Leben und lernen - Die Celebi-High

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  • [tabmenu][tab=Was bislang geschah]
    Bereits drei Monate sind ins Land gezogen, seitdem Ray Valentine mit seinem verspäteten Schulstart in der Celebi-High ein neues Zuhause gefunden hat. Keine Woche musste vergehen, bis fast ein jeder Schüler und ein jeder Lehrer wusste, mit wem sie bei dem notorischen Schlappmaul, Scherzkeks, Zuspätkommers, Nachsitzkönig und Schrecken eines jeden Notendurchschnitts dran waren. Für Ray aber natürlich alles kein Problem. Mit seinem vierbeinigen Freund Sheinux immer an seiner Seite, unterstützt in fast allen Lebenslagen von seiner besten Freundin, Sonja Lynn, und der gelegentlichen Erfahrung von Rückendeckung seines eigenbrötlerischen Zimmergefährten, Malcom Granger (Rufname Eagle), sieht er der Zukunft gelassen entgegen.


    Freunde kommen und gehen, Feinde sammeln sich an: In der bislang nur kurzen Schulzeit hatte jeder der drei Schüler des Raikou-Schulhauses bereits gewisse Hürden zu meistern. Mit ihrem spektakulären Auftakt bei dem Schulturnier der ersten Jahrgangsstufe, bei der sich Sonja und ihre Partnerin, Evoli, bis ins Halbfinale mauserten, ließ die strebsame, dafür aber leicht schüchterne Schülerin ihre größten Kritiker, drei besonders aufdringliche, modefetischistische Suicune–Schülerinnen, vor Neid erblassen.
    Eagle dagegen kämpfte sich erfolgreich in die Finalerunde durch. Sein zielsicheres Handeln führte ihn vorbei an seinen bittersten Rivalen und verschaffte ihm unter seinen Mitschülern den Respekt, nach dem es ihn verlangte. Für den Sieg reichte es leider nicht aus und so musste er und seine gefiederte Partnerin, Staralili, die größte Niederlage ihres Lebens einstecken.
    Ray nahm seine Pleite bei dem Turnier, in dem es für ihn leider bereits im Viertelfinale Ende der Fahnenstange hieß, gelassen hin; soll doch schließlich der Spaß an der Freude im Vordergrund stehen. Drum sieht er sich mit dem Ende der Herbstferien mit seinen üblichen Problemen konfrontiert: Wie den Berg voll Hausaufgaben nachholen und dem Einfluss der einschläfernden Stimme seines zahlenfanatischen Mathematik- und Pokémontraining-Lehrers überstehen?


    Nicht allzu weit von alledem entfernt, lockt der Ruf nach neuen Ufern und fremden Gestaden ein fremdes Gesicht nach Celebi-Island ...


    [tab=Kapitel 9]


    ~Kapitel 9: Skip Faksen geht von Bord~


    Part 1: Auf jede Nacht folgt ein neuer Morgen



    Skip Faksen reckte seine Nase der steifen Meeresbrise entgegen. Die blonden Haarsträhnen, die unter dem rubinroten Kopftuch des sandalentragenden Jugendlichen frech heraushingen, wie auch der kompasähnliche Anhänger, den er um den Hals hängen hatte, flatterten wie Segel im Wind. Er sog die salzige Luft in seine Nase - ein Balsam für die Seele. Das Fährschiff seines Großvaters hatte seine besten Tage längst hinter sich gelassen. Während es geschmeidig über die Wellen ritt, konnte Skip deutlich das Ächzen und Stöhnen der Antriebsmaschinen hören, das kleinste Quietschen von verrosteten Nägeln und Bolzen, die das Schiff zusammenhielten, und die klagenden Rufe der längst pensionsreifen Schiffsschraube. Und dennoch brachte der verrostete Kahn ihn sicher seinem Ziel entgegen.
    „Alle Achtung, deine alte Lady macht noch ganz schön was her!“, sagte Skip an seinen Großvater gerichtet. Seine Hände schabten etwas korrodiertes Metall von der Reling ab, als er seine Hände von ihr löste. Das Eisen zerbröselte noch zwischen seinen Fingern und verwehte schnell in alle Winde.
    „Sie hat es bislang noch immer sicher in jeden Hafen geschafft“, antwortete Kapitän Jakob Faksen seinem Enkel über die Schulter. Er streichelte zärtlich das elfenbeinfarbene Steuerrad, gab dann aber einer klappernden Armatur einen bestimmenden Klaps. „Dreißig Jahre schon, als sie vom Stapel lief.“ Seufzend schüttelte er seinen Kopf. „Da holt mich doch einer ... Wie die Zeit vergeht ...“



    Skip unterbrach die einmütige Stille. „Wie lange noch?“
    „Seesterne im Hintern? Kannst es wohl kaum noch erwarten?“, lachte Jakob Faksen.
    „Aye, etwas“, antwortete sein Enkel und kratzte sich ertappt am Hinterkopf.
    „Bei dem Seegang vielleicht noch zehn Minuten.“ Er schenkte seinem Enkel einen warmen Blick über die Schulter. „Weißt du, ich bin froh, dass du dich nicht unterbuttern lässt.“
    Skip wusste sofort, worauf sein Großvater hinaus wollte. Erstmals verschwand das Lächeln auf seinem Gesicht, das er bereits mit dem Einholen des Ankers und somit mit dem Aufbruch der Reise aufgelegt hatte. „Wir haben alle schwere Zeiten hinter uns. Gerade du, dein einziger Sohn ...“ Ihm schwand die Stimme dahin. Es fiel ihm schwer, sich das Unglück wieder in Erinnerung zu rufen, das seine Eltern zu Ufern geführt hatte, in denen es für ihn kein Hafen zum Anlegen gab.
    Jakob Faksen schniefte in sein Taschentuch; ein Geräusch, was einem jeden Nebelhorn in nichts nachstand. „Dass der Vater seinen eigenen Sohn überleben muss, ist nicht leicht ... Die See heißt dich in seiner ganzen Pracht willkommen, gibt aber auch nichts wieder her, vergiss das niemals.“
    „Ein nasses Grab ...“ Skip legte seinem Großvater seinen Arm über die Schulter. Mit brüchiger Stimme fuhr er fort. „Ich denke, wie es sie auch erwischen konnte - das Seemannsgrab war noch immer die feinste Art, auch wenn es dafür viel zu früh war ...“


    Abermals hielt die peinliche Stille Enkel und Großvater auf Distanz zueinander. Einmal wieder in Erinnerung gerufen, fiel es Skip nun sehr schwer, den Bildern in seinem Kopf zu entsagen. Drei Wochen waren es nun, seitdem er als Waise seinen Kurs alleine finden musste. Ein herber Schlag, gleich beide Elternteile zu verlieren. Und saß der Schmerz auch noch so tief: Das Leben musste weitergehen. Sein Großvater hatte ihn auf den Gedanken gebracht, da auch er und seine ihm Anvertraute längst in die Jahre gekommen waren und deshalb nur dürftigen Ersatz für Skips Eltern darstellten, einen neuen Abschnitt in seinem Leben zu beginnen, nach neuen Ufern greifen, sich für das raue Leben, das die Meere für ihn bereithielten, vorzubereiten und vielleicht sogar ein paar Freunde fürs Leben finden. Die Celebi-High, eine Schule, die all dies versprach und dazu noch um die Ecke lag, war für dieses Vorhaben mehr als angemessen.
    „Wingull“, bemerkte Jakob Faksen beiläufig und deutete mit dem Zeigefinger in die Höhe. Eine Scharr von schneeweißen Flug-Pokémon ritt anmutig auf dem Achterwind des Fährboots; ihre markanten Rufe und die länglichen Schwingen waren für jeden Seefahrer ein deutliches Zeichen für Küstennähe
    Skip spähte über den Bug der Fähre hinaus. Am Horizont nahmen Landmassen immer mehr Form an und rückten Sekunde für Sekunde näher. Er warf seinem Großvater ein breites Lächeln zu. „Bald schon darfst du mich ,Süßwassermatrose’ nennen.“
    Kapitän Faksen gluckste. „Hätte ich so oder so getan.“ Sein Enkel lugte bereits wieder sehnsüchtig den sich rasch nähernden Gestaden entgegen. „Weißt du“, begann Jakob Faksen, „wenn ich dich so sehe ... Du erinnerst mich irgendwie an diesen Jungen, den ich vor einigen Monaten auch dort abgesetzt habe. Er ist etwa in deinem Alter, im Kopf nichts außer Flausen. Wälentein oder so ähnlich.“ Er kratzte sich nachdenklich auf seinem fast kahlen Kopf. „Ich denke, ihr werdet sicher miteinander auskommen.“
    Sein Enkel nickte. „Das hoffe ich doch.“
    „Halt dich bereit wir gehen gleich vor Anker.“
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  • Part 2: Fremde Ufer


    Wie ein Schneider den Faden ins Nadelohr führte, so lotste Kapitän Jakob Faksen seine alte Lady in den sicheren Hafen von Celebi-Island. Drei weitere Schiffe, offenbar Frachtschiffe, lagen bereits bei dem Andockmanöver vor Anker. Blaue Flaggen, die ein weißes Rechteck umrandeten, symbolisierten, dass sie in den nächsten 24 Stunden wieder auslaufen wollten. Derartiges Wissen gehörte zum kleinen Einmaleins der Seefahrt. Viel hatten seine Eltern ihm vor ihrer letzten großen Reise auf den Weg geben können, einiges Wissen hatte er auch von seinem Großvater erfahren können. So manches aber, und darauf war Skip ganz besonders stolz, hatte er sich über all die Jahre hinweg selbst beigebracht. Und auch noch heute, nach dem tragischen Verlust seiner Eltern, hatte er die Liebe zur Seefahrt und auch zum Meer nicht verloren. Niemals würde die Quelle des Salzwassers, das durch seine Venen floss, versiegen; das Meer würde stets ein Teil von ihm sein.
    Eine kräftige Hand, die Skip sofort als die seines Großvaters erkannte, fasste ihm auf die Schulter.
    „Es wird Zeit“, sagte Jakob Faksen. Er lächelte nicht mehr. Der Zeitpunkt des Abschieds war nun gekommen.
    „Bitte um Erlaubnis, um von Bord gehen zu dürfen“, sagte Skip ernst. Auch sein Gesicht hatte das Lächeln verlassen.
    „Erlaubnis ... erteilt.“
    Enkel und Großvater schlossen einander in die Arme.
    „Gib Acht auf dich, hörst du?“, sagte Jakob Faksen. Noch in den Armen seines Enkels schnäuzte er sich seine Nase.
    „Du auch.“ Enkel wie auch Großvater lockerten ihren Griff. Skip warf sich seinen Seesack auf die Schulter und ein letztes Mal noch blickte er in die verschwommenen Augen seines Großvaters.
    „Ich weiß, das hörst du andauernd, aber, wo ich dich so sehe, du siehst wie dein Vater aus“, bemerkte Jakob Faksen.
    Skip nickte. „Ich werde euch stolz machen, das verspreche ich.“ Und mit dem Geräusch seines Großvaters, der noch einmal nebelhorngleich in sein Taschentuch schnäuzte, überquerte Skip die Planke und ging an Land.


    Der Hafen und seine schwer malochenden Matrosen waren nach kurzem Marsch in Distanz gerückt. Vor Skip erstreckte sich nun die weite, unberührte Prärie. Das anhaltende schöne Montagnachmittagswetter war ein Hohn für einen jeden Frischluftfanatiker. Erst mit dem Ende der Herbstferien hatte die Sonne endlich über das triste Wetter mit seinen düsteren Regenwolken und den böigen Winden triumphieren können. Zu spät natürlich für die nun wieder paukenden Schüler, zu denen sich Skip bald schon selbst zählen durfte. Es galt, viel aufzuholen, war er schließlich mit dem Stoff ein ganzes Quartal im Rückstand. Dennoch, als er sich so die plötzlich wieder auflebende Landschaft betrachtete, sehnte sich sein Herz wieder nach den Wassermassen; einen Durst, den wohl nur die offene See stillen konnte. Doch es gab niemanden mehr, der mit ihm auf einer beschaulichen Brigantine die Weltmeere unsicher machen konnte. Sein Großvater war in die Jahre gekommen, seine Eltern auf einer Reise ohne Wiederkehr, Freunde besaß er keine. Es gab nur noch ihn; ihn, den nach Norden führenden Kiespfad, der ihm gemein in die Sandalen zwickte, und die weiten, saftigen Grünflächen, die ihn umgaben. Seine Zukunft lag vor ihm. Vielleicht würden sogar die drei rotgekleideten Schüler dort, die vor der Rückseite des braungeziegelten Gebäudes betrachteten, wie sich er, der Neuankömmling, näherte, seine zukünftig besten Freunde sein? Wer konnte es schon sagen?


    Die Blicke der drei Schüler lasteten schwer auf den Schultern des Neuankömmlings und standen im direkten Konkurrenzkampf zu dem schweren Seesack, den er auf seinem Rücken trug und dessen Gurte in seine Hände schnitten. Unlängst hatte ihm der lange Marsch den Schweiß auf die Stirn getrieben, der nun fröhlich im Glanz der Sonne vor sich hinköchelte. Skip aber wagte es nicht, sein Hab und Gut abzulegen, bevor er die drei Schüler mit ihren roten Jacken, bei denen es sich zweifelsohne um Schuluniformen handelte, erreichte. Wollte er doch schließlich gleich einen guten Eindruck auf seine neuen Kameraden schinden. Nur noch wenige Meter ...
    „Ahoi ...!“, schnaufte Skip. Der Weg war endlich gemeistert. Erleichtert ließ er seinen Seesack von den Schultern sinken und auf den Boden donnern und rieb sich seine pochende Hand. „Tut gut“, lächelte er in die Gesichter der drei Schüler; eine Geste, die keiner von ihnen entgegnete. Nun, da Skip sich auf direkter Augenhöhe mit ihnen befand, bemerkte er auf jeder Brust das Symbol einer stolzen, löwengleichen Kreatur mit beeindruckender Stirnformation, die im Sonnenlicht schimmerte.
    „Wer bist’n du?“ Der Schüler in der Mitte – sein spitzes Gesicht besaß etwas Ähnlichkeit mit einem äußerst lästigen Rattfratz, das sich es einst in der Vorratskammer von dem Segelschiff seiner Eltern eingenistet hatte – trat vor und beäugte Skip von Kopf bis Fuß skeptisch.
    „Oh, wie unhöflich!“, sagte Skip laut und kratzte sich entschuldigend am Hinterkopf. In guter Manier packte er daraufhin die Hand seines Gegenübers. „Skip Faksen! Wir segeln zukünftig unter derselben Flagge. Sehr erfreut!“
    Der Gegrüßte antwortete nicht und erwiderte nur sehr halbherzig Skips Händeschütteln. Die beiden Anderen zu seiner Seite, ein etwas korpulenterer Jugendlicher und sein Pendant, ein hagerer, schlaksiger Mitschüler, warfen sich feist grinsende Blicke zu.
    „Du bist neu hier?“, fragte der rattengesichtige Junge und zog eiligst seine Hand zurück. „Kommst etwas spät, nicht?“
    Auch den anderen beiden der rotuniformierten Schüler drückte Skip nun nacheinander die Hände. „Ein tückisches Riff verlangt nach unerwarteten Kursänderungen“, antwortete Skip lächelnd. Er ließ die verdutzten Gesichtsausdrücke an sich abperlen. Den Blick auf das braungeziegelte Haus mit der weißen Fassade gerichtet, fuhr er fort: „Das ist aber nicht das Schulgebäude, oder? Wo kann ich denn hier einschiffen?“
    Abermals wurden flüchtige Blicke zwischen den dreien ausgetauscht. Die Lippen des Rattengesichts und der Bohnenstange kräuselten sich zu einer Grimasse.
    „Das ist der Schülertreff. Die Schule ist ...“, brummte der etwas fülligere Schüler, bis ihm sein schlaksiger Freund den Ellenbogen in die Seite rammte.
    „Dort musst du lang“, fuhr sein hochgewachsener Schulkamerad fort. Sein Zeigefinger wies in östliche Richtung.
    „Ah, so ist das also. Dachte mir schon, dass das hier dem Ruf der berühmten Celebi-High nicht gerecht wird.“ Mit einem freundlichen Lächeln drückte er noch einmal jedem seiner drei Auskunftgeber dankbar die Hand, schulterte daraufhin seinen Seesack und mit der Sonne im Rücken zog er den Kiespfad in östliche Richtung entlang.



    * * *



    War zwar einmal wieder Rays Leichtfertigkeit im Bezug auf dessen Hausaufgaben-Arbeitsmoral das leidige Thema der Stunde, so rauchte im Schatten des Kastanienbaumes lediglich der Kopf seiner besten Freundin.
    „Wie kann man mit seinen Hausaufgaben nur so im Rückstand sein?“, sagte sie streng in Rays Richtung. Mit dem Rücken an den mit reichlich Früchten beladenen Baum angelehnt, hatte sie die halbherzig von Ray angefertigten Aufgaben vor sich ausgebreitet. Das meiste Material ging auf Professor Finchs Konto, von dem Sonja natürlich wusste, dass er auf Rays unbesorgte Sicht der Dinge nicht sonderlich angetan war. Dass das auch auf Gegenseitigkeit beruhte, rechtfertigte das Verhalten ihres Klassenkameraden allerdings in keinster Weise. „Du hättest damit ruhig etwas früher antanzen können, echt, Ray!“
    Ray, nächst zu seiner Freundin sitzend, gähnte. Sheinux, bislang mit den Maronen spielend, tat es ihm sofort gleich. „Ist doch noch Zeit“, sagte Ray mit gelangweilter Stimme, während er eine Kastanie aus ihrem stacheligen Gefängnis befreite.
    „Kurz vor zwölf“, schnaubte Sonja missbilligend. „Ein Wunder, dass du heute noch einmal mit einem blauen Auge davon gekommen bist ...“
    „Ich hatte eben viel damit zu tun, nichts zu tun. Nur das Problem dabei ist, dass man nie weiß, wann man damit fertig ist“, gluckste Ray, warf die eben befreite Kastanie achtlos beiseite und griff sich ein neues stacheliges Gehäuse. „Und Eagle konnte ich nicht fragen“, fuhr er fort. „Weißt ja, der hat noch etwas aufzuholen.“
    „Wie lange muss er noch nachsitzen?“, fragte Sonja.
    „Diese Woche noch“, antwortete Ray, „wobei der gute Sam ihn schon nicht allzu hart rannehmen wird. Hab’ gehört, dass sie die Arena wieder auf Vordermann bringen und ...“
    Ray bemerkte das aufmerksame Aufzucken von Sheinux, der das Interesse an seinen Kastanien plötzlich verloren hatte und seinen Blick interessiert nach Westen richtete. Auch Sonja hatte zwischenzeitlich reagiert und tat es den beiden gleich. Ein fremdes Gesicht näherte sich ihnen.


    Sonja drehte fragend den Kopf. Ihr Gesichtsausdruck besaß – ohne es wahrscheinlich zu wollen – augenscheinliche Ähnlichkeit mit Evoli. „Wer ist das?“, fragte sie.
    Ray musterte den sich nähernden Jugendlichen noch aus der Distanz: Mediterrane Kleidung begonnen von seinen blauen Sandalen, über die hochgekrempelten Hosen und das T-Shirt, bis hin zu dem rubinroten Kopftuch, einen runden Anhänger um den Hals, der stark einem Kompass ähnelte, gut gebräunt und von recht athletischer Statur. Schlussendlich musste Ray aber zugeben, dass er den Unbekannten noch nie zuvor gesehen hatte. Was er nur zu wissen brauchte, war, dass das fremde Gesicht genau auf sie zuhielt und Sheinux durch freudiges Schwanzwedeln signalisierte, dass er nicht die Pest hatte und es deshalb keinen Grund gab, das freundliche Lächeln nicht zu erwidern.
    „Ahoi!“, rief der Fremde und hob zur Begrüßung die eine Hand, die nicht sein Bündel auf dem Rücken hielt.
    Sonja und Ray sahen einander an. Ray zuckte belustigt seine rechte Schulter. „Hi!“ und „Shei!“, grüßten Menschen wie auch Pokémon zurück. „Kann man dir weiterhelfen?“, fragte Ray freundlich.
    Stöhnend ließ der Neuankömmling sein Gepäck vom Rücken herab und stellte es zu seinen Füßen. „Wahrscheinlich“, keuchte er und rieb sich seine Hände. „Skip Faksen der Name!“, sagte er und griff nacheinander die Hände seiner Mitmenschen und graulte Sheinux zur Begrüßung hinter den Ohren.
    „Sonja Lynn, sehr erfreut!“
    Auf seinen eigenen Namen hin legte Ray sein Gesicht in Falten. Faksen? Woher kannte er den Namen ...? Er musterte noch einmal das Gesicht, doch noch immer stand außer Frage, dass er Skip noch nie zuvor gesehen hatte. Dennoch ... Faksen ... Er zermattete sich sein Hirn, doch vergebens. Skip aber reagierte.
    „Valentine? Ah, dann hast du bereits mit meinem Opa Bekanntschaft gemacht. Er lässt grüßen.“
    „Der gute alte Jay!“, erinnerte sich Ray endlich wieder und patschte sich dramatisch auf die Stirn. „Wie geht es dem alten Haudegen und seinem Äppelkahn? Noch alles senkrecht?“
    „Ihm geht es ...“, wieder spukten die Bilder von Skips trauernden Angehörigen in seinem Kopf umher, allen voran sein Großvater, der in sein fiktives Taschentuch schniefte, „gut“, log Skip nach reichlicher Überlegung. Es war ein schlechtes „Gut“, das wusste er. Für Ray und Sonja schien es allerdings zu reichen, denn sie nahmen es lächelnd hin. „Ich muss wohl vom Kurs abgekommen sein“, sagte Skip und lenkte so gezielt ein anderes Thema an. „Wo kann ich denn hier anheuern?“
    „An...?“, begann Ray nach kurzer Pause verwirrt.
    „...heuern?“, beendete Sonja Rays Frage, nicht weniger verwirrt.
    „Ach ja! Das könnt ihr ja noch gar nicht wissen: Ich bin neu hier, mein erster Tag, ihr versteht ...“, lachte Skip.
    Ray nickte beeindruckt. Erster Tag? Nach über drei Monaten? Nicht schlecht! Skip wusste, wie man Aufmerksamkeit schindet.
    „Oh, so ist das also“, sagte Sonja freundlich. „Dann musst du aber zur Schule. Hier kämst du nur zu unserem Schulhaus. Siehst du das große Gebäude dort? Da musst du hin.“ Sonja deutete zum Schulkomplex, der in nordwestlicher Richtung lag.
    „Ach so ist das! Dann müssen die drei von vorhin wohl erst seit kurzem hier gestrandet sein, wenn die sich so vertun. Naja, egal“, sagte Skip und schulterte unter den fragenden Gesichtsausdrücken von Ray und Sonja wieder seinen Seesack. „Also dann, Sonja, Ray, Sheinux.“ Skip lächelte noch einmal jedem der Angesprochenen zu, bevor er sich in Richtung der Schule aufmachte.


    Einander schwiegen sie sich noch eine ganze Weile an, während sie betrachteten, wie Skip in der Ferne immer kleiner wurde.
    „Ein wirklich interessanter Kerl, dieser Skip“, brach Ray nach langer Zeit das Schweigen.



    * * *



    Die Herbstferien waren vorbei und somit das Ende der unbeschwerten Freiheit, wenn man es so wollte. Für Eagle spielte es aber fast keine Rolle, denn hatte er einen Großteil seiner Freizeit mit Nachsitzen verbracht. Die Genugtuung, die er nach dem Zwischenfall in der Krankenstation empfand, und das blaue Auge, das er dem Suicune zu Beginn des Turniers verpasst hatte, stellten sich im Nachhinein als eine recht dürftige Prämie heraus, denn die Zeche waren ganze drei lange Wochen Frondienst. Zugegeben: Ihn hätte es auch schlimmer treffen können. Rico und seine hirnverblödeten Begleiter durften zwei Wochen in dem spinnenversuchten Archiv hausen und dort den Putzbesen schwingen. Die drei auffrisierten Suicunes wie auch Enteis Schwergewicht, Pam Finnley, waren für den Küchendienst eingeteilt worden und hatten sicherlich nicht nur einmal die Tagessuppe im wahrsten Sinne des Wortes versalzen. Ihm stattdessen war die „Ehre“ zuteil geworden, den Schatten des Hausmeisters als dessen kleiner, folgsamer Gehilfe einzunehmen – eine undankbare Arbeit, da ein jeder sie als selbstverständlich hinnahm. Zumindest aber bot sie deutlich mehr Freiheiten, als die Arbeiten der anderen Verurteilten. Die meiste Zeit hatte Eagle damit verbracht, Samuel Figo kleinere Handgriffe abzunehmen, Gepäckträger zu spielen und hier und da mal den Mopp zu schwingen, wenn ungezügelte Schüler einmal wieder dachten, sie müssten sich in den Gängen ihre Pokébälle um die Ohren feuern und dabei alles, was nicht niet- und nagelfest war, in Trümmern zu schlagen. Zumindest waren sie anfangs viel unterwegs gewesen, womit es eigentlich nie langweilig geworden war. Jetzt aber, nach über zwei Wochen, mit dem Ende der Ferien und somit natürlich auch der Wiedergeburt des Unterrichts, verbrachten sie fast nur noch ihren Nachmittag in der Campus-Arena, wo es jedes einzelne Areal zu restaurieren galt.
    „Ich bin froh, dass Sie mir noch eine Woche helfen, Malcom. Ihre Klassenkameradin hat das Gesteinsfeld reichlich wüst zurückgelassen. Da werden wir ordentlich in die Hände spucken müssen.“
    Samuel Figo war der erste des Schulpersonals, von dem Eagle wusste, dass er stets auf die Hilfe seiner Pokémon-Truppe bauen konnte. Ein wohl gehütetes Geheimnis war es allerdings nicht, denn wurde er bei seinen Arbeiten fast immer auf Schritt und Tritt von seiner bunten Truppe begleitet. Eagle war insgeheim doch sehr froh über Maschocks starke Arme, Picochillas penibler Sinn für Reinlichkeit, Tauros’ übermenschliche Zugkraft, Farbeagles geschickter Umgang mit Grundierungen und Lacken und auch Taubogas geschultes Auge für die abschließende Kontrolle, denn lediglich zu zweit hättem die drei Wochen sicherlich nicht dafür gereicht, die komplette Arena wieder instand zu setzen.
    „Gesteinsfeld also ... Deshalb also die Brocken“, murrte Eagle. Er, Samuel und Maschock, ein muskulöses, fast menschengleiches Pokémon, fuhren je eine ächzende und schwer belandende Schubkarre, auf denen sie braune Gesteinsbrocken in allen Formen und Größenordnungen transportierten. Der Steinbruch für dieses Unterfangen lag nordwestlich vom Entei-Schulhaus und somit dummerweise ein gutes Stück von der Arena entfernt. Sie hatten fast eine halbe Stunde nur damit verbracht, eine Fuhre des wertvollen Gesteins zu laden und es wieder zurückzufahren.
    „Das wird noch lange nicht die einzige Fahrt sein, die wir machen müssen“, meinte der Hausmeister. „Erst einmal das Baumaterial beischaffen und morgen geht es dann ans Eingemachte.“
    „Kann es kaum erwarten ...“, brummte Eagle.



    * * *



    Jeder von Skip über das eindrucksvolle, stählerne Brückengerüst zurückgelegte Meter wurde von den dumpfen Klängen seiner Schritte begleitet. Der künstlich angelegte Teich, über den die gigantische Brücke elegant führte, war natürlich nichts im Vergleich zu den schier endlosen Weiten des Ozeans, doch fühlte er sich, da er nun wieder von Wassermassen umgeben war, in seinem Herzen gleich viel wohler. Ein-, zweimal hatte er flüchtig ein Wasser-Pokémon bemerkt, dass den wandernden Zweibeiner wohl neugierig zwischen dem Schilf und Seegras beobachtet hatte – ein Lumineon, wie er nach kurzer Überlegung feststellte. Doch die imposante Schule und somit natürlich auch die Landmassen rückten bereits näher und näher. Sogar etwas widerwillig setzte er seinen rechten Fuß von der Brücke auf den Kiesweg und winkte wehmütig dem neugierigen Lumineon zum Abschied, bevor es wieder in den Tiefen des Sees verschwand. Doch was half es? Er wusste schließlich, dass seine Zukunft fürs Erste auf dem Trockenen lag.
    Skip stoppte einen Moment und ließ den famosen Anblick vor ihm auf sich wirken. Ray und Sonja kannten sich auf dem Gelände unzweifelhaft etwas besser aus, als die anderen drei fehlgeleiteten Schüler, denn das imposante Gebäude, das sich majestätisch in den Himmel erhob, wurde schon eher dem Ruf der berühmten Celebi-High gerecht. Das sollte sie also sein, seine Zukunft ...
    „Junger Mann, kann man Ihnen weiterhelfen?“
    „Wie, was? Oh, ahoi!“ Etwas schreckhaft wachte Skip aus seinen Gedanken auf. Zwei Menschen, einer davon unzweifelhaft ein weiterer Schüler der Schule, denn er trug dieselbe Uniform wie sie Ray Valentine trug, der andere schien den Posten des Hausmeisters zu besetzen, zumindest vermittelte sein grauer Arbeitsoverall diesen Eindruck, und ein äußerst gut gebautes, zweibeiniges Pokémon hatten sich ihm genähert. Jeder der drei fuhr eine Schubkarrenladung mit – wenn sich Skip nicht gewaltig täuschte – Steinen spazieren.
    „Ahoi?“ Der Jugendliche – etwa in Skips Alter und leicht arrogantem Blick – verzog belustigt sein Gesicht. Er musterte Skip von Kopf bis Fuß. Sein Blick blieb einige Sekunden lang an seinen Sandalen kleben, bevor er mit demselben Gesichtsausdruck wieder Augenkontakt herstellte. „Wer hat dich denn eingetütet?“, fragte er.
    „Ein althergebrachter Seemannsgruß und ebenso althergebrachte Seemannskleidung“, sagte Skip freundlich und ließ seinen Seesack für einen Händedruck fallen. „Skip Faksen, sehr erfreut.“ Der Schüler entgegnete nur recht lustlos Skips Geste, sein erwachsener Begleiter wiederum recht euphorisch.
    „Ah, Skip Faksen!“, sagte der Hausmeister. „Ich hörte, wir bekämen einen neuen Schüler. Na, um es mit Seemannssprache zu sagen: Willkommen an Bord!“
    „Danke“, antwortete Skip lächelnd. „Immer geradeaus?“, fragte er schließlich noch und deutete direkt auf das Schulgebäude.
    Der Mann nickte. „Immer der Nase nach, Sie haben es fast geschafft.“


    Ein letztes Mal noch drückte Skip die Hände seines neuen Mitschülers und die des freundlichen Hausmeisters und marschierte zielsicher seiner neuen Zukunft entgegen.

