alles entscheidende Attacke durchführen können und war siegreich aus dem Kampf hervorgegangen. Alles in allem war es allerdings verdammt knapp gewesen.
    „Was dachtest du denn?“, grinste Eagle. „Er hatte fast wie ein kleines Kind geflennt, als ich mit ihm den Boden aufgewischt habe. Und jetzt sühnt er mal wieder auf Rache und hat seine beiden Gorillas mitgebracht.“
    „Wir können das auch anders regeln!“ Billy war brachial an seinem Vordermann Rico vorbeigeschrammt und hatte diesen, der deutlich hagerer als er war, auf seinem Zerstörungszug fast umgerannt. Rico stolperte leicht getroffen zur Seite; Nicholas erkannte die Situation sekundenschnell, packte den fäusterhobenen Billy ruckartig an den Schultern und zog seinen stämmigen Freund mühsam zurück; hinter den beiden alarmiert Stellung nehmenden Raikouianern quiekte Sonja erschrocken auf, ging ängstlich in die Knie und legte sich schützend die Hände vor das Gesicht; auch Eagle und Ray hatten im Einklang ihre Fäuste drohend ausgefahren. Der Schlagabtausch blieb aber aus, denn ein völlig unerwartetes Ereignis lenkte die Aufmerksamkeit aller Beteiligten für einen Moment auf den Eingang, wo just im selben Moment ein weiteres Schülertrio erschienen war und laut zu gackern begann.
    „Uuuh, schaut nur Mädels - die Jungs prügeln sich, wie primitiv!“


    Selbst Sonja war kurzzeitig aus ihrer gebückten Haltung gekrochen und reckte sich nun neugierig über die Köpfe ihrer beiden Freunde und die der Enteis hinweg, die ihr gleich taten, bereute diesen kleinen Ausflug allerdings schnell wieder, wie man unschwer an ihrem missbilligenden Schnauben hören konnte. Selbst aus der Distanz konnte Ray deutlich das blaue gepardengleiche Symbol an der Brust der drei Schülerinnen schimmern sehen. Er kannte das Gespann. Es waren die Suicune-Mädchen, die auch mit ihm und Sonja die Schülerzeitung mitgestalteten. Inzwischen hatte er auch flüchtig und interessehalber ihre Namen aufgeschnappt. Fabien Dinas, Marina Parker und Julia Brown waren wie aus ein und demselben Holz geschnitzt. Drei strohblonde, auffrisierte, schlanke Hennen, die offenbar sehr viel Wert auf ihr Äußeres legten, zumindest verlieh die millimeterdicke Schminkschicht auf den Gesichtern der drei, die knallrosa lackierten Fingernägel und die falschen Wimpern diesen Eindruck; der passende parfümierte Geruch, der unaufhörlich von ihnen ausging und den man mindestens zehn Meilen gegen den Wind zu riechen vermochte, nicht zu vergessen.
    Einem Laufsteg gleich stolzierten die drei Suicune-Mädchen die Treppe hinab und ließen es sich nicht nehmen, sowohl den Enteis als auch den Raikous teils belustigte, teils mitleiderregende Blicke zuzuwerfen, während ihre Ketten oder Ohrringe im Takt ihrer Schritte wippten.
    „Was wollt ihr auffrisierten Hupfdohlen hier?“ Nicholas sprach wohl das aus, was in jedem Kopf herumgeisterte. So uneinig sich die Schüler in rot und gelb auch waren – auf die Anwesenheit der dritten Schulpartei konnte jeder von ihnen gut und gerne verzichten.
    Wie ein Gesangstrio stimmten die Mädchen der Suicune-Fraktion auf einen Schlag in ihr typisch schrilles Gelächter ein. Sie hatten die letzte Treppenstufe hinter sich gelassen und übten sich nun auf einigen Metern Abstand zwischen den Enteis, die die Raikous hinter sich verbargen.
    „Habt ihr das gehört? Der Primitivling kann sogar reden“, lachte Fabien, die Kleinste von ihnen. „Pass besser auf deinen Neandertaler-Freund auf, bevor er dir den Kopf abreißt.“
    Tatsächlich hatte Nicholas alle Hände damit zu tun, den vor Wut schäumenden Billy mit Leibeskräften in Zaum zu halten.
    „Was wollt ihr hier, kann man euch helfen?“, fragte Ray mit relativ gelassener Stimme, aber noch immer darauf bedacht, den stinksauren Entei-Gorilla bloß nicht aus den Augen zu lassen.
    „Was geht dich das an?“, höhnte Julia feixend. „Wo hast du eigentlich deine kleine Freundin gelassen?“ Julia reckte sich neugierig über die rot- und gelbuniformierten Köpfe hinweg. Ihr hochnäsiges Grinsen wurde breiter. „Ach, da ist ja unsere kleine Sonja mit einem ganzen Schwarm von Verehrern. Hast deinen Spaß, ja?“
    Sonja, die sich in der Hoffnung, nicht gesehen zu werden, wieder ganz klein gemacht hatte, zuckte und wehklagte beim Aufklang ihres Namens erschrocken auf. Ray warf einen Blick über die Schulter und fing sofort ihren sichtlich eingeschüchterten Gesichtsausdruck auf.
    „Was ist euer Problem? Stress – den könnt ihr haben“, bellte Eagle wütend über die Köpfe der Enteis hinweg. Er machte einen beherzten Schritt nach vorne, was ihn aber bedrohlich nahe zu den Enteis führte, baute sich jedoch provokant auf.
    Fabien und Marina verfielen in aufgeregtes Tuscheln. Julias Grinsen zog sich dagegen nur in die Breite. „Uuuh, Granger, hast wohl was für deine kleine Freundin übrig“, spottete Julia. „Alle Achtung, Lynn, du bist ja richtig gefährlich – das Schulflittchen schlechthin. Mit welchem von deinen Pavianen knutschst du als erstes?“
    „Jetzt reichts! Verzieht euch oder ich mach euch lang!“
    „Stehen geblieben, Granger!“
    „Ihr seid fällig!“
    In diesem Moment kochte die Wut über und die Ereignisse überschlugen sich: Nicholas hatte von seinem Freund abgelassen, denn nun herrschten ganz andere Dinge in seinem Kopf, als Eagle vor Billys blinden Wut zu beschützen. Doch auch Billy schien für den Moment kein besonderes Interesse mehr daran zu hegen, den Raikous eine Abreibung zu verpassen. Nur Rico wirkte immun auf das provozierende Gewäsch der Suicune-Fraktion, fand sich aber plötzlich nur noch allein vor. Billy und Nicholas hatten beide ihre Pokébälle gezückt und sich zu zweit vor den drei Blaujacken aufgebaut. Auch Eagle hatte seinen Pokéball blitzschnell gezückt, doch Rico, nur wenige Meter von ihm entfernt, funkelte ihm noch immer wütend entgegen und war eindeutig auf seine Revanche aus, anstelle seine Aufmerksamkeit den Suicunes zu widmen. Fabien, Julia und Marina waren ebenfalls alles andere als untätig und hielten jeder für sich eine rotweiße Kugel zwischen den zierlichen Fingern. Ray hatte eine Sekunde gezögert, sich dann aber, da er nicht auf Sheinux’ Hilfe bauen konnte, seiner regelrecht verstörten Freundin angenommen, ihr mitfühlend und leise zuredend seinen Arm um die schwache Schulter gelegt und führte sie langsam aus dem drohenden Hexenkessel heraus.
    Pokébälle waren bereits in den Händen ihrer Besitzer zu orangengroßen Ungetümen herangewachsen und ihr lebendiger Inhalt bebte bedrohlich. Die belustigten Grimassen auf den Gesichtern aller Beteiligten waren wie weggefegt und wurden stattdessen von pulsierenden Zornesfalten eingenommen. Keine weiteren Drohgebärden wurden mehr ausgetauscht. Ein Jeder wartete nur noch gespannt darauf, wer als erstes den alles entscheidende Zug machte.


    Zum vierten und letzten Mal in kurzer Zeit fiel die große Tür des Hintereingangs der Celebi-High in ihre Angeln. Der Lärm, der das Portal beim Zuknallen veranstaltete, hatte im Angesicht der heiklen und angespannten Situation geradezu das fünffache Ausmaß der gewöhnlichen Lautstärke, woraufhin sämtliche Blicke, Rays und Sonjas, Billys und Nicholas’, Fabiens, Marinas und Julias, Eagles und sogar Ricos, schlagartig zu der Tür wanderten.
    „Die Grundstüfler prügeln sich? Wie amüsant.“
    Selbst aus der Distanz konnte Eagle genau ausmachen, wer soeben ihrer kleinen Runde zugestoßen war, und auch Ray erkannte sofort, um wen es sich handelte, nur Sonja blieb im Unklaren, wobei es sie auch nicht sonderlich zu kümmern schien.
    Der Ausdruck in Markis Tarmurs Gesicht, dem wohl bekanntesten Schüler der Celebi-High, war ausdruckslos und unmöglich zu deuten. Er galt als der hellste Kopf an der Schule und war folglich ein Musterschüler, gleichzeitig leitete er die Trainer-Arbeitsgemeischaft und bestritt außerdem noch das Amt des Schülersprechers. Nicht zu vergessen war natürlich auch die Tatsache, dass es sich bei dem Entei-Schüler der dritten Jahrgangsstufe um den ungeschlagenen Trainer-Champion der Schule handelte. Viele Antworten auf seine Person, eine Frage aber blieb aus: Was wollte er hier?
    Markis’ bloße Anwesenheit, die Aura, die ihn umgab, selbst das blanke Hallen seiner Schritte auf den weißen Treppenstufen schienen weinende Kleinkinder zum Verstummen zu bringen. Einen ähnlichen Einfluss hatte er auch, als er langsam die Stufen hinunterschritt. Wirkliches Interesse hatte er offenbar für die eingeschüchtert dreinblickenden, albernen und seiner Auffassung vielleicht sogar kindischen Grundstüfler nicht übrig.
    Die Köpfe der Enteis, Raikous und die der Suicunes folgten Markis auf seinem desinteressierten Weg hinab. Seit seinem ersten Kommentar, hatte er kein Sterbenswörtchen mehr gesagt, geschweige denn, seine Mitschüler eines Blickes zu würdigen. Seine Füße setzten auf den kiesigen Gehweg. Er befand sich nun genau zwischen Billy und Nicholas, und den drei Suicune-Mädchen, schritt jedoch unbeeindruckt und unter ihm kontinuierlich folgenden Augenpaaren einfach weiter. Plötzlich aber stoppte er abrupt, zeigte jedoch noch immer sämtlichen Anwesenden seinen starken Rücken.
    „Hebt euch das besser für das Turnier auf und tragt eure Differenzen in der Arena aus. Die Schule liebt Hauskriege“
    Mit diesen Worten setzte er seinen Siegeszug gen Norden fort und ließ auf eine einmalige Weise die verstummten Grundstüfler hinter sich.


    „Ein Turnier?“ Rico war der erste, der nach fast minutenlangem Schweigen die Sprache wieder fand. Seine Augen blitzten wieder zu Eagle herüber und seine Lippen kräuselten sich zu seiner altbekannten Grimasse. „Soll mir Recht sein. Dann demütige ich dich eben vor der gesamten Schule.“
    „Wer’s glaubt“, hauchte Eagle mit triumphierender Stimme.
    „Wir sind hier fertig, Mädels.“ Die Pokébälle von ihren drei Besitzern wurden wieder in die kleinen Handtaschen verpackt, die die drei Suicunes allesamt bei sich trugen. Mit einem letzten Augenzwinkern – insbesondere in Sonjas Richtung – kehrten Fabien, Julia und Marina ihren Schulkameraden den Rücken zu; auch ihr Weg führte sie nach Norden. Die Enteis zog es dagegen wieder in das Schulgebäude; womit nur noch Ray, Sonja und Eagle zurückblieben. Sonja, die mittlerweile kreidebleich war, wollte dieses Erlebnis nur schnell wieder vergessen, doch in den Köpfen ihrer beiden Kollegen spukte nur der eine Gedanke herum: Ein Turnier? Welches Turnier?