  • Part 3: Kollaboration



    „Du hast ihn also auch kennengelernt?“
    „Es wäre ein Wunder, ihn und seine Sandalen zu übersehen ...“
    Noch an diesem Abend hatte sich Eagle in seinem Quartier auf einen kleinen Plausch mit seinem Zimmerkameraden eingelassen. Viele Ausweichmöglichkeiten hatten sich ihm bei dem Lärm, der unaufhörlich von Rays Laptop ausging, schließlich auch nicht ergeben.
    Ray drehte sich interessiert von seinem flackernden Bildschirm weg und wandte sich Eagle zu. „Und?“, fragte er.
    „Und was?“, antwortete Eagle. Er hatte in der letzten halben Stunde vergebliche Versuche unternommen, sich auf seinem Bett in ein Kreuzworträtselheft zu vertiefen. Seine grünen Augen funkelten über den Rand seiner abendlichen Beschäftigung hinweg und fixierten Ray.
    „Was hältst du von ihm?“, hakte Ray nach.
    Eagle verdrehte kurz die Augen in genervte Höhen und setzte daraufhin wieder seinen Bleistift an. „Sagen wir es so: Du und er würden sicherlich ein hübsches Paar auf einer Idiotenhochzeit abgeben.“
    „Mit dir als Braut oder reicht es nur zum Brautvater?“, feixte Ray.
    „Eher Letzteres ...“, brummte Eagle und setzte zum wiederholten Male seinen Bleistift bei „Verwahrloster Teil einer Stadt mit vier Buchstaben“ an. Für ihn war das Gespräch beendet. Dummerweise aber verstand Ray die Botschaft nicht.
    „Ich frage mich bloß, in welches Haus er kommt.“ Sofort wanderte ein euphorisches Grinsen über sein Gesicht. „Was meinst du, er könnte doch bei uns einziehen?“
    Das Rätselheft klatschte erbost auf Eagles rechten Oberschenkel. Mit vernichtendem Blick sah er Ray an. „Aber sonst geht’s noch?! Fehlt mir gerade noch, dass du mir einen Klon von dir anschleppst! Und überhaupt: Wie du ausnahmsweise mal richtig erwähnt hast, steht überhaupt nicht fest, in welchem Haus er ist. Womöglich räkelt der Typ sich gerade auf einem Entei-Bett und lacht sich über uns ins Fäustchen. Ist dir dieser Gedanke auch nur eimal ansatzweise gekommen? Außerdem kann er definitiv kein Raikou sein, sonst wäre er ja schließlich heute Abend hier im Haus gewesen und hätte sich den Magen an dem italienischen Salat von diesem Spagettikopf aus der zweiten Jahrgangsstufe verdorben.“
    „Er könnte dein Bett bekommen. Du müsstest dann natürlich unten irgendwo pennen, aber das kriegen wir hin – vielleicht die Couch? Oder ihr müsstet euch ein Bett teilen. Du sabberst im Schlaf zwar etwas, aber der scheint ja bereits mit allen Wassern gewaschen zu sein und da wäre ja auch noch ...“
    „Womit habe ich das verdient ...?“, stöhnte Eagle und warf sein Buch achtlos auf seinen Nachttisch. „Kann man mit deiner Rappelkiste eigentlich auch zocken? Irgendwie muss ich meine Aggressionen loswerden. Hilft ja alles nichts in diesem Irrenhaus ...“



    * * *



    In einem hatte Eagle definitiv Recht und auch Rays Humor vermochte dies nicht zu ändern: Es war tatsächlich völlig offen, in welches Haus Skip Faksen einziehen würde, und die Tatsache, dass er am gestrigen Abend im Raikou-Haus nicht mit seiner Anwesenheit geglänzt hatte, untermauerte Eagles Aussage. Schlussendlich aber besiegelte nur eines die Behauptungen des entnervten Raikouianers und zertrümmerte gleichzeitig Rays Fiktionen noch im Keim: Wie jeden Dienstagmorgen fanden sich nach und nach die Schüler der Grundstufe grüppchenweise vor einem der zwei EDV-Sälen der Schule ein. Das Warten auf die Ankunft des Lehrers hatte für Ray seit jeher einen beharrlichen Charakter. Je länger, desto besser. Eine Ausnahme bildete lediglich EDV, was zu seinem Lieblingsfach gehörte. Abgesehen vielleicht von Logan Sokol konnte niemand den technikverrückten Raikouianer in diesem Fach das Wasser reichen. Ray wie auch fast der Rest seiner Hauskameraden hatten sich bereits vor Ort eingefunden. Wie es an der Schule gang und gebe war, hatte sich natürlich unlängst die Nachricht über den neuen Schüler einem Lauffeuer gleich herumgesprochen; auch natürlich Gerüchte über dessen Hauszugehörigkeit. Suicune, so erzählte es man sich zumindest, hätte Zuwachs erhalten, doch erst als Skip Faksen, an dessen Brust nun das gepardenähnliche Suicune-Wappen schimmerte, persönlich vor dem Klassensaal auftauchte, war der letzte Zweifel gebrochen. Ray spürte, wie sein Lächeln noch auf seinem Gesicht zu Eis erstarrte. Eagle, passend dazu, warf ihm einen geringschätzigen „Hab ich dir doch gleich gesagt, aber du wolltest mir ja nicht zuhören“-Blick zu, Sonja hingegen zuckte lediglich gleichgültig mit den Schultern. Natürlich hatte sich Ray diese mögliche Entwicklung der Dinge gedanklich bereits vorgestellt, aber dennoch hatte er insgeheim gehofft, dass es sich niemals so entwickeln würde. Er hatte Skip, obwohl sie gerade mal ein dreiminütiges Gespräch geführt hatten und einander eigentlich gar nicht kannten, richtig gern gewonnen. Ray konnte und wollte es nicht wirklich glauben, dass diese Uniform – dieses Stückchen Stoff - einen unüberwindbaren Graben zwischen ihnen beiden zog und ihnen vorschrieb, mit wem sie für den Rest der Schulzeit interagieren durften. Irgendwie traurig ...
    Marco Haywood, ein Suicune und somit einer von Skips Hauskameraden, flüsterte seinem neuen Mitschüler etwas zu, woraufhin Skip breit in die Runde lächelte. Manche der anderen Suicunes in Hörweite lachten; Raikous oder Enteis teilten diese Freude nicht, vielleicht aber hatten sie es auch nicht gehört, oder vielleicht war es auch etwas, worüber nur die Suicunes lachen konnten. Spaßten sie möglicherweise gerade über die Nicht-Suicunes?
    Andererseits: Wer konnte Ray versprechen, dass es sich bei Skip nicht um das handelte, was man traditionell als einen falschen Fuffziger bezeichnete? War er vielleicht tatsächlich eine ganz andere Sorte Mensch? Bestand nicht auch die Möglichkeit, dass sich Skip - wie Eagle es gerne bei gewissen Leuten zum Ausdruck brachte – als ein Kotzbrocken entpuppte? Reflexartig schüttelte Ray den Kopf. Nein, irgendetwas in seinem Kopf sagte ihm, dass das undenkbar war. Wie es aber auch war: Nichts änderte an der Tatsache, dass Skip Faksen nun den offiziellen Status als Suicune genoss; mit allem, was dazugehörte.
    „Moin, Ray! Moin, Sonja!“ Unter den völlig perplexen Blicken seiner Hauskameraden hatte sich Skip aus der Suicune-Menschentraube gelöst und schritt nun energisch und mit freundschaftlich ausgestreckter Hand auf die beiden angesprochenen Raikous zu. Für einen Großteil der sich in unmittelbarer Nähe befindenden Beobachter wirkte es sehr fremd: Ein Suicune reichte einem Raikou die Hand in lockerer Art zum Gruß. Sicher, für ein einschläferndes „Guten Morgen“ hatte es in Vergangenheit auf Kommando immer gereicht, doch Skip schaffte es, diesen bescheidenen Akt der Höflichkeit regelrecht in eine feierliche Zeremonie mit allen Schikanen zu verwandeln. Wer das Ritual verfolgte, sah die fremde Paarung so an, als fände vor ihren Augen in diesem Moment eine Begegnung der dritten Art statt. Ray erwiderte den besonders kräftigen Händedruck ebenso beherzt, wie er es bereits am Vortag ohne das Suicune-Symbol an Skips Brust getan hatte. Sonja tat es ihrem Freund gleich, wenn auch vielleicht etwas vorsichtiger als Ray.
    „Du hast es geschafft, wie ich sehe“, sagte Ray. „Ich kann mich noch gut an meine Ankunft hier erinnern. Bürokratie ...“, Ray schüttelte kurz den Kopf und seufzte, „ein Alptraum!“
    „Ich habe schon tückischere Gewässer durchsegelt“, antwortete Skip lächelnd. „Mein Ding wird es aber wohl auch niemals werden.“
    „Ist dir eigentlich schon dein Partner-Pokémon zugeteilt worden? Bei uns hat das damals Tage gedauert.
    „Heute in der Mittagspause ist es auch bei mir soweit. Solange würde die endgültige Analyse meines Fragebogens dauern, wurde mir zumindest so gesagt.
    „Glückspilz! Wenn ich an meine erste Woche denke ... Das Warten hat mich fast um den Verstand gebracht.“
    Mittlerweile hatte selbst der noch schläfrigste Schüler das doch recht augenfällige blaugelbe Pärchen ins Visier ihrer teils kritischen, teils beeindruckten, aber auch teils verwerflichen Blicke. Wohin man auch sah, schienen die Meinungen zwischen blau, gelb und rot weit auseinanderzugehen. Distanzierten sich zwar viele Schüler argwöhnisch von dem seltsamen Gespann, rückten andere interessiert, dafür aber noch sehr vorsichtig auf. Nicht nur Ray, auch Sonja hatte zwischenzeitlich hemmungs- und vorurteilslos in das Gespräch eingefunden.
    „Da habe ich ja noch einiges aufzuholen“, seufzte Skip, nachdem Sonja ihren zweiminütigen Vortrag über den Stoff des ersten Quartals beendet hatte.
    „Wenn du willst, helfe ich dir. Es wäre nicht das erste Mal“, sagte Sonja und zwinkerte dabei vielsagend in Rays Richtung.
    „Das Angebot nehme ich gerne an“, antwortete Skip. Seine Aufmerksamkeit schwenkte bei der Ankunft einer rotuniformierten Schülerin beiläufig um. Er schien sie zu kennen. „Entschuldigt mich“, sagte er. „Hey, Kathy!“ Zielstrebig durchwanderte er den überfüllten Korridor und reichte Kathy Torres, einer Entei-Schülerin, im selben Stil wie er es bei Ray und Sonja getan hatte, die Hand zum Gruß.


    Mit der Ankunft von Professor Badham, dem dozierenden EDV-Lehrer der Celebi-High, verlor Ray nunmehr das Interesse, weiterhin auf die doch recht aufdringlichen Fragen seiner Hauskameraden über Skip einzugehen, denn war das Verlangen, die Computer aus ihrem nächtlichen Schlaf sanft wachzurütteln, deutlich stärker. Ray ließ sich auf seinem Stammplatz recht nahe zum Lehrerpult nieder und bevor auch nur Sonja ihre Tasche abgelegt hatte, geschweige denn ihren Stuhl zurecht gerückt hatte, fingerte er bereits euphorisch an dem Startknopf seines PCs herum.
    „Meine Damen, meine Herren: Wie Sie alle vielleicht schon selbst feststellten, haben wir das Vergnügen, einen neuen Schüler in unserer Runde zu begrüßen.“ Professor Badham überblickte seine nur langsam zur Ruhe kommende Klasse. Skip Faksen stand zu seiner Rechten und lächelte ebenfalls erwartungsvoll seinen Klassenkameraden zu. Professor Badham gebot Skip, nach einer bedächtigen Schweigerunde Platz zu nehmen, und wandte sich daraufhin wieder an seine Klasse. „Nun, ich denke, Sie wissen, wo wir stehen geblieben sind. Rechner hochfahren und ran an die Arbeit. – Mal wieder einer der ersten, Mr. Valentine?“, erwähnte er beiläufig. Sein Schüler grinste.
    Skip hatte sich in Bewegung gesetzt. Sein Blick schweifte abermals sorgfältig umher. Einige Suicunes gestikulierten ihn zu sich und deuteten demonstrativ auf einen freien Platz zu ihrer Linken oder Rechten, doch auch – zur großen Verwunderung ihrer gleichfarbigen Hauskameraden – winkte Kathy Torres vorsichtig in Skips Richtung. Ray ließ es sich auch nicht mehr nehmen, dem Neuling seine Gastfreundschaft anzubieten. Skip durchquerte den Raum, ließ desinteressiert dreinblickende Schüler, zu denen mitunter auch Eagle gehörte, hinter sich und nahm zu Rays Rechten Platz. Kaum einer in der Klasse tauschte nicht mit seinem Nachbar fragende Blicke aus oder vertiefte sich sofort mit ihm in ein Flüsterkonzert. Nichts aber wollte Skips Entscheidung ändern; auch nicht die sichtlich enttäuschten Gesichtsausdrücke seiner Hauskameraden.

  • Dabei hatte ich mir doch vorgenommen, nun möglichst jeden neuen Part zu kommentieren und schon bin ich wieder spät dran. Aber anscheinend kannst du nahezu jeden Tag wieder was neues bieten und ich kann nun mal nicht jeden Tag nachschauen. Ganz ehrlich, wenn du dir ein bisschen mehr Zeit nehmen würdest, um die Story fortzuführen, hätte ich nichts dagegen. Vielleicht würden dann auch mal ein paar Leute mehr kommentieren.


    Jetzt aber zum Inhalt. Das Turnier ist ja meinen Erwartungen absolut gerecht geworden. Die letzten Kämpfe waren sehr actionreich, geladen und spannend. Der Sieger ließ sich nie wirklich vorhersagen und das brachte einige Überraschung mit sich. Ich persönlich war schon etwas enttäuscht, als Eagle gegen Logan verloren hatte. Klar, Eagle ist ein Unsympath, aber ohne ihn wäre die FF auch nur halb so schön. Irgendwie ist er die Art Mensch, die man einfach für eine Campusgeschichte braucht und so hab ich an seine Charakter mittlerweile viel Freude gefunden. Dementsprechend habe ich auch für ihn mitgefiebert - scheisse, hm? aber ganz ehrlich, die einzigen Menschen, die ich noch mehr verabscheue als eingebildete Streitsucher (Eagle), sind klugscheissende Statistikhengste, die meinen, die Leute warten nur auf ihre neumalklugen Kommentare, obwohl sie doch soooo überflüssig sind (Logan). Von den Persönlichkeiten an sich war der Kampf bereits sehr interresant, aber ebenso frustrierend, wenn man wie ich auf Eagles Seite stand. Dass er danach die Siegerehrung sausen lässt passt gerade zu seine Charakter und ich kann ihn da voll verstehen. In diesem Turnier gab es nur einen Sieger, der Rest besteh aus Verlierern. Was bedeutet ein zweier Platz im rivalisierenden Häuser-Kampf schon? Wäre doch Sonja im Finale gewesen...^^


    Anschleßend rieche ich frischend Wind auf dem Campus. Skip Faksen wird Ray sicher ungeahnte Möglichkeiten bieten, ihn zu verarschen. Mit seiner Überfeundlichen Art, die man jetzt shon bei ihm erkennt, könnte er ebenfalls neue Beziehungen entstehen lassen aber diese müssen ja nicht zwangsläufig gut sein. Bei der Entei-Fraktion hat er es sich ja schon vor seiner Aufnahme verschertzt, was wohl aber eher an mangelnder Intelligenz seitens dieser liegt. Jedenfalls ist die Situation, mit Ray und Sonja überhaupt zu reden, obwohl sie in veschiedenen Häusern sind, sehr interresant. Stellt sich nur die Frage, wie die übrigen Suicunes das sehen. Denke, man darf gespannt sein. Mit seiner Seemannssprache wird er aber kaum einen Blumentopf gewinnen. Mal im Ernst, denkt er nicht, dass es vielleicht angebraht wäre, sich den Gegebenheiten mehr anzupassen? Tja, ist wohl vom Meer gezeichnet der Kerl.


    Abschließend hast du das Turnier also zu einem guten, wenn auch nicht sehr fröhlichen Ende gebracht und bereits für vielversprechende Neuheiten gesorgt. Wenn diese Neuheiten aber ca. wöchentlich kommen anstatt alle 3-4 Tage, wäre das für deine Kommischreiber (Ich) sehr entlastend. Ich kann nun mal nicht jeden Tag ins BB und ich möchte dir schon zu möglichst jedem Kapi ein Feedback geben. Letztlich isses deine Entscheidung, aber es sei dir gesagt.
    Also bis zum nächsten Mal - wird sicher nicht lange dauern^^

  • Gut, dann kommentiere ich auch mal (zum ersten mal) deine Story. Erstmal finde ich ziemlich gut, wie du deine Story schreibst, dass du immer wieder neue Ideen einbringst, mit denen ich nicht gerechnet habe (zuletzt ein neuer Hauptcharacter) und außerdem das es so schnell voran geht und möchte sagen: Hör bloß nicht auf aiguL! Mir geht es eigentlich auch so schon zu langsam (kann halt nie schnell genug gehen) aber mir ist selbstverständlich klar, dass es nicht schneller geht. Jetzt will ich mich aber mal dem Inhalt zuwenden:


    Bei dem Turnier war es so, dass ich schon eine Niederlage Rays befürchtet habe, als er gegen Sora kämpfen musste. Zu diesem Zeitpunkt war schließlich schon bekannt, dass er in sie verliebt ist. Allerdings hätte ich schon mit etwas mehr Gegenwehr von ihm gerechnet. Danach wurde mir schon klar, welche Schüler im Finale gegeneinander kämpfen würden - schließlich musste Eagle eine Gelegenheit bekommen, seinem Ruf als besten Flugtrainer gerecht zu werden. Eigentlich habe ich aber damit gerechnet, dass Eagle am Ende als Sieger vom Platz gehen würde. Das war für mich (neben denen ohne Beteiligung der Hauptcharachtere sowie Ray vs. Sora) das einzige, wo der Ausgang wirklich unklar war. Dann wurde ich erstmal von einem Kapitel ohne unsere alten Hauptfiguren überrascht. Das war eine Aktion, mit der du wohl ziemlich gut für mehr Spannung gesorgt hast. Skip Faksen scheint ja schon jetzt einige der "ungeschriebenen Gesetze", die zwischen den verschiedenen Häusern zu herrschen scheinen, gebrochen zu haben. Er hat Freunde in der Raicou- und in der Entei-Fraktion, obwohl er ein Schüler aus dem Haus Suicune ist. Mal sehen, wie seine Hauskameraden letztlich damit umgehen werden. Außerdem könnte diese Tatsache ja auch die Beziehung zwischen Ray, Sora und Eagle verändern, da Skip vormacht, dass die Häuser eigentlich nichts außer dem Stundenplan und dem Schlafplatz zu sagen haben.
    Dann möchte ich auch noch etwas zu den Hauptcharacteren sagen: Ray und Sonja erinnern mich irgendwie sehr an die beiden Schüler, die in meiner Schule auf den nächsten beiden Plätzen links von mir sitzen. Der eine ist ein Technikfreak und auch ein wenig aufgedreht und die andere ist wie Sonja in der Klasse noch die einzige, auf die man sich bei so Sachen wie Hausaufgaben immer verlassen kann - und auch abschreiben darf, wenn mal was fehlt.

  • Part 4: Spannungen



    „Obwohl ich mir die Frage eigentlich bei dir sparen kann: Hast du dein letztes bisschen Verstand verloren?“ Nach der Doppelstunde EDV schaffte es Eagle tatsächlich, Skips Handlungen mit einem eigenen undenkbaren Szenario zu überschatten – und auch so manch ein aufgebrachter Protest vermochte dies nicht zu ändern: Pünktlich zu Beginn der Mittagspause hatte er sich am Haustisch seiner Klassenkameraden zwischen Diana Rawkes und Alexa Catterfield gezwängt, um mit Ray, der ihm nun gegenübersaß, ein ernstes Wörtchen zu reden. Er ignorierte Rays heiteres Tee, Milch oder Kaffee-Angebot und fuhr aufbrausend fort: „Du kannst doch nicht mehr ganz richtig sein!“
    „Wo ist das Problem?“, fragte Ray und biss fast gleichgültig in seinen Toast.
    „Wo das Problem ist?! Wo das Problem ist?! Skip, er ... er ist ...“ Eagle wollte bereits das Wort Feind über die Lippen rutschen, fing es dann aber noch rechtzeitig auf und schluckte es unter. „Er ist ein Suicune!“, ergänzte er schließlich und betonte dabei jedes einzelne Wort.
    „Na und?“
    Eagles wütendes Schnauben erreichte selbst das andere Ende des Tisches, wo einige Raikous des dritten Jahrgangs ihn sofort kritisch beäugten; das wütende Donnern seiner Faust auf den Tisch wollte die Situation nicht unbedingt mildern. „Willst du mich nicht verstehen oder willst du mich nicht verstehen?! Du bist ein Raikou, er ein Suicune. Ihr habt nichts miteinander zu schaffen. Ende der Diskussion!“
    „Also ehrlich, nur weil er eine andere Farbe trägt, ist er doch kein Unmensch!“, schaltete sich Sonja nun aufgebracht in die Unterhaltung ein. Bislang hatte sie noch nie gegen einen Mitschüler wirklich das Wort erhoben, geschweige denn gerade Eagle, von dem ein jeder mittlerweile dessen aufmüpfige Streitsucht genau kannte. Vielleicht war er gerade aus diesem Grund anfangs so verdattert, dass er keinen Ton herausbrachte.
    „Hast du etwa Bammel, dass mir versehentlich einige Details unserer geheimen Raikou-Spezialpastasoße rausrutschen?“, feixte Ray. „Keine Angst! Das Rezept ist bei mir in guten Händen.“ Er klopfte sich demonstrativ auf die Brust.
    „Dein Abflussreiniger interessiert mich einen Dreck!“, donnerte Eagle. „Dieser Faksen ist ...“
    „Ein Suicune. Mittlerweile wissen es alle ...“, sagte Andy gelangweilt und schob sich gemeinsam mit Sarah in eine Lücke neben Sonja. „Na und? Ich war mal in Entei, falls du es vergessen haben solltest. Und ob du es nun glaubst oder nicht – wir atmen dieselbe Luft.“
    „Du warst mal ein Entei?“, hake Diana neugierig nach. Ray und Sonja nickten. Sie beide wussten darüber bereits Bescheid.
    „Richtig, im ersten Jahr. Gewisse Umstände“, er fasste Sarah an die Hand, „haben mich aber dazu veranlasst, das Haus zu wechseln. Wem es nun zuwider ist, mit einem Ex-Entei an einem Tisch zu speisen, der darf gerne gehen. Ich bleibe!“ Andy schaute finster in die Runde.
    Niemand antwortete. Eagle, der zwar die Augen rollte, knurrte etwas Unhörbares.
    „Ich will damit grundgenommen nur Sonjas Aussage bestätigen“, fuhr Andy fort. „Enteis und Suicunes sind auch nur Menschen. Die Grundstufe nimmt es anfangs gerne etwas zu ernst. Mit der Zeit legt sich das aber.“
    „Trotzdem nutzt er jede Gelegenheit, um sich mit seinen alten Hauskameraden anzulegen oder mit den Muskeln zu spielen“, sagte Sarah spitz.
    „Das war jetzt gerade nicht der beste Augenblick dafür, Schatzi“, maulte Andy, schenkte seiner Freundin aber ein Lächeln.
    „Ach, macht doch, was ihr wollt!“, schnaubte Eagle abfällig, erhob sich und ließ zwischen Diana und Alexa eine menschengroße Lücke zurück.


    An kaum einem Schüler der Grundstufe gingen die Furore, die Skip Faksen mit seiner weltoffenen Art in den ersten paar Stunden seines ersten Tages sorgte, vorbei. Viele seiner gleichaltrigen Mitschüler – trugen sie nun blaue, gelbe oder rote Uniformen – missbilligenden dieses Verhalten aufs Schärfste, weswegen Worte wie „Eklat“ oder gar „Überläufer“ hinter dem Rücken des Kollaborateurs nicht zur Seltenheit gehörten. Schon gar nicht bemühte man sich, die Lautstärke zu drosseln – im Gegenteil: Die Umstände schienen regelrecht danach zu drängen, dem Treiben des Neulings rasch Einhalt zu gebieten, bevor noch weitere Schüler einen „Skip machten“, wie man es bereits böse schimpfte. War zwar die Resonanz des Großteils der Betroffenen nahezu durchweg negativ, so ließen sich dafür die ersten positiven Anzeichen, denen Skip als Katalysator der ganzen Affäre den Weg geebnet hatte, nicht leugnen. Insbesondere wer die hitzige Diskussion am Raikou-Tisch mitverfolgt hatte, was aufgrund der erheblichen Lautstärke am Tisch nicht sonderlich schwierig gewesen war, schien plötzlich die Welt mit ganz anderen Augen zu sehen. Tatsächlich erweckte es den Anschein, als ob die zweite und dritte Klassenstufe wesentlich entspannter auf das Streitthema der Grundstufe reagierten und dass lediglich viele der Jahrgangsjüngsten die Sache so bierernst sahen. Bei näherer Betrachtung stellte Ray fest, dass Andy, Sarah und der Rest ihrer Klassenkameraden sogar vergleichbar gut mit ihren andersfarbigen Kollegen auskamen, zumindest waren sie weit davon entfernt, sich gegenseitig an die Gurgel zu springen. Selbiges konnte man dummerweise von Rays Klassenstufe nicht wirklich behaupten und die erste Gruppenarbeit in Deutsch, bei der so manch ein einsamer Entei, Raikou oder Suicune sich plötzlich in einer farbenfremden Arbeitsgruppe wiederfand (so beispielsweise Ray, Sonja und Eagle, die mit dem Suicune Skip und der Entei Kathy eine Partnerschaft bildeten), wollte das angespannte Klima nicht unbedingt lockern. Anderseits waren gerade viele dieser bislang zum Einzelgängerdasein verdammten Schüler sehr froh darüber, plötzlich umgeben von helfenden und teilweise sogar rückenstärkenden Händen zu sein. Doch auch hier bestätigten Ausnahmen die Regel und so schnell so manch eine bunt zusammengewürfelte Zweckgemeinschaft entstanden war, ging sie auch schon wieder zu Bruch. Speziell Eagle war natürlich alles andere als über die Umstände begeistert und auch am Freitag derselben Woche war mit einem weiteren Gruppenprojekt - diesmal in Pokémon-Pflege - für ihn keine Besserung in Sicht.


    „Wir sollen was?!
    „Brüten, Mr. Granger, Sie sollen Eier ausbrüten“, erklärte Professor Joy inmitten ihres Unterrichts. Beinahe feierlich schaute sie in die Runde ihrer aus Suicunes und Raikous bestehenden Klasse. „Wie Sie sicherlich alle mittlerweile durch meinen Unterricht erfahren haben, wachsen Pokémon nicht im Mutterleib heran, sondern schlüpfen ausnahmslos aus Eiern. Es ist Tradition, dass sich die Grundstufe in einer Projektwoche einem frisch ausgeschlüpften Pokémon annimmt. Ihre Aufgabe wird die Brutpflege sein, dem Schlüpfvorgang beizuwohnen und Ihrem Ziehkind die ersten Schritte in der neuen Welt zu erleichtern. Hierzu werden Sie sich in Zweiergruppen zusammenfinden, in die Rolle der Eltern schlüpfen und somit eine Familie bilden.“ Professor Joy lächelte zart und stieß dabei einen verträumten Seufzer aus. Es stand außer Frage, dass der Gedanke einer Familiengründung einen reizvollen Charakter für sie zu haben schien. Ihre Begeisterung für das Projekt schien zumindest auf einen Großteil der Mädchen ihres Kurses magnetisch überzugehen; viele Herren der Schöpfung warfen sich dagegen eher ratlose Blicke zu. „Zuallererst wird sich ein jeder von Ihnen einen Partner suchen. Bevor wir uns natürlich schließlich und endlich einem Ei annehmen werden, müssen wir uns noch einige Stunden intensiv mit der Behandlung eines solch wertvollen Guts beschäftigen. Im Anschluss werden wir dann sofort in die Pflege von frisch geschlüpften Pokémon übergehen und auch in diesem Zusammenhang gibt es reichlich viel zu lernen, wie Sie alle schon bald feststellen werden. – Ja, Miss Blair?“
    „Wie lange dürfen wir Leiheltern spielen, Professor?“, fragte Hannah Blair. Einige ihrer Suicune-Freundinnen kicherten kindisch.
    „Wie bereits gesagt, werden Sie eine ganze Woche Zeit haben, sich ihrem Schützling hinzugeben. Die Schlüpftermine der uns zur Verfügung gestellten Eier sind, bei der richtigen Pflege natürlich, auf etwa der Mitte der Projektwoche angesetzt.“
    „Und danach? Sollen wir dann die Pokémon großziehen?“, hakte Beatrice Gruice, ebenfalls von Suicune, nach.
    „Gott bewahre, nein, natürlich nicht“, antwortete Professor Joy. „Es wäre eindeutig zu viel von Ihnen verlangt, sich über Wochen und Monate hinweg mit den kleinen Rackern zu beschäftigen. Wenn der Zeitpunkt erst gekommen ist, werden Sie alle schnell feststellen, wie viel Verantwortung und Mühe doch hinter dieser Lebensaufgabe steht. Nach Ihrer Projektwoche – und ja, es wird Noten geben, Mr. Foley – werden die Pokémon wieder in die Obhut von Mr. und Mrs. Johnson, die für die Schule die Pokémon heranziehen, übergehen. Es wird Sie vielleicht interessieren, dass Ihre, wie auch die Partner sämtlicher anderer Schüler Ihren fähigen Händen entstammen. So manch eines ihrer Pokémon wurde sogar möglicherweise einst von einem Ihrer Vorgänger ausgebrütet.“ Professor Joy stoppte kurz. Ein kurzer Schatten huschte ihr über das Gesicht, während sie erneut in die Runde blickte. „Hierbei möchte ich noch erwähnen, dass wir über all die Jahre hinweg uns noch niemals negativ verantworten mussten und unsere Prinzipien seit jeher im guten Licht standen. Ich möchte hoffen, dass dies auch weiterhin so sein wird. Bereiten Sie uns keine Schande!“


    Nahezu der verbliebene Rest der Unterrichtsstunde musste für die Problematik der Familiengründung herhalten. Einige Paarungen waren dank guter Freundschaften schnell gefunden. Sonja, die oft in ihrer damaligen Schulzeit eine der Letzten ihrer Klasse war, die einen Partner gefunden hatte, war dank Ray eine der ersten Schülerinnen, die nun vergriffen war. Ihrem Beispiel folgten unzählige andere ihrer Schulkameraden, so auch Serina und ihre beste Freundin Nea, die beiden Jakes und auch Beatrice Gruice und Hannah Blair.
    Je mehr Familien zwangsgegründet waren, umso schwieriger wurde die Auswahl der noch Junggesellen. Das Knarren der Stühle und das Wandern zwischen Tischen erstarb schnell und schaffte bald den notwendigen Überblick der Übriggebliebenen.
    „Das ist mir echt zu blöd. Kann ich nicht mein eigenes Ding durchziehen?“, murrte Eagle nach einiger Zeit.
    „Zu einer Familie gehören immer zwei, Mr. Granger“, lächelte Professor Joy sacht.
    Eagle schaute in die Runde. Seine Auswahl war mittlerweile auf drei geschrumpft: Logan Sokol, Skip Faksen und Julia Brown - und mit Julia, die Logan gezwungenermaßen als ihren Ehemann auserkor, blieb ihm nur noch ...
    „Nicht der ...“
    „Ich finde, Sie und Mr. Faksen werden sicherlich ein hervorragendes Paar abgeben“, lächelte Professor Joy.
    „Natürlich. Mit dem gemeinsam in die Klapsmühle“, knurrte er leise, während sich Skip neben ihm niederließ. Der Suicune aber lächelte nur.
    „Du und ich bilden eine Crew. Das wird sicher witzig“, sagte er an Eagle gewandt.
    „Gute Einstellung, Mr. Faksen, das lobe ich mir. Vergessen Sie aber bitte nicht, mit dem nötigen Ernst an die Sache heranzugehen, wenn es erst soweit ist“, mahnte Professor Joy. „In erster Linie soll es lehrreich sein, eine Erfahrung fürs Leben, aber Ihnen natürlich auch eine Freude bereiten.“
    Pokémon-Pflege gehörte nicht unbedingt in Eagles Repertoire seiner Lieblingsfächer, doch hatte er bislang recht gute Leistungen erzielt. Hier aber sträubte er sich und man sah ihm seine Antipathie unmissverständlich an. Regelrecht genervt stützte er seinen Kopf mit der Hand vom Tisch ab und sagte in provokantem Tonfall: „Es würde mir persönlich mehr Freude bereiten, wenn wir das Pokémon am Ende der Woche behalten dürften, als Belohnung für besonderen Fleiß sozusagen. Wäre doch ein zusätzlicher Reiz und ein interessanter Gedanke.“
    Einige seiner Mitschüler, selbst Suicunes, nickten. Professor Joy dagegen schürzte missbilligend die Lippen. Ihre Antwort war auch ohne hellseherische Fähigkeiten bereits klar zu erkennen. „Es bleibt dabei, Mr. Granger, mein letztes Wort!“, sagte sie streng. „Vielleicht wird es Sie wie auch Ihre Klassenkameraden aber etwas trösten, dass Sie alle schon bald die Gelegenheit erhalten werden, ein neues Pokémon zum Freund zu gewinnen.“
    Selbst die Schulglocke vermochte kaum, das plötzliche Flüsterkonzert und die aufgeregten Schulterblicke zu übertönen. Hatte man sich etwa verhört? Ein neues Pokémon? „Nun denn, Sie dürfen gehen“, sagte Professor Joy und schritt aus dem Klassensaal hinaus, ehe man noch Gelegenheit zum Fragenstellen bekam.

  • Zum Gruße,


    wirklich ein sehr interessantes Kapitel. Du hattest ja erwähnt, dass du die Fendseeligkeiten zwischen den Häusern ein wenig abkühlen lassen willst. Ich hoffe allerdings, dass das irgendwann keine ZU friedlichen Dimensionen annimmt, denn ich habe ja schonmal erwähnt, dass ich ernste Rivalitäten sehr mag. Aber ich bin sicher, dass es noch genug pesönlichen Zwist geben wird, für den die Hausfarbe nicht herhalten muss. Von daher schadet es wohl nicht, wenn du die hitzigen Gemüter sozusagen unter die kalte Dusche stellst. Dass die Feindschaft bei den Jahrgangsälteren nicht so stark ausgeprägt ist, klingt ebnfalls logisch. Aber jetzt sag mal, hattest du es schon einmal erwähnt, dass Andy und Sarah einmal verschiedenen Häusern angehört haben ode hab ich das einfach vergessen?^^


    Haha, die alte zwei Schüler spielen Eltern und passn auf das Ei auf Kiste. Obwohl, irgendwie ist es ja doch was anderes, da in diesem Fall ein lebendiges Wesen aus dem Ei schlüpfen wird. Dennoch erkenne ich da eine Gemeinsamkeit. Naja, dass es bei den Paarungen Ärger geben wird, war ja abzusehen und - oh Wunder über Wunder - Eagle und Skip sind ein solches Paar. Das kann ja was werden.
    Bei Ray und Sonja bin auch aber auch ziemlich gespannt. Dass Sonja professionell und ernst an die Sache rangehen wird, ist ja klar, aber bei Ray bin ich mir etwas unsicher. Wird er gewohnt locker und leichtfüßig das Ei behüten oder wird er - da es ja um das Leben eines Pokémon geht - die Sache todernst nehmen. Wir kennen ja inzwischen beide Seiten von Ray und ich halte beide Optionen für möglich. Lasse mich einfach mal überraschen.


    Und zum Schluss folgt ein Schuss Benzin für das Spannungsfeuer. Ein neues Pokémon für jeden. Muss man noch was sagen, glaube nicht. Ich freue mich schon darauf, zu sehen, wer welches Pokémon bekommt und wie es sich in die Story einbauen wird.
    Da das Kapi nicht sonderlich lang war, ist´s mein Kommi auch nicht, aber immerhin isses mal rechtzeitig da.^^ Viele Grüße und schreib weiter so.


    Fly Eagle, fly

  • Part 5: Stoff zum Grübeln


    Im Vergleich zu seinen anderen Klassenkameraden fasste Skip die Kunde über den baldigen Pokémon-Zuwachs relativ gelassen auf. Kein Wunder, denn hatte er sich schließlich erst vor wenigen Tagen mit Bamelin, seinem eigens für ihn ausgesuchten Pokémon-Partner, angefreundet. Es stellte sich bei näherer Beobachtung des etwa einen halben Meter großen, zweischwänzigen Wiesels mit den zwei weißen Tupfern auf dem Rücken so heraus, wie die Professoren Skip mitgeteilt hatten: Bamelin teilte sehr viele der kleinen Eigenarten, die seinen menschlichen Gefährten auszeichneten: Kontaktfreudigkeit, Umgänglichkeit, Lebensfreude, und auch er schien eine gewisse Anziehungskraft zum Meer zu verspüren. Bereits nach dieser kurzen Zeit hatten Mensch und Pokémon eine schier unerschütterliche Beziehung zueinander aufgebaut, die keine Welle dieser Welt zu zerschmettern vermochte, geschweige denn, dass Skip jemals in seinem bisherigen Leben derartige Gefühle zuteil geworden waren oder sie jemals erwidert hatte. Es ließ sich einfach mit nichts auf dieser Welt vergleichen. Und nun sollte es offenbar weitergehen: Sollte Professor Joy kein Seemannsgarn spinnen, würde sich schon bald ein neues Mitglied ihrer Crew anschließen, die Familie somit wachsen. Skips Klassenkameraden wie auch vorbeiziehende Enteis und Raikous verfielen bereits auf dem Weg in Richtung der nächsten Unterrichtsstunde in hitzige Diskussionen, was man ihnen natürlich nicht verübeln konnte. Mit deutlich langsameren Schritten als üblich zögerte man das Unvermeidbare Sekunde um Sekunde weiter hinaus und nutzte diese wenigen Augenblicke für die altbekannten W-Fragen: Wann, wie, wo und warum; wobei gerade das „Warum“ von minderer Bedeutung war. Interessierte es doch schließlich reichlich wenig, warum die Dinge so waren wie sie waren. Es war einfach gut so und die Motive spielten keine Rolle, darin waren sich alle Beteiligten – gleichgültig, welche Farbe sie nun trugen – einig. Die frisch aufgesetzte Gerüchteküche und die hitzigen Diskussionen überschattete Professor Joys Eier-Geschichten bei weitem. Vor einer Woche hätten viele Schüler dem Leiheltern-Projekt sicherlich noch voller Erwartungen entgegengefiebert, doch wirkte es nun im Vergleich zu einem neuen Pokémon-Freund schon fast banal. Skip dagegen differenzierte nicht. Beide Projekte hatten einen gewissen Reiz und beide genossen daher seine vollsten Erwartungen. Zumindest aber was die Projektwoche anbelangte, so hielten seine Klassenkameraden einige gut gemeinte Empfehlungen für ihn bereit.
    „Wenn ich dir einen Rat geben darf: Halte dich besser von Granger fern. An dem wirst du dir nur die Finger verbrennen“, meinte Miles Cambell, kurz bevor er, Marco Haywood, Daniel Seel und Skip den Klassensaal für den Anfängerkurs in Pokémon-Training erreichten.
    Skip runzelte die Stirn, lächelte danach aber wieder leicht. Seine Hauskameraden schauten sich ernst an.
    „Hör einmal auf deine Kollegen“, sagte Marco eindringlich. „Mit dem ist echt nicht gut Kirschen essen.“
    „Macht Platz für die Haupthandlung!“ Wie es der Zufall wollte, bahnte sich Malcom Granger im selben Moment seinen Weg wichtigtuerisch und mit weiten Schritten mitten durch die Suicune-Gruppe hindurch und erreichte so noch vor ihnen den Saal.
    „Siehst du, was ich meine? Der ist nicht mehr ganz dicht“, zischte Miles in Skips Richtung und schaute dem aufgeblasenen Raikou böse nach.
    „Bange machen gilt nicht! Mit der Zeit werden sich die Wogen sicherlich glätten“, lachte Skip und entfernte sich nun ebenfalls mit weiten Schritten von seinen verdatterten Klassenkameraden.


    Der Unterricht für Pokémon-Training war weitaus anders, als es sich Skip vorgestellt hatte. Schon in seiner ersten Unterrichtseinheit, die ihm am Vortag zuteil geworden war, wurde er mit Lehrstoff in Hülle und Fülle regelrecht bombardiert. Es stand außer Frage, dass Professor Zarin Finch ein Meister seines Fachs war. Der Hauslehrer der Enteis kannte seine Prinzipien, hielt daran fest und niemand schien auch nur ansatzweise das Recht sie zu untergraben besitzen. Skip konnte nicht anders – er bewunderte diesen Mann für dessen eiserne Einstellung. Dennoch: Sagte man zwar gerne, dass die Theorie das Netz sei, das man auswirft, um die Welt einzufangen, wünschte sich Skip ein wenig mehr Abwechslung und somit die notwendige Praxis, die ihm im Gegensatz zu seinen Klassenkameraden fehlte. Ein Wunsch, der wohl ein Wunsch bleiben würden, so meinten zumindest Skips Kollegen, denn Professor Finch hatte noch nie seinen theoretischen Lehrpraktiken abgeschworen.
    „Es wird Sie wahrscheinlich interessieren“, begann Professor Finch am Ende seines üblichen Unterrichts, „dass mich Professor Cenra aufgrund Ihnen und insbesondere Mr. Faksen hier angesprochen hat.“ Es war keine scharfe Beobachtungsgabe erforderlich, um zu erkennen, dass nur noch die wenigsten Schüler nach den zwei äußerst umfangreichen Theorielehrstunden die notwendige Konzentration aufbrachten, um Professor Finchs melancholischer, fast schon einschläfernder Stimme zu folgen. Bei dem Klang von seinem Namen spürte Skip viele teils schläfrige, teils argwöhnische Blicke auf sich haften. Was aber seine Hauslehrerin mit dem Entei-Hauslehrer zu schaffen hatte, war ihm ein Rätsel; ein Rätsel aber, das sich sicherlich in den nächsten Sekunden auflösen würde. „Wir, der Lehrkörper, sind uns einig, dass wir Ihnen aufgrund gewisser Umstände noch mehr unserer Zeit widmen sollten.“ Für einen Wimpernschlag der Sekunde sah Professor Finchs nun deutlich in Skips Richtung. War er nun darüber zufrieden oder nicht? Professor Finch verstand es sehr gut, sein Temperament unter Kontrolle zu halten. „Da der Zeitplan meines planmäßigen Unterrichts jedoch keinerlei Spielraum für Unterbrechungen zulässt, haben wir uns darauf geeinigt, eine zusätzliche Stunde Unterricht für Sie dieses Wochenende abzuhalten, sofern es Ihre Zeit natürlich ... erlaubt.“
    Professor Finch wusste offenbar genau, warum er dem letzten Wort seines Satzes einen besonders öligen Klang gegeben hatte, denn den plötzlichen lautstarken Protesten zu urteilen, erlaubte die Zeit eben dies nicht. Die ganze Klasse schien plötzlich aus ihrer dösigen Schläfrigkeit erwacht zu sein und hatte nahezu ausnahmslos feindliche Gefühle gegenüber diese gut gemeinte Geste des Lehrkörpers übrig. Skip selber fühlte sich als offenbarer Urheber des Streits zwischen den beiden Fronten gefangen. Er konnte beide Parteien verstehen und wusste daher zum ersten Mal weder ein noch aus. Professor Finch machte einmal wieder deutlich, dass er sich auf keinerlei Diskussion einließ. Eine kurze, aber kräftige Aufforderung der Ruhe sorgte für die Rückkehr seiner Autorität. Die bösen Blicke allerdings, die zwischenzeitlich auch teilweise Skip galten, konnte er damit nicht zum Schweigen bringen. „Wenn Sie zusätzlichen Lehrstoff als Strafe ansehen, so sind Sie schlecht damit beraten, hier an dieser Schule weitere Ihrer kostbaren Zeit zu verschwenden. Wer dieser Meinung ist, dem steht es frei zu gehen. Sie kennen den Weg nach draußen.“
    Einigen sah man deutlich den inneren Konflikt auf das Gesicht gemeißelt und den Drang nach Widerworten auf der Zunge brennend, doch wagte keiner, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen.
    Professor Finch zeigte die Spur von Zufriedenheit, dennoch fuhr er mit seiner gewohnten einschläfernden Stimme fort. „Insbesondere um Sie, Mr. Faksen“, erneut lasteten ein Großteil der Blicke auf Skip, „auf die gleiche Wellenlänge mit Ihren Mitschülern zu bringen, werden Sie sich alle morgen um 14:00 Uhr vor dem Haupteingang der Schule einfinden.“
    Die in der Luft liegenden Gefühle schwenkten so schlagartig um, dass es einem jeden förmlich den Wind aus den Segeln nahm.
    „Vor der Schule, Professor?“, fragte Linsey Mac Cullen vorsichtig nach, die als erstes wieder ihre Sprache fand.
    „Vor der Schule“, antwortete Professor Finch. „Auch wenn es außerplanmäßig geschieht, werden Sie alle sicherlich von dieser Form des Unterrichts profitieren.“
    „Das - das heißt ...“
    „Sie haben richtig gehört: Praxisunterricht.“

  • Part 6: Fortgeschrittene Verteidigungstechniken für Anfänger



    Unterricht am Samstag ... Undenkbar, dass man sich darauf freuen konnte; nicht aber unmöglich. Tatsächlich begegnete ausnahmslos jeder Schüler der Grundstufe diesem unverhofften Lernvergnügen begierig. Der Großteil steckte hohe Erwartungen in die erste praktische Unterrichtsstunde. Auch wenn Professor Finch nicht unbedingt den Ruf genoss, die Köpfe seiner Schüler mit brauchbaren Informationen zu füllen, so war man dennoch der festen Überzeugung, dass dieser Samstag über drei Monate theoretischen Unterricht aus dem Gedächtnis ausmerzen und mit wirklich realitätsnahem Wissen ersetzen würde. Der allseits umstrittene Skip Faksen wurde plötzlich als der Held der Stunde gefeiert, auch wenn keiner, nicht einmal er selbst, wusste, wie es dazu kam. Ihm war es zu verdanken, er hatte das Unmögliche möglich gemacht: Finch, der selbstgekrönte Hypothesenkönig, Heilmittel einer jeden schlaflosen Nacht, Manifestation des Spruches „Theorie ist, wenn man alles weiß, aber nichts funktioniert“, war gestürzt. Sicher - es war nur eine Frage der Zeit, bis er sich aus der noch schwelenden Asche neu formte, er sein in Trümmern liegendes Bollwerk der Unterdrückung Stein für Stein wieder zusammensetzte und seine Zahlentyrannei wie ein unaufhaltsamer Waldbrand erneut über die Schüler hinwegfegte. Mit der Aussicht aber auf den bevorstehenden Samstag lag der Zeitpunkt von Finchs Wiederauferstehung noch in weiter Ferne.


    Die letzten drei Stunden des Tages zogen erwartungsgemäß ereignislos vorüber. Ohnehin hatte die erste Woche nach den Herbstferien für mehr als genug Aufregung gesorgt, als dass noch irgendetwas jemanden erschüttern hätte können.
    Der Freitag ging, der Samstag kam. Wer nicht vorschnell auf den pünktlich zum Wochenende eintreffenden Hausaufgabenzug aufsprang, den lockte das schöne Wetter auf das Schulgelände, lotste eine wildgewordene Kugel durch einen der Flipperautomaten im Schülertreff, stattete dem beschaulichen Örtchen Green Ville - nördlich der Schule - einen Besuch ab oder verstrickte sich womöglich gerade mit seinen anderen Grundstufen-Kollegen in Widersprüche bezüglich der vier großen Streitthemen der Woche: Skip Faksen, das Pflegeeltern-Projekt, Praxisunterricht mit Finch und den Pokémon-Zuwachs. Zumindest zwei dieser vier heiklen Themen kamen mit dem Anbruch der Mittagszeit nahezu zum Erliegen. Wohl oder übel hatten die meisten Grundstüfler zwischenzeitlich ihren Seelenfrieden mit dem etwas eigentümlichen Suicune Skip Faksen geschlossen. Bei wem dies nicht der Fall war, der wahrte Skip gegenüber beträchtliche Distanz oder aber schwang mit seinen Kollegen die üblichen zänkischen Hassparolen hinter dessen Rücken.
    Der unermüdlich tickende Sekundenzeiger erlaubte dagegen der Finch-Thematik gar keinen Spielraum mehr für weitere Spekulationen, denn war mit dem Abklingen der frühen Mittagszeit der ersehnte Augenblick, die Stunde der Wahrheit, gekommen. Am vereinbarten Treffpunkt hatten sich mit Rays, Sonjas und Eagles Ankunft um etwa 13:45 Uhr bereits kleinere Grüppchen sämtlicher Häuser versammelt. Auch die beiden Professoren Finch und Cenra waren bereits vor Ort und führten, etwas abseits ihrer Schüler, einen Dialog untereinander. Skip Faksen, der ebenfalls mit seiner Anwesenheit glänzte, winkte die Raikou-Neuankömmlinge freudig zu sich und seinen Hauskameraden herüber. Ihnen (Eagle sonderte sich an diesem Wendepunkt der Dinge von Ray und Sonja ab) schlossen sich mehr und mehr vereinzelte Schüler aller drei Häuser an, bis ein jeder irgendwann die Übersicht darüber verlor, mit wem er oder sie gerade einen Plausch hielt, denn nur die wenigsten unter ihnen hielten es am Wochenende für zweckmäßig, eine Uniform zu tragen, und waren aus diesem Anlass in zivil unterwegs.
    „Ach ja, ich wollte mich noch bedanken.“
    Skip erwiderte den von Ray angebotenen Handschlag, doch legte er sein Gesicht in Falten. „Hm, wofür?“
    „Für deine kleine Revolte natürlich. Noch nicht einmal eine Woche bist du hier und schon steht die Welt Kopf. Das soll ein Kompliment sein. Ich hätte es nicht besser gekonnt“, lächelte Ray. „Seit du hier bist, wendet sich irgendwie alles zum Besseren. Manches ändert sich zwar nie, aber“, Ray wandte sich in Eagles Richtung. Er und Rico Tarik, der sich mit seinen Kumpanen ebenfalls etwas von der kunterbunten Schüleranhäufung abgesondert hatte, tauschten ihre üblichen Komplimente in Form von verächtlichen Blicken aus, „was du bislang bewirkt hast, grenzt an ein Wunder.“
    Skip konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Es war eigentlich nicht meine Absicht“, sagte er wahrheitsgemäß, „aber natürlich freue ich mich, dass die Dinge durch mich ins Lot kommen.“
    „Das ist untertrieben“, entgegnete Ray. „Wenn man sich vor Augen hält, was alles auf uns zukommt: Die Projektwoche, neue Pokémon, und man stelle sich nur einmal vor - Praxisunterricht mit Finch!“ Ray sinnierte einen Moment und führte sich all diese Dinge vor das geistige Auge. „Du scheinst Glück zu bringen.“
    Nicht wenige, die dieses Gespräch bis zu diesem Punkt belauscht hatten, nickten zustimmend, was Skips Lächeln nur noch weiter speiste. „Du übertreibst“, winkte er amüsiert ab.
    „Keineswegs!“, stritt Ray dagegen ab. „Sag es ihm, Madelene. Siehst du? Ohne dich wüsste ich noch nicht einmal ihren Namen – nimm es nicht zu persönlich, ja?“, sagte er abschließend an Madelene West, einer von Skips Hauskameradinnen, gewandt, die er, noch bevor sie ihren Mund aufgemacht hatte, rüde unterbrochen hatte.
    „Beruht auf Gegenseitigkeit“, sagte sie kurz angebunden. „Wobei du natürlich durch das Turnier schon Rang und Namen hast.“
    „Turnier?“, hakte Skip neugierig nach. „Welches Turnier, wenn man fragen darf?“
    „Stimmt, das weißt du ja gar nicht. Das war nämlich ...“
    „Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit, meine Damen und Herren.“
    Selbst am Wochenende und unter dem unendlichen Himmelszelt hatte die bekannte einschläfernde Melancholie Professor Finchs Stimme nicht verlassen. Sämtliche noch so fröhliche Unterhaltung war binnen weniger Sekunden ausgemerzt. Wenn es Ray nicht besser wüsste, hätte er nun, wie es für ihn üblich war, seine Ohren auf Durchzug gestellt und den lieben Herrn Professor seinen Vortrag halten lassen. Doch dieses eine Mal – das wusste er – musste er dem einschläfernden Einfluss von Finchs Stimme widerstehen, koste es, was es wolle. Der Grundbaustein für dieses heillose Unterfangen schien dummerweise auf einer porösen Sandbank zu stehen: Die beiden Professoren begannen mit der stumpfsinnigen Lebensaufgabe, die Anwesenheit zu überprüfen. Das Mittagessen lag träge im Magen und die warme Sonne am fast wolkenlosen lud regelrecht zu einem Schläfchen im flachen Gras ein. Alles auf dieser Welt, so kam es Ray auf jeden Fall vor, war in diesem Moment deutlich besser, als hier auszuharren und das Ungewisse abzuwarten.
    Pünktlich zur Nennung seines Namens rüttelte Sonjas vertrauter Ellenbogenstoß Ray grob aus dem Wachschlaf. Mit ihm und seinem Nachfolger, Nicholas Vance, endete schließlich die Volkszählung und mündete dafür in eine kleine Wanderung. Frei nach dem Motto: Nach dem Essen sollst du ruh’n oder tausend Schritte tun. So hatte sich aber wohl niemand ihren ersten Praxis-Unterricht vorgestellt. Tatsächlich warteten einige Schüler scherzeshalber nur noch die Ankunft von Professor Armadis ab, von dem man glaubte, Finch und Cenra wollten mit dem Marsch ins Blaue ihrem Kollegen nacheifern. Die ersten rüden und deutlich missgestimmten Flüstereien lösten schon bald das heitere Geplapper zwischen den Schülern ab. Dennoch folgte man brav den beiden erwachsenen Führern, auch wenn das Tuscheln immer mehr das Geräusch eines wütenden Bienenschwarms annahm. Vielleicht bemerkten Professor Finch und Cenra dies, denn wurden ihre Schritte langsamer, bis sie gänzlich zum Stillstand kamen; vielleicht aber hatte man das Ziel tatsächlich erreicht. Platz, um die erste Praxis-Unterrichtstunde gebührend zu zelebrieren, bot die flache Grasebene südöstlich des Schulgebäudes auf jeden Fall. Auch die letzten Nachzügler erreichten schnell den Versammlungsort. Ray, wie auch die meisten anderen seiner Mitschüler, starrten gebannt ihren Lehrern entgegen. Professor Finch tat einen Schritt auf seine Studenten zu.
    „Wie ich Ihnen bereits am gestrigen Tage mitgeteilt habe“, begann Professor Finch und klang dabei nicht weniger einschläfernd, als er es vor einer Kreidetafel bereits unzählige Male bewiesen hatte, „haben sich Professor Cenra und ich darauf geeinigt, Ihnen eine Sonderstunde in Sachen praktische Verteidigung zugutekommen zu lassen. Das Turnier, an dem sich einige von Ihnen mehr oder weniger erfolgreich beteiligt haben, hat uns einen expliziten Eindruck über Ihren aktuellen Wissensstand vermittelt. Er entspricht in etwa der Norm.“
    Ein Wunder keineswegs, dass ausgerechnet diese Worte aus Professor Finchs Mund kamen. Komplimente oder gar ein Lob hätte man ohnehin niemals von ihm erwartet, allerhöchstens das Gegenteil. Es gab nur wenige handverlesene Auserwählte, die sich damit – oder auch nicht – glücklich schätzen konnten, zu Finchs privilegierten Lieblingsschülern zu gehören. Darunter gehörten natürlich insbesondere die Schüler seines Hauses wie auch einige wenige, die seinem gehobenen Standard gerecht wurden, so beispielsweise Logan Sokol vom Suicune-Haus, der bislang noch die schwierigste von Professor Finch aufgestellten Gleichungen zu lösen vermocht hatte.
    „Nichtsdestotrotz haben Sie sich alle gut geschlagen“, fuhr Professor Cenra fort. Auch wenn sie nicht weniger große Erwartungen an ihre Schüler stellte, konnte man dennoch deutlich mehr Sympathie aus dem Klang ihrer Stimme heraushören. „Nicht verborgen blieb dabei die Erkenntnis, dass sie in den wenigen Monaten, die Sie bereits mit Ihrem Pokémon-Partner verbracht haben, ein Netz aus Vertrauen, Verständnis und Achtung untereinander geknüpft haben sowie es auch mittlerweile verstehen, in einem Kampf mit- und untereinander zu agieren.“
    Ein Großteil all derjenigen, die ihren bescheidenen Anteil zum Turnier beigetragen hatten, tauschten Blicke. Das Lob der Suicune-Hauslehrerin ging sofort in Mark und Bein über. Auch für Ray einen Anlass, sich all die überwältigenden Ereignisse des Turniers wieder in Gedanken aufzurufen. Professor Finch aber duldete nur einen kurzen Moment des in Erinnerungen Schwelgens und brachte die Tagträumer schnell wieder mit niederschlagenden Argumenten auf den harten Boden seiner Tatsachen.
    „Gleichzeitig war für das geschulte Auge aber auch sichtbar, dass Sie zwar alle Situationen recht schnell einschätzen konnten, die Bilanz Ihrer Beobachtung allerdings nicht immer den gewünschten Erfolg beherbergte“, sagte Professor Finch. „So wie in allem, was wir tun, bestimmen Variablen auch in Kämpfen unser Denken und Handeln. Die Konsequenz unseres Ermessens entscheidet über Erfolg oder Misserfolg. Ergo bilden wachsame Beobachtung und das darauffolgende Fällen der richtigen Entscheidung die Schlüsselelemente für das wünschenswerte Ergebnis. Wer kann mir sagen, auf was ich hinaus will? Mr. Sokol?“
    Wie üblich war Logan Sokols Hand bereits mit dem Abbruch von Professor Finchs Stimme in die Höhe geschnellt. Kein anderer seiner Mitschüler hatte es ihm gleich getan, was nach über drei Monaten mit Professor Finch keinen wirklich mehr zum Erstaunen brachte.
    „Das heißt, wir müssen uns im Klaren sein, wann der Zeitpunkt zum Erwidern eines Angriffs ist und wann nicht.“
    „Das ist richtig“, sagte Professor Finch und schenkte seinem Schüler ein anerkennendes Nicken.
    „Es wird immer wieder Momente geben“, fuhr Professor Cenra fort, „in denen es nicht ratsam oder vielleicht sogar völlig aussichtslos ist, einer gegnerischen Offensive durch ein vorschnelles Ausweichmanöver zu entrinnen. Es gab bei besagtem Turnier einige dieser Momente, die den ein oder anderen unter Ihnen durch die falsche Auffassung der Dinge den Sieg gekostet hat. Anstelle eines Abblockens einer gegnerischen Attacke entschieden Sie sich zur Flucht, was oftmals fatale Folgen mit sich trug. Professor Finch und ich möchten Ihnen nun das Kontern von gegnerischen Handlungen veranschaulichen.“


    Dies war einer der Momente, denen Ray begierig entgegengefiebert hatte. Professor Finch und Cenra gaben erstmalig die Bühne für ihre Pokémon frei. So unterschiedlich die beiden Pokéballwürfe waren, so unterschiedlich waren auch die Gestalten, die im grellen Licht langsam ihre Formen annahmen.
    Das von Professor Cenra heraufbeschworene Pokémon, das ihrer Trainerin kaum bis zur Hüfte reichte, zollte der Menschenfrau - mit stolz verschränkten Armen - durch einen kleinen Knicks ihren Respekt. Die lichtblaue Farbe des seidenglatten, fast unsichtbaren Schuppenpanzers, Schwimmhäute zwischen den kurzen Fingern, der ruderähnliche Schwanz und die beiden Muscheln, die die Oberschenkel des Pokémons zierten, ließen Skip laut vermuten, dass es sich hierbei um ein Geschöpf des Wassers handeln musste. Der strenge Blick im Gesicht des Pokémons stand ihrer Trainerin in nichts nach. Während sie die Menschenmenge vor sich argwöhnisch musterte, zupfte sie sich die glanzvollen Schnurrhaare im Gesicht zurecht. Dabei erlaubte Professor Cenras Gefährtin erstmals einen kurzen Blick auf einen – sofern sich Ray nicht gewaltig täuschte – schlichten Schmuckstein, den sie um den Hals trug.
    Professor Finchs Partner dagegen war von eindrucksvoller Statur. Er überragte den Mensch neben ihm ein gutes Stück und auch was die Breite anbelangte, war Finch keine ernsthafte Konkurrenz für das stattliche Pokémon. Auch er stand in Sachen Körpersprache mit wichtigtuerischem Blick und strammer Haltung dem Meister der Zahlen in nichts nach. Sein prächtiger, wallender Schnauzbart, der von selber goldgelber Farbe wie der Rest seines Körpers war, schien durch eine unvorstellbare Macht in der völlig regungslosen Luft zu schweben. Die kleinen, starren Augen schweiften über die Menschenmenge. Er blinzelte kein einziges Mal. Wie Professor Cenras Gefährtin führte auch er Gegenstände mit sich, die Ray in der Obhut eines Pokémons niemals vermuten würde: zwei hausgebräuchliche Löffel, einen in jeder Hand.
    „Erlauben Sie die Frage, Professor, aber warum diese Löffel? So etwas ist mir völlig neu.“
    Hätte die Entei Sophie Graham dieser Frage nicht gestellt, hätte es Ray oder einer der vielen anderen seiner Mitschüler getan, denen diese Frage ebenso auf der Zunge brannte.
    Professor Finch hob eine Augenbraue, ansonsten entblößte sein Gesicht keine emotionale Regung. „Tatsächlich ist es außerhalb der Regel, dass Pokémon Gegenstände mit sich führen, nicht aber völlig abwegig. Kann mir jemand einige Beispiele nennen? Sie vielleicht, Mr. Faksen?
    „Da muss ich leider die Segel streichen, Professor“, gab Skip frei von der Leber zu und schüttelte seinen Kopf. „Ich bin ja viel bisher umher gekommen, das aber ist Neuland für mich.“
    „Jemand anderes vielleicht?“, fragte Professor Finch nun in die Runde.
    Einige wenige meldeten sich – viele unter ihnen recht zögerlich. Einzig Logans Hand war schnell wie eh und je oben.
    „Mr. Granger?“
    „Also, ich habe mal von einem Flug-Pokémon gehört, das man nur selten ohne eine Lauchstange sieht. Porenta oder so ähnlich ...“, sagte Eagle.
    Einige lachten. Eagle machte einen äußerst grimmigen Gesichtsausdruck, als würde er es bedauern, den Mund aufgemacht zu haben.
    „Eine Lauchstange? Ernsthaft? Suppengemüse für unterwegs oder was?“, lachte auch Ray.
    „Keine falsche Scham, Mr. Granger“, sagte Professor Cenra beipflichtend. „Sie haben in allen Punkten Recht. Porenta nutzen vorliebsweise wilden Lauch als Werkzeug, Nahrungsquelle, Nistmaterial und sogar als Waffe.“
    „Bringt im Kampf jeden damit zum Weinen“, kicherte Ray leise in Sonjas Richtung. Auch sie ließ sich ein Glucksen nicht nehmen.
    „Noch jemand? Mr. Sokol?“, wandte sich Professor Cenra nun an Logan, der keine Sekunde seine Hand gesenkt hatte.
    „Tragosso vom Typ Boden wie auch seine Weiterentwicklung nutzen die Gebeine verstorbener Kreaturen als Werkzeug und auch als Waffe. Der Einsatz dieser unkonventionellen Waffe ermöglicht ihnen sehr spezielle, für dieses Spezies typische Angriffsmuster.“
    „Auch Sie haben völlig Recht, Mr. Sokol“, lobte Professor Cenra ihren Schüler. Offenbar hatte Logan kein Detail außer Acht gelassen, denn ergänzte keiner der beiden Professoren seine Aussage mit weiteren Einzelheiten. „Auf unserer Welt wandeln noch weitere Pokémon, die ähnliche Verhaltensmuster aufweisen, zum Beispiel auch Zwottronin hier.“ Wie auf Geheiß pflückte Professor Cenras Partnerin eine der beiden sandgelben Muscheln von seinem Körper, ließ sie spektakulär durch die Luft tanzen, bevor sie sie unter dem ehrfürchtigen Raunen der Zuschauer auffing und wieder sorgfältig an ihren Körper versah. „Wie von Ihren Kollegen bereits richtig erwähnt, werden diese Gegenstände in den Händen ihrer Besitzer für alltagsgebräuchliche Anlässe verwendet, aber auch für äußerst ungewöhnliche Angriffs- und Verteidigungsmuster.“
    „Auch dieser Stein da?“, fragte Serina King und deutete auf das Schmuckstück um Zwottronins Hals.
    Professor Cenra negierte diese Frage mit einem Kopfschütteln. „Das ist ein anderes Thema; ein Thema, das wir aber nicht heute erläutern werden.“ Sie wandte sich nun von der Menge ab und somit an ihren Kollegen. „Beginnen wir, Professor?“

  • Part 7: Eine Demonstration der Stärke



    In alter Duellier-Manier hatten sich die beiden Professoren Finch und Cenra in etwa fünfzehn Meter Entfernung zueinander aufgebaut; ihre beiden Pokémon-Partner vor sich. Die Schülerhorde hielt sich im gebührenden Abstand zu den Duellanten auf. Ausnahmslos jeder von ihnen ließ die Bilder der beiden Lehrer, die sich - von ihren Pokémon vertreten – jeden Moment in den Kampf stürzen würden, auf sich wirken. Die Atmosphäre war geradezu beängstigend. Es bestand in Rays Vorstellungsvermögen kaum Raum dafür, was in wenigen Augenblicken wohl geschehen würde. Ohnehin war es fast unbegreiflich, wie sich diese beiden Erwachsenen, die man in den letzten Monaten hassen und lieben (in Finchs Fall insbesondere hassen) gelernt hatte, sich plötzlich mit Feuer und Flamme in einen turbulenten Pokémon-Kampf stürzen konnten. Als Ray den Zahlenkönig in der ersten seiner Unterrichtsstunden kennengelernt hatte, hatte er noch nicht einmal geglaubt, dass Finch tatsächlich in seinem Aktenkoffer oder in seinem Nadelstreifenanzug Platz für solch triviale Dinge wie Pokébälle verschwenden würde. Und doch war er nun hier und so auch sein Partner, ebenso Professor Cenra und Zwottronin. Die in der Luft liegende Spannung war beinahe greifbar. Rays Augen wurden langsam trübe, denn er wagte nicht ein einziges Blinzeln, und falls es ihn nicht täuschte, war es bei all seinen umstehenden Schulkameraden ebenso der Fall.
    „Wir werden Ihnen nun das Abblocken von zwei Schadensklassen demonstrieren: physisch und speziell“, erklärte Professor Cenra. „Geben Sie sorgfältig Acht, wir geben nur eine Demonstration.“ Sie richtete sich von ihrem Publikum ab und somit wieder ihrem Gegner zu. „Aquaknarre, Zwottronin!“
    Die Worte hatten kaum Professor Cenras Mund verlassen und schon formte Zwottronin den schlichten Wunsch in eine handfeste Tat um. Ray lief es eiskalt den Rücken hinunter. Nicht aber von der unglaublichen Kälte, die von Zwottronins Manöver ausging. Aquaknarre gehörte zu den grundlegendsten Fähigkeiten der Wasser-Pokémon, soviel wusste selbst Ray, der allerdings bislang noch keine Gelegenheit bekommen hatte, eines jener Pokémon zu trainieren. Die Art aber, wie Zwottronin die Macht des Wassers heraufbeschwor, war mit keinem zuvor gesehenen Angriff dieser Art vergleichbar. Zwottronin rammte mit aller Kraft seine Füße in den Boden, um nicht selbst von der gewaltigen Wucht des Rückschlags der Wasserfontäne, die sich direkt aus seinem Rachen entfesselte, umgeworfen zu werden. Trotz dieser Sicherheitsvorkehrungen vibrierte der ganze Körper des Pokémons heftig. Die Beine vermochten kaum noch ihre Besitzerin zu tragen und bebten bedrohlich; so auch der Stein um Zwottronins Hals, der wild auf seiner Brust auf und ab wippte. Der Wasserschwall verlor während des freien und völlig geradlinigen Flugs keinen Augenblick an Durchschlagskraft und setzte seinen zerstörerischen Weg in direkter Richtung zu seinem regungslosen Gegner fort.
    „Psystrahl, Simsala!“
    Erst im vielleicht letzten Moment ließ Professor Finch seine Fassung endlich fallen. Der unaufhörlich sprudelnde Geysir aus Zwottronins Rachen hatte fast seinen Bestimmungsort erreicht, als Finchs Partner, der auf den Namen „Simsala“ hörte, seine rechte Hand in die Höhe riss und mit einem eigenen Manöver den Angriff seiner Gegnerin parierte. Blaues, eiskaltes Wasser prallte kraftvoll auf eine farbenprächtige Woge, die aus reiner mentaler Energie zu bestehen schien und sich direkt aus einem von Simsalas Löffeln manifestierte. Mit schlichteren Worten konnte es sich Ray selbst nicht erklären, mit was Simsala seiner Widersacherin Paroli bot. Das Wasser spritzte in alle Himmelsrichtungen, während es durch den Psystrahl immer weiter zu seiner Besitzerin zurückgedrängt wurde. Auf halben Weg aber erstarben beide Urgewalten. Simsalas wie auch Zwottronin ließen voneinander ab.