  • ~Kapitel 7: Turnierfieber~


    Part 1: Küchendienst, Hetzkampagne und ein Turnier


    „Pfoten weg, sonst hacke ich sie dir eigenhändig ab!“
    Geschäftiges Treiben herrschte in der übersichtlichen Küche des Raikou-Schulhauses. Messer hackten; Löffel rührten; die beiden vierbeinigen Holztische ächzten vor Anstrengung, die Last von wahllos verstreuten Küchenutensilien, Backblechen und Zutaten zu tragen; der hochstöckige Backofen summte und Rays ungebetene Finger waren gelegentlich dort, wo sie überhaupt nicht hingehörten – in der silbernen Schüssel, in dem bereits der breiige Pizza-Belag darauf wartete, auf luftige Brötchen aufgetragen zu werden.
    „Das wäre aber nicht sehr empfehlenswert, wir könnten aber auch ein Spiel daraus machen. Wer einen meiner Finger auf seinem Pizzabrötchen findet, der bekommt Eis zum Nachtisch.“ Rays Zeigefinger, getränkt mit einer dünnen Marinaden-Schicht, landete in dem Mund seines Besitzers. Er schnalzte erwartungsfroh mit der Zunge. „Fehlt ein Hauch Oregano.“
    Andys Schnauben echote gut hörbar durch die Küche. Er und Sarah tauschten untereinander einen Wer-hat-ihn-hier-überhaupt-reingelassen-Blick aus. Nur Marco Martini, der mit seinen beiden Klassenkameraden für diesen Abend zum Küchendienst und somit zum Stopfen sämtlicher hungriger Raikou-Mäuler eingeteilt war, blieb geduldig mit dem Schüler der Grundstufe und warf Ray kurzerhand eine grüne Gewürzdose zu.
    „Bedien dich. Im Anschluss kannst du mir die Tomaten schneiden – deine Freunde dürfen auch helfen, wenn sie wollen.“
    Relativ gleichgültig ignorierte Sonja Eagles „Von ,wollen’ kann nicht die Rede sein“, schlurfte über den weißgekachelten Küchenfußboden, auf dem – so erweckten zumindest die sporadischen Kerben und Sprünge auf der Oberfläche – offenbar so manch ein Glas mit nunmehr unbekannten Inhalt seine Ruhestätte gefunden hatte, hinweg und begann, unter fließendem Wasser eine Paprika zu entkernen. Kurz drehte sie sich noch einmal um und suchte Rays Blick, den sie auch schnell fand. Ein freundliches Lächeln ummantelte ihre Lippen. „Danke nochmals.“
    Ray winkte ab, während er mit dem Oregano nicht sonderlich sparsam umging. „Ach, Quatsch! Du wiederholst dich. Lass endlich gut sein.“ Einmal mehr wusste er, dass er das Richtige getan hatte. Als die Lage eskalierte, hatte er den Kopf bewahren können und anstatt sich, wie schon so oft, mitten ins Getümmel zu werfen, war er besonnen an Sonjas Seite geblieben. Schon auf dem Rückweg ins Schulhaus hatte sie ihm erneut ihr Herz ausgeschüttet und für seine Stütze gedankt. Es tat einfach gut zu wissen, dass jemand auf einen baute.
    Sonja hatte sich wieder ihrer Paprika zugewandt, redete allerdings gegen die leise Wasserfontäne an, die dem Rachen des Hahns entwich. „Nein, ehrlich. Es ist eigentlich viel zu wenig dieses ,Danke’, aber ich fühl mich danach immer viel besser.“ Sonja seufzte kurz, legte die Paprika zur Seite und griff sich die nächste. „Danke, Ray,“ wieder stoppte sie einen Augenblick, „und Danke ... Malc... Eagle.“
    Vielleicht lag es an dem überraschten Ausdruck in Rays Gesicht, dass er von Eagle, der gelangweilt an der Wand gelehnt aus einem Fenster hinaus ins Freie starrte, ein „Was glotzt du so blöd?“ an den Kopf gehämmert bekam. Gleichzeitig glaubte Ray aber felsenfest die Spur eines zufriedenen Lächelns auf dem Gesicht seines Klassenkameraden erhascht zu haben, welches sich aber, so schnell wie es gekommen war, wieder in Luft aufgelöst hatte.
    „Was soll die Gefühlsduselei? Ich hab’ dir doch gesagt, dass ich dich unter die Fittiche nehm’“, sagte er zu Sonjas Rücken.
    „Was war eigentlich los?“, fragte Sarah. Sie hatte in der Zwischenzeit schwesterlich ihren Arm um Sonjas Schultern gelegt und drückte sie etwas an sich ran. Ein wenig über diesen engen Kontakt zwischen den beiden Mädchen neidisch, begann Andy, wieder auf seinen ohnehin schon ordentlich zerlegten Gouda-Käse einzuhacken.
    „Das Übliche ...“, kam es aus Rays und Eagles Mund wie aus der Pistole geschossen. Sie sahen einander daraufhin mit gemischten Gefühlen an. Ray grinste verschmitzt, Eagle räusperte sich und täuschte einen sehr gelungenen Übelkeitsanfall vor. „Ein paar rauflustige Enteis hier, ein paar zickige Suicunes dort.“ Ray zuckte die Schultern. „Wie gesagt – das Übliche.“
    „Gerade mal zwei Wochen an der Schule und schon überall gut Freund“, gluckste Andy, wurde dann aber plötzlich wieder sehr ernst. „Nicht aber schon wieder diese drei Enteis, die ihr erst neulich nach Strich und Faden bloßgestellt habt, oder? Der eine da, der etwas Kräftigere, das ist doch der Neffe von Finch, hab’ ich gehört.“
    „Finch hat einen Neffen an der Schule?“ Selbst Marco hatte sein Schneidwerkzeug abgelegt und sich interessiert umgedreht. Er schüttelte warnend den Kopf. „Ihr spielt mit dem Feuer, Leute. Finch ist ohnehin nicht gut auf uns und die Suicunes zu sprechen. Da brauchts keinen überflüssigen Familien-Clinch.“
    „Die wollten es doch so. Will dich mal sehen, wenn die irgendwann mal vor dir auf die Kacke hauen, Makkaroni“, schnaubte Eagle.
    Marco musterte Eagle äußerst geringschätzig. Sie sahen einander an. Fern von jeglicher Konkurrenz gewann Eagle allerdings das Nicht-Blinzel-Duell gegen seinen älteren Haus-Kameraden. „Martini heiße ich, Marco Martini, klar?“, sagte Marco mit unbeeindruckter Stimme.
    Eagle zuckte gleichgültig die Schultern. „Und wenn schon ...“ Er wandte sich wieder ab, erneut den Blick aus dem Fenster gerichtet.
    „Fürs Erste ist wohl aber Ruhe“, schaltete sich Ray wieder in die Unterhaltung ein. Zwischenzeitlich hatte er sich durch die Küche gestohlen und sich neben Marco eingefunden. Statt aber diesem etwas Arbeit abzunehmen, klaubte er, ohne dessen Wissen natürlich, von seinem sorgfältig und fein säuberlich geschnittenem Pizzabrötchen-Belag. „Billy und Co. haben sich noch mit ein paar Suicune-Mädels angelegt. Da sind haarscharf die Fetzen geflogen, könnt ihr mir glauben.“
    „Doch nicht die drei auffrisierten aus der Grundstufe? Die mit den zentimeterhohen Absätzen? Leitsatz: Mit der Schminke bloß nicht geizen.“
    „Doch, eben die“, beantwortete Ray Sarahs Frage, musste sich über ihre Worte allerdings dann doch sehr wundern, denn auch Andys Freundin war nicht gerade kleinlich und unbekannt dafür, sich für ihren Schatzi doppelt einzudieseln. „Kennst du sie?“, hakte Ray nach.
    Ein abfälliges Schnauben entwich Sarahs Nase. Sie schürzte übellaunig die Lippen. „Wir“, sie und Andy tauschten vielsagende Blicke, „hatten leider das Vergnügen ...“
    „Sie meinten, wir wären ja so ein nettes Pärchen und sie wollten uns die Hochzeit organisieren; gegen Aufpreis allerdings, weil sie unseren Gestank dann ertragen müssten“, sagte Andy und zuckte beinahe gleichgültig die Schultern. Er steckte sich ein Stück Gouda in den Mund und sagte: „Ich habe eingewilligt – wenn wir als Gegenleistung ihre Beerdigung planen dürften.“
    „Sagen wir es so: Ich glaube, die haben es sich bestimmt bereits mit der halben Schule verscherzt“, meinte Sarah abschließend.


    Sah man von den knurpsenden Geräuschen von Gemüse, das in Rays Mund verschwand, das Gurgeln des Wasserhahns, unter dem Sonja zwischenzeitlich die Tomaten zu waschen angefangen hatte, und das angenehme Summen des vorheizenden Backofens ab, war Ruhe in der Küche des Raikou-Schulhauses eingekehrt. Andy nahm nach kurzer Zeit wieder seine Schneidarbeiten auf; Sarah fing an, ihre ersten Brötchen mit einer großzügigen Schicht des bereits angemachten Pizzabelags zu beladen; Marco wunderte sich unterdessen, wohin sich ein Großteil seines Gemüses verflüchtigt hatte; Ray machte sich erstmalig etwas nützlich und halbierte – mehr schlecht als recht – einige Brötchen, die er dann Sarah, leicht missmutig über Rays Arbeit dreinblickend, reichte; Eagle starrte nach wie vor gelangweilt aus dem Fenster; und Sonja – Sonja brach die für eine knappe Minute eingehaltene Ruhe.
    „I-ich hoffe, ihr nehmt das Gewäsch von vorhin nicht für bare Münze. Ihr wisst schon, von wegen, ich würde mich an euch und an alle Jungs ranmachen wollen.“ Sonjas Blick schweifte eindringlich zwischen Ray und Eagle hin und her. Fast gleichzeitig fingen beide das flehentliche Gesuch ihrer Freundin auf. Eagle zog eine Augenbraue nach oben und verdrehte die Augen, als wollte er damit stumm ausdrücken, wie egal ihm das Ganze doch ist. Ray dagegen fiel anfangs nicht wirklich ein, was er hätte sagen können. Dass sich Sonja derart maßlos deswegen grämte, stimmte ihn irgendwie amüsiert, gleichzeitig aber auch sehr betroffen. Das Sprechen übernahm jedoch glücklicherweise Andy für ihn, der sich allerdings sehr vorsichtig an die Sache heranwagte.
    „Soll jetzt nicht böse gemeint sein, Sonja, aber ich glaube, du bist jetzt wirklich nicht die Sorte Mädel, die sich jedem X-Beliebigen an den Hals wirft. Ich denke, das sieht auch jeder im Raum so. Ich persönlich würde auf das Gewäsch rein gar nichts geben.“
    Allgemeines Nicken hielt im Raum seinen Einzug. Entgegen Andys erster Erwartung, fasste Sonja seine Aussage keinesfalls als Beleidigung auf. Nach weiteren aufbauenden und beipflichtenden Worten seitens Sarah, Marco und Ray, gelang es Sonja sogar wieder – wenn auch etwas zaghaft – zu lächeln.
    „Willst du nicht auch etwas sagen? Ich dachte, du wolltest dich um sie kümmern?“
    Ray hätte sein restliches Wochenende darauf verwetten können, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis Marco Eagle diese Frage stellte. Ein jeder im Raum verfolgte nun – in Sonjas Fall erwartungsvoll – die Reaktion des Einzelgängers auf diese Frage hin, was Eagle allerdings eindeutig gegen den Strich ging. Genervt atmete er aus, verdrehte die Augen und schüttelte leicht den Kopf, als wollte er sagen: „Nicht mein Problem.“
    „Mach sie halt platt, wenn sie dir auf den Zeiger gehen. Lass mir aber was übrig. Mit denen bin ich noch lange nicht fertig.“
    Jeder der Anwesenden, der bereits mit dem exzentrischen Schüler der Grundstufe zu tun hatte, wusste, dass das so ziemlich die freundlichsten und aufbauendsten Worte für diese Situation waren, die man ihm hinausleiern konnte, weswegen man auch nicht mehr sonderlich darauf eingehen wollte. Marco bildete da natürlich als einziger die Ausnahme.
    „Das wollte sie jetzt sicherlich nicht hören, du Trampel ...“
    „Lass gut sein“, warf Sonja rasch und bereits mit einer bedrohlichen Vorahnung in den Raum. „Es ist in Ord...“
    „Wer hat denn dich überhaupt um deine Meinung gefragt, Margarini?“ Die grünen Smaragde in Eagles Augen funkelten bedrohlich und kreuzten sich mit den schokobraunen von Marco. Wer von ihnen die größere Abneigung gegen den anderen hegte, war nur schwer abzuschätzen.
    „Was schiebst du hier jetzt für’n Terror?“, knurrte Marco. „Wundert mich ehrlich gesagt gar nicht mehr, warum hinter deinem Rücken alle vom ,Hausdrachen’ reden.“
    Eagles Fäuste ballten sich und kleine Zornesfältchen pulsierten bereits bedrohlich. Er hatte sich von der Wand abgestoßen und bildete nun eine Linie mit Marco, seinem Gegenüber. Nur noch der Tisch, der schützende Graben, an dem Marco gerade werkelte, trennte die beiden Streithähne davor, sich gegenseitig in jedem Moment an die Gurgel zu gehen. „Der ,Hausdrache’ macht dir gleich Feuer unterm Arsch!“, bellte Eagle, wandte sich dann aber plötzlich an seinen Zimmerkameraden. „Ray, ich denke, ich war jetzt lange genug höflich! Wir wollten doch wegen dem Turnier hier nachhorchen, oder was ist jetzt?!“
    „Ihr wisst von dem Turnier?“ Andy wirkte sehr verblüfft. „Woher?“
    „Markis hat es beiläufig erwähnt“, antwortete Ray.
    „Markis? Markis Tarmur?“ Sogar Marco konnte sich für den Augenblick von Eagle abwenden und richtete sich nun an Ray. „Was habt ihr mit dem zu schaffen?“
    „Ist doch egal“, schnaubte Eagle. „Was ist also mit dem Turnier? Nur heiße Luft?“
    „Mitnichten, natürlich gibt es ein Turnier!“, antwortete Andy. „Bin nur etwas verwundert, dass ihr davon wisst. Wird normalerweise etwas vertraulicher gehandhabt, was die Grundstufe betrifft.“ Auf Eagles wüsten Blick hin, fuhr Andy eiligst vor. „Jedes Jahr gibt es ein solches Turnier. Nur die Grundstufe nimmt daran teil. Folglich waren wir letztes Jahr dran. Das war ’ne Gaudi.“
    Rays Herz machte einen Hüpfer. Die Begeisterung packte ihn und machte natürlich auch nicht vor Eagle halt, dessen Gesicht sich erwartungsvoll in die Breite zog und insgeheim schon seine Siegespose in Gedanken durchging. „Und wann?“, fragte Ray.
    „Erste Woche in den Herbstferien“, antwortete Andy, was sich aber als ein gewaltiger Dämpfer herausstellte und empörtes Aufrufen zur Folge hatte.
    „Herbstferien? Das sind ja noch fünf Wochen!“, rief Eagle fuchtig. „Was soll ich bis dahin machen? In der Nase bohren?“
    „Wäre ein Anfang. Nur wenn es zu blutet beginnt, solltest du aufhören“, feixte Marco.
    „Du ...!“
    „Gibt’s was zu gewinnen?“, unterbrach Ray, brennend vor Neugierde, die kleine Fehde seiner beiden Hauskameraden.“
    „Ruhm, Ehre und ...“ Andy suchte den Blick seiner Freundin. Er grinste Sarah verschlagen an. „Sollen wir es sagen?“
    Sarah erwiderte das Grinsen ihres Freundes selbstzufrieden, während sie bereits ihr Backblech fast gefüllt hatte. Ihre Fingerspitzen klopften verräterisch gegen die Seite ihrer Hosentaschen. Es klang merkwürdig dumpf. „Nö, lassen wir sie doch schmoren.“
    „Ruhm und Ehre ... Mehr brauch ich gar nicht“, dachte Eagle laut und ignorierte dabei, während er verträumt aus dem Fenster starrte, Marcos verächtliches Schnauben.
    „Wir hoffen Großes von euch. Natürlich erwarten wir, dass ihr die Hausehre verteidigt. Letztes Jahr haben wir den Pokal geholt“, klärte Andy sie auf.
    „Wer hat gewonnen?“, stimmten Ray und Eagle im Chor ein und löcherten dabei Andy mit ihren Blicken.
    Andys Grinsen und gleichzeitig sein Stolz nahmen drastische Proportionen an. „Schatzi“, sagte er.
    „Sarah? Echt? Glückwunsch! Bist ja ein richtiger Haudegen. Hätte ich dir gar nicht zugetraut“, rühmte Ray Sarah.
    „Du? Dann nimm es mit mir auf, wenn du dich traust.“ Eagle machte einen vielsagenden Schritt in Sarahs Richtung. Sein Weg endete aber an deren Freund, der sich in Leibwächter-Manier vor ihm aufgebaut hatte und die Arme verschränkte.
    „Nicht so schnell!“, stoppte Andy Eagles Vormarsch. „Du glaubst doch wohl nicht, dass ich dich hier vorbeilasse.“
    „Aus dem Weg, Pappnase!“
    „Nichts da! Erst musst du an mir vorbei.“
    „Ich brauche Gegner, keine Opfer.“
    Rumms!
    Eine zuschlagende Tür erschütterte den Raum und alle sich darin befindenden Personen. Sarah hatte die erste Fuhre Pizzabrötchen in den Ofen geschoben und klopfte sich zufrieden die Handflächen sauber. Sie wandte sich an Eagle. „Nicht mehr heute, Kollege. In gut zehn Minuten gibt es Mampf!“

  • Part 2: Die Konkurrenz schläft nicht


    Die Nachricht um das Turnier und den ominösen Preis, obgleich nur ein kleiner Teil einer jeden Fraktion davon Kenntnis besaß, machte einem Lauffeuer gleich die Runde. Keine drei Tage mussten ins Land ziehen, bis die Kunde ein jedes Grundstüflerohr erreicht hatte. Bald schon hatten Diskussionen rund um das bevorstehende Ereignis die üblichen Gesprächsthemen, mit denen man sich so seine Pausen, Freistunden und seinen Feierabend vertrieb, abgelöst. Beinahe desinteressiert sah man über eine neue Flutwelle an Hausaufgaben von Professor Finch hinweg, die über die Schüler der Grundstufe zu Wochenbeginn hereinbrach, der katastrophale Haarschnitt einer Schülerin der zweiten Jahrgangsstufe wirkte völlig banal und sogar der verpickelste und größte Außenseiter wurde plötzlich zu einem willkommenen Gesprächspartner, der die ohnehin bereits brodelnde Gerüchteküche noch weiter anheizte und zum Überkochen brachte. Kurzum war das Turnier das Gesprächsthema Nummer Eins. Gleichzeitig erreichte die Aversion zwischen den einzelnen Häusern – insbesondere zwischen der Grundstufe – eine noch nie von Ray wahrgenommene Höhe, der Graben der Feindseligkeit eine nie zuvor dagewesene Untiefe. Noch größer war nun die Gefahr, auf dem Gang plötzlich ein Bein gestellt zu bekommen, dass man plötzlich mit dem traditionellen „Tritt-mich“-Schild vor der gesamten Schülerschaft hausieren ging, oder man sich urplötzlich von einer Gruppe fies dreinblickender Spiesgesellen einer anderen Hausfarbe umzingelt sah. Dabei differenzierte man allerdings nicht von Schülern wie Sonja, die nicht einmal im Traum daran dachten, an dem Spektakel teilzunehmen und dabei mit der Gefahr spielten, sich vor ihren Mitschülern eine öffentliche Blöße zu geben, oder vor bereits selbsternannten Siegern wie Ray oder Eagle, die längst ihre persönliche Siegerpose perfektioniert hatten. Wer gute Freunde an seiner Seite wusste, der hielt sich auch an diese. Je größer das Aufgebot einer Farbe und somit die Einheit in den eigenen Reihen war, desto geringer war die Chance, Opfer der wild wuchernden Hausrivalität zu werden.
    Selbst so manch ein eigenbrötlerischer Einzelgänger, zu denen auch Eagle gerne gezählt wurde, verteidigten in althergebrachter Kavalier-Manier ihre willensschwachen Hauskameraden, auch wenn dies sogar bedeutete, den kleinen Einzeltisch, an dem man sonst leise über unmögliche Arbeitsaufträge protestierte, hinter sich zu lassen.


    „Das grenzt doch an Körperverletzung. Ich hab’ sowas von keinen Bock mehr!“
    „Körperverletzung nennst du das? Ich nenne es ,einen Verkehrsunfall’.“
    „Es ist etwas ... wie soll ich sagen ... gewagt.
    Für den Kunstunterricht fanden sich sämtliche Schüler der Grundstufe in dem weitläufigsten Klassensaal zusammen, den Ray in seiner bisherigen Karriere gesehen hatte, wobei Klassensaal ein sehr unpassender Ausdruck dafür war. Ein Dachboden war der Begriff, den er zu seiner ersten Kunststunde verwendet hatte, um diese Räumlichkeit zu betiteln. Tatsächlich teilten viele seiner Mitschüler seine Meinung über das mit altmodischen Holzdielen verschlagenen Klassenzimmer; der leicht schräg verlaufene Kniestock verlieh dem Ganzen noch das Flair, als würde man direkt unter dem Dach sitzen. Doch staute sich die Hitze im Sommer und frühen Herbst geläufigerweise auf solchen Speichern, und eben dies fehlte hier; im Gegenteil sogar: Es war angenehm kühl. Bekanntermaßen vermutet man in Dachböden auch stets uralten Krempel, den man vor Dekaden aussortiert hat und auf dem sich bereits eine millimeterdicke Staubschicht ansammelt; und auch davon konnte keine Rede sein: Die in Goldrahmen gefangenen Bilder an den Wänden funkelten und glänzten in ihrer ganzen Pracht, wie noch zu den Zeiten, als sie aus den Federn der Künstlern entsprungen waren. Wer die Vergangenheit aufleben lassen mochte oder aber nichts für einfache Schreibtische übrig hatte, der frönte der Malerei an einem der wenigen dreibeinigen Zeichenstative, die die Räumlichkeit bereithielt. Weiter abseits am anderen Ende des Klassenzimmers gab es Werkbänke, auf denen mit leichtem Werkzeug Holz bearbeitet werden konnte. Wer sich stattdessen gerne richtig schmutzig machen wollte, der griff gleich zu lehmigen Ton, ebenfalls in der Nähe vorzufinden. Einzig und allein die Elektronik kam hier deutlich zu kurz, denn gab es nur zwei etwas betagte Computer, die mit Drucker und Scanner verbunden waren, um Bildmaterial zu digitalisieren und nach den Wünschen des Herstellers zu formen. Abgerundet wurde diese Vielfalt an Möglichkeiten damit, dass es keine wirkliche Sitzordnung gab und ein jeder Schüler es sich in dem weitläufigen Raum dort bequem machen konnte, wo es ihm passte. Natürlich achtete man darauf, sich bloß nicht mit dem „Feind“ einzulassen, weswegen es auch hier verstärkt zu Farbsektoren kam. Verlor man den Überblick und verirrte sich versehentlich in dem labyrinthgleichen Wirrwarr aus Arbeitstischen, gesäumten Stillleben wie Büsten, Musikinstrumente oder Möbel, ausgestellten Kunstobjekten und nachdenklich dreinblickenden Schülern, fand man sich womöglich plötzlich in „gegnerischen Gefilden“ wieder.
    Für den Moment aber hegte keiner der drei Schüler aus dem Hause Raikou sonderlich das Interesse, sich in dem Irrgarten des Klassenzimmers zu verirren. Deutlich mit seiner Situation überfordert, das Gesicht wutverzerrt und leise Flüche ausstoßend, bearbeitete Eagle die Skizze seines Stilllebens, eine etwas betagte Violine, mit einem schon arg in Mitleidenschaft gezogenen Radiergummi. Seine beiden Klassenkameraden, Ray und Sonja, spendeten ihm auf ihre ganz eigene Weise Trost.
    „Wenn du noch etwas schneller rubbelst, können wir gleich etwas über offener Flamme grillen“, feixte Ray gut gelaunt, stellte sich jedoch insgeheim bereits darauf ein, von dem Querulanten neben ihm einen verbalen Tritt in den Allerwertesten zu kassieren. Nichts dergleichen allerdings geschah. Stattdessen verstärkte sich die Wut, die das Stück Papier folterte, und somit auch der ausübende Druck, bis ...
    Ratsch! (Ray konnte sich ein amüsiertes Glucksen nicht verkneifen.)
    Eagle, dem mittlerweile bereits der Schaum vorm Mund stand, heulte vor Wut und Frustration auf. Mit regelrechtem Abscheu betrachtete er seine ohnehin von etlichen Korrekturen verwüstete Skizze, die nun durch eine unansehnliche Falte noch weiter entstellt wurde. Sonja hatte bereits ihren Mund für ein paar tröstende und aufbauende Worte geöffnet, als ihr geplagter Mitschüler kurzerhand das Blatt Papier aufgrabschte, es wütend zerknüllte und auf den Boden pfefferte. Ein wenig belämmert schaute Sonja erst dem katastrophalen Desaster auf dem Boden und dann ihrem Klassenkameraden nach, der sich – seinem Erscheinungsbild nach – in seine eigene wutüberflutete Welt geflüchtet hatte, seinen Kopf mit beiden Händen abstützte und mit stechendem Blick Löcher in den Tisch bohrte. Ray aber winkte amüsiert grinsend ab und gebot ihr stumm, Eagle am besten einfach in Ruhe zu lassen. Er selbst hatte bereits die Idee, wie er die Gedanken seines Zimmerkameraden von seinem Hassfach ablenken und wieder auf seine typischen Bahnen bringen konnte.


    „Keine fünf Wochen mehr“, schwärmte Ray. Eagle grunzte merkbar auf, verharrte allerdings mehr oder weniger regungslos in seiner abblockenden Haltung. Sonja dagegen zuckte gleichgültig die Schultern, als ob sie es nicht sonderlich berührte. „Ich werde ganz groß abräumen. Neben euch sitzt der zukünftige Champ der Schule!“ Ray klopfte sich auf die Brust, Eagle schnaubte verächtlich, Sonja verdrehte die Augen. Keine aber sagte etwas. „Der zukünftige Markis, die zukünftige Sarah, der ...“
    „Heißt das“, unterbrach Eagle Ray, „dass du zukünftig mit Andy Händchen halten wirst?“ Zwischenzeitlich sammelte Eagle seine zerbeulte Skizze vom Boden auf, entknüllte sie und breitete sie vor sich wieder aus.
    „Du willst doch nicht etwas das hier ...“, begann Sonja skeptisch. Doch Worte waren angesichts Eagles selbstzufriedenes und gleichzeitig grimmiges Grinsen in Richtung seiner rundendrehenden Lehrerin überflüssig. Ja, er wollte es so, zweifelsohne.
    Ausnahmsweise gab Ray aber keine Widerworte. Zufrieden darüber, dass sein Plan Früchte getragen hatte, fuhr er fort. „Regt mich nur auf, ausgerechnet in den Herbstferien, ihr wisst schon ...“
    „Ich für meinen Teil“, sagte Sonja, während sie die Outlines ihrer Arbeit sorgfältig nachzog, „habe ohnehin vor, über die Herbstferien in der Schule zu bleiben, auch wenn ich nicht an dem ... Massaker teilnehmen werde.“
    „Vielleicht auch besser so. Damit ersparst du dir die Blamage. Wir wissen schließlich alle, wer am Ende absahnt.“
    „Bitte, du machst mich ja ganz verlegen“, genierte sich Ray übertrieben theatralisch und winkte ab.
    Eagles Blick verfinsterte sich sekundenschnell, seine Stimme verlor augenblicklich den selbstzufriedenen Unterton. „Nur in deinen Träumen!“
    „Und in deinen Albträumen“, entgegnete Ray schmunzelnd.
    „Du bist Fischfutter, wenn ich mit dir fertig bin!“
    „Fischfutter? Ich dachte, du bist in Wirklichkeit ein gerupfter Vogel?“
    „Du ...!“
    „Ich will ja nicht stören, aber ...“ Sonja, die zu ihrem Leidwesen genau zwischen den beiden Streithähnen ihr Dasein fristete, gebot sich mit vorsichtigem Händeheben etwas Aufmerksamkeit. „Es gibt da auch noch ein paar andere, die mitspielen wollen, sozusagen Konkurrenz, schon vergessen? Es wäre ... denkbar, nur denkbar“, betonte sie ganz vorsichtig, „dass keiner von euch beiden gewinnen wird.“ Sonjas langer Haarschopf wirbelte durch die Luft, als sie mit ihrem Kopf eine unmissverständliche Bewegung in Richtung der anderen Anwesenden im Raum machte.
    „Quark!“, winkte Ray ab breit grinsend ab.
    „Amateure ...“, spottete Eagle.
    Für beide stand der Sieger bereits fest.
    Sonja stöhnte laut auf. Ihre Lippen formten dabei deutlich das Wort „Jungs!“, doch schluckte sie es still herunter und schenkte ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem Bild. Für Eagle schien das Thema fürs Erste ebenfalls gegessen zu sein, denn auch er widmete sich widerwillig und deutlich weniger euphorisch als Sonja wieder seinem Kunstwerk. Nur Ray hielt beharrlich an seinen Gedanken fest.
    „Fünf Wochen“, wiederholte er und starrte verträumt Löcher in die dachbodenähnliche Zimmerdecke. „Schulchamp, ich werde der Schulchamp sein.“ Geistesabwesend kritzelte Ray mit seinem Bleistift kreisförmige Linien auf ein Blatt Papier. „Und der Preis ... was auch immer er sein wird ... er wird mir gehören.“
    „Du weißt nicht, welchen Preis es gibt? Ausgerechnet du? Machst du Witze?“
    „Aww- Awwrr?“


    Farbumschwung an dem Raikou-Tisch. Das sonst so kraftvolle Gelb verblasste regelrecht durch die plötzliche Anwesenheit von gebieterischen Rottönen, die von zwei Mädchen getragen wurden. Fast gleichzeitig hatten Ray, Eagle und Sonja ihre Köpfe gehoben und blickten direkt in ein Pärchen haselnussbrauner Augen. Eagle stieß einen desinteressierten Pfeifton aus und wandte sich sofort wieder ab, Sonjas linke Augenbraue wanderte fragend in die Höhe, Ray dagegen schwand sekundenschnell die Farbe aus seinem Gesicht. Wallendes, ebenholzfarbenes Haar, ein vollkommenes Gesicht gepaart mit einem absolut hinreisenden Lächeln. Sora Townsends makellos weiße Zähne umspielten den Anflug einer Grimasse. Sie und ihre beste Freundin, Jenny Anderson, hatten sich vor dem Raikou-Tisch eingefunden und schauten in die Runde. Rays Gesichtszüge, nein, sein ganzer Körper erstarrte regelrecht vor Ehrfurcht, sein Blut gefror ihm in den Adern; nur seine Unterlippe, sie bebte - vor Panik. Noch nie zuvor war er ihr so nahe gekommen, Sora Townsend, ein Mädchen aus dem Entei-Hause. Schon bei ihrer ersten Begegnung – eigentlich nicht mehr, als dass Ray flüchtig ihren Namen während des Unterrichts aufgeschnappt hatte – war er ihrem hinreisenden Charme völlig erlegen gewesen. Er hatte es jedoch nie gewagt, sie anzusprechen. Sich zu blamieren ... gar nicht auszudenken. Doch immer wieder hatte er sich selbst dabei ertappt, wie er dem Entei-Mädchen sehnsüchtige Blicke nachgeworfen hatte. Und jetzt ... jetzt war sie da, sprach mit ihm. Das musste ein Traum sein ... Ray blinzelte unglaublich schnell, sein Kreislauf fuhr Achterbahn – heiß und kalt, auf und ab. Der Puls raste, seine betäubte Zunge lag in seiner plötzlich staubtrockenen Kehle gefesselt, seine Stirn kochte. Was sollte er sagen, was sollte er tun? Ja, was nur ...?
    „Aww?“
    Verdammt! Warum brachte er keinen vernünftigen Ton heraus? Ausgerechnet jetzt! Er brachte es gerade noch fertig, nicht sinnflutartig auf den Tisch zu sabbern.
    „Ray Valentine, dir wird nachgesagt, du seist einer der Favoriten des Turniers.“
    „Ällschemäh?“
    „Ich sage dir aber, dass ich vor dir keine Angst habe, dass das klar ist!“
    „Ähdäh?“
    „Ich mache vor niemandem Halt, also komm mir besser nicht in die Quere.“
    „Du sagtest ,einer der Favoriten’. Wer sind die anderen?“
    Sora ließ von Ray ab und musterte das Raikou-Mädchen am Tisch gründlich. „Du bist Sonja, richtig?“, fragte sie.
    Sonja nickte knapp. Die Lippen der Entei-Schülerin kräuselten sich zu einem Lächeln.
    „Nimm es mir nicht übel, Blondie, aber das wird dich wohl kaum interessieren, noch angehen. Keiner hier schätzt Bücherwürmer wie dich als ernstzunehmende Herausforderung ein. Es gibt da zwar vielleicht die ein oder andere Ausnahme, aber ...“ Sora verschränkte ihren Kopf, gerade weit genug, um in die Richtung eines einsam an einem Tisch arbeitenden Suicune-Schüler zu schielen. Sonja tat es ihr gleich und erkannte sofort Logan Sokol wieder, dem Schüler, mit dem Eagle an dem Freitag, als ihnen ihre Pokémon zugeteilt worden waren, zusammenrasselte. Auch war er einer, dem man bereits jetzt zu Schuljahresbeginn die sichere Eins im Mündlichen nachsagte. Außerdem schien Logan einer der wenigen Auserwählten zu sein, der Finchs gehobenen Ansprüchen gerecht wurde.
    „Das wäre dann aber auch schon die einzige Ausnahme“, fuhr Sora fort und schenkte Sonja ein sehr steifes Lächeln. „Der Pokal wird dieses Jahr in roter Farbe erleuchten und auf meinen Namen lauten.“
    „Bla, bla, bla ...“
    Sah man von Ray ab, der als einziger dem Bann von Eagles Stimme widerstehen konnte, unbeirrt auf dem Tisch sein Werk, eine neue Sabbersinnflut auslösen, fortsetzte und mit hängendem Kiefer und glasigem Blick in die Leere starrte, schweiften die Köpfe der drei Mädchen zu dem einzigen Jungen mit klarem Verstand an dem Tisch.
    „Kannst du nicht jemand anderen vollsülzen? Mir kommt das Essen gleich hoch. Kunst wird das nicht werden ...“
    „H-hi, Malcom“, stammelte Sora mit merkwürdig heißerer Stimme.
    „Der Name ist ,Eagle’“, knurrte selbiger. Einem unerwünschten Übel gleich, zeigte Eagle der Entei-Schülerin und ihrem stummen Anhängsel seine kalte Schulter. Den Kopf gelangweilt auf der Handfläche abgestützt, stocherte er, einem brutalen Akt gleichkommend, mit der anderen Hand, die seinen Bleistift umklammert hielt, auf das zerklüftete Trümmerfeld ein, was einmal ein Kunstwerk darstellen sollte. Dann, im Schlag einer Sekunde – ein flüchtiger Blick: Grüne Smaragde trafen hellbraune Haselnüsse.
    Sora öffnete den Mund einen Spalt weit, doch kein Ton wollte ihren Lippen entweichen. Sie taumelte einen Schritt zurück, den Blick weiterhin auf den Raikou-Schüler geheftet, der sich allerdings wieder ihrer abgewendet hatte. Eine Einhundertachsiggradwende später, war sie mitsamt ihrer Freundin in dem heillosen Durcheinander von Klassenzimmer verschwunden. Zurück blieben eine völlig verblüffte Sonja, ein sich bereits mit seiner ersten schlechten Note abgefundener Eagle und ein sabbernder Idiot namens Ray.