    Hängende Kiefer und atemberaubendes Schweigen hielten einige Sekunden ihren Einzug, bis einige Schüler in begeisternden Applaus verfielen, dem sich, Augenblicke später, ein Großteil ihrer Mitschüler anschlossen.
    „Wie Sie sicher unschwer erkennen konnten“, begann Professor Finch, woraufhin der Applaus schlagartig verebbte, „wäre ein Ausweichmanöver in diesen Moment ein aussichtsloses Unterfangen gewesen. Das Abblocken des Angriffs war die einzig rationale Entscheidung, die man in diesem Fall hätte treffen können.“
    „Beide gezeigte Manöver beruhten auf sogenannten ,speziellen Angriffstypen’“, erklärte Professor Cenra. „Sie formen sich meist aus elementaren Kräften und stellen in der Regel keinen direkten Körperkontakt zu dem Gegner her. Das Pendant dazu sind die ,physischen Angriffstypen’. Professor, auf ein Neues.“
    Beide Lehrer wandten sich wieder von ihren Schülern ab. Der Status quo blieb nicht lange erhalten – diesmal lud Professor Finch zum Tanz ein.
    „Psychoklinge!“
    Abermals hob Simsala seine rechte Hand, nun aber zum Angriff und nicht zur Verteidigung. Auch trug dieses Manöver eine völlig andere Handschrift als sein letzter Angriff. Der Löffel, mit dem Simsala vor wenigen Minuten noch die Kraft seiner Gedanken in Form eines Strahls gebündelt hatte, wurde von einem gleißenden azurblauen Licht verschlungen. Sekunde um Sekunde nahm der Lichtpegel immer weiter zu, bis er eine stattliche Größe von etwa einem Meter hatte. Voll ausgewachsen hatte das Gebilde, das Simsalas Hand fest umschlossen hielt, nichts mehr mit einem Löffel gemein; vielmehr wirkte es nun fast wie ein blitzender Säbel. Mit polternden Schritten, hoch erhobener Klinge und in der aufgepeitschten Luft wallendem Schnauzbart näherte sich Simsala seiner ihm körperlich deutlich unterlegenen Gegnerin. Wie auch bei dem letzten Angriff zuvor, harrte die verteidigende Partei bis zum wirklich allerletzten Augenblick für den Gegenzug aus. Simsala näherte sich weiter, nur noch wenige Meter trennten ihn von seinem vermeintlich wehrlosen Opfer, das Schwert schnellte herab ...
    „Kalkklinge!“
    Sonja quiekte ängstlich auf und zuckte neben Ray, dem hingegen der Atem stockte, zusammen. Andere ihrer Mitschüler stimmten in ein fasziniertes Aufstöhnen ein, das allerdings von dem Klang zweier aufeinanderprallender Klingen völlig überstimmt wurde. So wie man ein Schwert aus der Scheide riss, hatte Zwottronin seine beiden, plötzlich in blaue Flammen gehüllten Muscheln gezogen und parierte mit eisernem Willen die scharfe Klinge ihres Gegners. Zähneknirschend und doch vergebens bemühte sich Simsala, seine Waffe gegen die widerspenstige Kreatur, die ihm nur knapp über die Knie reichte, zu führen. Die beiden Muscheln in Zwottronins Händen loderten auf und drückten die Schneide des Scharfrichters immer weiter zurück. Mit einem erschöpften Schrei und einem noch kräftigeren Ruck stieß Zwottronin schließlich und endlich Simsala von sich weg. Die Vorführung war beendet.


    Mit nicht weniger Applaus als bei der ersten Vorstellung wurde diesem Auftritt Respekt gezollt. Das erste Gefühl hatte nicht die Unwahrheit über die furchteinflößende Stärke beider Pokémon und so auch die Erfahrung ihrer menschlichen Gefährten gesprochen. Das war es, dieser Grund zweckte die Schuld daran, warum Ray überhaupt diese Schule besuchte: Um irgendwann auf diesen Stand zu kommen, diesen Mut, diese Stärke und Selbstsicherheit zu besitzen und dieselbe Bindung zu Sheinux aufzubauen, wie es bei den Professoren Finch und Cenra und deren Partnern der Fall war.
    „Physische Attacken beruhen auf körperliche Stärke und stellen meist direkten Körperkontakt mit dem Gegenüber her. Auf engstem Raum lassen sie deutlich weniger Handlungsspielraum des Gegenübers zu und sind deutlich schneller auszuführen als spezielle Attacken. Auf Distanz hingegen ist das Angriffsmuster leicht zu durchschauen und erlaubt der Gegenpartei wertvolle Sekunden der Überlegung“, erklärte Professor Finch und fuhr auch gleich fort. „In Relation bei einem Kräftemessen sind beide Schadensklassen nahezu identisch: Wille, Körper und Geist werden bis an die Grenzen getrieben. Geschick, die Auffassung der Dinge, aber auch Stärke entscheiden letztendlich über den Ausgang. Merken Sie sich dies.“
    „Es ist durchaus möglich, einen speziellen Angriffstyp durch einen physischen zu kontern und umgekehrt. Nicht aber immer wird dieses Vorhaben von Erfolg gekrönt sein. Hierzu bedarf es eifrige Studien und eigene Erfahrung. Miss Mac Cullen und Mr. Valentine werden uns das demonstrieren“, sagte Professor Cenra und winkte die beiden verdutzt dreinblickenden Raikou-Schüler zu sich heraus.


    „Wenden Sie das Gelernte an.“ Das war der Wunsch Professor Cenras, als sich Ray und Linsey voreinander aufgebaut hatten und Sheinux und Marill zu sich auf die Bühne riefen. Das ging sogar für Rays Geschmack etwas zu schnell. Das Gelernte in die Tat umsetzen? Irgendwie hatte er nicht einmal die Hälfte von dem Vortrag der beiden Professoren verstanden. Lediglich das, was ihm wichtig vorkam, konnte er sich aus dem Kurzzeitgedächtnis abrufen: Zwei unglaubliche Mächte, die gegeneinander geschmettert wurden, und die beiden energiegeladenen Schwerter, die wie bei einem mittelalterlichen Turnierkampf aufeinandergeprallt waren. Wie sollte er diese Glanzleistung nun wiederholen? Er betrachtete seinen kleinen vierbeinigen Freund vor sich. Sheinux zwinkerte ihm zu. Ray musste lächeln. Mensch und Pokémon glaubten an einander. Einen weiteren Entschluss, den er fassen müsste, brauchte Ray nicht.
    „Bühne frei für uns! Funkensprung!“, verkündete Ray hochtrabend.
    Sheinux galoppierte los. Die weiten, zielstrebigen Sprünge in direkter Konfrontation zu Marill wurden von hell aus seinem Fell aufflackernder Blitze wie auch von einem ungezügelten Kampfschrei begleitet. Ihre Gegnerin reagierte.
    „Wehr ihn ab! Aquaknarre!“
    Marills Aquaknarre hatte nur wenig mit der prachtvollen Wasserfontäne gemein, die in der Demonstration zuvor von Zwottronin eingesetzt worden war; Marills Präsentation wirkte dagegen geradezu bedauerlich. Und dennoch besaß sie sicherlich genug Wucht, um Sheinux aus dem Weg zu fegen, das war Ray klar. Aber ausweichen durfte er nicht. Er musste den Angriff kontern, nur wie? Zum Haare raufen blieb ihm keine Zeit, er musste eine Entscheidung treffen, jetzt!
    Es kam, wie es kommen musste: Sheinux und der sich rasch nähernde Wasserschwall prallten aufeinander. Die ungezügelte Kraft des Wassers riss Sheinux sofort beim Kontakt von den Beinen und spülte ihn direkt in Rays ausgebreitete Arme. Durch die Wucht von der Macht des Wassers verlor auch Ray das Gleichgewicht. Er presste das durchgeweichte Fellbündel, von dem pausenlos Stromschläge auf ihn übergingen, an seinen Körper, bis ihn der Druck des unaufhörlich sprudelnden Wassers ebenfalls von den Beinen riss und er schreiend auf dem Hosenboden landete. Doch auch Marill war nicht unbeschadet davongekommen. Die elektrische Spannung in dem aufgeladenen Wasserstrom hatte sich sekundenschnell den Weg zu der Quelle gebahnt und dem Pokémon einen niederschmetternden Stromschlag verpasst, was Marill daraufhin ebenfalls rücklings von den kurzen Beinen warf.
    Nicht wenige Schüler lachten, und auch Ray – triefend, vor Kälte bibbernd und gleichzeitig noch hin und wieder durch die Restelektrizität in seinen Gliedern zuckend – schloss sich schnell in das Gelächter ein. Sheinux befreite sich auf typischer Pokémon-Manier von überflüssiger Feuchtigkeit und besprenkelte dabei sämtliche von Ray zu Hilfe eilenden Freunde mit Wasser - und auch Professor Cenra.
    „Sind Sie unverletzt?“, fragte Professor Cenra mit süßsaurer Stimme und schaute auf die beiden begossenen Pudel herab.
    „Seit ich hier in diesem Irrenhaus sein darf, kann mich gar nichts mehr schocken“, grinste Ray. Skip half ihm derweil wieder auf die Beine.
    „Wenn Sie wollen, dürfen Sie gehen und sich neu einkleiden. Wir werden aber mit dem Unterricht dennoch fortfahren“, sagte Professor Cenra.
    „Nööh! Wird schon gehen“, erwiderte Ray trotzig und schloss sich wieder den Reihen der Schüler an.
    Professor Finch, der Marill und Linsey umsorgt hatte (Linsey war noch einmal mit dem Schrecken davon gekommen, Marill dagegen musste in ihren Pokéball zurückkehren), meldete sich zu Wort. „Es vergeht kaum ein Jahr, in dem sich das von Ihnen eben gesehene Bühnenbild nicht wiederholt. Mr. Valentines Versuch, den Angriff seiner Gegnerin durch seinen eigenen zu entgegnen, ist buchstäblich ins Wasser gefallen.“ Ob es nun von Finch beabsichtigt war oder nicht – erstmalig mussten Schüler über eine seiner Ausfertigungen lachen. Er selbst aber verzog keine Miene. „Woran könnte dies wohl liegen? Irgendjemand?“ Er schaute sich um. „Miss Blair?“, rief er schließlich Hannah Blair auf, die sich zögerlich meldete.
    „Vielleicht, weil Aquaknarre zu den speziellen Angriffen gehört und Funkensprung zu den physischen?“, antwortete sie verunsichert.
    „Könnte man meinen, leider aber nicht ganz richtig, wie ich vor wenigen Minuten erläutert habe“, verneinte Professor Cenra. „Es wäre falsch, würde ich nun behaupten, man könnte spezielle Angriffe nicht mit physischen abblocken und umgekehrt, denn das ist sehr wohl möglich. - Jemand anderes?“
    Nur noch eine Hand war in der Luft. Die Lösung des Rätsels nahte, denn Logan Sokol meldete sich mit seiner üblichen trockenen und doch selbstsicheren Stimme zu Wort. „Aquaknarre und Funkensprung sind einfach viel zu inkonsistent. Funkensprung eignet sich aufgrund der fehlenden Widerstandskraft schlichtweg nicht dazu, um einer großen Gegenkraft zu trotzen. Umso effektiver ist der Angriff aber, wenn es um das Kontern von physischen Attacken geht. Ein Gegner wird es sich zweimal überlegen, direkten Kontakt mit seinem geladenen Widersacher zu riskieren.“
    „Das wiederum ist in allen Punkten richtig“, sagte Professor Finch. „Mangels des fehlenden Widerstandes konnte Aquaknarre ungebremst das Ziel erreichen. Gleichzeitig bot der Wasserstrom den idealen Leiter für den elektrischen Fluss, was, wie Sie unschwer erkennen konnten, beträchtliche Nebenwirkungen auf Miss Mac Cullens Gefährtin hatte. Dies heißt aber nicht“, fuhr er fort und betonte sorgfältig jedes Wort, „dass gegensätzliche Elemente wie Wasser und Elektrizität nicht einander negieren können! Wie Mr. Sokol richtig erwähnt hat, ist die kluge Wahl der Attacke von ebenso voluminöser Bedeutung wie die Wahl des Angrifftyps. Es bedarf daher immenses Wissen, um sämtliche Parameter richtig einschätzen zu können. Und dort, dort an diesem Punkt, fangen Ihre eigentlichen Studien erst an.“
    „Finden Sie sich in Zweiergruppen ein und tun Sie es Ihren beiden Kollegen in Ihrem eigenen Ermessen gleich. Halten Sie dabei aber bitte Abstand zu Ihrem Nachbar ein.“


    Wenige Augenblicke später war die Luft erfüllt von den Konter-Rufen der Trainer, das Kampfesbrüllen ihrer Pokémon-Partner und das wuchtvolle Aufeinanderprallen von Körpern, Klauen und anderen energiegeladenen Attacken. Das Fleckchen Erde, das als Schauplatz des ersten Praxistrainings gezwungenermaßen herhalten musste, klagte und bebte währenddessen beinahe ununterbrochen. Es hatte keine zweite Aufforderung bedurft, um die Schüler dazu zu bewegen, das soeben Gelernte an einem Partner zu praktizieren. Ray hatte seinen peinlichen Auftritt längst vergessen, nicht aber die Lehre, die er daraus gezogen hatte, und stellte sich erstmals Sonja zu einem Übungskampf. Dummerweise bewies es sich im Nachhinein abermals als etwas schwierig; nicht aber für ihn, sondern für Sonja.
    „Tut mir Leid ...“, jammerte Sonja.
    „Ich weiß, dass du das nicht mit Absicht machst, aber ...“
    Sonja wollte es einfach nicht gelingen, das soeben Gelernte in die Tat umzusetzen und auch Evoli schien es offenbar nicht wirklich Recht zu sein, ihren Spielgefährten anzugreifen. Statt Sheinux’ Angriffe direkt abzublocken, wich Evoli den Blitzen ihres Gegners konsequent aus oder aber erlaubte sich einfach von ihnen treffen zu lassen, weswegen Ray bereits zum wiederholten Male Sheinux zur Rücksicht aufgefordert hatte.
    „Ich weiß ja, was ich tun soll, aber ...“, klagte Sonja abermals.
    Ray fühlte sich ein wenig schuldig für die Bredouille seiner Freundin, wusste gleichzeitig aber auch keinen Rat. Das war nun einmal die Aufgabe und zum ersten Mal wollte er sie sogar so bewältigen, wie man es ihm aufgetragen hatte.
    „Probleme?“ Professor Cenra, die sich gemeinsam mit ihrem Kollegen den Weg durch das Tohuwabohu von trainierenden Schülern bahnte, um deren Fortschritte zu beobachten, hatte sich an Ray und Sonjas Trainingsplatz eingefunden.
    „Etwas ...“, lächelte Ray leicht verlegen.
    „Ich habe Sie beobachtet, Miss Lynn. Warum parieren Sie die Angriffe Ihres Gegners nicht?“, fragte Professor Cenra freundlich. Sie und Sonja hatten sich bislang stets blendend verstanden, was wohl insbesondere auf Sonjas Glanzleistungen in Kunst zurückzuführen war.
    „Also, ich ...“, stammelte Sonja. Erstmalig mied sie den Blick ihrer Professorin und starrte dagegen auf ihre Schuhe. „Ich will ja, aber ich kann nicht“, murmelte sie leise.
    „Hemmungen?“, hakte Professor Cenra nach.
    Sonja nickte. „Mitunter ...“
    Ray lief etwas rot an, sagte aber nichts. Er und Sheinux tauschten Blicke. Obwohl Ray sich selber nicht sehen konnte, glaubte er, plötzlich in Sheinux’ verlegen dreiblickendem Gesicht sein Spiegelbild reflektieren zu sehen.
    „Aber auch“, fuhr Sonja eiligst, aber nach wie vor gesenktem Haupt, fort, „weil ich nicht weiß, wie ich kontern soll. Evoli als Normal-Pokémon gegen Sheinux ... Sie verstehen ...?“
    Professor Cenra ließ einen selten von Ihr zu hörenden Seufzer verlauten. „Sie dürfen keinesfalls glauben, Normal-Pokémon seien den anderen unterlegen“, sagte sie. „Die Stärke dieser Klasse beruht meist auf recht schlichte Körperkraft, was sie für das ungeschulte Auge unflexibel in den Bereichen Angriff und Verteidigung erscheinen lässt. Verwechseln Sie dies aber keinesfalls mit der Anpassungsfähigkeit.“ Professor Cenra ging in die Knie. Sie graulte Evoli unter dem Kinn. Sonjas Gefährtin schloss die Augen und ließ die Wohltat der Menschenfrau bedingungslos über sich ergehen. „Pokémon vom Typ Normal sind Überlebenskünstler und vermögen es problemlos, sich fast einer jeden Bedingung anzupassen. Dass sie vielleicht in gewissen Punkten elementaren Klassen unterlegen sind, hat aber reichlich wenig Gewicht. Greifen Sie daher verstärkt auf das Wissen und die Fähigkeiten zurück, die Ihnen zur Verfügung stehen.“ Professor Cenra – noch immer kniend – schaute in Sonjas Gesicht hinauf. „Sie haben bei dem Turnier beachtliche Leistungen gezeigt, Miss Lynn; auch in Ihrer Entscheidung, sich in der Stunde der Not zurückzuziehen. In beiden Beziehungen sollten Sie mehr als nur stolz sein.“ Sie erhob sich, und mit sich auch der Kopf ihrer Schülerin. Sonja lächelte wieder, wenn auch noch etwas schwach.
    „Danke, Professor.“
    Professor Cenra wollte bereits das Feld für die Fortsetzung von Rays und Sonjas Trainingseinheit freigeben, als unerwartet aufkommende, heulende Böen sie wie auch Ray und Sonja einige Schritte zurücktrieb.
    „Da versteht es aber jemand, ordentlich Wind zu machen“, gluckste Ray zwischen seinen Händen hindurch, mit denen er sein Gesicht vor den wütenden Schwingungen in der Luft abschirmte.
    „Schau dir das an!“, quiekte Sonja ängstlich.
    Ray fand keine Worte für das Schauspiel, das sich einige hundert Meter vor ihm abspielte; Professor Cenra dagegen schon – ein Wort: „Granger!“



    * * *



    Die heraufbeschworenen Urgewalten von Wind und Wasser stellten die kleinen Geplänkel der anderen Schüler mehr als nur deutlich in den Schatten. Der über fünf Meter hohe, teuflische Wasserstrudel schmetterte mit ungeheurer Wut gegen den Windzyklon. Skip legte sich beide Arme schützend vor das Gesicht, während der Wind an seinem Körper zerrte und schwere Wassertropfen auf ihn und sein unmittelbares Umfeld einhämmerten. Sein Kopftuch flatterte wie Segel im Wind. Sein Körper war eiskalt. Nicht aber von den aufgewühlten Elementen, sondern vor Ehrfurcht. Er hatte es sich niemals träumen lassen, zu welchen Kräften Pokémon überhaupt in der Lage waren. Doch Bamelin und auch die kleine Staralili belehrten Skip eines Besseren. Die Mächte der kleinen Gestalten waren mit keinem Riff, mit keiner tückischen Meerenge und keinem Hurrikan auf den weiten des Ozeans vergleichbar. Und doch sah er dem Sturm durch seine Fingerspitzen hindurch wortwörtlich ins Auge, so wie es ihn sein Vater einst gelehrt hatte. Trotze den Gefahren auf See, denn nur so wird sie dich eines Tages akzeptieren.
    So schnell der Sturm aufgekommen war, so schnell löste er sich bereits wieder auf und Wärme nahm den Platz von den unberechenbaren Sturmfronten ein. Die beiden Mächte hatten sich aufgelöst.
    „Du bist lästig, weißt du das eigentlich?!“, bellte der Raikou-Schüler Malcom Granger über den Kampfplatz hinweg.
    Umliegende Kämpfe hatten durch den plötzlichen Elementarausbruch unlängst ihr Ende gefunden. Sämtliche Blicke ruhten gebannt auf den beiden Kontrahenten. Bamelin hatte bislang jedem noch so heftigen Unwetter seiner Gegnerin widerstehen können und hielt sich wacker. Doch auch Staralili trotzte Tod und Teufel. Ihr Wille schien eisern, wie der ihres Trainers.
    „Du weißt auch, dein Schiff sicher durch die Gefahr zu lotsen“, sagte Skip anerkennend.
    „Erspar es mir!“, brüllte der Raikou fuchtig. „Windschnitt!“
    Drei blassblaue Geschosse, wie strahlende Halbmonde, lösten sich nach einem wütenden Aufschrei aus Staralilis Schwingen, zerschnitten die Luft und surrten genau auf Bamelin zu.
    „Block sie ab mit Ultraschall!“
    Bamelins zwei Schwänze leuchteten greller als frisch gefallener Schnee auf. Auf jeden seiner aufgepeitschten Schweifschläge verließ eine gleißende Schockwelle aus purer Energie seinen Körper. Zwei Mal in Folge prallten die Energieattacken aufeinander und mündeten je in eine gewaltige Erschütterung in der Luft, die Skip abermals vor Ehrfurcht den Hals förmlich zuschnürten. Eine Ultraschall-Welle versäumte ihr Rendezvous mit dem von Staralili abgefeuerten Windschnitt. Staralili tauchte ab und entging haarscharf der schmerzhaften Kollision. Bamelin dagegen sprang leichtfüßig nach hinten und verhinderte so ebenfalls die Berührung mit dem Angriff seiner Gegnerin. Der Windschnitt schmetterte gegen den Boden, unmittelbar auf den Punkt, an dem Bamelin noch Sekunden zuvor gestanden hatte. Der Kontakt mit dem harten Erdreich hatte eine ähnliche Explosion zur Folge, wie es auch bereits in der Luft der Fall gewesen war. Wäre dem Boden die Ehre zuteil, eine Stimme zu besitzen, die er hätte erheben können, so war sich Skip sicher, dass er vor Leid und Kummer laut aufgeschrieen hätte. Dichter Qualm trübte noch kurz die Sicht und ein greller Pfeifton betäubte Skips Gehörgänge. Der fehlgeleitete Windschnitt hatte eine zentimetertiefe und meterlange Schneise in das harte Erdreich gefräst. Bräunliches Gestein quoll wie das Blut in einer Wunde aus dem Boden hervor und entblößte den vor wenigen Augenblicken noch so prächtig grünen Rasen.
    „Im Kampf oder auf der Flucht – du wirst in beiden Fällen versagen!“, höhnte Malcom.
    Skip stockte noch der Atem, doch schaffte er es binnen Sekunden wieder, sich zu fassen. „Schlag mal nicht so große Wellen“, antwortete er. „Falls du es vergessen haben solltest: Wir sollen hier nur trainieren.“
    „Das beste Training, das du dir überhaupt vorstellen kannst! Mach ihn endgültig fertig, Sta...“
    „Beherrschen Sie sich gefälligst, Mr. Granger!“
    Professor Cenra und Professor Finch erreichten mit schnellen Schritten den Schauplatz. Jeder von beiden gesellte sich zu einem Schüler. Skip entging nicht, dass seine Hauslehrerin, die sich zu Malcom Grangers Rechten eingefunden hatte, plötzlich besonders bedrohlich wirkte. Sie und der Raikou schienen einander bereits bestens zu kennen.
    „Wir sollen doch das Abwehren üben? Das war doch die Aufgabe, oder etwa nicht?!“, blaffte Malcom barsch, beinahe respektlos seiner Professorin entgegen.
    „Halten Sie Ihr Temperament im Zaum und zügeln Sie Ihren Ton!“, sagte Professor Cenra mit drohender Stimme. „Es ist ein weiter Grad zwischen ,üben’ und ,übertreiben’; den Sie aber einmal mehr maßlos überschritten haben, Mr. Granger!“
    Der Raikou schnaubte in verächtlichem Ton: „Kann ich doch nichts dafür, wenn der mit mir nicht Schritt halten kann. Er sollte sich geehrt fühlen, dass ihm etwas beibringe. Wo ist also das Problem?“
    „Das Problem ist“, begann Professor Cenra, ihre Stimme hatte dabei unverwechselbare Ähnlichkeit mit der einer aufopfernden Mutter angenommen, die einem kleinen Kind auf die Gefahren einer brennenden Fackel hinwies, „dass Mr. Faksen das Tempo vorgeben sollte und nicht Sie!“
    Malcoms Mund und Nase verließ ein weiterer Sturm seiner aufgestauten Wut, den Skip selbst noch aus der Distanz deutlich hören konnte und der den von Staralili im Kampf verursachten Böen in fast keiner Beziehung nachstand. Doch Malcom antwortete nicht mehr.


    Die restliche Unterrichtszeit verging im Vergleich zu den Geschehnissen zwischen Skip und Malcom relativ ereignislos. Zwischenzeitlich schien ein jeder Schüler den Umgang mit den grundlegendsten Konteraktionen perfektioniert zu haben, denn die Professoren Finch und Cenra gaben sich am Ende des ersten Praxisunterrichts recht zufrieden.
    „Sie alle machen bemerkenswerte Fortschritte“, verkündete Professor Cenra der Menge feierlich. Sämtliche Pokémon waren zwischenzeitlich wieder in ihre Pokébälle zurückgekehrt, Puls und Herzschlag der Trainer normalisierte sich und auch der Sturm in Malcoms Kopf schien abgeflaut zu sein. „Es wird Sie daher freuen, wenn ich Ihnen mitteile, dass Sie eine ganz besondere Chance erhalten werden, Ihr neu angeeignetes Wissen umzusetzen.“
    Nervöse Blicke wurden zwischen den Schülern ausgetauscht. Eine weitere Stunde Praxis-Unterricht? Ein neues Turnier? Ein neuer Lehrer für dieses Fach? Nichts aber wollte der nachfolgenden Nachricht gebührend gerecht werden.
    „Am Freitag in zwei Wochen“, sagte Professor Cenra mit besonders festlicher Stimme, „werden Sie, Sie alle, auf einen gemeinsamen Schulausflug gehen.“ Professor Cenra hob mahnend die Hand, um den Flüsterchor ihrer Schüler Einhalt zu gebieten. „Wir werden in die Safari-Zone aufbrechen.“
    Die Botschaft wurde auf verschiedenste Art und Weise aufgefasst. Die Mehrzahl der Schüler konnte die überragende Euphorie der anderen kaum teilen. Auch Ray und Sonja warfen sich fragende Blicke zu. Je länger aber die Antwort auf die Unkenntnis von einem Schülerohr ins nächste geriet, umso mehr Grundstüfler schlossen sich der Begeisterung an.
    „Lassen Sie es mich mit einfachen Worten erklären“, überstimmte Professor Finch mit gebieterischem Ton den Flüsterchor. „In der Safari-Zone werden Sie Gelegenheit bekommen, Ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Der Lohn Ihrer Mühe wird ein neuer Pokémon-Gefährte sein, den Sie sich eigenhändig fangen werden.“ Professor Finch erhob Wort für Wort seine Stimme, um gegen den Geräuschschwall überhaupt noch ankämpfen zu können. „Alles Weitere werden wir in den kommenden zwei Wochen erläutern. Sie dürfen gehen.“

  • Na,
    Kap vorbei? Ich hab iwie mit 'nem 8ten Teil gerechnet :D
    Skip macht Faxen - neuer Wind in den Segeln, wie er sagen würde. Scheint ein eher unsicherer, aber freundlicher Chara zu sein. Unsicher? Naja, eher gutgläubig :D
    Was wohl im nächsten Kapi passieren wird? Hoffe ja als Partner auf ein - kA :D bekommt Granger ein Tropius, ein Skorgla oder die fliegende Festung?^^ Sonja brauch 'ne Deffersau, Schilterus hat gute Deffstats, aber Kp ... vlt ein Chansey? Deffersau, physisch zwar etwas wackelig :D, aber der Evolid(das hatte Zwotronin doch?) hat mal ordentlich die Def hochgerissen, mit Evs und nature auf 178 oder so :D
    Lg, Carter (ehemals Almarik)

    Warum wollen Männer keine Osterhasen sein?


    Rechtschreibfehler sind rein zur Belustigung da. Ihr müsst mich auch nicht darauf hinweisen, wie toll ihr sie fandet.

  • Sers,
    mal wieder spät dran, aber da die beiden vorangegengenen Kapitel ziemlich ereignislos gewesen waren, habe ich das Kommi absichtlich verschoben. Dafür gabs nun wieder viel tolles, neues, spannendes und aufregendes. Es ist schon komisch. Mindestens ein dutzed Mal hab ich mich gefragt, wann denn der ersehnte Praxisunterricht anfängt und nun, wo er da ist, kommt mir die Zeit so kurz vor. Nicht wundern, ist typisch für mich.
    Ich fand es sehr schön, wie du die Spannung der Schüler zur Geltung gebracht hast. Es wird mehr als deutlich, wie sehr sie dem entgegengefiebert haben. Die "Darbietung" von Finch und Cenra war kurz aber knackig. Du beziehst die Pokémon selbst und die Erscheinung ihrer Attacken und auch die Konzentration und Kontrolle, die sie dabei wahren müssen, sehr schön mit ein. Außedem sind die Angriffe sind zudem ausführlich und sehr wordgewand beschrieben. Schon interessant zu sehen, was du bei der Kampfbeschreibung mit stärkeren Pokémon alles kannst. Bislang konnte man ja fast nur Pokémon der niedrigsten Stufen bestaunen und selbst diese Kämpfe waren sehr anschaulich. Kann es kaum noch erwarten, bis die ersten Entwicklungen kommen.


    Zu den Trainingskämpfen kann ich nur sagen: wer hat denn nicht damit gerechnet? Sonja bringt mich echt nochmal um den Verstand. Ich hatte ja gehofft, dass sie nach dem Turnier ein wenig selbstbewusster auftreten würde, aber nein, sie steht wiede nahe an der Null. Ganz ehrlich, mir geht das Mädel ein bisschen auf den Keks. So ein übervorsichtiges (oder wie auch immer du es nennen möchtest) kann ich einfah nicht nachvollziehen und schon gar nicht zu mögen lernen. Ws sie bräuchte, wäre ein persönlicher Ausblider oder so was in der Art, der sie in bester Militärmanier verdammt nochmal aus ihrem Graben herauholt und endlich ihreÄngste nimmt - Ray, dein Einsatz. Im Ernst, langsam sollte sic der Gute mal etws strenger um sie kümmern, denn so wird das ja in hundert Jahren nix mehr.
    Dass Eagle gegen Skip so aufdrehen muss war ja auch nicht anders zu erwarten. Ein Stück weit kann ich ihn ja schon verstehen. Er hegt keinerlei Symphatien für ihn und doch ist der ganz davon überzeugt, noch Freundschaft mit ihm zu schließen. Diese Blauäugigkeit seitens von Skip erinnert mich ein wenig an Ash und Paul in der Anfangszeit ihrer Bekanntschaft. Und wie bei diesen beiden macht Skip alles dadurch nur noch schlimmer - das ist brilliant. Da kann ich mich mit den beiden sicher noch au reichlich Zwist freuen.


    Die Safari-Zone also... sehr schöne Idee und für den weiteren Verlauf sowohl spannend als auch authentisch. Übungen dieser Art kann ich mir sehr gut für eine Trainerschule vorstellen. Generell merkt man ja schnell, dass du dir bei der Unterrichtsgestaltung deine Gedanken gemacht und tolle Einfälle gefunden hast. Isgesamt wirken die letzten Kapitel ebenso gut durchdacht und sind wie immer klasse formuliert. Außerdem stehen nun sehr viele interessante Themen im Vordergrund. Die Safari-Zone, das Ei-Projekt, Eagles Beziehung zu Skip, Sonjas Trainingsschwächen und Ray mitten drin. Sieht aus, als würde es in nächster Zeit ordentlich rund gehen.^^


    Mal wieder Daumen och von mir und viele Grüße an dich, Jens
    (habe mich nun entschlossen, dich bei deinem echten Namen zu nennen, da sich das etwas komisch anfühlt, wenn in deinen Werken auch dauernd ein "Eagle" auftaucht)

  • ~Kapitel 10: Die Sippe auf Safari~



    Part 1: Erwartungen


    Gemäß den aktuellen Ereignissen wurde der Unterricht völlig umgestellt. Angefangen von dem lediglich bis zum Ende des Wochenendes geläuterten Professor Finch, der zwei volle Unterrichtsstunden ausnahmslos damit verbracht hatte, die Tafel mit einer ellenlangen mathematischen Berechnung über den Fangprozess zu besudeln, über Professor Cenra mit ihrem ausgiebigen, dafür aber wesentlich interessanteren Vortrag über den natürlichen Lebensraum und dem typischen Verhalten wildlebender Pokémon, bis sogar zum EDV-Unterricht hin. Als ob die letzten Unterrichtsstunden niemals existiert hätten, ließ Professor Badham das bisherige Thema schlichtweg unter den Tisch fallen und sezierte stattdessen einen bislang noch voll funktionstüchtigen Pokéball bis auf die letzte Niete.
    Wie sich schnell herausstellte, war das Einfangen von Pokémon in freier Wildbahn wesentlich komplexer, als das morgendliche Fernsehprogramm mit Serien, in der drei Jugendliche auf ihrem turbulenten Pokémon-Abenteuer mit Lichtgeschwindigkeit durch einen U-Bahn-Schacht jagten, Glauben schenken mochte. Pokémon kamen nicht in Pokébällen auf die Welt, sondern hausten in den unterschiedlichsten Lebensräumen – waren es nun Wälder, Steppen, Höhlen, die höchsten Bergen und die tiefsten Meeresgräben, oder sogar von Menschen geformte Umgebungen wie abgeschiedene Hintergassen, Getreidefelder, baufällige Gebäuderuinen, ja selbst Müllhalden nannten manche Pokémon ihr Zuhause, was insbesondere von vielen Mädchen mit einem anstößigen „Igitt!“ kommentiert wurde. Wer einen neuen Freund für sich gewinnen wollte, der musste sich ihm wohl oder übel im Kampf stellen, denn quietschfidele Pokémon würden - laut der Aussage von Professor Finch - einen Teufel tun wollen, und ihr neues Zuhause widerstandslos anzuerkennen. Zuerst musste der Starrsinn des wilden Pokémons durch eine kräftezehrende Konfrontation ausgemerzt und der Kampfeswille somit gebrochen werden. Dann erst durfte der Pokéball zum Einsatz kommen. Selbst der Sportunterricht verwandelte sich plötzlich mit fliegenden Tennisbällen, die als provisorischer Pokéball-Ersatz herhalten mussten, in eine Vorbereitungsstunde für den herannahenden Freitag. Erstmalig schienen die Spitzensportler mit ihrer Kraft, Kondition und Treffsicherheit deutliche Vorteile gegenüber den Superstrebern mit ihrem überwältigenden theoretischen Bücherwissen zu genießen. Lautete man allerdings auf den Namen „Logan Sokol“, so setzte man sich einfach gegen diese ungeschriebene Gesetze zwischen Sportlern und Strebern hinweg, denn der makellose Notendurchschnitt des Klassenbesten der Grundstufe machte selbst vor dem Sportunterricht keinen Halt.
    Die bloße Menge an neuen Stoff wirkte auf den ersten Blick geradezu erdrückend und unter normalen Umständen hätten sicherlich nicht nur wenige über die plötzlich hereinbrechende Wissensflutwelle bitter geklagt. Die Umstände aber waren alles andere als normal, weswegen man, anstelle weiteren Unterricht dieser Art kategorisch abzulehnen, sogar noch mehr von seinen Paukern forderte (einzige Ausnahme bildete natürlich Finch mit seinem Stoff). Selbst Ray, der alles andere als dafür bekannt war, mit herausragenden Leistungen im Unterricht zu glänzen, arbeitete über die zwei Wochen hinweg begeistert und voller Elan mit.