  • Part 3: Geheimniskrämerei


    „Dir ist ja wohl klar, dass sie etwas über den Preis wusste?“
    „Wen meinst du?“
    „Na, diese Entei von gestern, in die du so ... verschossen bist. Wie war noch gleich der Name ...?“
    „Sora?! Hat sie etwas über mich gesagt?!“
    Passend zu Rays sekundenschnell rot werdenden Ohren, schürzte Sonja missbilligend ihre Lippen. Diese Seite kannte sie bislang an Ray ganz und gar nicht. Überhaupt fand sie es sehr bedenklich, welchen Einfluss ein Paar schöne Augen auf den menschlichen Verstand haben konnten. In den Romanen, mit denen sie sich so manchen Abend versüßte, stieß sie oft auf ähnliche Handlungsstränge, in denen jedes Quäntchen Verstand aus den Köpfen der Protagonisten die Toilette heruntergespült wurde und ein spätherbstlicher, verworrener Nebelschleier deren Platz einnahm; jegliche Rationalität wie Saft aus einer reifen Apfelsine herausgepresst. Zurück bleibt eine leere, geistig umnachtete Hülle, gerade mit soviel Verstand, dass man diesen problemlos in mundgerechte Häppchen portionieren und in Tüten verpacken könnte. Ihr selbst war es bislang vergönnt gewesen, diese Gefühle in ihren eigenen Kurzgeschichten, die sie schrieb, festzuhalten, da sie es schlichtweg nicht begreifen konnte. Erfreulich und doch frustrierend zugleich ...


    Auch die verbliebenen freien Plätze in der Mensa füllten sich an diesem Mittwoch-Vormittag sehr schnell. Wie zu jedem Beginn eines Tages lockte der Duft von aufgebackenen Buttercroissants, Brötchen, Muffins und andere Teigwaren sowie frisch gebrühtem Kaffee sämtliche Schüler in die geweihten Hallen der Schulcafeteria. Mit zunehmendem Lärm und der Tatsache, dass sich soeben Diana Rawkes, eine etwas beleibtere und für ihr loses Mundwerk bekannte Quasselstrippe der ersten Jahrgangsstufe, neben Sonja gesetzt hatte, schlug Rays Freundin ihre Version des Geschichtsbuches „1000 Jahre sind ein Tag“ von Udo Barillé zu und machte sich über ihr Frühstück her; mit der Ruhe war es nun endgültig aus.
    „Hi, Ray und Sonja! Hab’s gerade gehört – ihr habt euch über das Turnier unterhalten, stimmts? Ach, was red ich da eigentlich? Natürlich habt ihr das. Man kann ja nirgendwo mehr hingehen, ohne dass man irgendetwas darüber hört.“ Dianas Tablett hatte noch nicht richtig den Tisch berührt, als sich schon der Redefluss über alle Angesprochenen ergoss. Ray erwiderte ihren Gruß freundlich, Sonjas dagegen nur sehr halbherzig.
    Diana biss in ihr Schokocroissant, was sie aber keinesfalls vom Reden abhielt. „Ganz unter uns: Man munkelt so einiges, wisst ihr? Allem voran natürlich, dass du, Ray, die besten Chancen hast. Du giltst als Raikous Favorit – und natürlich unser Sonderling dort drüben.“
    Ray und Sonja ersparten sich den Blick über die Schulter: Sie wussten beide, wem Dianas Wink galt.
    „Ach, das sagst du doch nur bloß.“ Ähnlich wie es Ray am Vortag getan hatte, als er Eagles Selbstnominierung noch in dem Mund seines Redners herumgedreht hatte, schmunzelte er auf Dianas diesmal ernst gemeinter Äußerung.
    „Das redet man zumindest so auf den Gängen“, antwortete Diana. „Dann wäre da Linsey Mac Cullen (die kann ich ja überhaupt nicht ab, auch wenn sie zu uns gehört ...); Logan Sokol von Suicune (der olle Streber); Fabien Dinas, ebenfalls Suicune (sind das eigentlich ihre echten Wimpern?); Sora dort drüben bei den Enteis (warum läufst du plötzlich rot an, Ray?); Rico, Nick und Billy sollen es aber auch faustdick hinter den Ohren haben, aber was rede ich da – ihr hattet ja bereits das Vergnügen, gell?“
    Das war einer der Gründe, weshalb Sonja ihre Hauskameradin einfach nicht ausstehen konnte und ihre Ohren stets auf Durchzug stellte, wollte sie nicht irgendwann mit einem Gehörschaden im Krankenflügel enden. Es war für sie ein Phänomen, wie die Worte mit nur einem einzigen Luftholen wie Wasser aus einer Fontäne sprudeln konnten. Sie redete und redete, ungeachtet, ob ihr überhaupt noch jemand zuhörte oder nicht.
    „... wissen offenbar alle – außer uns natürlich - über den Preis Bescheid. Und so was nennt sich Hauskameradschaft!“ Diana blinzelte verächtlich in Sarahs Richtung, die am anderen Ende des Tisches saß und gerade über einen offenbar köstlichen Witz von Andy gluckste.
    „Die wissen alle Bescheid?“, hakte Ray ungläubig nach. Sonja warf ihm einen verärgerten Blick à la „Hab ich dir doch eben gesagt, hast du mir nicht zugehört?“ zu.
    „Jeder“, betonte Diana. „Die Enteis und die Suicunes halten beide dicht; und unsere Kameradenschweine lassen und hängen.“ Sie scherte sich nicht im Geringsten, ihre Stimme zu senken - im Gegenteil.
    „Hetzkampagne? Ich bin dabei!“
    Jake Foley und sein gleichfarbiger Namensvetter, Jake Miller, der wunschgemäß stets mit seinem Nachnamen angesprochen wurde, belegten die freien Plätze gegenüber Ray und Sonja.
    „Es ist doch eine Sauerei hoch drei!“, reihte sich Miller in die Unterhaltung ein, wobei ihm vor lauter Dampf ablassen glatt die Brille von der Nase rutschte. Auch er bemühte sich keineswegs, seine Lautstärke zu drosseln und verlieh seiner Laune mit bösen Blicken in Richtung der Zwei- und Drittstufler am selben Tisch Ausdruck. „Und so welche schimpfen sich Hauskameraden!“
    „Von den Suicunes oder Enteis hab’ ich mir nichts anderes erwartet, aber von unserer eigenen Seite ...“, stimmte Jake traurig nickend zu.
    „Nicht verzagen, Ray fragen – ich werd’ das schon deichseln, und wenn ich es aus Sarah rauskitzeln muss!“, trat Ray breit und hämmerte mit seiner Faust kraftvoll auf den Tisch, dass das Geschirr zu tanzen begann.
    „Stimmt, du bist ja mit dieser Sarah und ihrem Freund gut zu sprechen. Dann man viel Glück!“, wünschte Miller. „Und vergiss uns nicht, ja?“
    „Ehrensache!“, sagte Ray und grinste zuversichtlich.
    „Macht ihr eigentlich mit?“, fragte Diana neugierig. „Ich für meinen Teil setze aus. Wird ja doch nichts. Man sagt zwar gerne ,Mitmachen ist alles’, aber ... Ne, ne. Nichts für mich“ Sie schaute neugierig in Richtung der beiden Jakes.
    „Nachdem ich gesehen habe, wie ihr“, Miller nickte Ray zu, „mit den Enteis den Boden aufgewischt habt ...“ Er schüttelte den Kopf. „Ich passe auf jeden Fall. Ganovill und ich sind noch nicht soweit.“
    „Bin mir ehrlich gesagt noch nicht sicher“, sagte Jake schulterzuckend. „Mal sehen ...“
    „Was ist mit dir?“ Diana richtete sich an Sonja, die lediglich mit einem stummen Kopfschütteln erwiderte.
    „Tja, Ray, unser aller Hoffnung ruht dann wohl auf dir“, sagte Miller. „Auch wenn er zu uns gehört – ich will Malcom da drüben nicht auf dem Podest sehen.“ Miller schnaubte verächtlich in die Richtung von Eagles Einzeltisch.
    „Verrückt?“, fragte Jake skeptisch. „Würdest du es vorziehen, wenn die Enteis gewinnen? Die sind auch so schon arrogant genug.“
    „Immer noch besser als der Großkotz“, antwortete Miller.
    „Kann ja wohl nicht sein Ernst sein“, sagte Jake und sah seinen Nachbar ungläubig an. Jakes Nasenflügel blähten sich bereits bedrohlich.


    Diana hatte sich unterdessen in eine ihrer gewohnten Flüsterrunden mit einer ihrer „Kontaktpersonen“ eingeklinkt, Jake und Miller waren mitten in einer hitzigen Diskussion untereinander und Sonja ging mit Ray ihren Fragebogen für das bevorstehende Interview durch. Sichtlich nervös kaute Sonja auf ihrem gelben Haarschopf herum, Rays Blick schweifte derweil unbeirrt über die in fein säuberlicher Schrift ausgearbeiteten Punkte. Er überflog die üblichen Personalien und ging gleich zur ersten Frage über.

    1. Professor Liva, wie lange unterrichten Sie schon?
    2. Was hat Sie dazu veranlasst, Direktorin dieser Schule zu werden?
    3) Gab es jemanden, den Sie diesen Ritterschlag verdanken?


    Einen gewaltigen Satz später erreichte Ray die letzte Frage.

    20. Frau Professorin, wenn Sie der Schule einen Wunsch erfüllen könnten, was wäre das dann?


    „Und?“
    Ray hatte aufgehört zu lesen und reichte seiner Freundin stumm ihr Manuskript wieder.
    „Was denkst du?“, drängte Sonja erneut.
    Ein flüchtiger Schatten gespeist von Skepsis und Unzufriedenheit jagte Ray über das Gesicht, während er sich in Schweigen hüllte. Ihm gefiel es nicht – ganz und gar nicht. Doch wollte er Sonja keinesfalls kränken. Die Fragen waren auf gewisse Art und Weise gut, kein Zweifel, sogar zweifelsohne professionell, gleichzeitig aber auch einfach zu steif, zu gezwungen, zu ...
    „Dir – dir gefällt es nicht?“ Sonjas erwartungsvoll gespannten Züge wanderten langsam in enttäuschte Tiefen hinab. Unter dem Einfluss einer bebenden Unterlippe suchte sie verzweifelt Rays Blick. „Warum?“
    Verunsichert biss sich Ray auf die Zunge. Ihm wollten einfach nicht die richtigen Worte einfallen – Sonjas schwaches Nervenpaket ließen die üblichen Albernheiten, scherzhafte Späße und Neckereien einfach nicht zu. „Also – äh ... Hör zu ...“
    „Bin – ich bin zu schlecht, stimmts?“, fragte sie mit brüchiger Stimme.
    „Nee, Quatsch! Also ...“
    „Hey! Ihr werdet es mir nicht glauben! Ich hab’ gerade aus zuverlässiger Quelle gehört – ihr glaubt es mir nicht, wetten? -, bei dem Turnier gibt es ein waschechtes Drachen-Pokémon zu gewinnen. Markis soll eines besitzen, habe ich gehört. Ist das nichts?“
    „Quatsch!“
    „Ist nicht wahr?!“
    Einen kurzen Augenblick hatte sich Ray bereits freudig von Sonja abgewandt und wollte in die eben von Diana neu aufgeheizte Gerüchteküche einsteigen, als sich ruckartig zirka fünfzig Kilo Lebendgewicht von seiner Seite erhoben. Ray drehte sich zur Seite, erhaschte aber nur noch kurz den Anblick, wie Sonja frustriert das Manuskript faltete, ihren Rucksack schulterte und mit glitzernden Augen und weiten Schritten davon marschierte. Er rief ihr nach, doch seine Rufe blieben unbeantwortet.


    Über den ganzen Tag hinweg unternahm Ray verzweifelte Versuche, sich bei Sonja zu entschuldigen oder überhaupt die Aufmerksamkeit seiner Freundin für sich zu gewinnen - vergeblich. Eagle, von dem man nicht gerade behaupten konnte, dass er der gesprächigste Zeitgenosse war, verdrehte nur uninteressiert die Augen auf „Was auch immer du wieder angestellt hast, interessiert mich nicht im Geringsten“-Manier, regte sich dafür aber zunehmend auf, wenn Ray einmal mehr aussichtslose Kontaktaufnahmeversuche mit Sonja unternahm, die allerdings auf ihrem Dreiertisch ganz außen saß und durch Eagle im Mittelpunkt von Ray abgeschnitten wurde.
    „Dann lass sie halt etwas Dampf ablassen“, zischte Eagle schließlich und endlich genervt in Rays Richtung. „So sind sie halt, die Frauen. Morgen hast du sie wieder am Rockzipfel kleben, weißt nicht, wie du sie loswirst und sehnst dich nach etwas Ruhe, wetten?“
    Auch wenn Ray insgeheim Eagle mit seiner Äußerung, dass Sonja wohl nicht ewig auf ihn sauer sein konnte, Recht gab, so war er dennoch über den Rest des Tages äußerst schlecht gelaunt, was wohl auch daraus resultierte, dass er keinen anderen Gesprächspartner am Tisch hatte und der Unterricht ihm deshalb doppelt so langweilig als sonst rüber kam.
    Noch am selben Abend verbrachte er schlaflose Stunden in seinem Bett und schmiedete dabei einen seiner Meinung nach bombensicheren Plan, mit dem er wieder reinen Tisch mit seiner Freundin machen wollte.


    Es war der darauffolgende Donnerstag, der Tag, an dem er und Sonja, sofern sie seine ernst gemeinte Entschuldigung akzeptierte, die Schulleiterin interviewen wollten. Ray fasste sich daher den Entschluss, so taktvoll, wie es ihm nur möglich war, Vergebung für das, was auch immer er getan oder nicht getan hatte, zu ersuchen.
    Der erste Tag in Rays Erinnerungsvermögen, an dem er nicht gemeinsam mit Sonja blödelnd und scherzend zur Schule marschiert war, was ihm den Weg als ungewöhnlich lang und beschwerlich erscheinen ließ. Für seine Verhältnisse recht früh erreichte er den Mathematik-Raum, wo bereits Sonja ihre Arbeitsmaterialien ausgebreitet hatte – zwei noch sehr verschlafen wirkende Entei-Mädchen sowie Logan Sokohl vom Hause Suicune waren auch bereits da, von Finch aber fehlte – glücklicherweise – noch jede Spur.
    „So, da!“
    „R-Ray, was zum?“
    Ray hatte seine Geheimwaffe gezückt. Zwei azurblaue und zwei asphaltgraue Pfoten setzten auf den Dreiertisch auf, an dem Sonja, Ray und neuerdings auch Eagle saßen. Sheinux’ Ohren zuckten bei jedem noch so kleinen Geräusch im Raum nervös auf, beinahe gierig sog er den Kreide- und Papiergeruch in seine Nase. Mit seiner Umgebung noch nicht wirklich vertraut, dribbelte er interessiert auf der Stelle langsam um die eigene Achse und musterte den Raum aufs Gründlichste, bis seine sonnigen Augen Sonja erblickten. Freudig wedelte er mit seiner Rute.
    „Nux-Nux!“, stimmte Sheinux seinen freundlichen Morgengruß für Sonja an.
    „Tja, wenn du mir nicht verzeihen kannst, vielleicht kannst du es ja Sheinux ersatzweise“, sagte Ray, dabei aber sogar ein wenig bangend, ob Sonja auf den Trichter kam und sein Plan somit aufging. Umso freudiger war er, als sich ein Lächeln auf Sonjas Lippen abzeichnete.
    „Du bist unmöglich, Ray Valentine, weißt du das eigentlich?“, paarte Sonja ein Seufzen mit einem Lachen. Sheinux schnurrte zufrieden, während sie ihm den Kopf graulte.
    „Also reden wir wieder, ja?“, fragte Ray. Er nahm den Platz unmittelbar neben Sonja ein.
    „Jaah, tut mir Leid, ehrlich. Ich habe wohl ein klein wenig übertrieben ...“, entschuldigte sich Sonja. In ihrer Stimme lag merkbare Reue.
    Einer Gedankenübertragung gleich tauschten Ray und Sheinux Blicke aus. Sheinux erwiderte das Grinsen seines Trainers binnen eines Sekundenschlages, bevor er sich wieder voll dem Rhythmus von Sonjas Streicheleinheiten hingab.
    „Nee, ich war gestern einfach so abgelenkt“, erwiderte Ray wahrheitsgemäß. „Das Turnier, du weißt schon ...“
    Sonja seufzte resignierend. Sie wandte sich nun direkt an Ray, ließ aber nicht von dem zufrieden schnurrenden Pokémon ab, das sich inzwischen auf ihrem Tisch bequem gemacht hatte. „Ach, weißt du: Vielleicht habe ich deswegen etwas überreagiert. Mir geht das Turnier-Gerede langsam auf den Zeiger. Nimm es mir nicht übel, aber ich bin froh, wenn der ganze Trubel endlich vorbei ist.“
    Ray nickte, wenn auch nur knapp. Er war viel zu froh darüber, dass Sonja wieder mit ihm redete, als dass er ihr hätte böse sein können.
    „Also, was ich gestern eigentlich sagen wollte ...“, begann Ray, doch Sonja schnitt ihm das Wort ab. – „Lass gut sein, Ray. Es ist in Ordnung.“
    „Nein, warte, lass mich ausreden“, erwiderte Ray hartnäckig. „Weißt du, du musst dir vorstellen, dass auch solche Idioten wie ich die Zeitung lesen – und die wollen eben vielleicht noch etwas anderes hören, vielleicht etwas abseits der Schule. Verstehst du, was ich meine?“
    „Putz dich doch nicht immer so runter, Ray ...“, tadelte Sonja ihren Freund.
    „Ist doch so“, gluckste Ray.
    „Aber vielleicht – vielleicht hast du Recht“, nickte sie schließlich. „Hilfst du mir?“ Erwartungsvoll röntgte Rays Freundin ihn mit ihrem Blick.
    Ray klopfte sich auf die Brust. „Ehrensache! Starfotograf Ray Valentine meldet sich zum Dienst! Nehmen wir unsere Direktorin ins Kreuzverhör!“
    „Nachsitzen, Valentine. Mein Klassenzimmer ist kein Streichelzoo, merken Sie sich das!“ Wie an jedem Morgen stolzierte Professor Finch über die Türschwelle seines Klassensaals hinweg und steuerte zielgenau sein Pult an, wo er sich langsam und frei von jeglichem Verständnis oder Interesse ausbreitete.
    Egal! Das war es wert!


    Jede noch so kleine freie Minute wurde an diesem Vormittag gnadenlos ausgeschröpft, Sonjas 20-Punkte-Programm noch einmal sorgfältig überdacht und überarbeitet. Die Autorin setzte sich dabei sogar teilweise verbissen zur Wehr und versuchte, von ihrem ursprünglichen Programm noch zu retten, was zu retten war. Trotz der Tatsache, dass ihr am Ende ihrer gemeinsamen Verbesserungen das Herz blutete, so war sie schließlich und endlich einigermaßen mit ihren Ergebnissen und Rays hart erkämpften sieben Fragen zufrieden. Lang hatten sie darüber diskutiert, ob die Frage nach dem diesjährigen Turnierpreis überhaupt in ihr Programm hineingehörte. Ray hatte am Ende klein bei gegeben und sich in diesem Punkt als geschlagen erklärt. Zwar war Sonja noch immer nicht ganz damit zufrieden, die Direktorin nach ihrem Favoriten für das bevorstehende Turnier auszufragen, doch saßen sie zu guter Letzt pünktlich zur fünften Stunde an einem kleinen Tisch in einer etwas abgeschiedenen Ecke ihrer Schülerzeitung-Redaktion. Unter dem von Rays Digitalkamera heraufbeschworenen Blitzgewitter erwiderte Sonja nur sehr zaghaft das freundliche und animierende Lächeln von Professor Liva, fasste sich aber bald wieder und auch ihre anfangs noch sehr brüchige Stimme kräftigte sich mit jeder gemeisterten Frage.
    „Mein Favorit bei dem Turnier?“
    Zum ersten Mal seit dem Beginn ihrer Fragerunde kam Professor Liva ins Stocken, ja erweckte sie sogar einen leicht perplexen Eindruck, zumal es die erste von Rays erarbeiteten Fragen war. Skeptisch fuhr sie sich mit ihren Fingern durch ihr schulterlanges, schwarzes Haar. Sonja warf Ray einen teils irritierten, teils vorwurfsvollen Blick zu und auch ihr Herzschlag beschleunigte sich wieder zurück zum Status quo.
    „Eine schwierige Frage. Darauf war ich ehrlich gesagt gar nicht vorbereitet ... Gute Arbeit! Jungredakteure, wie sie ihm Buche stehen – und so gut informiert.“
    Amüsiert grinsend zwinkerte Ray seiner Freundin zu, die diese Geste, über dieses unverhoffte Lob sichtlich bestärkt, zart lächelnd erwiderte.
    „Ihr erwischt mich gerade in einer Zwickmühle, ihr zwei“, sagte Professor Liva. „Ich darf als Mitglied des Lehrkomitees natürlich keine Partei ergreifen, weswegen ich natürlich allen den Sieg gönnen muss. Müsste ich aber eine Wahl treffen ... Hm, schwierig ... Ihr bringt mich in die Bredouille ...“
    „Sie müssen nicht antworten, wenn sie nicht wollen“, gab Sonja zu.
    „,Wollen’ ist so eine Sache - ich kann einfach nicht, versteht ihr? Wenn ihr aber etwas notieren wollt: Rot ist meine Lieblingsfarbe.“
    Obwohl Ray die Anspielung auf das Entei-Haus blind verstanden hatte, so war er dennoch über diese Äußerung keinesfalls empört oder gar beleidigt. Er respektierte es und gleichzeitig wurde er nur noch mehr angespornt, bei dem bevorstehenden Großereignis sich uns sein eigenes Haus von der besten Seite zu präsentieren.


    „Meine Pokémon?“
    Dies war nun die letzte von Rays Fragen, bei der sich Sonja oder Ray Probleme erglaubt hatten. Doch trat genau dieser Fall ein, denn Professor Liva reagierte unerwartete verlegen, was selbst Rays flinker Zeigefinger an seiner Kamera zum Erlahmen brachte.
    „Gibt es da ein Problem?“, hakte er nach.
    „Also, wisst ihr ...“, begann die Schulleiterin und schabte sie mit ihrer Hand nervös über an Genick. „Ich nenne kein einziges Pokémon meinen Freund.“
    Ray klappte ungläubig der Kiefer herab und auch Sonja stand ihre Bestürzung ins Gesicht geschrieben.
    „Sie – sie haben kein Pokémon als Freund?“, fragte Ray skeptisch.
    „Nein.“
    „Auch noch nie eines gefangen?“
    „Nein, tut mir Leid.“
    „Und damals, als sie noch jünger - ähm, ich meine, als sie ungefähr in unserem Alter waren?
    Professor Liva erwiderte Rays anklagendes Kreuzverhör mit einem Kopfschütteln und lächelte selten gehemmt. „Ihr müsst verstehen, ich war schon immer sehr engagiert, was meine Ausbildung betraf, weswegen mir kaum Zeit für weltliche Dinge blieb. Ich bin wohl das, was man ein ,Arbeitstier’ nennt.“
    „Gab es denn wirklich noch nie einen Zeitpunkt, an dem sie sich einen Pokémon-Begleiter gewünscht haben?“, wollte Sonja wissen, da es Ray inzwischen völlig die Sprache verschlagen hatte.
    „Natürlich“, antwortete Professor Liva, „aber wer sich dann der Verantwortung, für ein Pokémon zu sorgen, stellt, der muss auch Prioritäten setzen. Prioritäten, unter denen mein Engagement für die Schule dummerweise leiden würden, beziehungsweise meine Ausbildung gelitten hätten.“
    Irgendwie fühlte sich Sonja plötzlich innerlich äußerst schlecht. Vielleicht lag es daran, dass ihr Gewissen sie dafür verurteilte, die kostbare Zeit der Schulleiterin so sehr in Anspruch genommen zu haben, vielleicht aber hatte Ray deutlich auf sie abgefärbt. Was auch immer es war – Sonja wollte dieses Gespräch nun beenden und hatte bereits ihren gezwungenen Frieden mit diesem Thema geschlossen, als Ray dann doch noch einmal das Wort ergriff.
    „Und Sie haben auch noch nie eine Bindung zu einem wildlebenden Pokémon aufgebaut? Noch nie? Auch nicht hier an dieser Schule, wo sie doch tagtäglich von so vielen Pokémon umgeben sind?“ Ray konnte es einfach nicht begreifen. Ihm wollte es einfach nicht in den Kopf gehen. Er war so euphorisch, sein erstes Pokémon zu bekommen, er hätte damals alles dafür getan, wirklich alles. Es war der glücklichste Tag in seinem ganzen Leben, als er endlich Sheinux in seine Arme schließen konnte. Er konnte und wollte es einfach nicht verstehen, wie man sich nur so von diesen hingebungsvollen Geschöpfen distanzieren konnte.
    Nein - noch nie“, antwortete Professor Liva. Etwas Endgültiges lag in ihrer Stimme, doch gleichzeitig glaubte Ray auch ein leichtes Zittern zu hören, oder war er selbst einfach total mit dieser Situation überfordert? Nahm es ihn tatsächlich so dermaßen mit? Dummerweise wurde Rays Skepsis nur damit bekräftigt, dass Professor Liva weitere Fragen zu ihrem persönlichen Verhältnis mit Pokémon kategorisch ablehnte. Irgendetwas stimmte einfach an dem letzten „Nein“ nicht, da war er sich absolut sicher. Es war, so glaubte er herauszuhören, dasselbe Nein, mit dem er immer seine Lehrer anflunkerte, wenn sie ihn nach der Originalität seiner Hausaufgaben fragten. Sollte sie tatsächlich ... lügen, und wenn ja, warum?

  • Part 4: Eine Frage der Erfahrung


    Selbst das allgegenwärtige Turnierfieber, die Aussicht auf das Wochenende und die daraus resultierende freie Zeit verblassten angesichts der kürzlich von Ray gemachten Erfahrungen, die ihn geistig auf Schritt und Tritt verfolgten: Bei seinen vergeblichen Einschlafversuchen im düsteren Vorhang der Nacht, während den restlichen Unterrichtsstunden der Woche, in den Pausen und dem Augenblick des erlösenden Glockenschlags, der das Ende der Schulwoche einleitete. Ray verpennte die rechtzeitige Ankunft zu dem ungewollten Nachsitzvergnügen mit Finch und wurde gnadenlos zu einer weiteren Runde stumpfsinnigen Hinternwundsitzen verdonnert. Und noch immer suchten sie ihn heim - fiktive Bilder, die den jungen Raikouianer einfach keinen klaren Gedanken mehr fassen ließen: Ray als frühreifer ABC-Schütze unter dem Weihnachtsbaum, seine erdachte Zwillingsschwester, die mit Zahnlücke und kurzen Haaren auf Kindesalter geschrumpfte Schulleiterin, erhielt einen Chemiebaukasten, während Ray erwartungsvoll die Verpackung seines neuen Pokémon-Videospiels abriss; eine junge Professor Liva, die am selben Tag wie er ihr erstes Pokémon bekommen sollte, es aber im Anschluss freudig für einen dicken Schmöker abtreten und verstoßen wollte; Professor Liva - nun wieder in Originalgröße und ihrer üblichen Tracht – stolzierte desinteressiert und in ein dickes Buch vertieft über einen weißgekachelten Fußboden hinweg, wo ein von Gleichgültigkeit dahingerafftes, an ein schweres Möbelstück gefesseltes Knochenskelett lag, das augenscheinliche Ähnlichkeit mit Sheinux besaß.
    Das sympathische Abbild der Schulleiterin, welches Ray bislang von ihr hatte, schrumpfte auf ein kleines, kümmerliches Etwas zusammen, das bequem in jede Hosentasche passte. Wie nur, wie konnte man nur so abgestumpft reagieren und sich so von der übrigen Welt mit all seinen farbenreichen Facetten und Schönheiten, die das eigene Dasein überhaupt lebenswert machten, distanzieren? Immer und immer wieder rief sich Ray den schönsten Moment in seinem Leben in Erinnerung – den Moment, als er Sheinux liebevoll in seine Arme geschlossen hatte, sein Herzschlag mit dem seines neuen Freundes völlig synchron übereinstimmte. Er hatte seinen neuen vierbeinigen Freund überhaupt nicht mehr loslassen wollen, so sehr hatte er mit der Angst gerungen, dass Sheinux ihm plötzlich wie eine empfindliche Seifenblase zerplatzte und das Seifenwasser durch seine dünnen Finger rann. Wieso teilte die Schulleiterin nicht dieselben Gefühle, wieso weigerte sie sich so konsequent, das gleiche Schicksal wie alle anderen Menschen auf dieser Insel zu teilen? Oder gab es sogar noch mehr Leute wie sie? Menschen, die nur für ihre stumpfsinnige Arbeit lebten? Ray konnte es sich einfach nicht vorstellen. Insgeheim konnte er sich sogar eher mit dem Gedanken anfreunden, dass die Schulleiterin bei ihrem kleinen Kreuzverhör wohlmöglich doch nicht ganz die Wahrheit gesagt hatte, als dass sie tatsächlich so kalt war, wie sie sich präsentiert hatte.


    Das Wochenende zog ereignislos dahin und die nächste Woche kam. Eine Verbesserung von Rays Laune war allerdings trotz makellosem Wetter und dem unaufhörlich näher rückenden Turnier nicht in Sicht.
    „Du bist immer noch nicht darüber weg, hm?“
    Seufzend legte Ray seinen Bleistift ab, mit dem er bereits seit geschlagenen fünfzehn Minuten vergeblich versucht hatte, an dem Zeichenentwurf seines Stilllebens weiterzuarbeiten. Das Layout seines Plastikobstes lag noch genauso unfertig und desolat da, wie er es bereits in der vorherigen Woche zurückgelassen hatte.
    „Du kennst die Hintergründe ...“, antwortete Ray seiner Freundin und wich dabei konsequent ihrem strengen Blick aus. Die Faust, mit der er seinen Kopf abstützte, grub sich tief in seine linke Wange. Abermals stieß er einen resignierenden Seufzer aus. „Es will mir einfach nicht in den Kopf ...“, sagte er schließlich.
    „Mensch, Ray, jetzt lass dich doch nicht so hängen! Irgendwann ist es doch mal gut!“, mahnte Sonja ernst.
    „Mir gefällt er ehrlich gesagt so“, warf Eagle mit desinteressierter, tonloser Stimme ein. Sonja warf ihm einen, für ihre üblichen Verhältnisse, äußerst bösen Blick zu, wandte sich dann aber wieder an Ray, der nach wie vor Löcher in die braunen holzvertäfelten Wände des Dachboden-Klassenzimmers starrte.
    „Dann lass sie doch einfach, Ray. Sie ist nun mal, wie sie ist. Daran kannst du auch nichts ändern, oder erwartest du etwa, dass jeder gleichermaßen wie du reagiert?“
    „Ich weiß und das verlange ich auch nicht“, erwiderte Ray trotzig.
    „Und was ist es dann?“, blieb Sonja an ihrem Freund kleben.
    „Es ist ... also, ...“ Ray geriet plötzlich ins Stocken. Er ertappte sich selbst dabei, dass er einfach keine vernünftige Erklärung parat hatte, mit der er seine Gefühle erklären konnte. Seit langer Zeit wandte er sich wieder seiner Skizze zu, tippte zwei-, dreimal mit dem stumpfen Ende seines Bleistiftes auf die Oberfläche und ließ ihn im Anschluss abermals sinken. Sicher, Professor Liva hatte sich nicht direkt gegen die Pokémon ausgesprochen und auch besaß die Schulleiterin keinesfalls eine Abneigung gegen sie, andernfalls hätte sie sich ja niemals dazu entschlossen, ausgerechnet eine Pokémon-Schule zu leiten. Es beruhte lediglich auf ihren maßlosen Idealismus, der sie für alles Weltliche blendende. Auch waren die Bilder in Rays Kopf bei näherer Betrachtung irrwitzig übertrieben, sodass er sich selbst innerlich dafür schämte, solche abstrusen Vorstellungen zu haben. Resignierend schüttelte er den Kopf. „Ich denke, ich kann einfach nicht begreifen, wie man nur so leben kann ...“, sagte Ray schließlich.
    „Sie hat ihr Leben, und du deines, basta!“, reihte sich Eagle in das Gespräch ein. „Wenn sie nicht damit zufrieden wäre, würde sie es wohl kaum tun, oder?“
    „Da hat er Recht“, stimmte Sonja ihrem Banknachbar nickend zu.
    Ray seufzte. „Vielleicht“, sagte er, „aber kennt ihr das Gefühl, dass ihr zu wissen glaubt, was für den anderen das Beste ist, beziehungsweise das Richtige ist? Ihr seht sie Dinge tun, die ihr nicht einmal im Traum tun würdet, und denkt dabei, wie man nur so leben kann.“ Ray wandte sich nun direkt an Sonja. Ihre Augen trafen sich. „Stell dir vor, jemand würde vor deinen Augen anfangen, die halbe Schulbibliothek abzufackeln. Wie würdest du reagieren? Verständnislos, nehme ich an?“
    „Das ist jetzt aber ... wieso sollte jemand ...?“, stotterte Sonja, deren Satz allerdings von Ray abgeschnitten wurde.
    „Und stell du dir mal vor“, sagte er und schaute in Eagles Richtung, „jemand würde einem Vogel-Pokémon jede Feder einzeln rausrupfen.“
    „Der könnte sich schon jetzt sein Grab schaufeln ...“, knurrte Eagle.
    Ray nickte ihm dankbar zu. „Ich denke, das ist es einfach – diese Einstellung stößt bei mir auf eine Barriere, weil ich Pokémon einfach liebe und ich es deshalb nicht begreifen kann.“