    „Da seid ihr aber früh dran. Ich glaube, wir sind einen guten Monat später in die Safari-Zone aufgebrochen.“
    An den kleineren Tischen in der Mensa herrschte an diesem Mittwochnachmittag nach Unterrichtsschluss besonders farbenprächtiges Treiben. Zwischen lauwarmer Milch und heißem Tee, Kuchen, Gebäck und kalten Pfannkuchen tauschten Raikous, Suicunes und Enteis Notizen und Lösungsvorschläge für die am nächsten Tag fälligen Hausaufgaben in Pokémon-Training aus. Selbst Eagle hatte gezwungenermaßen seinen Einzeltisch geräumt und sich gemeinsam mit Ray, Sonja, Skip und Kathy an einen Tisch gezwängt. Zwei weitere Tische wurden von einigen ihren Klassenkameraden aller drei Hauskameraden eingenommen.
    Die Euphorie der Grundstufe konnte sich nach fast zwei Wochen kaum mehr im Verborgenen halten. Zwischenzeitlich war auch bei den anderen Klassenstufen der Ausflug in die Safari-Zone ihrer jüngeren Schulkameraden bekannt geworden, was auch den Grund für Andys und Sarahs Besuch zwischen dem bunten Haufen rechtfertigte.
    „Ihr wart auch in der Safari-Zone?“, fragte Ray überrascht und war innerlich sogar etwas dankbar dafür, von Finchs Formelwirrwarr wegzukommen. Auch das Interesse vieler andere seiner gleichaltrigen Kollegen schwenkte schlagartig auf Andy und Sarah um.
    „Wo denkst du hin? Dass ihr die ersten seid, die diese Reise unternehmen?“, antwortete Andy schmunzelnd.
    „Irgendwie schon“, sagte Ray und erwiderte das Schmunzeln seines Kollegen.
    „Nein, natürlich nicht. Das unternimmt die Grundstufe jedes Jahr. Es ist nichts wirklich Außergewöhnliches, obwohl ich natürlich nicht leugnen kann, dass ich euch darum beneide. Würde auch noch einmal gerne dort hin“, träumte Andy.
    „Wundert einen nur, warum ihr nie etwas davon erwähnt habt. – Brauchst du das Blatt noch? Ich blicke diesen Kram einfach nicht ...“, brummte Eagle und ließ sich, deutlich missgestimmt, Sonjas Notizen reichen.
    „Warum hätten wir sollen?“, fragte Sarah schulterzuckend. „Gab doch nie Anlass dafür.“
    „Man hat euch aber auch nie mit euren anderen Partner-Pokémon kämpfen sehen. Immer nur mit Magnetilo oder Meditalis“, hakte Eagle nach.
    „Stopp, Halt, Auszeit! Vertausch das bloß nicht!“, warf Andy ein. Eagles Stirnrunzeln wurde nicht von wenigen seiner Kollegen geteilt.
    „Dein Partner-Pokémon und das Pokémon, das du dir demnächst zum Freund machen wirst, sind zwei Paar Schuhe“, ergänze Sarah ihren Freund. „Du darfst nicht vergessen ...“, sie und Andy tauschten plötzlich skeptische Blicke. Beide wirkten sehr ratlos „nein, ich glaube, das lasse ich besser die werten Professoren erklären. Ist ja bald soweit, wie ich höre?“
    „Freitag“, sagte Ray, hakte aber gleichzeitig noch neugierig über Sarah Schweigen nach. Die aber schüttelte nur den Kopf.
    „Das sollen euch Armadis, Cenra und Finch am Freitag erklären. Ist besser so, glaub’ mir“, womit sich beide von ihren jüngeren Schulkameraden verabschiedeten.


    Die Meinungen über Andys und Sarahs stures Schweigen gingen an den drei Tischen weit auseinander. Eagle konnte über die erneute Geheimniskrämerei der beiden nur ablehnend den Kopf schütteln und sich – noch missgelaunter als zuvor – wieder seinen unerledigten Hausaufgaben zuwenden, Sonja und Kathy verdrehten nur die Augen, als ob es sie gar nicht weiter kümmern würde, Ray und Skip dagegen verfielen in leise Spekulationen.
    „Ganz egal, wie es kommt oder auf was Andy und Sarah eigentlich hinaus wollen – ich werfe mein Netz für ein Wasser-Pokémon aus, Ehrensache!“, erklärte Skip feierlich der Runde. „Und ihr?“
    „Also, um ehrlich zu sein, habe ich mir darüber noch kaum Gedanken gemacht“, gab Sonja kleinlaut zu. „Am Schluss kommt es eh ganz anders, als man es sich vorstellt, darum warte ich einfach ab und lasse es ganz locker auf mich zukommen.“
    „Ich habe letzte Woche Professor Finch gefragt, was wohl eine gute Wahl wäre. Achtung, ich zitiere wörtlich: ,Vom rationalen Standpunkt gesehen wäre ein der Typ, der die Stahl-Eigenschaften Ihres Partners sinnvoll ergänzen würde, die einzig vernunftmäßige Entscheidung.’“ Kathy ahmte die einschläfernde, schleppende Stimme ihres Hauslehrers derart professionell nach, dass Jake Foley, der einen Tisch hinter ihr saß, beinahe vor Schreck vom Stuhl fiel. Nachdem sich die geschockten Gemüter nach einer heiteren Runde Lachen endlich wieder beruhigt hatten, fuhr Kathy fort: „Ich soll wohl nach einer Elementklasse Ausschau halten, die Klikk - meine Partnerin müsst ihr wissen – im Kampf unterstützen könnte“, reimte sie sich zusammen.
    „Lässt du dir das echt vorschreiben, und dann noch ausgerechnet von Finch?“, fragte Ray verdutzt. „Niemand hat das Recht, mir etwas einreden zu wollen. Ich mache mir das Pokémon zum Freund, das ich und nicht jemand anderes will.“
    „Folglich jedes ... Planlos wie eh und je“, murmelte Eagle gut hörbar, während er seine Formelsammlung langsam aber sicher komplettierte.
    „Sheinux braucht einen Spielgefährten und ich mein Ticket in die Oberliga. Mehr Kriterien brauche ich nicht“, sagte Ray gleichmütig. Er wandte sich an Eagle. „Und wie sieht es mit dir aus? Ein Flug-Pokémon nehme ich an?“
    „Du hast es erfasst“, Eagle hob seinen Kopf, bis die grünen Smaragde die Augen seines Zimmergefährten kreuzten, „und du tust gut daran, Eagle dabei nicht im Weg zu stehen“, sagte er mit launischer Stimme.
    „Eagle?“, frage Skip leicht verwirrt.
    „Das ist richtig“, Eagles Augen verengten sich zu Schlitzen, während es auf Skip einredete, „und als solchen wirst du mich zukünftig auch anreden, wenn du weiteratmen willst. Haben wir uns verstanden, Fischgesicht?“
    „Aye! Reich mir doch mal bitte Sonjas Blätter, wenn du fertig bist, Maat Eagle.
    Nach Sonjas Einverständnis in Form eines schmunzelnden Nickens reichte Eagle dem Suicune kommentarlos die säuberlichen Notizen. Selbst hinter Kathys Zahnspange zeichnete sich ein amüsiertes Lächeln ab, womit aber am Tisch die weitere Unterhaltung zu diesem Thema abklang, man stattdessen gebannt den erwartungsvollen Geschichten der anderen schwärmenden Grundstüfler lauschte und im Geheimen sehnsüchtig davon träumte, dass schon jetzt Freitag wäre ...

  • Part 2: Wenn einer eine Reise tut ...


    Man konnte unmöglich leugnen, dass der Strom der Zeit in den vergangenen zwei Wochen des Köpfequalmens, des Lernstresses und der wilden Spekulationen unverhofft schnell geflossen war und selbst die Wahrnehmung der Freizeit während den Herbstferien weit in den Schatten stellte. Einziger Wermutstropfen - der Donnerstag: Einmal noch vor dem ersehnten Augenblick einschlafen, zog er sich zäher als fabrikfrischer Kaugummi dahin. Speziell Finchs krönender Abschluss des Tages mit drei wortreichen, niemals enden wollenden Wiederholungsstunden war eine barbarische Folter, weswegen man sehnlicher als sonst dem Läuten der Schulglocke entgegenfieberte. Auch die erschreckend lange Nacht wollte und wollte den sonst so pünktlich grauenden Morgen einfach nicht freigeben. Bis schließlich der wirklich allerletzte Grundstüfler nach etlichen Stunden blutgetränkter Qual in seinem rastlos verwühlten Bett zur Ruhe kam, spähte die Sonne bereits vorsichtig über die hoheitlichen Wipfel des Eschwaldes.


    Trübe Augen, matte Blicke oder kraftlos baumelnde Arme waren keine seltenen Bilder an diesem Freitag. Nicht wenige der bereits versammelten Schüler wirkten, als hätten sie über die Nacht kein Auge zubekommen. Auch Ray und Eagle hatten ihre vergeblichen Einschlafversuche irgendwann zwischen zwei und drei Uhr aufgegeben und waren der in ihren Augen einzig halbwegs sinnvollen Beschäftigung nachgegangen, um die Zeit totzuschlagen: Rays Laptop mit einer exzessiven Videospielrunde wach zu halten. Nach dem letzten Spiel – die Uhr hatte zu diesem Zeitpunkt sechs Uhr geschlagen -, bei der Eagle das Schlachtfeld mit lediglich drei äußerst tollkühnen Helikoptern und einem hinterhältigen Scharfschützen dominiert und seinen computergesteuerten Widersacher nach nur zehn Minuten zur bedingungslosen Kapitulation durch Selbstzerstörung bewegt hatte, waren beide für eine knappe Stunde in die Betten zurückgekehrt. Und nun, nach keiner Stunde Schlaf, waren sie am Treffpunkt angekommen. Seine zentrale Lage hatte das Suicune-Haus dazu auserkoren, als Versammlungsort der Grundstufe zu dienen. Ray und Eagle reihten sich bei ihrer Ankunft in den unstimmigen Gähn-Chor ihrer gleichaltrigen Kollegen ein. Sonja, ihres Zeichens nach topfit, bildete hierbei eine von wenigen Ausnahmen, weswegen sie sich die überflüssige Frage nach der Verfassung ihrer Freunde ersparte. Unter diesen Einzelerscheinungen gehörten mitunter auch die drei Hausleiter. Die Professoren Armadis, Cenra und auch Finch waren bereits vor Ort und strahlten während ihrer kleinen Unterhaltung die Taufrische eines jungfräulichen Frühlingstages aus. Jeder der drei Lehrer löste sich allmählich von seinen hausverschiedenen Pendants, wahrte Abstand zu seinen Schülern (in Finchs Fall) oder aber gesellte sich für einen gepflegten Plausch freudig zu ihnen; so beispielsweise Professor Armadis.
    „Warum die langen Gesichter? Was grämt Sie beide?“
    Eagle brummte einen unverständlichen Laut hervor, der einer stotternden Waschmaschine kurz vor deren Kollaps in nichts nachstand. Ray übersetzte es gekonnt mit „noch etwas müde“.
    Professor Armadis lachte und seufzte zugleich. „Ich müsste mich doch stark wundern, wenn dieser Satz bei unserem alljährlichen Ausflug fehlen würde. Ich glaube, ich könnte jeden Schüler der letzten zehn Jahre beim Namen nennen. Sie gehören nun offiziell dazu.“
    „Welch Ehre ... Ich hoffe, Sie sind nicht allzu enttäuscht darüber, dass ich keine Luftsprünge vor Freude mache“, brummte Eagle unwirsch.
    „Sie sind aufgeregt, das sieht man Ihnen an“, sagte Professor Armadis und hielt, trotz des unverkennbaren Angriffs seines Schülers, am eigenen freundschaftlichen Ton bestehen. „Das legt sich wieder, keine Sorge. Das Kampfhoch, müssen Sie beide wissen, fordert seinen Tribut und wird Sie in den kommenden Stunden an die absoluten Grenzen der physischen und psychischen Realität treiben. Sie täuschen sich schwer, wenn Sie glauben, dass der Höhepunkt bereits erreicht ist; im Gegenteil. Sie können sich gar nicht im Klaren sein, was noch auf Sie wartet. Erst an dem Zeitpunkt, sobald Sie beide dieses Gefühl nach dem erfolgreichen Fang befriedigt haben, lässt das Adrenalin allmählich nach und die ganze Prozedur wird in Ihrer beiden Augen ein ganz anderes Licht einnehmen.“ Professor Armadis’ Stimme nahm plötzlich einen selten zu hörenden traurigen Unterton an. „Leider, muss ich schon fast gestehen, denn ist dieser besagte Augenblick ein Erlebnis, an das man sich noch sein ganzes Leben gerne erinnert. Die Gefühle, wenn man sich erstmals mit einem wildlebenden Pokémon in dessen natürlichen Lebensraum Auge in Auge konfrontiert sieht, sind unvergleichbar. Halten Sie unbedingt an ihnen fest, denn sie kehren in derartiger Weise niemals wieder und Sie werden sich irgendwann wünschen, diese Emotionen erneut zu erfahren. Doch wird es immer leichter, je öfter der Prozess von Ihnen wiederholt wird – sehr schade.“
    Professor Armadis’ Rede war sowohl einleuchtend als auch bewegend. Bei einem anderen Lehrer hätte Ray sicherlich stur abgeblockt. Sein Hauslehrer bildete aber eine von wenigen Ausnahmen, weshalb es ihm nicht sonderlich schwer fiel, an den Worten festzuhalten. Dennoch wünschte sich Ray insgeheim nichts mehr, als dass es endlich soweit wäre; das Gefühl, das Professor Armadis so treffend als „Kampfhoch“ beschrieben hatte, endlich keinen Besitz mehr über sein Denken und Handeln hatte, das taube Gefühl in seinen Fingerkuppen endlich nachlassen würde, die Empfindung, dass seine Beine aus unbeständigem Wackelpudding bestehen würden, seinen Körper verließ, er endlich wieder den Vollbesitz seiner Kräfte zurückerlangte und wieder klare Gedanken fassen könnte. Auch Eagle konnte es nicht anders ergehen. Gleichgültig wie standhaft er sich auch nach außen hin an diesem völlig klaren, dafür leicht nebligen Freitagmorgen seinen Mitmenschen präsentierte – dieselben Gefühle regierten den weichen Kern, der unter der harten Schale schlummerte. Insgeheim wusste der einzelgängerische Raikou das sicherlich selbst, auch wenn er in der Öffentlichkeit alles unternahm, um in dem besten Licht zu erstrahlen. An diesem Tag aber, zu dieser Stunde, in diesem Moment waren sie alle gleich - so sehr man sich auch dagegen sträubte oder auf welchen Namen man nun auch immer lautete.


    Nachdem die üblichen Vorkehrungen, dass auch ja niemand versehentlich in seinem Bett vergessen wurde, getroffen waren, setzte sich die gewaltige Prozession aus allen Schüler der Grundstufe sowie deren Hauslehrer in südliche Richtung voran. Der in den frühen Morgenstunden noch ausgestorbene Schülertreff rückte langsam in immer weitere Ferne, hingegen die ersten vielbeinigen Be- und Entladekräne an dem Kai („Die werden auch ,Portalkräne’ genannt“) sich Schritt für Schritt näherten und Skip somit seit langer Zeit wieder ins Schwärmen geriet („Die See ist meine einzige Braut“). Nur wenige teilten die ungenierte Begeisterung des nautikversessenen Suicunes auf das an diesem Morgen fast regungslosen Meer und wurden stattdessen von dem gigantischen, weißen Ozeanriesen, der an den Docks vor Anker lag und sie sicher in die Safari-Zone tragen sollte, nur noch weiter eingeschüchtert. Ray war heilfroh, als er die Reling überquerte, an Bord des Schiffs ersten Fuß fasste und sich endlich vor den neugierigen Blicken von Matrosen oder Hafenarbeitern in Sicherheit wiegte. Viele seiner Mitschüler warteten erst gar nicht die Ankunft ihrer Hauslehrer ab, sondern verstreuten sich sofort ziellos über dem Promenadendeck oder suchten sich im Bauch des Schiffs einen Unterschlupf, in dem sie die Fahrt über ausharren konnten, so auch Ray. Sonja dagegen, die direkt hinter Ray auf das leicht auf- und abwippende Oberdeck stolperte, wollte zwar Ray nicht aus den Augen verlieren, doch gleichzeitig auch erst die Ankunft der Lehrer abwarten. Ihre beiden Wege verirrten sich.



    * * *



    „Woran denkst du?“
    „Außer, wie man dich wieder loswerden könnte?“
    „Außer, wie man mich wieder loswerden könnte.“
    Eagle hatte seine Arme auf der schneeweißen Brüstung abgestützt - die einzige Barrikade vor den auf die Hülle des Schiffs einbrechende Wassermassen. Metertief unter ihm schäumte das Meer, während der von Menschenhand geschaffene Ozeanriese, als ein Zeichen seiner Überlegenheit, eisern den Wellen trotze. Weit über Eagle dagegen - nichts weiter als ein kleiner Punkt am Horizont - Staralili. Mit weit ausgebreiteten Schwingen ritt sie auf der salzigen Brise, wie man sie nur auf dem offenen Ozean finden konnte. Ein abartiger Gestank ... Der Wellengang war ruhig und gleichmäßig und dennoch fühlte sich Eagle wie auf einem aktiven Vulkan gebettet. Er hasste das alles - das unberechenbare Meer, die launenhaften Wellen, das schwankende Schiff und dass es ihm einmal wieder vergönnt war, seine Ruhe zu haben. Nur die Aussicht, bald das ferne Eiland zu erreichen, auf dem ein neuer Kampfgefährte bereits auf ihn wartete, hatte ihn überhaupt dazu bewegt, auf diese tickende Bombe zu steigen.
    „Keine leichte Aufgabe, überhaupt einen klaren Gedanken zu fassen“, sagte Eagle. Die raue und salzige Meeresluft kratzte ihm unangenehm in der Nase. Sein Blick blieb unbeirrt in der unendlichen Ferne verharren. Ein Schatten schob sich zwischen ihn und der Sonne – es war Ray. Er hatte sich zu Eagle an die Reling gesellt und teilte nun dessen Schicksal.
    „Halt dich da oben bloß fest, hörst du?“
    „Shuww!“
    Es fiel Eagle äußerst schwer, keine Gefühlsregung angesichts des seltsamen Dings auf dem Kopf des Störenfrieds zu zeigen. Im ersten Augenblick war er erst in der Annahme gegangen, dass Ray eine Bommelmütze wie im tiefsten Winter trug. Bei näherer Betrachtung stellte er aber fest, dass Sheinux auf dem Haupt seines Partners thronte. Die vier Beine baumelten wie Ohrenklappen an einer Mütze herab, während das Elektropokémon bäuchlings die erhöhte Aussicht auf das Meer genoss.
    „Du bist ein Freak, weißt du das?“, sagte Eagle und musste es sich doch bei diesem Anblick sehr verkneifen, nicht plötzlich in einen heiteren Gefühlsausbruch zu verfallen.
    „Und du bist ein Vogel, aber das weißt du ja sicherlich“, gab Ray grinsend retour. Er vermied es, allzu ruckartige oder unerwartete Bewegungen zu unternehmen, die seinen Partner aus dem Gleichgewicht hätten bringen können. „Sheinux hat noch nie das Meer gesehen. Du verstehst?“
    „Da hat er nichts verpasst ...“, murrte Eagle. Er hatte sich wieder von dem abstrusen Anblick zu seiner Linken gelöst und widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem Ozean.
    „Hältst du jetzt eigentlich an deinem Plan fest und fängst dir tatsächlich ein weiteres Flug-Pokémon?“, fragte Ray.
    „Starke Trainer brauchen starke Pokémon“, antwortete Eagle knapp.
    „Ich fasse das dann mal als ein ,Ja’ auf“, schlussfolgerte Ray. „Luzie meinte, es wäre falsch, sich auf einen Typ zu spezialisieren, Flexibilität oder so.“
    „Warum sollte mich die Meinung von dieser altklugen Entei interessieren? Und wenn ich mir neunhundertsechzig Flug-Pokémon fange, kann es ihr doch egal sein.“
    „Wenn das so ist ... dann hast du sicherlich nichts dagegen, wenn ich Ausschau nach einem weiteren Elektro-Pokémon halte, um dich etwas zu ärgern“, grinste Ray.
    „Untersteh dich!“
    „Fangt das Blatt!“
    Schnelle Schritte polterten den beiden Raikous entgegen. Eagle blieb keine Gelegenheit für seinen wütenden Protest gegen diese ungebetene Ruhestörung, denn sein genervtes Schnauben ging sofort in einem von Sonjas Notizzetteln unter, der von der rauen Seeluft beinahe vom Schiff geweht wurde und stattdessen mitten in seinem Gesicht klatschte. Begleitet wurde die ruhelose Raikouianerin von ihrer vierbeinigen Partnerin, Evoli, dem Suicune Skip und dessen Pokémon-Partner, Bamelin.
    „Was schleppst du eigentlich alles mit dir rum?“, ärgerte sich Eagle und reichte seiner Kollegin ihr vom Wind entführtes Hab und Gut zurück. Die schwere Tasche auf Sonjas Rücken, das Kraut und Rüben von beschrifteten Papieren in ihren beiden Händen und der angekaute Bleistift hinter dem rechten Ohr strahlten die pure Hektik aus und nahmen - ob die leblosen Dinge dies nun beabsichtigten oder auch nicht - richtig die Ruhe.
    „Danke“, keuchte Sonja. Gleichzeitig nahm sie weiteres Blattwerk – auch dort blitzte ihre feinsäuberliche Schrift hervor – von Skip und Bamelin entgegen. „Meine Unterlagen“, erklärte sie lächelnd.
    „Wozu?“, fragte Ray und Eagle fast gleichzeitig. Ray konnte sich bei der Gelegenheit ein Grinsen nicht verkneifen, Eagle blieb dagegen kühl und ausdruckslos.
    „Damit ich auch nichts vergesse. Zwei Wochen Unterricht – das war ’ne ganze Menge Stoff. – Oh! Hi, Sheinux. Genießt du die Aussicht?“
    „Nux-Nux!“
    „Du bewertest das völlig über“, sagte Eagle gelangweilt. „So schwer, wie die Lehrer dir das vorgaukeln, kann und wird es nicht sein. Würde gerade noch fehlen, wenn du vor Erschöpfung noch von der Reling kippst. Und was ist eigentlich mit dir?“ Eagle wandte sich zu Skip, der ebenfalls einer derjenigen war, die mit Rucksack bewaffnet waren. Gleichzeitig wurde sein Ton im Angesicht des Suicunes hörbar rauer. „Warum hast du deinen Krempel dabei?“
    „Handtuch, Badehose – bisschen etwas zum Schwimmen halt“, erklärte Skip freundlich.
    „Schwimmen?“ Eagle verzog das Gesicht zu einer Grimasse. „Da hat wohl jemand nicht ganz aufgepasst, sonst müsstest du wissen, dass wir hier keinen Badeausflug machen.“
    „Weiß ich doch. Ich will mir ein Wasser-Pokémon fangen, Eagle. Das habe ich doch gesagt. Wasser-Pokémon fängt man im Wasser, aber das ist dir sicherlich auch klar, oder?“
    „Genitiv ins Wasser, weils Dativ ist“, gluckste Ray. Sheinux plumpste ihm dabei vom Kopf und genau in die bereits ausgebreiteten Arme. Augenblicke später hatte er auch schon wieder festen Boden unter den Pfoten.
    „Danke, werde ich mir merken“, lachte auch Skip, ging in die Knie und kraulte Sheinux hinter den Ohren.
    „Womit habe ich euch beiden Spinner nur verdient ...?“, brummte Eagle, wandte sich von seinen Mitschülern ab und wieder der offenen See zu.
    „Einer spinnt immer, bei zweien wird’s schlimmer. Wie lange eigentlich noch?“, wollte Ray beiläufig wissen.
    „Wärst du vorhin nicht einfach so verschwunden, wüsstest du es. Professor Cenra meinte, die Überfahrt würde etwa eine anderthalbe Stunde dauern. Wusstest du eigentlich, dass die Safari-Zone nur für uns heute geöffnet hat? Wir werden die einzigen Besucher sein“, erklärte Sonja.
    „Umso besser – mehr Platz für Eagle“, sagte er zu sich selbst.
    „Wenn sein Ego noch mehr Platz einnimmt, bricht das Schiff auseinander“, flüsterte Ray grinsend.
    „Was war das?“
    „Nichts!“



    * * *



    Der Ansturm, um von Bord zu gehen, war von weitaus größerer Natur, als der, das Schiff zu betreten. Wer nicht auf beiden Augen blind war oder regelmäßig über seinen eigenen grauen Star stolperte, der realisierte problemlos die Unterschiede der unterschiedlichen Ufer. Vor Ort hatten sich die Einheimischen zweifelsohne auf den Tourismus eingestellt: Bereits aus der Ferne und insbesondere während dem Andocken am sicheren Hafen winkten eine Vielzahl von farbenprächtigen Schaustellerbuden die eintreffenden Besucher an sich heran und lockte dabei vielleicht sogar den noch so verbissendsten und widerstandsborstigen Knauser aus der Reserve. Man hatte kaum auf dem Land Fuß gefasst und das Geräusch der schwappenden Brandung hinter sich gelassen, da wurde man bereits von dem hiesigen Angebot geradezu erschlagen. Frittenbuden oder andere Kalorienbomber standen Rücken an Rücken, Souvenirständchen säumten das Umfeld und nur wenige Meter Luft trennte andere Lädchen wie Infobuden, Meeting-Points, Safari-Anbieter wie auch Spiel- und Spaßzelte, in denen unter anderem Luftballons mit recht schlichtem Pokémon-Aufdruck darauf warteten, für ein wenig Plastik-Krimskrams als glorreicher Preis von einem stumpfen Dartpfeil zur Explosion gebracht zu werden. Der unerbittliche, erneut zum Leben erwachte Menschenfluss aus uniformierten Schülern und drei Lehrern erlaubte allerdings keine störende Unterbrechung seines zerrenden Sogs. Vorbei ging es an den ihre Waren und Dienstleistungen zu völligen Wucherpreisen feilbietenden Ständchenbesitzern, der Frittengeruch wurde ungeachtet von speicheltriefenden Mäulern und knurrenden Mägen hinter sich gelassen und auch dem letzten noch so aufdringlichen Schausteller – Professor Cenra verlor bei einem besonders lästigen Exemplar beinahe die Nerven – den Rücken zugekehrt.
    Ehe man es sich versah, bestaunte man das unter einem verlaufende Landschaftsbild aus gut und gern fünfundzwanzig Metern Höhe in einer von drei großen Personengondeln, in der man in das Zentrum der Insel und somit in die eigentliche Safari-Zone vordrang.
    „Das hätte ich mir so nicht zu träumen gewagt ...“ Sonja teilte dasselbe Schicksal wie der Rest ihrer etwa zwanzig Mitfahrer, von denen ein Großteil die Farbe ihrer Uniform trug und ihre Nasen an den Scheiben platt drückten. Weit unter dem an einem starken Stahlseil hangelnden Gefährt erstreckten sich Quadratkilometer um Quadratkilometer scheinbar unberührter Wildnis, wie sie unterschiedlicher gar nicht sein konnte. Schwebte man gerade noch über das pervertierte Landschaftsbild eines von der sengenden Sonne über Urzeiten geformten Ödlands, spähte man nun plötzlich auf einen fruchtbaren Morast mit metertief reichenden, schlammigen Wassergräben und einem Meer aus menschenhohen Sumpfpflanzen.
    „Traumhaft, nicht wahr? Es wirkt beinahe wie ein Gemälde. Wie Landschaftsmalerei von Künstlern aller Herrenländer“, schwärmte Professor Armadis, der einzige Erwachsene an Bord der Gondel, und trat neben Sonja. „Die Safari-Zone ist ein Biotop aus den unterschiedlichsten Ökosystemen; jedes von ihnen bietet ein Habitat für eine prunkvolle Flora- und Fauna. Keines dieser Gebiete gleicht auch nur ansatzweise dem anderen. Folglich werden Sie den unterschiedlichsten Spezies begegnen, wenn Sie erst einmal mit der Umgebung auf Tuchfühlung gehen.“ Professor Armadis sinnierte für einen Augenblick. „Gerne würde ich von ,einem Wunder der Natur’ sprechen, doch ist natürlich ersichtlich, dass hier Menschenhand am Werk war.“
    „Wo sollen wir hingehen?“, fragte Jake Foley. Er und sein Namensvetter, Jake Miller, neigten sich interessiert in die Richtung ihres gemeinsamen Hauslehrers. Der aber lächelte seinen beiden Schülern nur verlegen entgegen.
    „Was fragen Sie mich? Sie wollen doch ein Pokémon als Freund gewinnen und nicht ich. Es obliegt einzig und allein Ihrer Entscheidung, wohin Ihre Füße Sie tragen.“ Professor Armadis spähte wieder aus dem Fenster, wo man inzwischen in einiger Distanz eine umfangreiche Ansammlung von Blautannen und anderen Nadelbäumen ausmachen konnte. „Selbst die Betreiber der Safari-Zone können bereits seit geraumer Zeit nicht mehr abschätzen, wie viele unterschiedliche Pokémon-Spezies diesen Ort als ihr Zuhause erachten. Es wird Ihnen kaum Probleme bereiten, einen potenziellen neuen Gefährten ausfindig zu machen, ungeachtet darüber, in welcher Zone Sie sich aufhalten. Dann stehen Sie vor der Entscheidung ... Wer natürlich eine spezielle Vorliebe hat oder sich sogar auf eine bestimmte Spezies fokussiert hat, der wird wissen, wo er suchen muss. Übrigens wird unsere Fahrt etwa im Mittelpunkt der Safari-Zone enden. Von dort aus können Sie frei entscheiden, in welche Richtung es Sie lockt. Heute finden keine Safaris für Touristen statt, auch werden Ihnen keine anderen Besucher begegnen. Keine unerwünschten Störungen“, lächelte er, was von vielen Schülern freudig erwidert wurde. Nicht aber von Sonja. Nachdenklich schaute sie dem fernen Hain aus Nadelbäumen nach. Eine spezifische Pokémon-Art? Wissen, wo man suchen musste? Davon konnte bei ihr leider nicht die Rede sein. Überhaupt würde sie sich glücklich darüber schätzen, sich nicht versehentlich auf dem weitläufigen Gelände völlig zu verlaufen oder sogar ihre letzten Augenblicke auf Erden in einem tückischen Sumpfloch zu fristen. Bereits vor der Reise und durch diesen Anblick nun noch mehr bestärkt, fasste sie sich den Entschluss, keine unnötigen Risiken einzugehen und nicht weiter als unbedingt nötig in die Fremde vorzudringen. Das erste Pokémon musste genügen. Es gab einfach keinen Platz für falschen Stolz ... Sie warf einen Blick über die Schulter, wo ihre Kameraden Ray und Eagle beide offenbar bereits genau wussten, wohin es sie verschlagen würde.


    Ungeachtet von Sonjas Vorhaben, höchste Vorsicht bei ihren nächsten Schritten walten zu lassen, kamen die drei Gondeln nach ereignisloser Fahrt wieder auf Bodennähe zum Stillstand. Unschwer wurde Sonja mit der Tatsache konftrontiert, dass es, um sich zu verlaufen, gar nicht nötig war, in die Wildnis aufzubrechen. Wie schon die blühenden Landschaften außerhalb, brachte auch die Gondelstation eine beeindruckende Weitläufigkeit hervor; kaum geringere Konkurrenz als ein topmodern eingerichtetes Kaufhaus oder der Bahnhof einer Großmetropole. An „normalen“ Tagen mussten die auf zwei Stockwerken verteilten, schier unendlich langen Korridore und Räumlichkeiten, die für das körperliche und geistige Wohl herhielten, vor Leben überlaufen. Doch lediglich eine Handvoll der ortsansässigen Läden, Geschäfte und Restaurants luden mit einem „Geöffnet“-Schild die auserwählten Gäste von der Celebi-High für einen Zwischenstopp oder ausgiebige Pause ein.
    „Wir gehen weiter!“ Mit strenger Stimme gebot Professor Cenra den wiedervereinigten Schülern, ihr und ihren beiden Lehrerkollegen zu folgen. Doch auch ohne direkte Aufforderung, hätte man ihr bedingungslos gefolgt, denn so kurz vor dem Ziel, schien wahrlich niemand mehr den lästigen Ablenkungen in den Schaufenstern zu unterliegen oder etwas für den verlockenden Duft, der aus den Restaurants zu ihnen hinüberschwebte, übrig zu haben. Bei jedem „Zur Information“-Schild, das man über den prächtig marmorierten Fußboden passierte, fühlte sich Sonja innerlich immer unbehaglicher zumute. Der quetschende Ring um ihre Eingeweide erreichte schließlich bei der Ankunft an dem fünfspurigen Informationsschalter, an dem an diesem Tage allerdings nur eine Person die Stellung hielt, den Höhepunkt – sie wurden bereits erwartet.
    „Ah, die werten Professoren mitsamt Sprösslingen – pünktlich wie die Maurer. Sie pflegen es nie, sich zu verspäten, habe ich Recht?“
    „Guten Morgen, Mr. Hirvela.“ Jeder der drei Professoren trat hervor und reichte dem freundlich lächelnden, mit Schlips und Anzug gekleideten Mann in Großelternalter die Hand. „Nein, das ist tatsächlich nicht unsere Art“, sagte Professor Armadis. Sein Lächeln war noch das breiteste von seinen Kollegen. „Übrigens möchte ich Ihnen an dieser Stelle noch in aller Form über Ihre gelungene Abhandlung beglückwünschen. Sie haben mich in vielerlei Punkten sehr bewegt.“
    „Sie haben es gelesen?“, fragte Mr. Hirvela. Seine Falten im Gesicht kräuselten sich erstaunt.
    „Gelesen? Verschlungen habe ich es! Ich nehme an, Ihr Essay über die Bewusstseinsentwicklung der Pokémon während ihrer Evolution beruht auf der Arbeit, die Sie hier verrichten?“
    „Ich fühle mich geehrt, dass Sie in so hohen Tönen von mir schwärmen.“ Mr. Hirvela lächelte an dieser Stelle sehr gequält. „Leider muss ich gestehen, rühmen nur wenige meiner Leser mein Werk auf ähnliche Weise. ,Alter Spinner’ ist noch eines der harmlosesten Dinge, die ich mir in den vergangenen vier Monaten anhören durfte.“
    „Das haben Sie in keinster Weise verdient“, sagte Professor Armadis kopfschüttelnd. „In meiner Studienzeit, müssen Sie wissen, wäre ein derartiges ...“
    „Professor, wenn Sie erlauben ...“ Die Professoren Finch und Cenra hatten bereits mürrische Blicke ausgetauscht und auch viele ihrer Schützlinge waren in unruhiges Geflüster ausgefallen. Der Entei-Hauslehrer hatte ihn schließlich unterbrochen.
    „Natürlich, Sie haben ja Recht – wir setzen das später bei einem Kaffee fort“, flüsterte Professor Armadis matt lächelnd in Mr. Hirvelas Richtung.
    „Natürlich. Wir werden noch genug Zeit haben“, zwinkerte Mr. Hirvela.