    Ein langes Schweigen bot reichlich Zeit zum Nachdenken. Er hatte es geschafft: Ray hatte sich endlich seinen Frust von der Seele sprechen können – und es fühlte sich gut an. Er war nun, jetzt, wo er dieses Laster endlich von der Seele hatte, wieder richtig befreit. Auch konnte er nun – wenn auch nur etwas - seiner Direktorin Verständnis entgegenbringen. Wie es Eagle schließlich richtigerweise gesagt hatte: „Wenn sie nicht damit zufrieden wäre, würde sie es wohl kaum tun, oder?“ Natürlich hatte sich nichts, aber auch rein gar nichts, an der Ausgangssituation geändert, doch sah Ray nun die andere Seite der Medaille. Professor Liva ertrug dieses Opfer – und sie ertrug es für alle, die hier an ihrer Schule lernten. Dadurch, dass sie ihr eigenes Leben in die freudlose Kompromiss-Tüte packte, diese mit Verzicht und Bescheidenheit verschnürte und in den Abfallbehälter mit Namen Hingabe warf, kamen ihre Schüler in den Genuss der besten Ausbildung, die man sich – sah man von speziellen zahlenfanatischen Matheliebhabern ab – nur vorstellen konnte. Sicherlich war dies alles andere als fair, aber vielleicht, irgendwann ...
    „Sag mal ...“ Sonjas vorsichtige Tonlage und das noch seltene Ritual, dass sie sich an Eagle richtete, kündigte ein neues Gespräch an, wofür Ray, der sich zwischenzeitlich wie neu geboren fühlte, sehr dankbar war. „Du magst Vogel-Pokémon?“
    Eagle verdrehte die Augen und täuschte den Anflug einer höhnischen Grimasse vor. „Auch schon bemerkt? Komisch, ich dachte, du wärst eine von den Schnelleren. Aber lass dich belehren: Ich stehe auf so ziemlich alles, was nicht auf dem Boden klebt.“
    „Warum?“, hakte Sonja nach.
    „Warum? Blöde Frage – wegen der Überlegenheit natürlich. Aber klar, dass du das nicht verstehst“, sagte Eagle leicht kopfschüttelnd und schürzte die Lippen. „Flug- und insbesondere Vogel-Pokémon gehören zu den edelsten Kreaturen, die die Natur hervorgebracht hat. Wenn sie ihre Flügel spreizen, ein zarter Windhauch ihre Schwingen nährt und sie getrieben von einer Macht, die so alt wie die Zeit selbst ist, anmutig gen Himmel empor steigen ... Das Gefühl der Überlegenheit, das Gefühl der Freiheit, das Gefühl der Stärke, das Gefühl ...“
    „Ich habe gelesen“, unterbrach Sonja ihren Freund, die sogar ein wenig über die Wortgewandtheit ihres Banknachbars beeindruckt war, „dass Flug-Pokémon sehr viele Schwächen haben. Wundert mich, dass du so von ihnen schwärmst.“
    Eagles Blick, als Sonja ihr ihren Satz beendet hatte, stellte alles bislang dagewesene in den Schatten: Er war stechender, als Staralilis in der Sonne blitzender Schnabel; heimtückischer, als Professor Finch, wenn er eine neue Hausaufgaben-Sinnflut über seine Schüler schwappen ließ; wütender, als wenn man ein wildes Pokémon um sein Mittagessen betrog; geringschätziger, als wenn man an einem Montagmorgen als Raikou in das Entei-Haus marschierte und ihnen einen schönen Wochenstart wünschte.
    Ein Stuhl kratzte wütend über den Boden. Ruckartig – man glaubte tatsächlich, er könnte fliegen – hatte sich Eagle vom Boden abgestoßen und funkelte Sonja böse von oben herab aus an.
    „Was weißt du schon?!“, blaffte er Sonja, die vor lauter Schreck und der Last von Eagles Blick abgetaucht war, mit ohrenbetäubender Stimme an und funkelte ihr vernichtend entgegen, woraufhin sämtliche Unterhaltung in dem weitläufigen Klassensaal schlagartig verebbte.
    „Gibt es ein Problem, Mr. Granger?“ Auch Professor Cenra, die den Kunstunterricht leitete und immer wieder ihre Runden zwischen den Schülern drehte, teilte das Interesse ihrer Klasse.
    Eagle - selbst ein wenig durch diesen plötzlichen Stimmungsausbruch überrascht – winkte ab. „Nein, Professor. Entschuldigen Sie ...“, sagte er kleinlaut, rückte sich seinen Stuhl zurecht und nahm wieder Platz.
    „Bleib locker“, redete Ray auf Eagle ein. Es hatte nicht lange gedauert, bis wieder die alte Stimmung in das Klassenzimmer eingekehrt war, sich ein jeder wieder seiner Arbeit widmete und auch Sonja – deutlich blasser als sonst um die Nase – wieder auftauchte. Auch Eagles Gesicht nahm – wenn auch nur langsam – wieder seine gewohnte Farbe an.
    „Red halt nicht so ein Stuss zusammen“, fuhr er Sonja leise an.
    „I-ich hab es nur gelesen, Sorry“, entschuldigte sich Sonja kleinlaut.
    „Den Wisch möchte ich gern mal sehen“, höhnte Eagle.
    „Da, bitteschön!“ Ein gezielter Handgriff später lag das Leerbuch, das Ray bislang am wenigsten leiden konnte, über den Tisch ausgebreitet: „Pokémontraining für Anfänger“. Bislang hatte der fast einhundert Seiten lange Schmöker noch keine Überraschung für Ray bereitgehalten und lediglich als Einschlaflektüre gedient. Hier aber, auf dieser weit vorangeschrittenen Seite, schien die Herrschaft von Finchs geliebten Zahlen fast gebrochen zu sein. Stattdessen hielten bunte Farben in einer tabellenförmigen Aufstellung ihren Einzug. Ray überflog das Gebilde, musste sich aber schnell seiner Ratlosigkeit geschlagen geben.
    „Hier, siehst du das?“ Sonjas Finger fuhr senkrecht über eine Spalte, über der in Großbuchstaben „Flug-Typ“, stand. „Das sind die Schwächen.“
    Auch Eagles Blick schweifte über das Leerbuch. Seine Züge verfinsterten sich von Sekunde zu Sekunde. Sein Blick blieb bei einem dicken, roten Minus bei „Elektro“ haften, das genau den Flug-Weg kreuzte.
    „Stärken und Schwächen, ja?“, fragte Ray, dessen Neugierde nun auch geweckt wurde. Er zog das Buch etwas an sich heran, suchte und fand die Elektro-Spalte und stieg sie hinab. „Ha“, stieß er triumphierend empor, als er ein dickes, grünes Plus gegenüber dem Flug-Typ erspähte - ein Vorteil, wie er es sich zusammenreimte. Grinsend hob Ray den Kopf. „Deswegen hast du mich damals gefragt, ob Sheinux ein Elektro-Pokémon ist.“
    Deutlich verblüfft sah auch Sonja zu Eagle herüber. „Du wusstest es? Und trotzdem hast du ihn herausgefordert?“
    Ein wütender Luftschwall entwich Eagles Nase und ließ die dünnen Buchseiten leicht erbeben. Zähneknirschend wandte er sich ab. „Ich habe es mal gehört – glauben wollte ich es aber nie ... Ist vielleicht auch ein Druckfehler ...“
    Rays aufmerksamer Blick wanderte erneut die verschiedenen Spalten hinab. Pflanze, Boden, Drachen, Unlicht ... Und alle hatten offenbar Stärken wie auch Schwächen. Es war erstaunlich: In nur zwei Minuten hatte er mehr über Pokémon lernen können, als Finch ihm in drei Wochen Unterricht hatte vermitteln können. „Pokémon haben also unterschiedliche Typen? Vor- und Nachteile? Interessant.“
    „Und gegen so jemanden habe ich verloren ...“, schnaubte Eagle wütend. „Aber ich werde es der Welt zeigen“, sagte er mit der üblichen Selbstgefälligkeit und Entschlossenheit in seiner Stimme. „Ich werde das Turnier gewinnen und beweisen, dass Flug-Pokémon die stärksten sind! Aber erst rechne ich noch mit Sarah ab. Ich werde sie herausfordern und schlagen!“
    Im selben Augenblick drang die tadelnde Stimme von Professor Cenra durch den Klassensaal und auch zu den drei Raikous herüber. Kritisch überflog die Kunst- und auch Suicune-Hauslehrerin Billy Finchs Arbeit und deutete dabei vielsagend auf verschiedene Stellen seiner Skizze. Nur für den Hauch einer Sekunde ließ Ray seinen Blick von dem Spannendsten an, was er jemals in diesem Buch erblickt hatte, und sah zu dem Entei Tisch herüber. „Das war sehr effektiv!“, feixte er und gab sich erneut Sonjas gemachter Entdeckung hin.



    * * *



    „Jetzt nicht nachlassen! Feg sie vom Kampffeld!“
    Noch am selben Tag bewahrheitete Eagle zumindest eines seiner ausgesprochenen Versprechen: Sarah aufzulauern, ohne dass ihr Quälgeist von Freund dazwischenfunkte, hatte sich als kniffliger herausgestellt, als er sich anfangs zu träumen gewagt hatte. Letztendlich war ihm der Geduldsfaden gerissen und nach etlichen Sticheleien und Provokationen war der Augenblick gekommen, an dem sich die Titelverteidigerin ihm endlich offenbarte und zum Kampf stellte.
    Die Frontseite des Raikou-Schulhauses musste für dieses Schauspiel herhalten. Die Hitze des Kampfes, obgleich Mond und Sterne unlängst das feurige Himmelsgestirn am Himmel abgelöst hatten und die einzige Lichtquelle noch die Außenbeleuchtung des Hauses war, trieb beiden Kontrahenten den Schweiß ins Gesicht. Angetrieben von den Jubelklängen seiner Kollegen der Grundstufe und verschmähten Pfiffen und Buh-Rufen von den Zweit- und Drittklässlern führte Eagle Staralili wie kein anderes Mal in den Kampf. Der Himmel gehörte ihr ganz allein. Scharfe Kehrtwenden und riskante Ausweichmanöver hatten Sarahs Pokémon zur Weißglut getrieben. Keine der bislang von der hageren, fast menschengleichen Gestalt eingesetzten Fähigkeiten konnte bei ihrer wendigen Gegnerin fruchten. Stets aufs Neue war Staralili unheilbringend durch die Luft sausende Fäusten und Beinen ausgewichen und auch bizarren Schallwellen, die direkt aus den beinahe hypnotischen Augen von Sarahs Pokémon strömten und bei deren Klängen sich Eagle die Nackenhaare sträubten, waren bislang in die Weiten des Himmels entschwebt, ohne dass sie eine Wirkung hatten entfalten können. Eagle war allerdings auch nicht sonderlich scharf darauf zu erfahren, was diese Wogen bei einem Treffer für Staralili bereithielten. Hier oben, auf den lauen und erfrischenden Abendwinden reitend, war sie unerreichbar für ihre Gegnerin und somit sicher, was man von Sarahs Pokémon allerdings nicht unbedingt behaupten konnte. Auf Geheiß ihres Trainers war Staralili in einen regelrechten Kampfrausch verfallen. Der Wahn ihres pausenlosen Flügelschlagens beschwor die ungezügelte Macht des Windes über ihre Widersacherin herauf. Das Gras bog sich kapitulierend, Dreck und spärliches Laub peitschte auf und tanzte durch die Luft. Zuschauer, die Kopfbedeckungen trugen, liefen auf die Gefahr hinaus, selbige zu verlieren und schlugen sich aus diesem Anlass die Hände über die Köpfe. Doch der von Staralili aufgepeitschte Sturm, das Schlagen ihrer Flügel und auch ihre schrillen Kampfesschreie ließen nicht ab. Meditalis, die diesen Kampf bislang mit rhythmischen, fast yogaähnlichen Bewegungen geführt hatte, stemmte sich nun erbittert und mit schützend vor das Gesicht ausgebreiteten Armen den Böen entgegen, während Sarahs vergebliche Rufe in dem heillosen Getöse des Windgeflüsters fast gänzlich erstickten. Mit zufrieden verschränkten Armen ließ Eagle die Bilder von dem fast in greifbare Nähe gerückten Sieg auf sich wirken. So hatte er sich das vorgestellt, so sollte es sein.
    Noch immer widersetzte sich Medialis der himmlischen Macht erbittert, zögerte das Unvermeidliche hinaus. Doch wie lange noch? Wie lange konnte sie dieser Wut noch Paroli bieten?
    „Genug jetzt!“, hörte Eagle schwach Sarahs Stimme aus dem Getöse heraus. „Bring das Vöglein wieder auf den Boden der Tatsachen!“
    „Vergiss es!“, lachte Eagle auf, verstummte allerdings schlagartig. Meditalis bewegte sich. Ihre Knie zitterten bedrohlich, doch schaffte sie es tatsächlich, einen schwachen Schritt voran zu treiben. Und abermals – ein weiterer Schritt. Doch was nützte es? Eagles Muskeln entspannten sich augenblicklich wieder und sein Grinsen wurde wieder so stolz wie eh und je.
    „Und was bringt es dir?“, rief er durch den Orkan hindurch. Mit dem Daumen machte er eine demonstrative Geste in den reichen Himmel empor, wo Staralilis Stern heller als alle anderen leuchtete und ihren nächtlichen Sturm entfesselte.
    Sarah antwortete nicht. Stattdessen schien sie ebenso verbissen, sich dem Orkan entgegen stellen zu wollen, wie es ihr Pokémon tat. Mit der selben Sturheit, die in ihren Augen loderte, beobachtete sie stumm wie sich Meditalis langsam aber sich immer weiter Staralili näherte. Dann – ein Schrei.
    „Jetzt ist es soweit! Erdanziehung!“
    Ein dunkles Glühen ging von Meditalis’ Händen aus, fast so dunkel wie die Nacht, die zwischenzeitlich das gesamte Landschaftsbild eingebettet hatte. Nun war es plötzlich Eagle, der sich gegen eine unsichtbare Präsenz stellen musste. Er glaubte tatsächlich, Meditalis’ Attacke war gegen ihn selbst gerichtet. Die Gewalt über seinen Körpers hatte ihn verlassen. Arme und Beine waren binnen Sekunden zu bleischweren Ungetümen geworden. Er konnte sich nicht mehr bewegen und ging augenblicklich auf die Knie. Schlimmer erging es aber Staralili: Im selben Augenblick, als es ihren Trainer von den Beinen riss, wurde auch Staralili mit der paranormalen Anomalie konfrontiert. Flügel erstarrten noch in der Luft und wie ein schwerer Stein kam sie dem Erdboden näher und näher. Mit der ganzen Kraft, der er aufbieten konnte, raffte Eagle seinen Kopf gen Himmel empor. Er erblickte sie - Staralili fiel schneller und schneller, näherte sich unaufhaltsam ihrem unausweichlichen Schicksal, ein letzter panischer Schrei, der in Dreck erstickte.
    Staub wirbelte auf, als Staralili Bekanntschaft mit dem harten Boden machte, doch nur kurz, denn auch vor Schmutz machte die plötzlich dreifache Schwerkraft, die fast das komplette Kampffeld regierte, nicht Halt. Nur Meditalis schaffte es offenbar, sich dem Einfluss der Gravitation erfolgreich zu widersetzen und näherte sich mit geschmeidigen Bewegungen ihrer Gegnerin, bis sie genau vor ihr stand. Eagle kauerte auf der Erde und vergrub mit erstarrtem Gesichtsausdruck seine Fingernägel in der steinharten Erde. Doch das konnte Staralili nicht retten und das wusste er. Meditalis’ Hand langte gierig nach dem vom Himmel gefegten Vogel, nur noch Zentimeter trennte sie vor dem zierlichen Federkleid. Eagle kniff die Augen fest zusammen, seine Zunge lockerte sich ...
    „Halt! I-ich gebe auf ...!“
    „Meditalis, Stopp!“
    Meditalis’ Bewegung erschlafften augenblicklich. Langsam, ganz langsam warf sie einen Blick über die Schulter ihrer Trainerin entgegen. Sarah nickte.
    Augenblicklich löste sich die unheimliche Präsenz von Meditalis’ Einfluss über das Kampffeld auf und Arme und Beine taten endlich wieder ihre Dienste. Noch während von der Loge der Zuschauer tosender Beifall und Pfiffe ausgingen, stürzte sich Eagle auf Staralili und schloss sie in seine Arme. Behutsam strich er ihr über den leicht beschmutzten Kopf. Etwas schwächlich fiepte Staralili ihrem Trainer ein trauriges Piepsen hervor. Mit beschämten Ausdruck in ihrem Gesicht wandte sie sich ab.
    „Es ist gut ... D-du hast alles gegeben ... Kein Grund, dich zu schämen ...“ Seine Stimme zitterte und hörte sich seltsam fremd in seinen eigenen Ohren an. Er drückte den zierlichen Vogel an seinen Leib. Weitere Worte brachte er aber nicht mehr hervor.
    Das Gras federte wieder federweich, weswegen Eagle erst recht spät bemerkte, dass sich Sarah ihm genähert hatte. Langsam hob er den Kopf. Seine Gegnerin und auch Meditalis standen vor ihm und blickten auf ihn hinab. Er hasste es ...
    „Gut gekämpft, muss ich dir lassen“, lobte Sarah ihn, doch in seinen Ohren klang es wie Hohn. Er wollte es nicht hören, wollte seine Ohren verschließen. „Noch mangelt es dir an Disziplin und auch an Erfahrung. Der Überraschungsmoment war dein Verhängnis. Auf solche Momente musst du vorbereitet sein, willst du bei dem Turnier abräumen. Dennoch hast du bewiesen, dass du ein würdiger Nachfolger bist. Ich erwarte Großes von dir! Verteidige die Hausehre, klar?“
    Die letzte Botschaft konnte Eagle verstehen. Stumm doch sogar ein wenig einsichtig nickte Eagle ihr zu. Ein roter Lichtstrahl entführte Meditalis in ihren Pokéball zurück. Sarahs Schritte wurden von Sekunde zu Sekunde immer leiser und auch das undeutliche Gesumme von den gaffenden Zuschauern erstarb nach kurzer Zeit. Lediglich Ray und Sonja symbolisierten den traurigen Rest, die sich allerdings auf Distanz übten, wofür Eagle dankbar war. Er brauchte Zeit: Zeit für sich allein; Zeit mit dieser Niederlage umzugehen; und Zeit, sich für das Turnier zu wappnen ...

  • Juchu! Du schreibst wieder regelmäßig^^


    Ich hab im Moment ein bisschen argen Schulstress, deswegen mach ich es jetzt mal etwas kürzer, vielleicht kommt später noch was :P


    Mir ist bei den letzten Kapiteln richtig ins Auge gefallen, dass du ein Händchen für das Kämpfe-Schreiben hast. Du beschreibst einfach super detailliert und genau. Mach weiter so!


    Dass Eagle sich weigert, die Schwächen des Flug-Typs wahrzuhaben, passt zu ihm. Er hat sich ja schon die ganze Zeit überschätzt (aber anders als Ray), und dementsprechend tun seine beiden Niederlagen seinem Character gut, gerade wenn er auch so viele Siege einheimst. Insgesamt ist Eagle in den letzten Kapiteln meiner Meinung nach zur inoffiziellen Hauptfigur aufgestiegen, aber ich würde mich noch nicht festlegen. Was mich bei der großen Klappe überrascht hat, war, dass er im Kampf gegen Sarah die Notbremse gezogen und aufgegeben hat. Man hatte zwar schon bemerkt, dass er sich sehr um sein Pokemon kümmert, aber so wie er sich gibt, hat er nich den Eindruck gemacht, als würde er diese Möglichkeit auch nur Betracht ziehen. Trotzdem passt es zu ihm.


    Ray ist bei den ganzen Kämpfen irgendwie in den Hintergrund gerutscht, da er in letzter Zeit viel ruhiger (Sonja?) war und sich hauptsächlich mit der Schülerzeitungsaktion gezeigt hat. Doch diese Szene hatte extrem viel innere Bedeutung, denn man hat einiges über die Charaktere wie Professor Lydia erfahren. Bei Rays Character ist es nicht allzu schwer zu verstehen, wie er über Lydias Aussageb seine Seelenruhe verliert. In dem Zusammenhang wundert es mich ehrlich gesagt, dass er sich nicht weiter mit Lydias schinbarer Lüge beschäftigt. Ich hab mir im Kopf schon die Szene ausgemalt, in der er um eine persönliche(!) Auskunft bittet, nur als Beispiel.


    Sonja kommt meiner Meinung nach viel zu kurz. Im Prinzip hat man nichts Besonderes mehr von ihr erfahren, und ihre Erlebnisse lassen sich mit denen der beiden anderen zusammenfassen. Irgendwie fehlen mir Soloszenen von ihr. Ich hoffe ehrlich gesagt, dass da noch was kommt...


    So, jetzt bin ich mit den wichtigsten personengebundenen Aussagen fertig, kommen die Story-Spezifischen:


    Ich hatte zeitweise das Gefühl, dass sie das hier noch zu einer Shipping-Story mausert. Ich äußere mal meine Vermutungen:
    Klar, ist ja auch schon längst von die bestätigt: Sarah+Andy
    Ich vermute, dass sich Sonja zu Ray hingezugen fühlt...
    welcher sich wiederum in Sora verguckt hat...
    die ihrerseits nur Augen für Eagle hat. Ich bin da ehrlich gesagt sehr gespannt. Gerade wegen der Spannung mit dem Hause Entei.


    Und schließlich das Turnier. Ray und Eagle gelten natürlich als Favoriten, Sonja wird (auch mangels Teilnahme) ignoriert. Ich finde es ein wenig schade, dass diese Diskussion die Häuser so aufreibt, dass erscheint mir ein wenig kontraproduktiv, auf den Schulzusammenhalt bezogen. Ich bin gespannt, welches Drachenpokemon die Trophäe darstellt. Falls es kein Drache-Flug-Hybrid ist (oder wird - das wäre in dem Fall durchaus interessant), hoffe ich ehrlich gesagt, dass Eagle NICHT gewinnt. Das arme Drachenpokemon würde offenbar total ignoriert werden. Ich würde es eher dem unerfahrenen Ray "genehmigen", ein Drachen-Pokemon zu besitzen.
    Ich vermute allerdings, dass Eagle im Turnierkampf gegen Ray siegen wird, da Ray eben noch so unerfahren ist (und da nicht wirklich was dran ändert) und Eagle sich garantiert eine Strategie überlegen wird, um das Elektro-Pokemon zu schlagen. Doch ich vermute, es wird noch eine ganz große Überraschung kommen. Und diese Überraschung vermute ich in Sonja. Irgendwie glaube ich, dass sie das Turnier gewinnen wird. Einerseits weil sie in dem Bereich eine totale Außenseiterin ist, andererseits wäre es auch eine schöne Parallel zu Sarah, die ja auch als Außenseiterin galt, wenn ich mich richtig erinnere. Wenn ich jetzt irgendwie deine Pläne offengelegt habe, hau mich :whistling: Auf jeden Fall kann man gespannt sein.


    Ich freue mich auf die nächsten Kapitel und wünsche dir viel Erfolg dabei. Die Geschichte wird bestimmt sehr schön werden, und du hättest es verdient!


    LG
    Niggel


  • ~Kapitel 8: Auf dass der Beste gewinnen möge~


    [size=8][font='Georgia, Times New Roman, Times, serif']Part 1: Gipfeltreffen



    Wie so vieles im Leben neigte sich auch der Sommer langsam aber sicher seinem unweigerlichen Ende zu. Mit dem ersten gewaltigen Regenschauer seit Wochen färbte sich der Himmel über Celebi-Island rabenschwarz, Thermometer gingen auf steile Talfahrt und so auch die Laune. Weltuntergangsstimmung bei sämtlichen Schülern, gleichgültig welche Farbe sie auch trugen. Tagelang hielt der beinahe pausenlose sinnflutartige Regen seinen Siegeszug. Starke, unberechenbare Sturmböen zwangen die mutigsten Matrosen in die Knie – ein Auslaufen war ein Ding der Unmöglichkeit. Wer an seinem Leben hing, der ließ seinen heiß geliebten Kahn oder Frachter im sicheren Hafen vor Anker. Angespannt verfolgte das Küchenpersonal die langsam dahinschwindenden Vorräte, denn der durch die Unwetter brachliegende Schiffsverkehr schottete die kleine Insel und dessen Bewohner von dem Rest der Außenwelt völlig ab. So wie die gehorteten Lebensmittel langsam alarmierende Bestände annahmen, so sank die Laune angesichts von trübem Wetter, triefenden Nasen, sporadischen Stromausfällen und vom Vortag aufgewärmte Brötchen auf ungeahnte Tiefpunkte, die erst mit der Ankunft eines besonders waghalsigen und tollkühnen Seebären, der den eisigen Wogen und höllischen Winden trotze und die erste Warenlieferung seit einer Woche an Land brachte, beendet wurde. Natürlich wurde dieses Ereignis gebührend zelebriert, die Gläser auf den mutigen Seemann erhoben und zur Feier des Tages jedermanns Lieblingsgericht serviert: Pizza. Dies und die Gewissheit, dass nun endlich der letzte Tag vor den großen Ferien fast überstanden war, genügte vollkommen, um die Laune wieder aus dem modrigen Keller in luftige Höhen aufsteigen zu lassen.


    Inzwischen war es kaum mehr ein Geheimnis, wer sein Haus bei dem großen Turnier der Grundstufe repräsentierte. Interessiert oder nicht – ein jeder kannte mittlerweile ganz genau die Namen der Favoriten: Billy Finch, der Neffe des gleichnamigen Lehrers, von dem man behauptete, sein Onkel hätte ihm eine narrensichere Siegesstrategie offenbart, was wohl angesichts seines hässlichen, fratzengleichens Grinsen, das er über die Tage hinaus spazieren führte, auch stimmte; Sora Townsend wurde nachgesagt, dass sie für den Sieg sogar über Leichen gehen würde und das stellte sie während den vergangenen Wochen immer wieder bei spektakulären Kämpfen, von denen sie lediglich einen gegen einen klassenhöheren Schüler verlor, unter Beweis; Fabien Dinas vom Hause Suicune, klein aber oho, wie man ihr gerne nachrief; doch auch ihre beiden Freundinnen, Marina Parker und Julia Brown, deren Lachen ungefähr so falsch wie ihre Wimpern war, wurden als Suicunes Elite bezeichnet; Lobeshymnen schrieb man aber auch auf einen ruhelosen Schüler des Raikou-Hauses namens Ray Valentine, der eine ungebrochene und täglich wachsende Siegesserie auf sein Konto schrieb; ob man ihn leiden mochte oder nicht – auch der exzentrische Malcom Granger war alles andere als untätig und sorgte ebenfalls mit einer ungebrochenen Welle von Triumphen – unter anderem mit dem unerwarteten Sieg über seinen älteren Hauskameraden Andy - für Furore. Quereinsteiger, deren Namen zwar bekannt, doch nicht in die dunkelste Ecke des Schulgebäudes reichten, waren mitunter Rico Tarik, einer von Billys Freunden, dem man nachsagte, er würde nur bei diesem Spektakel mitmachen wollen, um seinen persönlichen Rachefeldzug gegen Malcom Granger zu führen; und Logan Sokol, Suicunes Musterschüler und Liebling der Lehrer, den seltsamerweise noch nie jemand kämpfen gesehen hatte und deshalb unter seinen Hauskameraden als „Suicunes Geheimwaffe“ oder aber unter farbenfremden auch als „Einschlafmittel“ galt.
    Pünktlich zum Wochenende erblickte die erste Ausgabe der Schülerzeitung das Licht der Welt. Passend zu dem bevorstehenden Ereignis nahm ein gigantischer Artikel über das Turnier einen großen Teil der zweiten Seite völlig in Anspruch: Sorgfältig recherchierte Höhepunkte früherer Turniere, die auf Umfragen basierenden Quoten; ein ausführlicher Kommentar vom Schulchampion, Markis Tarmur; und eine knappe Auflistung aller Favoriten und deren Kampstile überschatteten beinahe den vollständigen Rest der unter anderem von Ray und Sonja mühsam erstellten Zeitschrift. Letztere gab sich für ihren Teil sehr damit zufrieden, dass sich ihr Bericht über die Schulleiterin weitaus höherer Beliebtheit erfreute als Fabiens, Julias und Marinas Make-Up-Artikel, auch wenn keiner von beiden natürlich der Turnier-Reportage Paroli bieten konnte.