    Fünf Minuten später waren bereits sämtliche der lästigen Formalitäten abgehandelt und in jeder Schülerhand fand sich plötzlich ein auf Hochglanz polierter Pokéball wieder. Nahezu jeder Schüler nahm Mr. Hirvelas Abschiedsgruß („Viel Glück und natürlich viel Spaß“) als direkte Aufforderung, nun sofort aufzubrechen. Unruhe machte sich in den Reihen der sich gegenseitig auf die Füße tretenden Enteis breit, infizierte die Köpfe der Raikous und machte auch vor den Suicunes keinen Halt. Professor Finchs strenges Gebot war aus diesem Grund ein besonderes Laster.
    „Hierbleiben! Wir sind noch nicht so weit!“
    Ausnahmslos jeder, der bereits den Ausgang im Visier hatte, stöhnte hörbar auf. Professor Armadis schmunzelte, seine beiden Kollegen dagegen verzogen keine Miene.
    „Einige Worte ...“, sagte Professor Cenra.
    „Muss das sein?“, flüsterte Linsey Mac Cullen gut hörbar, schrumpfte aber unter dem strengen Blick Professor Cenras schnell zusammen.
    Die Suicune-Hauslehrerin räusperte sich. „Zwei Dinge, die Sie noch wissen sollten: Es wird Ihnen vielleicht mehr oder weniger bereits bewusst sein, aber Sie sollen wissen, dass Sie dieses Erlebnis, gleichgültig welche Empfindungen in Ihnen regieren, als einen Teil Ihrer Studien ansehen sollten und aus Folge dessen auch so denken und handeln sollten.“
    Niemand sagte etwas. Professor Cenra fasste dies wohl als ein Zeichen des Verständnisses auf und fuhr fort. „Auch ist Ihnen sicherlich bewusst, dass diese Prüfung Ihre Verbindung zu Ihrem Partner ein weiteres Mal auf die Probe stellen wird. Was auch immer Sie tun – auf die bedingungslose Hingabe Ihres Partner-Pokémons können Sie sich stets verlassen.“ Ihre Stimme wurde zunehmend ernster. „Es kann, und es wird bei Ihrem neuen Gefährten aber etwas anders vonstattengehen.“
    Sonja schluckte und nicht wenige ihrer Kameraden und Kameradinnen teilte ihre wiederkehrende Skepsis an den eigenen Fähigkeiten.
    „Wie Sie sicherlich noch wissen, wurde Ihr Partner explizit auf Ihre individuellen Verhaltensmuster abgestimmt. Viele Ihrer persönlichen Eigenschaften haben Sie sicherlich bereits in ihrem Partner wiederentdecken können.“
    „Sieht man an Faksen und Bamelin – beide haben nichts als Wasser im Kopf“, feixte Eagle laut. Manche teilten seine Auffassung von Humor und stimmten in sein Lachen ein. Eine Antwort ließ aber nicht lange auf sich warten.
    „Granger und Staralili – zwei Spatzenhirne“, kam es aus den Reihen der Enteis hervor, in der Rico Tarik sich im Glanze seines Witzes aalte.
    „In welch geistreiche Gestaden, wir uns doch einmal wieder wagen ...“, flüsterte Sonja leise.
    „Schweigen Sie oder Sie beide treten auf der Stelle die Rückfahrt an! Dafür sorge ich persönlich!“, drohte Professor Cenra mit unheilbringender Stimme, setzte sogleich aber mit normalen Ton fort. „Sie müssen sich im Klaren sein, dass das Pokémon, dem Sie in wenigen Augenblicken begegnen, eine andere Auffassung der Dinge vertritt. Sie blicken allesamt auf eine vielleicht stolze, vielleicht traurige, vielleicht auch ruhmreiche Vergangenheit zurück. Diese Pokémon hegen andere Gefühle, haben eine völlig andere Persönlichkeit und sind in ihrem Wesen einzigartig. Ihre Partner schwören Ihnen alle bedingungslose Treue. Dieses Band muss zwischen Ihnen und den wildlebenden Pokémon aber erst geschmiedet werden. Lernen Sie Ihren neuen Gefährten kennen, schließen Sie langsam Freundschaft mit ihm, und so wie er Sie und Ihre Eigenarten irgendwann akzeptieren wird, müssen auch Sie dies bewerkstelligen. Rufen Sie sich das immer in Bewusstsein, wenn sich erst einmal Ihr neuer Gefährte Ihnen angeschlossen hat. Wir treffen uns hier um Punkt 15:00 Uhr wieder. Verspäteten Sie sich nicht. Viel Glück.“
    Professor Cenras Rede endete so abrupt, dass nur die wenigsten Schüler dies anfangs überhaupt realisierten. Dann aber, als endlich einem fast jeden die Wahrheit gewiss war, brach ein heilloses Durcheinander aus. Als ob es keinen neuen Morgen gäbe, trampelten sich Schüler für Schüler im Ansturm auf den Ausgang regelrecht nieder. Sonja wurde einige Male böse hin und her geschubst und fand sich plötzlich meterweit zurückgeworfen in der nun fast völlig ausgestorbenen Halle wieder. Zwei Suicunes wie auch zwei Enteis und die drei Hauslehrer waren ebenfalls noch dort. Die fünf Schüler warfen sich völlig verstörte Blicke zu, die Professoren Cenra, Finch und Armadis schienen dagegen wenig beeindruckt, würdigten dem Spektakel, das auf dem Schulgelände wohl in eine gewaltige Nachsitz-Zeremonie gemündet wäre, keine Beachtung und verfielen in einen Dialog untereinander. So aber hatte sich das Sonja ganz und gar nicht vorgestellt. Kein Ray, kein Skip, kein Eagle. Sie war allein ...

  • Moin Jens,
    sorry, aber ich muss mich heute mal etwas kürzer fassen. Kam es mir nur so vor oder ist der erste Part des zehnten Kapitels etwas kurz ausgefallen. Viel mehr als einige Spekulationen, einige Unterhaltungen und natürlich der allgemeine Spannungsaufbau bei jedem einzelnen Schüler war ja nicht dabei. Aber sicher war das schon so gedacht bei dir und es hat ja auch ganz gut hingehauen. Ich gehe jetzt einfch mal davon aus, dass dieser Part nur die Einleitung für den Aufbruch in die Safari-Zone sein sollte, damit noch etwas Vorfreude beim Leser geweckt werden konnte.
    Der Ausflug hatte dann was von einer Reisestory, was bei der Celeby-High eine nette Abwechlung darstellt, wie ich finde. Klar, es geht erst im nächsten Part wirklich zur Sache, aber deine Erzählung während des Fußmarsches sowie der Schiff- und Gondelfahrt sind wirklich schön. Doch dass du daarin nicht untalentiert bist, weiß ich ja schon seit "Pflicht und Ehre". Ist auch ganz interessant, wie unterschiedlich die Charaktere an die Sache herangehen. Dass Sonja dabei mal wieder mehr Sorge als Freude empfindet, war ja nicht anders zu erwarten gewesen. Jetzt bin ich natürlich gespannt, welche Pokémon sich dieser Verrückten Gemeinschaft anschließen werden, sprich von Ray, Eagle, Sonja und Skip gefangen werden. Teilweise kann man ja schonmal einige genaue Vermutungen anstellen, wenn´s etwa um den Typ geht, aber viellicht baust du auch wieder eine unvorhersehbare Wende ein. Vielleicht fängt jemand sogar gar keinen neuen Partner und vielleicht zieht es jemanden doch von seinen ursprünglichen Plänen weg. Würde mich mittlerweile auch nicht groß wundern und ein bisschen langweilig wäre es doch auch, wenn man das Ergebnis voraugeahnt hätte. Heißt wohl einfach wieder abwarten.
    Zum Schluss noch eine Frage: Du sagtest ja, dass du dich demnächst wieder einer deiner anderen Storys widmen willst (Hoffe es ist PuE). Heißt das, dass dies vorerst dein letzter Beitrag hier war, oder wird das Kapitel noch beendet?



    LG

  • Part 3: Lasst mich nicht allein ...!



    Die Gewissheit, plötzlich mutterseelenallein in einer wildfremden Umgebung aufzuwachen, traf Sonja wie ein Vorschlagshammer ihren zerbrechlichen Schädel. Nein, so hatte sie es sich noch nicht einmal in ihren schlimmsten Alpträumen vorzustellen gewagt. Ray, Skip, Eagle – irgendeiner, der ihr in dieser prekären Situation hätte beistehen können ... sie waren alle fort. Selbst das gepuderte Gesicht von Fabien oder eine ihrer aufgetakelten Freundinnen wäre Sonja in dieser Lage willkommen gewesen. Doch niemand war da, spurlos verschwunden, vom Erdboden verschluckt. Sonja war in diesem Moment viel zu bestürzt, als dass sie auch nur einen boshaften oder gar rachsüchtigen Gedanken ihren Freunden gegenüber hegen konnte.
    Mittlerweile waren auch die restlichen ihrer so schändlich zurückgelassenen Schulkameraden wieder zur Besinnung gekommen und verließen einer nach dem anderen die Station ins Freie. Sonja sah ihnen nach. In ihrer klammen, bebenden Hand hielt sie noch immer krampfhaft den für diese unlösbare Aufgabe erhaltenen Pokéball umschlossen. Er bohrte sich ihr ins Fleisch und tränkte das, was normalerweise eine vornehme blasse Hautfarbe hatte, zunehmend rot. Zu ihrer flauen Empfindung im Magen gestellte sich nun noch das erdrückende Gefühl von den anklagenden Blicken ihrer Lehrer. Sie lasteten schwer auf ihr, zerrten den Ring um ihre Eingeweide noch enger. Äußerst verkrampft atmete die zurückgelassene Raikouianerin aus und versuchte, die bis zum Anschlag stimulierten Nerven und angespannten Muskeln mit kühler Logik zu beschwichtigen. Abermals trug sie keinerlei Schuld an ihrer verqueren Lage, musste aber nun das Beste daraus machen, um sich in einem Stück aus der Affäre zu ziehen. Auch ein kurzer Gang zur Toilette änderte nichts an dieser Tatsache. Sie musste los und sich ihren Ängsten stellen …


    Der späte Vormittag empfing das einsame Raikou-Mädchen mit dem schweren Rucksack auf dem Rücken wohlwollend - kein Wölkchen trübte den sympathischen Herbsttag. Die breite, vollelektronische Tür war noch nicht richtig geschlossen, da nahm sich auch schon ein lauwarmer Luftzug der jungen Besucherin an. Die Bemühungen der Natur allerdings, auf Sonjas Lippen den Hauch eines Lächelns zu zaubern, schienen vergebens. Bei dem fernen Anblick der letzten ihrer sich in alle Winder verstreuenden Schulkameraden schwanden die übrig gebliebenen positiven Gefühle zunehmend dahin. In Gedanken rekapitulierte Sonja noch einmal ihr Vorhaben: Aufbrechen, ein Pokémon als neuen Gefährten gewinnen, schleunigst hierher zurückkehren und die Ankunft ihrer Klassenkameraden abwarten. Zweifelsohne ein guter Plan, an dessen Ausführung es allerdings in jeder Beziehung mangelte. Wie sollte sie beginnen und besonders, wo sollte sie beginnen? Ihr Blick suchte das launenhafte Landschaftsbild ab und tastete sich bedächtig in die Fremde: Zu ihrem Rücken, hinter der monströsen Gondelstation, erstreckten sich eine immergrüne, saftige, aber auch leicht hügelige Landschaft. Palmen, Farne und kleinere, mit grünem Moos überzogene Gipfel, wie man sie aus karibischen Inselabenteuern kannte, säumten das Blickfeld. Ein Stück davon westlich entfernt – eine fruchtbare Schwemmebene mit vielen kleinen Inseln gesäumt von seichten Wasserflächen; wesentlich flacher, dafür aber unzugänglicher, wollte man sich keine nassen Füße holen. Ebenso unwegsam ging es auch in nördliche Richtung: Vorbei an einem kleinen, eingezäunten Wingert – die Reben zierten blaue Trauben – und bis zu zwei Meter hohen Sonnenblumen,drang man auf einen stetig wachsenden, durstigen Bergrücken voran. Die wenigen flachen Ebenen wurden meist von knapp fünf Meter hohen Quittenbäumen bewacht, die, je höher man stieg, immer rarer wurden. Wesentlich blühender – der Osten mit einem nicht allzu weit entfernten dunklen Nadelgehölz, das sicherlich in seinem unergründlichen Inneren so manch ein Geheimnis zu wahren wusste.
    Sonjas Rundschau endete wieder an ihrem Ausgangspunkt, der Gondelstation. Sie seufzte. Was half es? Sie musste ihren Weg gehen – und wenn es sein musste, alleine.
    „Wohin ...?“, dachte Sonja laut, ohne dass sie auch nur für eine Sekunde daran glaubte, eine brauchbare Antwort von irgendwoher zu erhalten. Doch auch wenn ihre Frage jemand beantwortet hätte, was würde es ändern? Ebenso gut hätte sie eine Münze werfen können. Es war gänzlich ohne Bedeutung. Jeder Weg war ein Wagnis; eine Route, die ihre Passanten bei einem falschen Schritt ins Verderben zu stürzen vermochte. Karibisches Tiefland, durch eine seichte Schwemmebene waten, eine leichte Kletterpartie mit der Sonne im Nacken oder doch lieber Förster in einem verworrenen, mit spitzen Tannennadeln gepflasterten Wald spielen?


    „Wie konnte ich mich hierfür nur von dir breitschlagen lassen ...?“
    Evoli piepste empört auf und betrachtete ein wenig beleidigt ihre menschliche Partnerin, die sich augenfällig schwer den langsam an Steigung gewinnenden Berghang hinauf quälte. Sonja fing Evolis gekränkten Ton auf und fühlte sich gleich noch fiel elender zumute, als es vor wenigen Augenblicken noch der Fall gewesen war, auch ohne die unerbittlich an ihr zerrende Schwerkraft und die versengende Sonne im Genick. Evoli zweckte keinerlei Schuld an der Lage ihrer Partnerin, das war ihrer vorbildlichen Loyalität gegenüber alles andere als fair. Sonja hatte eine zweite Meinung zum Thema einholen wollen und sie auch erhalten. Zwar teilte Evoli bis ins kleinste Detail Sonjas Skepsis über das weitere Vorgehen, doch waren sie letztendlich auf einen gemeinsamen Nenner gekommen. Für beide ging es aufwärts.
    „Tut mir leid ...“, entschuldigte sich Sonja wahrheitsgemäß. Letztendlich musste sie sich eingestehen, dass Eagle wohl doch Recht mit seiner Aussage hatte, dass ihre Schul-Utensilien ein Laster für diesen Ausflug bedeuteten. Die klobige Schultasche im Rücken machte das Erklimmen des stetig wachsenden Hangs nicht gerade leichter. Es kam ihr plötzlich reichlich dumm vor, so schwer bepackt in die Fremde aufzubrechen. Selbst Evoli tat sich sichtlich schwer mit dem Aufstieg und hatte dabei deutlich weniger, was ihren Rücken belastete. „Ich bin froh, dass du mir in dieser Stunde beistehst.“ Sonja wischte sich ihre von Schweißtropfen durchtränkte Haarspitzen aus dem Gesicht, bis ihr Blick endlich wieder ungetrübt in die Ferne reichte, erst die Pfotenspitzen, und schließlich den ganzen zierlichen Körperbau ihrer etwas vorauseilenden, nicht weniger schweißgebadeten Partnerin begegnete.
    „Eeev Vui ...“
    „Wahrscheinlich hast du Recht“, sagte Sonja, auch wenn sie lediglich Mutmaßungen anstellen konnte, welche tiefgründigen Geheimnisse sich um Evolis Worte rankten. Sonja warf einen kurzen Blick zurück, dann wieder voraus. Auch ihre vierbeinige Partnerin hob ihren Kopf und spähte den Hang mit seinen kleineren Plateaus hinauf. Beide, Mensch wie auch Pokémon, seufzten im Chor. Sie hatten bereits mehr als die Hälfte des Weges gemeistert. Doch immer noch war das Ziel in weiter Ferne. Kein Pokémon - sah man von der kleinen Evoli ab, die natürlich in diesem ganz besonderen Fall nicht zählte - in Sichtweite.
    „Weiter ...“


    Einmal mehr bestätigte sich die alte Faustregel: Was aufsteigt, musste auch irgendwann wieder runterkommen. Der mühsame Marsch den Bergrücken hinauf bildete da auch keine Ausnahme. Die Hochebene war nur von kurzer Dauer und mündete in nördliche Richtung in eine langsam abfallende Senke. Statt der wenigen zurückgelassenen Quittenbäume hielten nun mehrere kleine Haine aus Bambus ihre Vorherrschaft. Rechter wie auch linker Hand wollte der Weg seine Passanten dagegen noch ein gutes Stück weiter einen Bergpass hinaufführen. Nach kurzer Verschnaufpause – Mensch und Pokémon hatten sich einfach von der Schwerkraft überwältigen und erschöpft auf die Knie fallen lassen – führte sie ihr weiterer Weg die Senke hinab. An so manchen Stellen, wie Sonja nach einigen Minuten ereignislosen und unbeschwerten Fußmarsch feststellen musste, ließ das flaschengrüne Gras der Hochebene erschöpft seine Spitzen baumeln. Es war mehr als schlüssig, dass einige von Sonjas Klassenkameraden auch diesen Weg genommen hatten. Womöglich waren unter ihnen auch Raikous, vielleicht sogar Ray oder Eagle? Allzu großen Vorsprung konnten sie schließlich nicht genießen. Waren sie vielleicht gerade drauf und dran, einen neuen Gefährten zu gewinnen, oder hatten sie es sogar bereits geschafft und waren auf dem Rückweg?
    Instinktiv schnellte Sonjas Kopf etwas höher und schaute hoffnungsvoll in die Ferne. Niemand aber kam ihr entgegen, weder Mensch, Pokémon und schon gar kein kühlendes Lüftchen. Enttäuscht ließ die zurückgelassene Raikouianerin ihren Kopf wieder fallen. Sie war noch immer allein ... nein, nicht ganz. Sonja neigte ihr Haupt etwas nach links, gerade weit genug, um Evoli, die fast lautlos neben ihr hertrottete, zu erhaschen. Im fast selben Moment tat es das kleine Pokémon ihrer großen Gefährtin gleich. Ihre Blicke trafen sich. Erstmalig seit Sonja einen Fuß auf diese Insel gefasst hatte, huschte der Anflug eines zufriedenen Lächelns über ihre Lippen. Sie war nicht allein. Es war genau so, wie Professor Cenra gesagt hatte: Auch in der finstersten Stunde leistete Evoli ihrer menschlichen Begleiterin den lebenswichtigen Beistand. Sonja schätzte sich wahrhaft glücklich, eine solch gute Freundin an ihrer Seite zu wissen.
    „Weißt du, für einen Ort, an dem man viele Pokémon in ihrem natürlichen Lebensraum treffen kann, ist es hier ziemlich ruhig“, scherzte Sonja. Es war ihr erster wahrhaftiger Versuch, zwischen sich und Evoli das Eis zu brechen und ihre Beziehung über die übliche Pokémon-Trainer-Ebene hinauszuführen; dummerweise sehr kläglich, wie sie selbst im Nachhinein anhand ihrer bröckelnden und zaudernden Stimme feststellen musste. Von einem Witz, wie er üblicherweise über Rays Lippen kam, konnte nicht einmal im entferntesten Sinne die Rede sein. Evoli verschränkte fragend den Kopf zur Seite. Auch Sonja vermochte nicht, ihren missglückten Witz auf irgendeine Art und Weise mit etwas Brauchbarem zu ergänzen. Peinliche Stille trat zwischen den beiden Seelen ein, die nur von dem resignierenden Nachgeben des Grases unter den mächtigen Füßen der zwei durchbrochen wurde – plötzlich aber doch noch von etwas Anderem. Die irrtümlich totgeglaubte Umgebung war unerwartet zum Leben erwacht. In dem für das Auge undurchdringbaren Inneren eines nahegelegenen Farnhains, abseits der Lichtung, auf der Sonja und Evoli ihren Weg in die Fremde wagemutig bestritten, regte sich irgendetwas, etwas Lebendiges.


    Sofort durchzerrte ein grässlicher Schmerz Sonjas Gelenke und fraß sich seinen Weg direkt in ihren Kopf. Der völlig unerwartete Ausbruch von Leben in ihrer unmittelbaren Umgebung hatte das Raikou-Mädchen vor Schreck völlig übermannt. Ihr soeben noch für einen weiteren Schritt erhobenes Bein war noch mitten in seiner Bewegung sämtlicher Lebenskräfte beraubt und in ihrem Zaudern leicht verdreht wieder auf den Boden aufgesetzt worden. Sonja fluchte leise auf, während Tränen tatkräftige Versuche unternahmen, aus den Augenhöhlen hervorzubrechen und aller Welt kundzutun, welche Qualen sie litt. Sonja wankte und ruderte verzweifelt mit den Armen, um nicht von der Last auf ihrem Rücken übermannt zu werden und das Gleichgewicht zu verlieren. Am Ende schaffte sie es sogar und hielt sich krampfhaft aufrecht. Sonjas vor Angst bebendes Herz und der eingeknickte Fuß hielten einen Wettstreit, wer die Vorherrschaft in ihrem Gehirn gewann. Am Ende war es dann doch die Furcht. Wieder raschelte es; viel zu unregelmäßig und zu ungestüm, als dass es der ohnehin nicht vorhandene Wind hätte sein konnte. Etwas lauerte in dem Gebüsch. Sonja litt unter heftigen Schweißausbrüchen. Auf eine solche Eventualität hatte man sie nicht vorbereitet. Wie sollte man sich gegen etwas wehren, was man nicht sehen konnte? Flehentlich sah sie zu sich an die Seite, wo sie Evoli vermutete, dort aber nicht fand - sondern mit eingeklemmtem Schwanz und zitternden Knien an der Rückseite von Sonjas betäubtem Bein.
    „Hilf mir“, flehte Sonja. Ebenso gut hätte sie aber auch einen reißenden Fluss darum bitten können, in die andere Richtung zu fließen. Evoli war angst und bange. Statt sich dem raschelnden Gebüsch zu nähern, um dessen nebulöses Geheimnis zu lüften, wisch sie sogar immer weiter davon zurück.
    Ein weiterer Wettlauf begann: Diesmal befanden sich Mensch und Pokémon im direkten Konkurrenzkampf zueinander. Wem wurde letztendlich das Privileg zuteil, hinter dem anderen zu stehen und dessen persönlichen Schutz in Anspruch nehmen zu dürfen? Sonja war kaum einen winzigen Schritt zurückgefallen, als auch schon die kleine Evoli zwischen den Beinen des Menschen hindurchwuselte und sich ängstlich hinter dem Giganten versteckte. Der Ablauf wiederholte sich noch einige Male, bis Sonja – es kam, wie es schließlich kommen musste – ihre Ferse dem drängelnden Pokémon versehentlich in die Magengegend rammte, über sie stolperte, händerudernd und einem panischen Aufschrei hinterrücks umkippte und um ein Haar Evoli, die von diesem heftigen Tritt ebenfalls aus dem Gleichgewicht gebracht worden war, unter sich begrub.
    Pokémon und Mensch schimpften, stöhnten und jammerten im Gleichtakt, nicht aber gegeneinander, sondern vielmehr um das eigene Ungeschick, das ihnen widerfahren war und sich nun in Form von heftigen Gesäßschmerzen manifestierte. Mit der einen Hand schob sich Sonja ihr widerborstiges, mit kaltem Angstschweiß getränktes Haar aus dem leiderfüllten Gesicht, mit der anderen rieb sie sich die pochende Hüfte. Sie fing den nicht weniger geplagten Blick ihrer Gefährtin auf, die sich bereits wieder sammelte und aufraffte.
    „A-alles klar?“, ächzte Sonja. Evoli wimmerte leise. Es war einer dieser Momente, in denen Sonja sämtliche Kontrolle über ihre Handlungen und ihr Denkvermögen verlor. Sogar hatte sie für einige Sekunden vergessen, was sie plötzlich auf dem Boden suchte. Umso schneller aber lichtete sich der Nebel in ihrem Kopf wieder und brachte ihre anfängliche Furcht ans Tageslicht zurück. Ihr Blick schnellte zu der dichten Ansammlung von Farnen herüber, wo noch Augenblicke zuvor das pure Leben regiert hatte – nun aber völlig verlassen schien. Nichts regte sich mehr.
    Erleichtert atmete Sonja aus, Puls und Herzschlag nahmen rapide ab. Auch Evoli war bereits wieder auf den Beinen und hatte sogar, was eigentlich überhaupt nicht ihre Art war, etwas Vorsprung zu ihrer menschlichen Begleiterin eingenommen. Dieser Rückschlag hatte dem Anschein nach deutlich weniger Einfluss auf sie. Sogar ein wenig begierig starrte sie aus einigen Metern Entfernung Sonja entgegen.
    „Schon gut ... ich komme“, stöhnte Sonja. Sie stützte sich mit der linken Hand von dem harten Erdreich ab und wollte sich gerade ebenfalls aufrappeln, als sie von etwas sehr weichem zu ihrer Seite gekitzelt wurde: Evolis buschige Rute.
    Das Gehirn verweigerte ihrer Herrin plötzlich seinen Dienst: Geistige Blockade. Sonjas Kiefer klappte seiner Besitzerin herunter. Sie schaute nach links – da war Evoli, mit ihrem üblichen teils verzagten, teils zaudernden Blick. Sonja rückte ihren Kopf gerade – da war auch Evoli. Vom wirklich allerletzten Haar ihres buschigen Schwanzes, über den etwas bronzefarbenen Fleck an ihrem rechten Vorderbein bis hin zu dem etwas abstehenden linken Ohr ein exaktes Ebenbild. Lediglich der Blick – er war völlig anders. Nicht einmal der Hauch von Ängstlichkeit, vielmehr etwas Zufriedenes, fast schon etwas leicht Neckisches. Es wirkte beinahe so, als ergötzte sich das Pokémon über das Leid ihrer völlig überraschten Beobachter; das plötzliche Entblößen der Zähne, was einem Grinsen gleich kam, untermauerte diese These sogar noch. Sonja empfand es regelrecht als furchteinflößend, war ihr Evoli schließlich so völlig fremd. Krampfhaft musste sie sich immer wieder selbst einreden, dass es sich bei dem verschlagen grinsenden Geschöpf nicht um die Evoli handelte, die sie schon so lange kannte; die Evoli, die ihr bislang niemals freiwillig von der Seite gewichen war; die Evoli, die bei dem Turnier so viel für das Wohl ihrer Freundin erduldet hatte. Das waren nicht ihre bernsteinfarbenen Augen.
    „I-ich wusste nicht, dass du ein Schwesterchen hast, oder ist das dein Brüderchen?“, flüsterte Sonja leise. Ihr Blick verharrte achtsam auf dem fremden Pokémon, während sie sich langsam aufrichtete. Evoli teilte jedoch nicht einmal im Geringsten die Faszination ihrer menschlichen Gefährtin für dieses unheimliche Spiegelbild ihrer selbst. Sogar noch ängstlicher als zuvor schmiegte sie sich an Sonjas lange Beine.
    „Was ist, was hast du?“ Erstmalig löste Sonja ihren Blick und widmete ihrer vierbeinigen Partnerin in Fußnähe ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Evoli erwiderte Sonjas Aussage mit einem verneinenden Piepslaut und unmissverständlichen Kopfschütteln.
    „Nicht?“ Sonja hob den Kopf, gerade noch rechtzeitig, um Evolis Doppelgänger noch kurz dabei zu erhaschen, wie er die das Kopfschütteln des Originals perfekt mimte; nur das verschlagene Grinsen offenbarte den Mummenschanz.
    Abermals lockerte Sonja wieder ihren Blick und schaute zu ihrer getreuen Gefährtin herab, dann wieder dem fremden Pokémon direkt in die Augen. Es stand außer Frage – Evolis Ebenbild machte sich über Mensch und Artgenossen lustig.
    „Also ... Pokémon ist Pokémon, glaube ich zumindest ...“, murmelte Sonja. Notgedrungen hatte sie sich wieder ihren in aller Eile ausgearbeiteten Plan in Erinnerung gerufen: Schnapp dir das Pokémon und dann weg von hier! Ein guter Gedanke. Die Zukunft würde wahrscheinlich mit ihren zwei äußerlich völlig identischen Begleitern etwas unübersichtlich, doch darum konnte sie sich auch ein andermal Gedanken machen.
    „Wir müssen die Gelegenheit beim Schopf greifen!“ Jedes einzelne Wort entfleuchte Sonjas Lippen lauter und lauter, bis sogar Sonja selbst von ihnen halbwegs überzeugt war. Sie entfernte sich mit einem weiten Schritt von dem fremden Pokémon und ließ Evoli somit gezwungenermaßen den Vortritt. Sonja beschwor ihren ganzen Mut herauf, was zwar nicht sonderlich viel verheißen mochte, aber offenbar doch ausreichte, um auch Evoli etwas von der mühsam zusammengekratzten Tapferkeit ihrer Partnerin einzuflößen. Wie sie es im Unterricht gelernt hatte: Müdigkeit durch einen Kampf erzwingen, dann erst durfte der Pokéball zum Einsatz kommen. Ein reibungsloser Ablauf dieses gut durchdachten Meisterplans würde mit der begehrten Heimkehr und dem Ende dieses Alptraums belohnt werden, wie eine gelungene Klassenarbeit in der Schule mit der erhoffen Bestnote belohnt wurde.
    „Den Reflektor!“, befahl Sonja.
    In einem Umfang von etwa einem Meter bildete sich augenblicklich das blassblaue Spiegelmeer um Evolis anfälligen Körper und löste sich, so schnell wie es sich materialisiert hatten, wieder in Luft auf. Die unsichtbaren Wächter schienen bereits vorab eine gewisse Nebenaufgabe zu erfüllen, denn die Grimasse auf den Lefzen von Evolis Doppelgänger schwand zunehmend dahin und verwandelte sich in einen annähernd respektvollen Gesichtsausdruck. Eine weitere, eher tiefgründigere Reaktion blieb allerdings aus. Evoli und ihr Artgenosse standen sich beharrlich Auge in Auge in einigen Metern Entfernung gegenüber. Eine halbe Minute verstrich ereignislos.
    „Geduld!“ Ein Quäntchen Furcht beherrschte nun wieder Sonjas Stimme. Ihr Zaudern ging allerdings nicht auf ihre Partnerin über; die verborgene Kraft, die Evoli innerlich heraufbeschwor, war so tückisch wie all die Kämpfe zuvor. Und abermals – nichts regte sich. War es das, was man als die „Ruhe vor dem Sturm“ bezeichnete? Sonja biss sich krampfhaft auf ihre spröden, vor Verunsicherung bebenden Lippen. Worauf wartete ihr Gegner? Eine Extraeinladung hatte sie bislang noch keinem ihrer Konkurrenten zukommen lassen müssen. Auf Evolis hochkonzentrierten, gleichzeitig aber auch flehentlichen Schulterblick hin zuckte Sonja die Schultern.
    „Jetzt mach schon!“, knurrte Sonja.
    Als ob das Double deutlich Sonjas vor Panik durchtränkten Unterton heraushören oder gar wittern konnte, kräuselte es erneut hämisch die Lefzen. Es tat einen Teufel, anzugreifen, und flötete stattdessen seinen beiden Gegenübern ein hässliches Kichern entgegen. Die Raikouianerin raufte sich innerlich die Haare. Was sollte sie tun? Einer solchen Situation hatte sie sich niemals zuvor konfrontiert gesehen. Wer konnte auch schon ahnen, dass man auf einen solch störrischen Gegner treffen würde?
    „Auf was wartest du?“, unternahm Sonja verzweifelte Versuche, ihren kleinen und widerspenstigen Gegner zu provozieren – vergebens. Außer einem lässigen Augenzwinkern entlockte sie keinerlei Regung von ihrem Kontrahenten. Nur aber auf den ersten Augenschein.
    „Was – was ist das?! Verstärk den Reflektor, schnell!“
    In Sekundenbruchteilen war Sonja in helle Panik ausgebrochen. Die erste tatsächliche Gegenwehr kam wie aus dem heiteren Himmel. Ihr tückischer Gegner hatte sich noch nicht einmal ansatzweise in Bewegung setzen müssen, um eine seltsame rosarote Woge heraufzubeschwören, die sich rasch Evolis Position näherte, sie Augenblicke später umschloss und gefangen nahm. Der purpurne Nebel erreichte auch Sonja. Schützend hielt sie sich ihre verschränkten Arme vor das Gesicht, konnte sich aber dem Bann des Angriffs nicht widersetzen und wurde ebenfalls davon verschlungen.
    Der seltsame Dunst empfing das Mädchen unerwartet einladend: Er war spürbar warm, fühlte sich stimulierend auf der Haut an und lockerte zunehmend die nervös angespannten Muskeln, kratzte aber gleichzeitig auch unangenehm im Hals. Unter einem heftigen Hustanfall presste Sonja den die Nerven reizenden Qualm wieder aus ihrer Lunge. So schnell der Spuk ausgebrochen war, so schnell endete er auch wieder. Der rosarote Nebelschleier lichtete sich und gab die beiden darin Gefangenen völlig unbeschadet wieder frei.
    „Ha!“, stieß Sonja triumphierend hervor. Ihre Provokationen schienen den geplanten Zweck erfüllt zu haben. Waren die anfänglichen Reaktionen ihres Gegners zwar recht schwächlich, so hatte Sonja zumindest die Anbahnung einer Gegenwehr provozieren können. Der erste Schritt war also getan …
    „Hast du nicht mehr drauf? Komm schon!“, stichelte Sonja weiter. „War das etwa schon all… Evoli, was tust du da?! Zurück!“
    Eine völlig unvorhersehbare Wendung der Dinge war eingetreten: Geschockt musste Sonja betrachten, wie sich Evoli immer weiter von ihrem angestammten Platz entfernte und sich zielstrebig ihrem feindlich gesonnenen Artgenossen näherte.
    „Bleib hier!“
    Sonjas Partnerin reagierte nicht. In ihren unvorhersehbaren, leicht schwankenden Bewegungen machte Evoli den Eindruck eines Schlafwandlers oder eines unter Hypnose Stehenden.
    „Zurück!“
    Machtlos beobachtete Sonja, wie ihre getreue Freundin sich an die Seite ihres Artgenossen gesellte.
    „Was soll das?! Was tust du?!“ Diesmal galt der panische Aufschrei direkt Sonjas heimtückischem Gegner. Der aber zwinkerte nur hämisch, kehrte dem Menschen den Rücken zu und entfernte sich mit schnellen Schritten vom Schauplatz – begleitet von Evoli. Sonja schaute den beiden mit rasender Geschwindigkeit kleiner werdenden Geschöpfen fassungslos nach. Dann, nach einer knappen Minute der Machtlosigkeit: „Warte!“


    Der schwere Rucksack drosch im Gleichtakt von den Schritten seiner Besitzerin auf den Rücken des Raikou-Mädchens ein – Sonja hatte die Verfolgung aufgenommen und klebte den beiden flüchtigen Pokémon direkt an den Fersen. Bei jedem einzelnen Schritt, bei jedem Pochen ihrer Seite, bei jedem einzelnen Atemzug dieselbe Frage: Was war nur in Evoli gefahren? Eine Art List ihres Gegners, von der man sie im Unterricht nicht gewarnt hatte? Etwas anderes konnte und wollte ihr nicht in den Sinn kommen. Es war nicht einmal auszudenken, würde Evoli, die sonst so anhänglich ihrer Freundin Treue Dienste geleistet hatte, plötzlich desertieren. Das gäbe aber überhaupt keinen Sinn, traute man der Aussage der Lehrer: Der Partner wechselt nicht einfach die Seiten, das wäre unvorstellbar!
    „Halt!“
    Ihr verzweifeltes Brüllen raubte Sonja nur noch mehr ihrer ohnehin mickrigen Kräfte. Ironischerweise tauchten nun plötzlich, wohin man auch schaute, überall Pokémon auf und beäugten das seltsame Schauspiel von Evoli, ihrem Doppelgänger und dem Menschenmädchen als Häscher. Zu Sonjas Angst, Evoli vielleicht für immer zu verlieren, schoss ihr nun noch die Schamesröte in den Kopf, als sie das ihr höhnisch vorkommende Schnabelgeklapper von den Vogel-Pokémon auf den Bäumen oder den einfach nur neugierigen Blicken der Erdboden-Bewohner auffing. Doch was nützte es? Sie musste weiter. Evoli aus den Augen zu verlieren, wäre ihr Untergang.
    Sonja hechtete einen kleinen Hügel hinauf und ließ zwei abgeschlagene Quittenbäume hinter sich. Evoli und ihr freches Ebenbild kamen näher; dummerweise auch das Ende ihrer längst übertretenen Kraftreserven. Das wiedergekehrte Stechen in ihrer Seite war bereits seit einer geschlagenen Minute unerträglich geworden, der metallene Geschmack im Mund machte jedes Schlucken und jeden Atemzug zu einer höllischen Qual.
    Die Pokémon kamen näher. Ging auch ihnen langsam die Puste aus? Sie schlugen einen Haken und rannten nun westwärts. Sonja folgte ihnen. Ein weiterer Baum wurde von den beiden Pokémon achtlos passiert. Sonja kam allerdings nicht darum, plötzlich für den Hauch einer Sekunde skeptisch über die Schulter zu schauen. Sie glaubte, ganz kurz eine gelbe Uniform am Fuße des Baumstammes gesehen zu haben. Einer ihrer Mitschüler döste unter dem Baum? Doch sie hatte keine Zeit.
    „Bleibt ... stehen!“ Ihrer Verzweiflung nahe, warf Sonja das Einzige, was sie auf die Schnelle hatte finden können: Den ihr zur Verfügung stehenden Pokéball. Er verfehlte das Ziel meterweit und landete irgendwo in einem Gebüsch. Sonja heulte vor Wut und Frustration. Sie konnte einfach nicht mehr. Ihre Schritte verlangsamten sich zunehmend, das überwältigende Stechen in ihrer Brust und in der Seite nahm immer mehr zu. Sie verlor immer mehr die Kontrolle über ihren angeschlagenen Körper. Noch einmal peitschte der eigene heiße Atem ihr mitten ins Gesicht, bevor sie kraftlos zusammensackte.


    Während Sonja ihre schmerzenden Lungen mit der lebensspendenden Luft füllte, umklammerte sie mit ihren zitternden Händen das flache Gras. Immer mehr wurde ihr bewusst, in welche Misere sie sich diesmal manövriert hatte. Nicht nur, dass sie ihren Pokéball verbummelt und somit die einzige Chance, eine ordentliche Zensur einzuheimsen, verspielt hatte, viel schlimmer war noch, dass sie Evoli, ihre beste und getreuste Freundin seit Lebzeiten, verloren hatte. Nein, das durfte nicht sein!
    „Nein ...!“, keuchte Sonja. Ihre Beine zitterten, doch sie hielten das ihre und das Gewicht der vielen Bücher auf ihrem Rücken.
    „Nein ...!“, wiederholte sie eisern und schleppte sich mühsam voran. Ihre Schritte wankten. Die Beine wogen Tonnen. Mit ihrem Arm fuhr sie sich instinktiv über den Mund und befreite sich von überflüssigem Speichel.
    „Evoli ... nein!“ Sonja kam kaum vor der Stelle und nur der grimmige Gedanke, welchen Hohn und Spott auf sie warten würde, wenn sie tatsächlich mit völlig leeren Händen zurückkehren würde, hielt sie überhaupt noch auf den wackeligen Beinen. Doch der Gedanke allein war zu schwach. Abermals klappten ihre Gelenke ein. Stöhnend landete sie auf den bereits zum zweiten Mal in kurzem Abstand geschürften Knien.
    Sie konnte einfach nicht mehr, wollte aber so unter keinen Umständen zurückkehren. Die Blamage ... nicht auszudenken. Lieber wollte sie hier einsam und verlassen zugrunde gehen; niemand würde sicherlich ihr nachtrauern. Sonja vergrub ihren Kopf unter den tauben Armen. Eine dicke Träne kullerte die Wange herab und tropfte leise und ungesehen auf einen Grashalm. Sie verfiel in ein heftiges Husten; jedes Luftholen schmerzte wie tausend Nadelstiche. Und doch ... Sie wollte sich nicht geschlagen geben.
    „Muss ... weiter!“
    Sonja war bereits drauf und dran, ohnehin zum Scheitern verurteilte Aufstehversuche zu unternehmen, als etwas ihren rechten Arm streife, etwas Vertrautes ... Sonja hob ihren Kopf. Das Herz wurde ihr schwer.
    „E-Evoli?“
    Tatsächlich: Evoli war zurückgekehrt. Von Kopf bis Fuß – ihre Evoli. Sie war es, kein Zweifel. Aus der Distanz hämmerte es plötzlich, einer soeben abgefeuerten Kanone gleich. Die Erde zitterte, ein gewaltiger Knall. Was es auch war – Sonja scherte sich keinen Deut darum, es herauszufinden. Bevor sie überhaupt noch irgendeinen weiteren Gedanken verfassen konnte oder das Glück, das ihr widerfahren war, zu hinterfragen, umklammerte sie ihre bereits verloren geglaubte Freundin und erhob sich.
    „W-weg von h-hier ...!“

  • Part 4: Petri Heil, Skip!


    Malcom Grangers oder auch Eagles Umrisse, wie er gerne angesprochen werden wollte, entfernten sich und wurden zunehmend kleiner. Skip beobachtete das Schauspiel noch eine ganze Weile, bis der draufgängerische Raikou vom Schatten eines majestätischen Berges verschluckt wurde. Es stimmte, was die Leute hinter Eagles Rücken tuschelten: Er war zweifelsohne ein seltsamer Vogel. Doch vielleicht war es gerade dieser Grund, warum Skip von seinem gleichaltrigen Klassenkameraden so fasziniert war und sich selbst deshalb so oft dabei erwischte, dass er in Eagles Hoheitsgewässern fischte. Den verwegenen Raikou aus der Reserve zu locken und ihn als Kameraden zu gewinnen, war eine Lebensaufgabe, deren sich Skip aber gerne stellte. Wie man so schön sagte: Spanne das Segel so auf, dass es den Wind fängt. Darum aber musste er sich ein andermal den Kopf zerbrechen. Sich seinen eigenen Problemen stellen und zu neuen Ufern aufzubrechen – aus diesen Gründen war der Schüler des Suicune-Hauses hier.
    Skip wandte sich nun endgültig von dem Anblick seines sich langsam in Luft auflösenden Kollegen ab. Der lange Fußmarsch an Eagles Seite musste ihn in unmittelbare Nähe zu dem weitläufigen Bergsee geführt haben, den er während seiner Gondelfahrt ausgemacht hatte. Schon jetzt hörte er das malerische Gewässer nach sich rufen, konnte das erfrischende Nass schon fast auf seiner Haut kribbeln fühlen, es sogar beinahe riechen. Voll und ganz gab er sich dem verlockenden Ruf hin, schulterte seine Tasche und setzte sich erwartungsvoll in Bewegung.


    Der erste Eindruck hatte wahrlich nicht getäuscht – das Areal der Safari-Zone war mit einem Wort gigantisch. Erst aber mitten in all dieser herrlichen Pracht, umgeben von den Wundern und der Schönheit der florierenden Natur, wurde einem dies richtig bewusst. Andere Menschen, Schüler oder Ranger der Safari-Zone begegneten Skip nicht; dafür aber umso mehr der heimischen Park-Bewohner. An einem der vereinzelten Quittenbäume legte er eine kurze Pause ein und pflückte eine einzige Frucht. Die diesen Baum bewohnenden Pokémon, eine dreiköpfige Familie von Backenhörnchen mit weit hervortretenden Schneidezähnen, begegneten dem Fremden, ohne sonderliches Misstrauen an den Tag zu legen, und auch der Mensch wahrte ein ebenso gleiches Maß des Respekts. Keiner der beiden Parteien hegte einen Groll gegen den anderen, und das war auch gut so. Der Baum trug reiche Früchte – Futterneid war wohl auch unter den Pokémon in dem goldenen Zeitalter ein Fremdwort. Skip dagegen hatte keinerlei Interesse, die friedvolle Einigkeit der Familie gewaltsam zu entzweien. Das lag ihm absolut fern, ja selbst wenn es sich bei ihnen um Geschöpfe des Meeres gehandelt hätte.
    Die Sonne wanderte immer weiter in den Zenit und hatte bereits fast ihren Siegesmarsch zum höchsten Punkt gemeistert, als Skip das stille Gewässer erreichte, nach dem es ihn die ganze Zeit über gedürstet hatte - und nur ein Sprung ins kühle, unwiderstehliche Nass, da war er sich sicher, konnte diesen überirdischen Durst bezwingen. Diesem Anblick ehrfürchtig ergeben ließ Skip seine Tasche von der Schulter gleiten. Ein Porträt - auf die Schnelle war dies das erste und einzig würdige Wort, mit dem er dieses Meisterwerk paradiesischer Baukunst festhalten konnte: Das Wasser rein und klar wie Engelstränen, die ufernden hohen Bäume und Gräser gesättigt und wohlgenährt, die sich in weiter Ferne auftürmenden Berge mit einer zarten Schneedecke wie Kuchen mit Puderzucker bestäubt, die glitzernde Sonne auf den ruhenden Wogen, eine von Menschenhand geschaffene einsame Blockhütte am Rande des Sees als stummer Wächter dieses Paradieses. Das musste der Stoff sein, aus dem Träume gesponnen waren. Skip sog das betörende Odeur in seinen Körper – Balsam für die Seele. Und doch war es natürlich nicht mit der atemberaubenden Schönheit des Meeres an einem lauen Sommerabend bei Sonnenuntergang zu vergleichen. Die stimulierende Brandung der gebändigten See, das neckische Kitzeln der salzigen Meeresbrise in jeder einzelnen Geruchsknospe, das Farbenspiel der sich zur Ruhe bettenden Sonne auf den unendlichen Weiten des Ozeans ... Dort fühlte man sich wahrhaft wie auf kuscheligen, warmen Wolken gebettet. Ein verträumtes Seufzen huschte Skip bei dem Gedanken an den Ozean, an sein Zuhause, seine Familie und die niemals wiederkehrenden Segeltörns mit seinen Eltern über die Lippen. Dann aber schüttelte er sich. So schwer es ihm fiel – er durfte nicht mehr länger in der Vergangenheit verweilen. Auch seine Eltern hätten nicht gewollt, dass ihr einziger Sohn auf ewig ihnen nachtrauern würde, da war sich Skip gewiss. Sicher hätten sie gewollt, dass Skip sein Leben weiterführte und in vollen Zügen genoss, er zu einem großen und stattlichen Mann heranwachsen würde und auf seinem Lebensweg noch viele Freundschaften schließen würde. Und aus diesem Anlass war er auch hier.
    Wie aus einem schier unendlichen Schlaf endlich erwacht, kehrte Skips Verstand endlich wieder in die Welt der Lebenden zurück.


    „Also gut, packen wir es an!“
    Bamelins Auftritt war spektakulär wie stets, wenn er mit dem gleißenden Blitzgewitter gekonnt durch das Netz seines Zuhauses schlüpfte und an der Erdoberfläche erschien; ungesehen jedoch, denn niemand außer seinem menschlichen Gefährten war da, um diesem eindrucksvollen Schauspiel beizuwohnen. Zu Skips großem Wohlgefallen teilte Bamelin die eigene Begeisterung. Sein jüngster Freund ließ es sich nicht nehmen, seiner Freude freien Lauf zu lassen und noch vor dem Menschen den Sprung ins kühle Nass zu wagen. Bamelins Euphorie über das spritzige und erfrischende Vergnügen machte natürlich auch vor Skip nicht lange Halt und riss ihn schon vom Zusehen mit. Nicht länger als unbedingt nötig wollte der Suicune noch auf dem Trockenen verweilen. Die überflüssigen Schuhe und Kleidung wurden für eine schlichte Badehose eingetauscht und grob in die Tasche gestopft. Nur noch die notwendigen Aufwärmübungen, die absolut notwendigen Vorbereiten, bevor man blindlings in sein eigenes Verderben stürzte. Auch dies gehörte zu den Grundlagen, dem Basiswissen, das er einst von seinen Eltern vor deren tragischen Ableben mit auf den Weg bekommen hatte. Gerade die stillen Gewässer waren besonders tückisch und konnten für den ahnungslosen, von seiner beschwerlichen Reise erschöpften Wandersmann ein nasses Grab bedeuten. Skip aber war auf diesem Gebiet geschult und mit ausgiebigen Aufwärmübungen bestens vor den Gefahren einer von dem kalten Wasser provozierten Schockreaktion seines eigenen Körpers gefeit. Bamelin winkte seinem Freund bereits freudig zu; viel länger wollte Skip auch nicht mehr warten. Sorgsam verstaute er Bamelins Pokéball in seine Tasche – er würde ihn vorerst nicht mehr benötigen. Analog dazu wanderte der einzige für diese Aufgabe zur Verfügung gestellte, leere Pokéball in die mit Klettverschluss versehene Seitentasche seiner Badehose. Ein zarter, lauwarmer Windstoß strich durch Skips nun ungebändigtes Haar und kitzelte frech seine nackte Brust. Nichts stand mehr im Weg – es konnte beginnen.


    Der Herzschlag nahm rapide zu, ein unsichtbarer Faden schnürte sich um die Lunge, das spärliche Haar an Armen und Beinen stellte sich erbost auf, Muskeln, Nerven und eine jede einzelne Faser des Körpers verkrampften sich, doch der erste Schock bei dem Eintauchen in das eisige, mit reichlichen Nährstoffen und Sauerstoff angereicherte Wasser des Gebirgssees war dank der sorgfältigen Vorbereitungen schnell überwunden. Skip verlor nach wenigen Schritten den Boden unter seinen Füßen und war fast noch schneller mit seinem bereits erwartungsfroh wartenden Partner auf gleicher Höhe.
    „Alles klar?“ Die an Bamelin gerichtete Frage erübrigte sich. Die Wassermassen schienen an dem resistenten Pelz einfach abzuperlen und erreichten erst gar nicht die darunterliegende empfindliche Haut. Das dichte Fell bot offenbar den idealen Schutz gegen die Kälte des nassen Elements. Skip dagegen musste sich erst den etwas widrigen Umständen anpassen und schwamm einfach drauf los, Bamelin getreu an seiner Seite.
    Das Wasser-Pokémon hatte eine sehr extravagante Art der Fortbewegung: Zwar teilte er in etwa Skips Brustschwimmstil, griff dabei aber noch auf seinen zweigeteilten Schwanz zurück, der im rotierten Zustand einer kräftigen Schiffsschraube in nichts nachstand. Seinen Kopf konnte er dabei problemlos auf die Wasseroberfläche abstützen, als wäre sie eine massive Tischplatte, denn der sonnengelbe Reif um seinen Hals hatte offenbar die Wirkung eines aufgeblasenen Rettungsrings. Bamelin war wie für das Leben im Wasser geschaffen. Skip schaute im ersten Moment recht dumm aus der Wäsche, ließ sich aber nicht lange lumpen und holte seinen frech grinsenden Kameraden mit kräftigem Kraul-Stil schnell ein.
    Zwischen Mensch und Pokémon brach augenblicklich ein erbittertes Wetterennen aus, dessen Ausgang einzig und allein die Ausdauer entschied, denn beide Kontrahenten blieben die ganze Zeit über auf gleicher Höhe.
    „Nicht schlecht ...!“
    Dank der einzigartigen Form der Fortbewegung tat sich Bamelin dem Augenschein nach deutlich einfacher, was seinen menschlichen Gegner allerdings keineswegs dazu veranlasste, vorzeitig das Handtuch zu werfen.
    Die eisige Kälte des Sees war zwischenzeitlich längst überwunden und die sich zunehmend erhitzende Blutbahn kam immer mehr in Wallung. Skip ruderte mit seinen Armen, als fürchtete er um sein Leben. Arme und Beine vermochte er kaum noch in ihrer Existenz wahrzunehmen, das von Bamelin aufgepeitschte Wasser spritzte ihm ins Gesicht. Und doch schienen alle seine heraufbeschworenen Kräfte und Mühen vergebens. Lange vermochte sein Körper den auferlegten Strapazen nicht mehr standzuhalten, bevor er in unzählige Stücke zerbarsten würde. Die letzten mobilisierten Kraftreserven führten Skip – noch immer in einem Kopf-an-Kopf-Rennen mit Bamelin – etwa in das Zentrum des Sees.


    Skips Bewegungen erlahmten; nicht aber weil nun das absolute Limit von Körper und Geist erreicht waren - etwas hatte ihn Augenblicke zuvor am Bein gestreift, etwas Lebendiges. Bamelin driftete noch einige Meter voraus, bis er bemerkte, dass sein Kontrahent wohl die Lust an dem spaßigen Wettstreit verloren hatte. Als er sich neugierig umdrehte, hatte Skip längst den Kopf unter Wasser gestreckt und kundschaftete dort neugierig die unergründliche Tiefe des Sees aus.
    Dunkle Leere lächelte ihm geheimnisumwoben entgegen, wie er es für sich auch erwartet hatte. Der Grund des Sees war kaum zu erkennen; zwanzig bis gut und gern dreißig Meter vermochten es zu sein. Ein Schwingen der glatten Wogen an der Oberfläche ließ vermuten, dass soeben Bamelin zu seinem hellhörig gewordenen Gefährten zurückgekehrt war, Skip aber besaß in jenem Augenblick wenig Interesse für das, was an der mit Atemluft angereicherten Oberfläche vor sich ging, vielmehr dafür, welche Rätsel sich darunter rankten. Einige Sekunden schwebte er in der Schwerelosigkeit und schwenkte seinen Blick umher, bis er es sah: Für Laien kaum mehr als das Trugbild eines Schattens erkennbar, und doch konnten seine für diese Situation bestens geschulten Augen deutliche eine farbenfrohe Ansammlung von glitzernden Schuppen in der Schwärze tief unter ihm ausmachen; zweifelsohne ein beheimatetes Geschöpf des Wassers, das von den Tumulten an der Oberfläche aufgeschreckt worden war und nun in der Bodenlosigkeit seines Zuhauses Obdach suchte. Erst in diesem Augenblick besonn sich Skip wieder an den eigentlichen Grund, weshalb er zu dieser Reise überhaupt aufgebrochen war: Ein Pokémon als weiteren Wegbegleiter gewinnen. Schon fast instinktiv wollte Skip den Klettverschluss seiner Hosentasche lösen, um den Pokéball in die Finger zu bekommen, als ihm plötzlich die bis zu diesem Zeitpunkt verdrängten Fundamente seiner Studien der letzten Woche in den Sinn kamen. Nein, nicht so schnell. Erst ...
    Atemlos wie Skip nach dem Wettrennen war, schnellte sein Kopf für den rettenden Atemzug wieder in die Höhe. Der Sauerstoff tat seine Wirkung – Skips Geist war binnen weniger Sekundenschläge wieder glasklar. Schnelles Handeln war gefragt oder der Fang würde ihm durch das Netz schlüpfen. Sein Blick schnellte eindringlich zu seinem Gefährten an der Seite.
    „Bamelin!“
    Als ob die beiden Körper einen Geist teilten, nickte Bamelin seinem Partner kurz zu, bevor er augenblicklich in die Tiefe verschwand.


    Sanftes Rauschen der Blätter, die sich im lauen Luftstrom wogen, entferntes Gezwitscher der sich auf den Ästen, Zweigen und Baumkronen fröhlich tummelnden Vogel-Pokémon, die pulsierenden, kaum zu hörenden Wassermassen, auf denen der Mensch ritt – ansonsten Stille. Skip verweilte auf der Stelle. Obwohl die Strapazen seines Wettschwimmens fast völlig überwunden waren, wollten Atmung und Herzschlag kaum zur Ruhe kommen. Er wagte es nicht, sich auch nur einen Millimeter von der Stelle zu rühren, geschweige denn erneut seinen Kopf unter Wasser zu halten. Sein Blick verharrte auf der plötzlich nicht mal ansatzweise spiegelglatten Wasseroberfläche – ein sich innerhalb weniger Augenblicke transformierter, aufgewühlt schäumender Hexensud.
    „Da bläst er!“
    Skip konnte es sich einfach nicht nehmen lassen, sein Frohlocken verbal allen auf der Welt kundzutun. Bamelin hatte es geschafft! Den weißen und zartroten Schuppen voran durchbrach ein elfenbeinfarbenes, fast ellenlanges Horn die Wasseroberfläche. Die Ansammlung von prächtigen Schwanz- und Rückenflossen wirkten im ersten Moment wie ein Schleier oder gar vornehmes Festgewand. Ein Pokémon von der Spezies Golking, sowohl in Süß- als auch in Salzwasser heimisch, sofern seine seemännischen Kenntnisse und die unzähligen Segeltörns mit seinen Eltern ihn nicht trogen. Und was für ein gewaltiger Brocken! Sicherlich mehr als achtzig Pfund brachte der an die Oberfläche getriebene Fang auf die Wage.
    Die seidenen Flossen droschen nervös auf den Wasserspiegel ein, in den starren, schwarzen Augen spiegelte sich die Erregung für diese Ruhestörung wider. In Sekundenbruchteilen stieß auch Bamelin an die Oberfläche hervor. Der Ring um seinen Hals blähte sich augenblicklich wieder zu seiner typischen Größe auf und erfüllte wieder voll und ganz seine Aufgabe als Schwimmreif. Der Zeitpunkt war gekommen. Den Gegner schwächen und im Anschluss dann den Fang an Land ziehen.
    „Sauber! Jetzt hol ihn dir!“
    Das Wasserballett konnte beginnen.


    Erneut brach ein Wettstreit aus. Auch dieses Mal standen die Zeichen ganz in Sachen Überlegenheit der Fortbewegungsgeschwindigkeit im Wasser. Skips vormaliger Platz wurde von Golking eingenommen, wobei man deutlich erkennen konnte, dass es sich hierbei um ein sehr unfreiwilliges Vergnügen des Wasser-Pokémons handeln musste. Statt eines Kopf-an-Kopf-Rennens war es schon zu Beginn in eine erbitterte Jagd ausgeufert mit Golking in der Rolle des Flüchtlings und Bamelin als aufdringlicher Häscher. Das Treiben weitete sich immer weiter aus. Dank seinen unermüdlich rotierenden Schwänzen vermochte Bamelin mit spielender Leichtigkeit mit seinem flüchtigen Vordermann Schritt halten. Er trieb Golking vor sich her; flüchtig entwich seinem geöffneten Mund eine kleine Salve von glitzernden Sternen, die Golking hinterrücks zusetzten und dessen geplagte Rufe hervorbrachten. Bei jedem dieser Manöver fiel Bamelin einige Meter zurück; den Abstand holte er allerdings wieder schnell auf. Noch immer schien das hinterrücks von Bamelins Attacken gepeinigte Wasser-Pokémon keinerlei Absichten zu verfolgen, sich mit seinen spitzen Zähnen oder dem vernichtenden Horn zur Wehr zu setzen. Stattdessen versuchte Golking wiederholt, erneut in die Tiefe hinabzutauchen, was Bamelin aber immer wieder gekonnt unterband und seine Beute, nach kurzem Abtauchen, erneut an die Oberfläche trieb.
    Beide Pokémon umkreisten zwischenzeitlich Skip, der das ganze Geschehen sorgfältig musterte. Die weiße Schaumspur der aufgewühlten See wurde eingeholt, noch bevor sie wieder eins mit den restlichen Wassermassen werden konnte. Die Geschwindigkeit von Golking nahm derweil zunehmend ab. Abermals prasselte ein Sperrfeuer kleiner, gezackter Sterne auf seinem Schuppenkleid auf, wieder begleitet von seinen deutlich missgestimmten Rufen nach Vergebung und dem Ende seiner Pein. Jetzt erst recht hatte Bamelin Blut geleckt und witterte seine Chance auf einen reichen Fang.


    Der ganze See vibrierte plötzlich. Eine gewaltige Schallwelle erschütterte die Landschaft. Doch weder Skip, Bamelin oder gar Golking zweckte Schuld daran, was aber dennoch alle Beteiligten dazu veranlasste, sich im selben Moment zu der Quelle des Spektakels zuzuwenden, und somit eine unerwartete Unterbrechung der Jagd einleitete. Grauer Qualm stieg von dem Massiv am Fuße des anderen Ufers auf. Nicht aber von der Spitze des Berges, was man als einen drohenden Vulkanausbruch hätte interpretieren können, sondern von einem Cliff, noch nicht einmal in halber Höhe des Gebirgszuges. Gesteinsbrocken hagelten herab, klatschten auf das erst für wenige Sekunden zur Ruhe gekommene Gewässer auf. Die von der Wucht des Aufschlags heraufbeschworene Welle war noch in einem guten Kilometer Entfernung zu spüren. Skip wurde leicht durchgeschüttelt - und doch war es auch schon wieder vorbei. Der Rauch nahm ab, keine weiteren Geräusche drangen mehr in sein Ohr – nur noch das sich vorsichtig wieder einstimmende Orchester der Fernen Vogel-Pokémon.
    „Da oben hat sicherlich jemand gerade seinen Spaß ...“, stellte Skip fest. Die Gedanken, was da oben wohl gerade vor sich ging, verflüchtigen sich schnell wieder. Ebenso schnell holte ihn dafür sein Verstand wieder ein. Er wollte sich ohne weitere Umschweife wieder dem noch längst nicht entschiedenen Kampf der beiden Pokémon zuwenden, doch sein Blick traf lediglich Bamelin. Golking hatte die Gunst der Stunde wohl erkannt und zu seinem Vorteil genutzt.


    „Weg ...“
    Enttäuscht ließ Skip seinen Kopf fallen. Ein Fehler – Wasser füllte seine Atemwege. Einen Großteil spotzte er sofort wieder aus. Der Rest kam nach und nach mit einem kräftigen Hustenanfall wieder zum Vorschein oder aber lief ihm nach und nach endgültig die Kehler herunter.
    „Weg ...“, röchelte er erneut und schnappte nach Luft. Dieser Fang war ihm durchs Netz gegangen.
    Bamelin näherte sich seinem Kameraden wieder. Mit mitleidvoller Miene sah er ihm entgegen.
    „Buo ...“
    „Nicht deine Schuld“, antwortete Skip kopfschüttelnd. „Du warst einfach nur grandios. Wir machen einfach weiter, okay?“
    Bamelins zuversichtliches Nicken und das siegesgewisse emporrecken seiner Tatze steckte an. Der Misserfolg war vergessen. Noch einmal schweifte Skips Blick dem Berg hinauf, wo er gerade noch glaubte, wieder etwas gehört zu haben. Doch keine sichtbaren oder verbalen Anzeichen waren mehr wahrzunehmen. Der Sturm, oder was auch immer, musste sich gelegt haben.
    „Sollen wir es vielleicht mal da drü...“
    Skip stockte die Stimme. Seelenruhig, als ob man gerade den gewöhnlichsten Dingen des Alltags nachgehen würde, paddelte ein kleines Geschöpf unmittelbar an dem im ersten Moment völlig verdutzt dreinblickenden Menschen vorbei. Mit dem lässigen Rückenkraulstil machte das Pokémon, dessen Identität Skip nicht kannte, zwar keine so anmutige Figur wie Golking zuvor, bereitete dafür aber mit einer wenige Zentimeter hohen Wasserfontäne, die unaufhörlich aus seinem Mund hervorquoll, einen recht humoristischen Anblick. Größentechnisch konnte der kleine Wicht, der selbst noch Bamelin um ein gutes Stück unterragte, Golking nicht das Wasser reichen. Auch die im Sonnenlicht so schön funkelnde Muschel, die etwa in Bauchhöhe fest ankerte, war keine Konkurrenz zu dem schleierartigen, prächtigen Flossenkleid seines schuppigen Vorgängers. Der leicht korpulente Körperbau eignete sich dafür aber zweifelsohne für das Leben sowohl an Land wie auch zu Wasser, zumindest erweckten die kurzen, blauen Paddelfüße den Eindruck. Die Sommersprossen – es konnten auch die ersten Anzeichen für einen extravaganten Bartwuchs im Anfangsstadium sein – in dem weißen Gesicht mit der großen, plattgedrückten, braunen Nase hatte etwas schelmisches, wodurch die ganze Vorstellung nur noch ulkiger herüberkam.
    Zwischenzeitlich umkreiste das fremde Pokémon Skip und Bamelin in einer kleinen Rundbahn. Es wirkte tatsächlich so, als ob der Schelm Eindruck vor seinen beiden Zuschauern schinden wollte – und es funktionierte sogar, zumindest ansatzweise. Skip konnte nicht anders – er musste über das imponierende Gehabe des Neuankömmlings grinsen.