    „Die Quoten stehen gegen uns ... Entei als Sieger – dann wir – und Suicune als Schlusslicht. Wer schreibt denn diesen Müll?“
    Jake Foley klatschte seinen Hauskameraden die Zeitung auf den Tisch. Der Regen hatte zu den frühen Abendstunden leicht abgenommen und trommelte deutlich kläglicher, als er es die letzten Tage getan hatte, gegen die Fensterscheibe. Obwohl ein kleiner Teil der Schüler ihr Bündel gepackt hatten und in die wohlverdienten Herbstferien aufgebrochen waren, merkte man kaum einen Unterschied, denn waren die von roten, gelben und blauen Farben gesäumten Räumlichkeiten des Schülertreffs belebt wie eh und je.
    „Was heute nicht richtig ist, kann morgen schon falsch sein“, gluckste Ray. Er hatte die Einsamkeit seines Quartiers nicht mehr ertragen können und hatte Sonja nach ewigen Bettlereien dazu überreden können, die sonst so üblichen Aktivitäten seiner Freundin für eine Runde des gepflegten Zusammenseins einzutauschen. Widerwillig hatte sich Sonja dazu bereiterklärt und teilte sich nun, zusammen mit ihren Hauskameraden Ray, Jake, Miller, Nea, Serina und Linsey, einen großen Tisch am Ende des größten Raums im Eingangsbereich, wo sie gut geschützt vor den wütenden Windstößen der sich sporadisch öffneten Tür waren.
    „Ich denke, was Ray damit sagen will, ist, dass der Artikel nicht aus unserer Feder stammt, und dass es lediglich auf Umfragen und Meinungen basiert. Ich würde nicht allzu viel darauf geben“, sagte Sonja mit leicht zitternder Stimme. Es war das erste Mal, dass sie hier im Schülertreff mit ihrer Anwesenheit glänzte. Offenbar - wie Ray zumindest vermutete - lagen ihr der Lärm von Flipperautomaten, dem Fernseher, den hart aufeinanderprallenden Billardkugeln aus dem Nebenraum, dem Stimmengewirr wie auch die vielen neugierigen Blicke, die sie magnetisch anzog, ganz und gar nicht, was ihr Selbstbewusstsein nicht unbedingt stärkte.
    Ein kurzes, dafür aber umso heftigeres Handgemenge um die Vorherrschaft der Zeitung begann zwischen Nea, Serina und Linsey, aus dem die Letzte erfolgreich hervorging.
    „Mein Gott! Dann holt euch doch eure eigene. Das bisschen Kleingeld ist jetzt auch nicht die Welt“, meinte Miller bestürzt, nachdem Linsey das Blattwerk an sich gerissen hatte.
    „Meinst du, ich stiefel jetzt noch einmal bei dem Regen hoch an die Schule?“, fauchte Linsey ihren Klassenkameraden an, während ihr Blick mit jeder Sekunde, die sie dem Artikel widmete, wie die herannahende Nacht dunkler und dunkler wurde.
    „Lass mich übersetzen“, grinste Ray in Millers Richtung. „Die Liebe zur Schule wächst mit der Entfernung.“
    Alle lachten bis auf Linsey, die lediglich Ray böse über den Zeitungsrand hinweg anfunkelte.
    „Hoffe, du kannst noch mehr als nur Sprüche reißen“, knurrte sie. „Morgen geht’s los und wir haben gerade mal dich, mich und Malcom, die die Hausehre verteidigen. Nicht gerade viel.“ Verächtlich schnaubend warf sie die Zeitung wieder in die Mitte. Nea und Serina tauschten Blicke, aus denen abermals ein Handgemenge resultierte – Nea gewann. „Am Ende bleibt es eh an mir hängen, das weiß ich schon jetzt ...“, sagte Linsey.
    „An dir?“, kam es aus den Mündern der beiden Jakes wie aus der Pistole geschossen. „Ray wird es richten!“, ergänzte Miller zuversichtlich und klopfte Ray anerkennend auf die Schulter.
    „So schaut es aus!“, sagte Ray und grinste zufrieden.
    Jake öffnete den Mund, seine Rede wurde allerdings noch im Keim von Linsey erstickt. „Soll er doch, solange er mir nicht ihm Weg steht. Am Ende kann es nämlich nur einen Sieger geben, und ihr wisst, wer das sein wird.“
    „Ray, wer sonst?“
    „Ray natürlich.“
    „Ich denke, die Chancen sind sehr ausgewogen.“
    „Malcom ist auch nicht von schlechten Eltern – er ist so süß.“
    „Hat er eigentlich eine Freundin?“
    „Wer seinen Traum verwirklichen will, der muss erst einmal aufwachen.“
    Angesichts der doch sehr gespaltenen Meinungen und der geringen Rückendeckung ihrer Hauskameraden wurde Linsey sekundenschnell knallrot. Nea protestierte zwar heftig, doch musste sie sich letztendlich der fuchtigen Linsey, die ihr gnadenlos die Zeitung aus den Händen riss und leise fluchend das Lesen vortäuschte, geschlagen geben.
    „Ich – ich mache jetzt auch mit.“ Man hatte es Jake deutlich angesehen, dass ihm die ganze Zeit etwas auf der Zunge gelegen hatte. Mit der Entmachtung von Linsey hatte sich ihm nun die Gelegenheit geboten, endlich wieder das Wort an sich zugreifen. Ausnahmslos alle am Tisch waren über diese Kunde erfreut – selbst Linsey, deren Augen abermals über den Zeitungsrand hinaus wanderten. „Schön, dann gibt es ja doch noch Hoffnung ...“
    „Gute Entscheidung!“, lobte Ray Jake. „Wir packen das, wirst schon sehen.“


    „Sieh an, sieh an ... Wenn das nicht die Loge der ewigen Versager ist. Habt ihr Zuwachs bekommen?“
    Nur ein kurzer Klaps auf die Schulter seines Nachbarn und ein Fingerzeig in Richtung der Raikous waren nötig gewesen, um augenblicklich für Ruhe im Raum – sah man von dem lärmenden Fernseher ab, auf dessen Bildschirm gerade ein Zeichentrick-Film aus grauer Vorzeit lief - zu sorgen. Selbst die in den Nebenräumlichkeiten stattfindenden Gespräche erstarben, der eben noch sorgfältig geplante Billard-Stoß wurde im letzten Augenblick abgebrochen und die muntere Flipperkugel wanderte unspektakulär ins Aus. Jeder einzelne Schritt der sich langsam nähernden Entei-Schuhen war deutlich zu vernehmen. Linsey pfefferte die mittlerweile stark mitgenommene Zeitung wieder auf den Tisch, doch niemand scherte sich nun einen Dreck um sie. Gemeinsam mit Ray, Jake und Miller war sie aufgesprungen und sahen sich nun Auge in Auge mit Rico Tarik, Billy Finch und Nicholas Vance konfrontiert.
    „Was wollt ihr Flachzangen?“, bellte Linsey völlig von dem Aufgebot der roten Fraktion unbeeindruckt, dafür aber umso wilder. „Könnt wohl eure Abreibung gar nicht mehr abwarten?“
    „Starke Worte ausgerechnet von dir. Korrigier mich, aber hast nicht du, sondern wir dich zerlegt?“, höhnte Nicholas.
    „Glück ...“, versuchte Linsey das hämische Gelächter der drei Enteis zu überdecken, was ihr aber nicht gelang. Ihre Hände verkeilten sich zu Fäusten.
    Grinsend tat Ray einen gewaltigen Schritt nach vorne. Das Lachen von Rico und dessen Kumpanen erstarb schlagartig und Fäuste wurden geballt. Doch Ray drehte sich um und blickte nun direkt in die Gesichter seiner Hausgefährten. Er nickte ihnen zu. „Na, dann sagt mir doch mal, liebe Kollegen: Wer hat am Ende den Kürzeren gezogen?“ Mit seiner Hand fächerte er demonstrativ erst in ihre und dann in Richtung der Enteis, bis seine Kumpanen endlich - wenn auch noch nicht alle – auf seine Fährte kamen.
    ENTEI!“, brüllten Ray, Miller und Jake so laut, auf dass sogar der Boden leicht zitterte.
    Ray stieß triumphierend die Faust nach oben, wandte sich um und zeigte mit dem Finger auf die rote Fraktion vor ihm. „Und wer wird morgen abstinken?“, rief er.
    ENTEI!“, reihten sich nun auch Nea und Serina in die ohrenbetäubenden Klänge ihrer männlichen Klassenkameraden ein.
    „Und wer wird gewinnen?“
    RAIKOU!
    „Nochmal!“, forderte Ray auf.
    RAIKOU!
    „Jetzt alle!“
    RAIKOU!
    „Und wer ist euer Liebling?“
    RAY!“ – „MALCOM!“ – LINSEY!“ – Na, das müssen wir aber noch einmal üben ...“
    Auch Sonja und Linsey waren nun auf den Zug aufgesprungen und schlossen sich den Rufen ihrer Freunde an. Nicht nur unter den Grundstüflern brach der Jubel aus, auch Jahrgangsältere gleicher Farbe reihten sich mit grölenden Siegessängen und Geklatsche ein, gefolgt von Pfiffen und Verschmähungen ihres roten Pendants.
    Rico war durch die nur langsam abklingenden Hymnen der Raikous sichtlich eingeschüchtert und sogar ein wenig blass. Fieberhaft darauf aus, sich nicht vor der halben Schule zu blamieren, suchte er etwas, mit dem er die Grundmauer dieser auf festen Granit gebauten Festung der Überlegenheit erschüttern und das Blatt wieder wenden konnte – und er fand es, ein kurzer Blick auf den Raikou-Tisch genügte.
    „So, so. Wie man aber zu lesen bekommt, sprechen die Quoten eine andere Sprache“, entgegnete er höhnisch grinsend.


    „Habt ihr das gehört, Mädels? Der Neandertaler kann lesen.“
    Uuuh!
    Die Enteis wirbelten herum, während Ray und die anderen Raikous über deren Köpfe hinweg spähen mussten, um sich über die Situation Klarheit zu verschaffen. Hochhackige Stöckelschuhe tänzelten über den Boden; makellos weiße Zähne blitzten, in einer hämischen Grimasse verkeilt, auf. Anders, als die meisten anderen in dem Gebäude, hatten sich Fabien Dinas, Marina Parker und Julia Brown bereits in Schale geworfen. Statt ihrer Hausfarben trugen die drei Suicune-Mädchen modische Halbröcke der Extravaganz sowie das dazu passende Oberteil, die perfekt aufeinander abgestimmt waren. Die Situation war ähnlich jener, als die drei Parteien zum ersten Mal aufeinander getroffen waren: Raikou und Suicune außen, und Entei im Kreuzfeuer.
    „Klar, dass ausgerechnet ihr so große Stücke darauf legt, was in dem Wisch steht.“ Marina Parker fuhr sich durch die scheinbar stundenlang gebändigte Haarpracht und ließ sie in der Luft tanzen. „Muss schlimm sein, wenn ausgerechnet das, das erste Verständliche an der Schule ist, und man sonst immer sein Mathebuch zusabbert.“
    „Ihh!“, lachten Julia und Fabien unglaublich hoch auf.
    „Jetzt mal ehrlich: Mit Ausnahme gewisser ... Einzelfälle (Ray und Sonja wussten genau, dass es sich dabei um ihren von der Schülerschaft verschmähten Make-Up-Artikel handeln musste) kann man das Blatt ebenso gut einem wilden Pokémon zum Fraß vorwerfen, wobei noch das eine Beleidigung gegenüber dem armen Wesen wäre, dass Sonjas Mist zu fressen bekäme.“
    Sonjas Inneres hatte sich schlagartig verkrampft, als ihr Name gefallen war. Binnen Sekunden war sie kreidebleich.
    „Ja, was ist denn, Klein-Sonja?“ Nun waren ausnahmslos sämtliche Blicke – gehörten sie nun Enteis, Suicunes oder Raikous - auf Sonja gerichtet. Fabiens Lächeln wurde immer breiter, während sie sprach. „Ich sehe, du hast wieder ein paar neue Verehrer an der Angel. Hast du etwas Granger schon den Laufpass gegeben?“
    „Könnt ihr eigentlich nur auf Schwächeren rumhacken?!“ Seine gute Laune, die er so voller Elan aufgebaut hatte, war Rays Körper nun gänzlich entwichen und ein wütend pochendes Herz und überhöhter Blutdruck nahmen deren Stelle ein. Er, Miller, Jake und auch Linsey bauten sich nun schützend vor dem Raikou-Tisch auf und schirmten Sonja somit vor weiteren Blicken ab.
    „Hast du das gehört, Sonja? Dein eigener Freund behauptet, du seist schwach“, spottete Julia über die Köpfe der Enteis und die der Raikous hinweg und erreichte direkt Sonjas Ohr.
    „Schwach! Schwach! Schwach!“, stimmten Fabien und Marina in Julias wiederholenden Rufe ein. Ray warf einen flüchtigen Blick über die Schulter. Mit zitternden Gliedern und glasigem Blick starrte Sonja auf den Tisch, wo noch immer der Zeitungsartikel über das Turnier aufgeschlagen lag. Warum warten? Ray hatte es satt! Wenn sie ihre Abreibung so eilig hatten, dann ...
    „Schwach? Das sagt ausgerechnet ihr? Wo ihr doch zu dritt mit eurem geistigen Hirnschiss auf sie ganz allein herumprügelt? Armselig nenne ich das ...“
    Begleitet von ihrer besten Freundin, Jenny Anderson, schlug Sora Townsend eine Bresche in die drei Suicunes, indem sie einfach durch die zeternden Suicune-Weiber hindurchschritt und sich den Reihen von Rico, Billy und Nicholas anschloss und so der leicht angeschlagenen Entei-Fraktion zu neuem Glanz verhalf.
    Die Rufe auf das Erscheinen der Entei-Schülerin reichten von „Schaut euch ihre Haare an, einfach abartig!“ über „Entei-Power!“ bis hin zu Rays sehnlichen „Ist die süß“-Seufzern.
    „Falls ihr es noch nicht bemerkt haben solltet – niemand schert sich einen Dreck um euch! Verpestet doch woanders die Luft! Stimmt doch, oder, Jungs?“, fragte Sora in die Runde, was sogleich mit grölendem Donnerhall zustimmend beantwortet wurde.
    „Wenn du genau so kämpfst, wie du aussiehst, dann wird dieses Turnier ein Abführmittel für das Auge“, höhnte Fabien. „Wir sehen uns dann auf dem Kampffeld, Townsend!“
    Mit einem letzten „Tschüss, Sonja“ belasteten sie die Schultern der zittrigen und leise wimmernden Raikouianerin mit ihrer tonnenschweren Verächtlichkeit und stolzierten im Gleichschritt davon.
    „Wir sind hier fertig. Bis Morgen dann, ihr Flaschen“, verabschiedeten sich Rico, Nicholas und Billy von den Raikous und trabten ebenfalls davon.
    Nur noch die Raikous sowie Sora und ihre Freundin waren übrig.
    „Hör zu, Lynn“, sagte Sora und richtete sich gegen die gelbe Wand aus Schülern, hinter der sie Sonja vermutete, „das eines klar ist: Ich mag Bücherwürmer und Speichellecker wie dich nicht und gleichgültig, was auch immer du tust, wird nichts daran ändern, aber wenn du morgen bei dem Turnier kneifst, wirst du dir die Suicunes zurücksehnen, weil ich persönlich dir dann jeden restlichen Tag hier vermiesen werde – und glaub mir, ich bin da nicht so nett, wie die drei auffrisierten Hühner von eben!“ Mit diesen Worten gebot auch Sora ihre Ehrerbietung und marschierte davon. Zurück blieb der Status quo: die Raikou-Fraktion.


    Langsam fanden sich Ray, Jake, Miller und Linsey wieder am Tisch ein, wo noch immer eine völlig verstörte Sonja von Nea und Serina getröstet wurde.
    „Was zum Geier war das gerade?“, fragte Miller.
    „Gipfeltreffen“, antwortete Jake mit nur einem Wort. „Das wird ein heißer Tanz morgen ...“
    „Alles klar mit dir?“ Ray hatte sich direkt an Sonja gewandt, die ihr Gesicht mittlerweile in ihren Handflächen verborgen hielt und leise schniefte, und streichelte ihr aufbauend über den heftig zitternden Arm. Sonja schüttelte den Kopf, sagte aber nichts.
    „Hör zu, lass sie doch einfach reden“, meinte Ray kopfschüttelnd. „Ich pass auf dich auf, okay?“
    „Ist doch nur dummes Gewäsch“, stimmte Miller zu.
    Sonja antwortete nicht und schüttelte nur den Kopf.
    „Morgen schon fegen wir sie weg – allesamt. Suicune und auch Entei“, sagte Ray entschieden. „Wer ist dabei?“
    „Ich!“, antwortete Jake prompt und ballte siegessicher die Faust.
    „Ohne mich wärt ihr doch aufgeschmissen“, schloss sich Linsey an.
    „U-und i-ich!“ Sonja offenbarte ihr verweintes Gesicht und ihre roten Augen. Eine dicke Träne perlte ihr just von der Wange, doch nickte sie nun, wenn auch zögerlich, was zu allgemeiner Verblüfftheit führte. „I-ich bin dabei.“