    „Ahoi! Welche Flut hat dich denn angespült?“
    Skips Worte schienen auf das fremde Pokémon zu wirken, denn brach der kleine Springbrunnen aus dessen Mund ab. Neugierig sah der kleine Racker zu Skip herüber, während er zum dritten Mal in Folge an Skip und Bamelin vorbeiruderte. Dann plötzlich ...
    Skip reagierte zu langsam. Ein Wasserstrahl, viel stärker als das kleine Wasserspiel von zuvor, traf ihn mitten ins Gesicht. Erschrocken und dem Mund voller Wasser tauchte er ungewollt ab, dann aber auch gleich wieder auf. Er rieb sich die tränenden Augen, bis die Umgebung wieder schärfer wurde und das belustigte Lächeln auf dem Gesicht des Unruhestifters vor ihm auftauchte. Das Pokémon lachte, zweifelsohne über den Menschen.
    Auch auf Skips Lippen zeichnete sich ein amüsiertes Lächeln ab. Irgendwie konnte er nicht wirklich böse sein. Und überhaupt: Wasserspiele? Da war er mit von der Partie. Beinahe unaufmerksam näherte er sich dem fremden Pokémon, bis er in Reichweite war, um den Frechdachs mit einer kleinen Flutwelle zu überschwemmen.
    „Na, wie gefällt dir das?“
    Sein Gegner beantwortete Skips dreiste Frage mit einem weiteren Wasserschwall direkt aus dem Mund. Diesmal war Skip gefeit, tauchte ab, unter dem Pokémon hindurch und erst hinter dessen Rücken wieder auf. Er packte seinen ahnungslosen, vor Schreck schreienden Spielgefährten und zerrte ihn gewaltsam unter Wasser, wo sofort eine kleine Rangelei zwischen Mensch und Pokémon begann.
    Einige Minuten später und nach erbitterte Rangelei lagen alle drei - Bamelin hatte es sich nicht nehmen lassen können, irgendwann in das Vergnügen miteinzusteigen -
    japsend, völlig erschöpft und mit den ersten Anzeichen eines baldig eintretenden Muskelkaters auf der Wasseroberfläche. Von einem klaren Sieger konnte man nicht reden, zumindest bis zu diesem Zeitpunkt: Skip fasste sich als erstes wieder. Der Zeitpunkt war gekommen. Etwas anders als man es ihn in der Schule gelehrt hatte, doch was sollte es? Seine Hand öffnete den Klettverschluss seiner triefnassen Hosentasche. Er bekam den kleinen Ball zu fassen. Jetzt nur nicht das Ziel verfehlen ...
    „Dann mal los! Machen wir Klarschiff! “
    Auf Knopfdruck wuchs der Pokéball auf ein Vielfaches seiner normalen Größe an. Er flog in hohem Bogen durch die Luft und prallte genau gegen den rechten Arm des noch immer erschöpft auf dem Rücken in der Sonne badenden Pokémons. Der Ball hing nach dem Aufprall schwerelos etwa einen halben Meter über der Wasseroberfläche. Wie von Zauberhand öffnete er sich plötzlich. Das soeben getroffene Pokémon verfärbte augenblicklich von Kopf bis Schwanzflosse in ein Rosarot, bevor es sich gänzlich auflöste und im Inneren des Balls verschwand. Erst in diesem Augenblick übte die unerbittliche Schwerkraft wieder ihren Einfluss auf – die Kugel klatschte aufs Wasser und versank langsam. Skip tauchte ab, barg den Pokéball mühelos in wenigen Meter Tiefe und kehrte an die Wasseroberfläche zurück.
    „Hat es ... geklappt?“
    Skip musterte das Ding in seiner Hand argwöhnisch. Der Pokéball zuckte und surrte. Er musste ihn fast mit zwei Händen festhalten, damit er ihm nicht durch die Finger glitt. Dann aber erstarb die zum Leben erwachte Kugel.
    Klick!
    Noch stark verunsichert ruhte Skips Blick auf dem Pokéball in seiner Hand. Ein kurzes rotes Signal auf dem Kern des Balls – so hatte man es ihm im Unterricht gesagt, wenn der Fang erfolgreich war. Und Eben dies war gerade geschehen. Bedeutete das etwa ...?
    Zum zweiten Mal in Folge krachte es; nicht aber so laut wie zuvor. Und dennoch war es laut genug, um die Wasseroberfläche erneut zum Schwingen zu bringen. Skips Blick schnellte auf. Wieder kam es von Berg auf der anderen Seite des Sees. Im gleichen Moment krachten abermals besonders große Gesteinsfragmente auf das nahe Ufer des Gewässers auf, dicht gefolgt von einem, sofern er sich nicht schwer täuschte, menschlichen Schrei. Jetzt wollte er es wissen ...


  • Jo Jens,
    ich weiß, ich bin en Schwein, dafür dass ich dich so lang hab warten lassen. War halt ne Zeit nicht da. Dann lass ich dich auch mal nicht länger warten.


    Sonja, Sonja, Sonja, was mach ich nur mit dir? Weißt du, es gibt immer wieder einen Punkt, an dem ich dachte, blöder kann sich das Mädel doch nicht mehr anstellen, doch sie hat es wieder geschafft. So einen lächerlichen, erbärmlichen und dermaßen peinlichen gescheiterten Fangversuch hat ja die Welt noch nicht gesehen. Nicht nur, dass ihr das zweite Evoli auf unglaublich demütigende Weise auf der Nase rumgetanzt ist, nein sie bringt es sogar beinahe fertig, sich ihr Evoli ablucksen zu lassen. Dabei hatte ich den Gedanken, dass sie ein weiteres fängt, zunächst sehr interessant gefunden. Schießlich scheint das wilde Evoli - von dessen Charakter Sonja sich mal eine ganz große Scheibe abschneiden darf - einen völlig anderen Kampfstil zu verfolgen, was ihr einiges an Möglichkeiten eröffnet hätte. Aber daraus ist ja zumindest fürs erste nix geworden. Vielleicht hilfst Ray da später nochmal nach, würde zu ihm passen. Aber eigentlich sollte er mal aufhören, ihr dauernd Fische zu geben und ihr das Angeln beibringen. Sie muss endlich mal lernen, sich selbst zu helfen. Ich meine, wie schafft sie es denn, an einem Ort, der für jeden anderen Schüler der Celei High wie der Himmel ist, sich wie in der Hölle zu fühlen.


    Wenigstens hat Skip einen Erfolg zu verzeichnen. Bei ihm sah das zeitweise uch nicht sehr souverän aus, aber manchmal vergisst man auch ein bisschen, dass man es hier fast ausschließlich mit ahnungslosen Anfängern zu tun hat. Dass er das Golking hat entkommen lassen, war allerdings - so unnötig es auch war - eine gute Sache, wie ich finde, da ich diesen übergroßen Goldfisch nicht ausstehen kann. Aber ein Ottaro passt echt gut zu ihm und nebenbei: wenn es nur halb so lustig ist, wie Ash´s Ottaro aus dem Anime, wird das demnächst echt super. Nebenbei erkennt mn bei ihm wirklich die Leidenschaft für Wasserpokémon und den Pokémonkampf. Den Part mit ihm hab ich sehr genossen und ich hoffe, dass es von der Sorte mehr geben wird.

  • Part 5: Hoch hinaus


    Ein schmaler, steiniger Bergpass in luftigen zweihundert Fuß Höhe lag vor Eagle. Nur ein knapper halber Meter trennte ihn davor, einen steilen Fall in das darunterliegende, etwa zwei Quadratkilometer große Gewässer zu stürzen. Begleitet wurde jeder seiner bedächtigen Schritte von der Gewissheit, dass hier zweifelsohne die stärksten Pokémon des Areals, fern von den neugierigen Blicken der Außenstehenden, trainieren würden, weswegen er überhaupt den Aufstieg gewagt hatte. Doch noch etwas Anderes, eine ungebetene und äußerst lästige Stimme, um es genau zu sagen, spukte ebenfalls in seinem Kopf herum und vernebelte ihm zunehmend die Sicht für das wirklich Wichtige, was vor ihm lag. Ein Unterdrücken der nervtötenden Klänge scheiterte bereits im Keim. Die letzten von Skip Faksen an ihn gerichteten Worte hallten immer wieder in seinen Gedanken wider – ein Abführmittel für seinen Verstand: Der Suicune hatte ihm gutes Gelingen gewünscht ...
    „Viel Glück, Eagle. Ich fange mir ein Wasser-Pokémon, Eagle. Wasser-Pokémon fäng man im Wasser, Eagle ...“, ahmte der Raikou Skips Stimme auf herablassende Art und Weise nach. Vor Wut kickte er einen kleinen, unschuldigen Stein mit seiner ganzen ihm zur Verfügung stehenden Kraft in das unweigerliche Verderben über die Klippe. „Der kann sich doch nicht einmal eine Erkältung fangen, geschweige denn, ein Pokémon.“
    An dieser Stelle stoppte Eagle. Er nutzte die kleine Pause, um sich den gröbsten Schweiß von der Stirn zu wischen. Der steile Aufstieg zollte seinen Tribut und hatte ihn sehr geschlaucht. Die Füße hatten bereits auf halbem Weg - über die sich unbarmherzig durch die Sohle bahnenden spitzen Steinen - zu ziepen begonnen. Aufgeben, nun da er fast den Berg in die Knie gezwungen hatte, stand für ihn allerdings überhaupt nicht zur Debatte. Er musste weiter. Dieser Trip in die Ferne war die Gelegenheit, um der schon jetzt geballten Macht von Staralili mit einem neuen Gefährten, der ihr den Rücken stärkte, noch mehr Durchschlagskraft zu verleihen. Seine größten Zweifler, Tarik, Faksen und natürlich Sokol ... Er wollte ihnen endgültig ihr vorlautes Maul stopfen.
    Mit einem grimmigen Vergnügen im Gesicht raffte sich Eagle entschlossen auf. Nur kurz schweifte sein Blick über das steile Gefälle ins Tal herab, wo in dem kristallklaren Gewässer zwei winzige, kaum mit dem bloßen Auge erkennbare Punkte sich ihren Weg in das Zentrum bahnten, bevor Eagle desinteressiert wieder seinen eigenen Geschäften nachging.


    Der gewundene Bergpass war launisch wie ein spätherbstlicher Herbstwind, der sich verbissen gegen die eisige Hand des unausweichlichen Winters zu wehren versuchte. Mal ging es steiler voran, ein andermal mündete der sich zunehmend verengende Pass wieder in ein steiles Gefälle. Weitere enge Wege schlangen über und unter Eagles Kopf in dem Berg hinweg. Kleinere Höhlen, Risse und Spalten formten das Massiv wie es das Alter am Gesicht eines Greises tat. Die Sonne brannte unbarmherzig. Derweil hatte sie den Gipfel ihrer Macht erreicht und lachte triumphierend auf die Erdbewohner herab. Seinen Rücken an die raue, gezackte Felswand gepresst quälte sich Eagle vorsichtig voran. Seinen bebenden Füßen blieben nur wenige Zentimeter Spielraum. Kleinere Kiesel lösten sich und rieselten in die Tiefe herab, ließen sich entweder von dem sanften Luftstrom in alle Winde verstreuen oder bruchlandeten nach langem Fall in dem bewegungslosen Gewässer im Tal.
    Das Plateau gewann langsam wieder an Breite. Trotz dass sich in der schwindelerregenden Höhe noch nicht einmal ansatzweise Spuren von Leben vor den Augen des menschlichen Eindringlings offenbart hatten, war Eagle dennoch unerschütterlich. Sein Glaube, dass diesem rauen und trostlosen Flecken Erde eine bestialische Macht inne wohnte, war ungetrübt. Natürlich stolzierten die vor Kraft strotzenden Pokémon nicht einfach so vor den Augen der Öffentlichkeit herum – da könnte ja wirklich jeder kommen. Man musste sich ihnen als würdig erweisen; das, oder Gewalt anwenden!
    Auf direktem Geheiß ihres menschlichen Kameraden befreite sich Staralili aus ihrem Pokéball. Ihr schwarzweißes bis graues Federkleid schimmerte in der frühen Morgensonne, Schnabel und Krallen blitzten auf, ihre Augen funkelten, ihrer Kehle entwich der markante spitze Schrei – sie war in Hochform.
    „Dreh mal ’ne Runde um den Block und schlag ordentlich Radau. Scheuch die Jammerlappen aus ihren Verstecken!“
    Das unwegsame Terrain nahm keinerlei Einfluss auf Staralili. Die grenzenlose Freiheit des Vogel-Pokémons war auch im Angesicht des grauen, steinernen Giganten ungebrochen.


    Durch das soeben eingetretene Fehlen von dem Knirschenden Sandes unter Eagles Sohlen und Staralilis sich rasch entfernendes Flügelschlagen kehrte ein beschaulicher Frieden um das zerklüftete Narbengesicht des Berges ein. Der kleine, schwarzweiße Punkt folgte noch einige Sekunden dem vorgegebenen Weg, bevor er immer weiter in luftige Höhen entschwebte und hinter einem Felsvorsprung verschwand. Müde und entkräftet atmete Eagle aus und ließ sich einfach auf einen der kleineren, ihm umlegenden Felsen nieder. Hoch auf, wie er war, reichte sein Blick weit. Der See, ein kleines Wäldchen dahinter, eine Hochebene, ... Und überall tummelten sich kleine Punkte, mit dem bloßen Auge kaum zu erkennen. Über dem weit im Westen gelegenen Morast stieg dunkler Rauch auf; zweifelsohne war dort ein erbitterter Kampf entflammt. Es fragte sich nur, wer am Gewinnen war ...?
    Lose Geröllkiesel zu den Füßen des Menschen hatten plötzlich zu tanzen begonnen. Erschütterungen jagten immer wieder über den Boden, Staub rieselte vom steilen Hang herab, Staralilis entfernter wütender Schrei durchschnitt die Luft. Die aufgekommene Müdigkeit hatte Eagles Glieder schlagartig wieder verlassen - er war wieder auf den Beinen. Staralili schoss um einen schroffen Felsen, doch war sie nicht mehr allein. Ihre aufgebrachte, schrille Stimme wurde von dem nicht weniger wütenden Gegrunze ihres Verfolgers begleitet – ein, wenn Eagles Augen ihren Besitzer nicht zum Narren hielten, - zum Leben erwachter, wandelnder Felsbrocken. Während die mächtigen Schritte des fremden Pokémons über den Boden polterten, fuchtelten die beiden kräftigen, weit emporstehenden Arme durch die Luft, um sich Staralili, der übergroßen Schmeißfliege, zu entledigen.


    Die schwerfälligen Schritte des Gesteins-Pokémon erlahmten schließlich, als es realisierte, an welchem Punkt die Hetzjagd bei konstantem Weg enden würde. Staralili kehrte derweil zu ihrem menschlichen Gefährten zurück, kreiste zwei- bis dreimal um dessen Kopf und nahm schließlich auf Eagles rechter Schulter Position ein. Wichtigtuerisch plusterte sie sich auf und fixierte ihren plötzlich zur Regungslosigkeit verdammten Häscher scharf.
    „Wo hast du den da aufgegabelt? Konntest du nichts Besseres finden?“
    Eagles anklagender Blick traf auf Staralilis verteidigendes Flügelspreizen und beleidigtes Gekrächze. Beides mündete im Anschluss auf eine überhebliche Grimasse der beiden in Richtung des wandelnden Felsbrockens.
    „Falls du es noch immer nicht verstanden haben solltest, Steinvisage, deine Präsenz hier ins unserer nicht würdig und beleidigend.“
    Das Pokémon runzelte seine steinerne Stirn.
    „Ich glaube, unser dicker Freund ist schwer von Begriff“, schmunzelte Eagle in Staralilis Richtung.
    „Stararara!“
    Noch immer machte das Gesteins-Pokémon keinerlei Anstalten, das Feld zu räumen. War es nun tatsächlich so stumpfsinnig und in seinen Gedanken so primitiv oder aber unnachgiebig und stur wie eben nur ein Fels sein konnte? Eine Hand voll Kies, eine mehr als deutliche Geste seitens Eagle, prasselte gegen die unförmige Stirn. Eine tiefgründigere Reaktion abseits eines verwirrten Kratzens der schuppigen Gesteinsschichten blieb allerdings aus. Der Geduldsfaden der Gegenpartei litt dafür umso mehr.
    „Verpfeif dich!“
    Ein dumpfes Grunzen war die einzige Regung auf Eagles wütendes Gebell. Sein letztes bisschen Geduld war unter dem immensen Gewicht seines Gegenübers zerquetscht und zu einem breiigen Mus verarbeitet worden. Nichts weiter als ein stummer, dafür aber fuchtiger Blick in Richtung Staralili war nötig, um deutlich zu signalisieren, was zu tun war: Augenblicke später entfesselten sich die wütenden Böen aus Staralilis Federkleid und ließen die Enttäuschung und die aufgestaute Frustration an dem Gesteins-Pokémon aus.
    „Wirf ihn von der Klippe!“ Die Anordnung kam kaum gegen die heulenden Winde an, dennoch aber intensivierte Staralili augenblicklich ihre Bemühungen wie auch ihre schrillen Schreie.
    Plötzlich mit sich und der Welt wieder völlig zufrieden beobachtete Eagle, wie das plumpe, störrische Pokémon von den kräftigen Winden arg in Mitleidenschaft geriet, sein unförmiges Gesicht krampfhaft verzog, sich wie ein schwächlicher Ast im Sturm krümmte und somit erstmals tatsächliche Anzeichen gab, dass es am Leben war. So und nicht anders mussten Pokémon-Kämpfe aussehen. Keine komplizierten Rechenoperationen, wie so manch ein Fachidiot einem Glauben machen wollte. Nur die Stärksten und Zähesten konnten hier, auf dem Gipfel des Könnens, glorreich aus dem Kampf hervorgehen - das hier war die wahre Königsdisziplin.
    Die Widerspenstigkeit war dem Gesteins-Pokémon noch immer nicht ausgetrieben, denn entflammte unerwartet die erste tatsächliche Gegenwehr – ein monströses, ausgebrachtes Brüllen entwich seiner Kehle; lauter als Eagles Anfeuerungsrufe, lauter als Staralilis schrilles Geschrei und lauter als ihre Windböen, die ununterbrochen auf den schuppigen Felspanzer eindroschen. Ein langsamer, doch verwegener Schritt folgte dem nächsten. Die Reichweite zwischen Staralilis zierlichem Körper und den kurzen, dafür aber gewaltigen Händen, die aus den Gesteinsformationen hinausragten, schrumpfte zunehmend dahin.
    „Dräng ihn zurück! Mach schon!“
    Ein halbes Dutzend sichelförmiger, in einem gleißenden Weiß erstrahlende Luftklingen entfesselten sich aus Staralilis Federspitzen und fanden schnell ihr Ziel. Das fremde Pokémon hiebte aufgebracht mit den mächtigen Stummelarmen nach der unerwarteten Gegenoffensive, als ob es einen Schwarm äußerst lästiger Schmeißfliegen verscheuchen wollte – doch vergebens. Ein rasselnder Halbmond nach dem anderen prallte gegen die massiven Gestirnswülste. Der wandelnde Felsbrocken geriet ins Straucheln und taumelte zurück.


    Der Unmut über die lautgewordenen Provokationen forderte seinen Tribut; keine der typischen Reaktionen allerdings, die sich der Raikou-Schüler erdacht hatte, zumindest war er mit einem derartigen Verhalten nicht vertraut. Ein erboster Aufschrei über diesen forschen Angriff entblößte zwei Reihen gräulicher Zähne. Der Boden zitterte unter der brachialen Gewalt der beiden Füße, unter deren aufgebrachtem Stampfen der Kies zu Staub zermahlen wurde. Doch kam das Pokémon nicht näher oder übte einen persönlichen Rachefeldzug gegen die Dreistigkeit seiner gefiederten Gegnerin aus; zumindest keine, die Eagle bekannt war ... Als ob man einen Ballon aufblasen würde, blähte sich der klobige, heftig pulsierende Steinkörper auf. Selbst die kleinsten der asphaltgrauen, steinernen Warzen, die seinen grotesken Leib säumten, nahmen sekundenschnell ein leuchtendes Rot an – erst gesund wie ein pausbäckiger Apfel, dann feurig wie glühende Kohlen, bin zu einem Scharlachrot, das die tiefste Finsternis hätte durchdringen können.
    Die Indizien für das drohende Unglück nahmen nun selbst in Eagles sonst so willensstarken Gedanken Form an, wie auch die Proportionen seines von Wut gespeisten, sich selbst aufblasenden Gegners an Fülle gewannen. Eagle schluckte. Der mittlerweile knallrote Felspanzer seines Gegners hatte zu knistern begonnen, als wollte er jeden Augenblick die Rüstung sprengen. Das Heil in der Flucht zu suchen, hörte sich im Anbetracht des herannahenden Desasters plötzlich gar nicht mehr grundlegend falsch an. Seine selten wabbelnden Knie zumindest sprachen deutliche Bände, auch wenn sein Stolz es gut verstand, diesen unerwünschten Zustand der Schwäche zu heucheln. Doch was nützte Stolz, wenn man womöglich nur Sekunden davor war, in Stücke gerissen zu werden ...?
    „Zurück, Staralili!“
    Das verdächtige Grollen zu seinem Rücken, Staralilis sich rasch näherndes Flügelschlagen wie auch der knisternde Dreck unter seinen Sohlen verfolgte Eagle auf seinem überstürzten, doch nur sehr kurzen Rückzug.


    Die Wucht der Selbstdetonation war noch kilometerweit zu hören, die Druckwelle selbst unterhalb der spiegelglatten Wasseroberfläche des Bergsees deutlich zu spüren. Wirklich fatal ereilte es aber dem grimmig ins Tal blickenden Berg und allen, die ihm auf der unförmigen Nase herumtanzten. Die Explosion riss den Reißaus nehmenden Menschen buchstäblich von den Beinen. Sein vor Protest klingendes Trommelfell war nur sein geringstes Problem, als ihm Staralili wie ein lebender Federball gegen den Hinterkopf klatschte, er zwei knappe Meter wie Spielzeug durch die Luft wirbelte, brutal mit der rechten Schulter voran auf den Felsboden krachte und sich die spitzen Gesteinsscherben vom Schlüsselbein bis zum Ellenbogen hinab in das warme Fleisch bohrten, um dort eine sich rasch rot färbende Schneise der Verwüstung zurückzulassen. Von den in Mitleidenschaft geratenen Klippen und Felswänden ergoss sich ein lawinengleicher, trockener Dreck- und Kiesregen über das unmittelbare Umfeld, verschluckte dabei Staralilis verängstigten Aufschrei wie auch Eagles Aufstöhnen und bettete Mensch und Pokémon unter einer dünnen Staubschicht.


    Nur noch mehr Steinsplitter bohrten sich in die beiden schon jetzt arg zerkratzten Hände wie auch durch den Stoff seiner Hose in die bebenden Knie, als sich Eagle stöhnend aufraffte. Der Sturm, so heftig er auch war, hatte sich rasch wieder gelegt; das Ausmaß der Zerstörung blieb allerdings verharren. Der sich sehr langsam lichtende Qualm der Explosion und eine klaffende Wunde im Berg, dort, wo das Gesteins-Pokémon seinem ganzen Unmut freien Lauf gelassen hatte, erinnerte die Zeitzeugen daran, welches Unglück soeben über den Gebirgszug hereingebrochen war. Doch auch Eagles brennende Schulter und sein zermürbte Arm würden ihn sicherlich noch lange Zeit an diese bittere Lektion erinnern: Provoziere niemals mehr ein dir unbekanntes Pokémon. Von der Quelle, dem Verwüster selbst, fehlte allerdings jedwede Spur.
    „Bist du okay?“ Arg zerzaust, einige Federn verkrümmt, ansonsten schien Staralili aber soweit in Ordnung zu sein, hatte sie zumindest nicht das unfreiwillige Vergnügen, den Boden so brutal begrüßen zu dürfen, als es bei ihrem Partner der Fall gewesen war. Sie klackerte einige Male schnell mit ihrem Schnabel - eine deutliche Bescheinigung ihres halbwegs guten Wohlbefindens, fixierte dabei aber argwöhnisch die Verletzung ihres Fürsorgers. Auch Eagle beäugte grimmig den höllisch brennenden Arm zu seiner Rechten: der Preis des Misserfolgs. „Es ist in Ordnung. Machen wir weiter“, antwortete er auf Staralilis strengen, doch zugleich fürsorglichen Blick. Mit seinem gesunden Arm versuchte er die Wunde vor den seltenen frechen Böen des Berges zu verbergen, was ihn allerdings bei Berührung direkt vor Schmerz zusammenfahren ließ. Das Schnabelgeklapper nahm sogleich einen vorwurfsvollen Unterton an. Doch umkehren stand, nun da die Gefahr vorerst gebannt war und der nur kurzzeitig gebändigte Stolz wieder seine Ketten gesprengt hatte, völlig außer Frage. Mit einer derartigen Blamage wollte er sich nicht schmücken, weder vor seinen Hauskameraden noch vor den Suicunes und schon gar nicht vor Rico Tarik und dem Rest seiner Entei-Bande.
    „Zähne zusammenbeißen“, knurrte Eagle. „Wäre dir kein gutes Vorbild, wenn ich mich von der Lappalie“, er fixierte seinen Arm abfällig, „aufhalten lassen würde.“
    „Rar!“ Staralili plusterte sich ablehnend auf. Sie war deutlich anderer Meinung.
    „Wie lange kennen wir uns schon? Du weißt, dass ich genau so dickköpfig wie du sein kann. Also gib es auf!“ Insgeheim aber wusste Eagle natürlich, dass gerade weil Staralili seine Sturheit teilte, sie so schnell nicht klein bei geben würde. Da vermochte auch sein noch so strenger Blick nichts daran zu rütteln, denn würde er mit einem noch viel strengeren, durchdringenderen Blick beantwortet werden. Staralili aber lag, als sie sich einmal kurz eingeschnappt von ihrem verbohrten Gefährten abgewandt hatte, plötzlich keinen Sinn mehr darin, mit dem Menschen ihren ewigen Streit fortzuführen, was Eagle natürlich nicht entging und er ihrem eisernen Blick in Richtung des nur auf den ersten Blick leeren Unglücksortes leicht verwirrt folgte. Die vermeintliche Stille trog: Sie waren nicht allein.


    Die Wut des sich in Luft aufgelösten Gesteins-Pokémon hatte zweifelsohne ein weiteres Opfer gefordert. Unter einem der vielen unscheinbaren Kiesbetten, die die Explosion und der darauf folgende Schuttregen mit sich gebracht hatten, rührte sich noch schwaches Anzeichen von Leben – dann aber umso lebendiger. Eagles anfängliches Erschrecken war selbst in seinen Augen gerechtfertigt. Dem ersten Augenschein nach war es ein armdicker Wurm mit einem äußerst gefährlich wirkenden Dorn an dessen Ende, der durch das Geröll hindurchschlingerte und durch die Luft peitschte, um die kleinsten der lästigen Gesteinsbrocken beiseite zu schieben. Analog dazu hievten zwei gewaltige Scheren die schwere Trümmerlast von dem breiten und hochgewachsenen Köper, der nicht weniger skurril als die restlichen Extremitäten wirkte. Auch unter der Staubschicht war der gänzliche Körper in einen vergissmeinnichtblauen Farbeimer gefallen. Die beiden nur kurzen Beine in Verbindung mit den gewichtigen Scherenhänden erweckten nicht gerade den Eindruck, als handele es sich bei diesem Wesen um ein leichtfüßiges Pokémon. Das Gesicht seines Gegenübers vermochte Eagle nicht zu erkennen, da die Kreatur mit dem Rücken, der völlig von einer hautdünnen Membran bedeckt wurde, zu ihm stand. Die Aufmerksamkeit des Pokémons hatte er offenbar noch nicht auf sich und seine Partnerin gezogen.
    Eagle und Staralili teilten in ihren Blicken zueinander die gleiche Skepsis über diesen
    unerwarteten Besucher. Im frühen Nachhinein war Eagle aber schon fast wieder herbe enttäuscht. War zwar das kurzbeinige, schwerfällig wirkende Opfer der Explosion durch sein furchterregendes, abschreckendes Erscheinungsbild eine deutlich verlockendere Wahl als der felsgesichtige, missgelaunte Bombenleger zuvor, doch fehlte ihm natürlich das gewisse Etwas – die majestätische Grazie, die nur dem Flug-Typ in die Wiege gelegt wurde. Die Suche nach dem Thronprinz der Lüfte, der an Staralilis Seite herrschen könnte, musste wohl oder übel weitergehen.
    Das enttäuschte Schnauben Eagles ließ sämtliche Alarmglocken des sich bis zu diesem Zeitpunkt noch über die Anwesenheit des Menschen und dessen gefiederte Partnerin in Unkenntnis befindenden zweibeinigen Skorpions schlagen. Der unheilbringende Dornenschwanz peitschte durch die Luft, als das Pokémon in heller Aufregung herumwirbelte und es sich über den Ursprung Klarheit verschaffte.


    Der Fluss der Zeit geriet für beide Parteien ins Stocken. Drei wie Juwelen funkelnde Augenpaare, wie sie unterschiedlicher kaum sein konnten, fixierten einander: Auf der einen Seite Eagles fragende und noch ein wenig nachdenklich wirkende Smaragde; neben ihm die zu argwöhnischen Schlitzen verengten, gefühlskalten Diamanten Staralilis; zu guter Letzt noch die weit aufgerissenen, schon fast verstört wirkenden Aquamarine des Fremden. Lediglich Vermutungen mochten eventuell erklären, welche Ausmaße dieses verworrene Handlungsnetz annehmen würde. In Eagle regierte noch immer ein innerer Zwist, ob er nun den Kampf oder vielmehr die Flucht antreten sollte, hingegen Staralili bereit war, ihren verwundeten Kameraden bis zur letzten Feder zu verteidigen. Was aber war mit dem dritten im Bunde? Welche Absichten verfolgte er? Dem bloßen Augenschein zu Folge war er alles andere als glücklich mit seiner Situation und schon gar nicht erpicht darauf, in diesem Theaterstück weiterhin die ihm ungewollt auferlegte Hauptrolle zu spielen – das Gegenteil war sogar der Fall: Anders als der steinerne Pyrotechniker, der sich mit seinem Arsenal an Spezialeffekten vor seinem Publikum und dem Rest der Welt öffentlich profiliert hatte, schien es seinem Ersatzmann sogar deutlich gegen den Strich zu gehen, länger als unbedingt nötig in dem grellen, aufdringlichen Rampenlicht zu stehen, weshalb er auch - spektakulärer als ihm wahrscheinlich lieb war – seinen Vorhang fallen ließ und im wahrsten Sinne des Wortes vor den Augen seiner Zuschauer bühnenreif entschwebte.
    Eagles Kiefer klappte herab, das Herz dagegen machte einen solch gewaltigen Hüpfer, dass es das ganze Gebirge hätte leicht überspringen können. Ein schwacher Windstoß hatte die hauchdünne Rückenhaut des Pokémons erfasst und somit deren eigentlichen Nutzen entlarvt: Gleitschwingen. Auf dem Boden war es mit seinen kurzen Stummelbeinen und den schweren Scherenhänden zweifelsohne langsam und anfällig. Machte es sich allerdings die Elemente zu eigen, konnte es wie ein Ritter zu Ross auf den böigen Bergwinden reiten und vermochte sogar den Himmel zu stürmen. Der kräftige Dornenschwanz diente als Heckruder, die mächtigen Scheren waren seine furchteinflößende Lanze, sein grimmiges Aussehen die stählerne Rüstung, vor der die Erdbodenbewohner eingeschüchtert Reißaus nahmen.
    „Ihm nach!“ Der nur sehr kurze Augenblick der Selbsterkenntnis bot dem Raikou-Schüler kaum einen Augenblick, um seine eigene Entscheidung anzuzweifeln, ganz zu schweigen von einer weiteren Absprache mit seiner Partnerin. Diese Gelegenheit war einmalig. Sie untätig verstreichen zu lassen, zog er nicht einmal den Hauch einer Sekunde in Betracht.
    Seinen Arm hatte Eagle völlig vergessen, auch dass er eigentlich zukünftig bei der Wahl unbekannter Gegner etwas mehr Vorsicht wollte walten lassen. Der Aufwind war schwach und doch hatte er dem Himmelsstürmer bereits den Weg in fast zwei Meter Höhe geebnet – und ein Ende schien nicht in Sicht. Eagle ignorierte seinen pochenden Arm. Er rannte als hinge sein Leben an einem seidenen Faden. Die Beine stießen sich kraftvoll vom Boden ab, die Arme ausgebreitet und das Ziel fest im Visier. Für eine Umkehr war es zu spät. Die beiden menschlichen Hände verfehlten nur knapp die spitze Nadel und packten stattdessen den zweiten der drei Chitinringe des muskulösen Schweifs.


    Die längste Sekunde seines Lebens baumelte Eagle hilflos in der Luft, seinem erbost protestierenden, mit den Scheren ziellos ausschlagenden Träger auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Seine Muskeln und Sehnen, mit denen er sich Halt an dem widerspenstigen Luftikus verschaffte, waren zum Zerreisen gespannt, der Schmerz in seinem Arm führte einen verbissenen Kampf gegen die Frage in seinem Kopf, ob er dieses Mal nicht zu weit gegangen war.
    Selbst das Element der Luft musste sich dem Gewicht von Mensch und Pokémon schließlich geschlagen geben. Der gewaltige Ruck von Eagles Andockmanöver hatte der schwächlichen Böe ihrer Stärke beraubt und brachte Mensch wie auch Pokémon wieder auf den harten Boden der Tatsachen.
    „Au! Verdammt!“
    Mit dem Gesäß voran prallte Eagle auf die mit scharfen Steinen gepflasterte Erde, nur etwa einen halben Meter von dem steilen Abhang ins Tal hinab entfernt. Kleinere Kieskörnchen lösten sich von der Kante und verstreuten sich in alle Winde. Das ängstlich zappelnde Pokémon, dessen Hinterteil Eagle noch immer fest in seinem Griff hatte, klatschte bäuchlings auf den Boden. Sein Überlebenswille war jedoch längst noch nicht erloschen, der Widerstand trotz seines beraubten Vorteils ungebrochen. Die Scheren zerpflügten in ihrem Wahnsinnstanz die Luft, doch waren die Arme zu kurz, als dass sie den lästigen Menschen dahinter erreichen konnten.
    „Beruhig dich verdammt! Staralili!“
    Staralili, die während des ganzen Spektakels aufgebracht kreischend ihre Runde um das seltsame Paar gezogen hatte, schien sich noch immer nicht zu helfen zu wissen. Einen direkten Angriff konnte sie nicht riskieren, war schließlich die Gefahr groß, dass sie inmitten dem Gewirr aus malmenden Scheren und Gliedmaßen ihrem Freund versehentlich ihren Stempel aufdrückte. Immer wieder schnellte sie herab, brach ihren Angriff dann aber wieder schrill kreischend ab, umkreiste abermals das rangelnde Paar auf dem Boden und suchte nach einer sich auftuenden Lücke – doch da war nichts. Eagle bereitete es immer herbere Probleme, den wütend ausschlagenden Hinterschweif weiterhin im Zaum zu halten. Mittlerweile versuchte er seine Geisel nur noch mit der Gewalt eines Armes zu bänden; nicht aber, da der andere ihm längst seine Dienste verwehrt hatte, sondern weil er verbissen etwas in der Hosentasche suchte und schließlich und endlich in Form des kleinen, rotweißen Balles auch fand, den man ihm für diese Aufgabe mit auf den Weg gegeben hatte.
    Die letzten der nach Befreiung trachtenden Scherenhieben hatten dem steinigen Untergrund gegolten. In seinem Akt der Verzweiflung brüllte sich der Verursacher regelrecht die Seele aus dem Leib, während ihm zwischenzeitlich dicke Tränen aus den azurblauen Augen quollen.
    Die Ereignisse überschlugen sich: Ein weiteres Mal krachten die unheilbringenden Greifinstrumente auf den Boden. Im selben Moment löste sich das Pokémon in einem purpurroten Licht auf und entschwand im Inneren des Pokéballs, den Eagle an den Chitinpanzer gedrückt hatte. Die bereits die ganze Zeit über bedrohlich knirschende Klippe kapitulierte nun endgültig von den wiederholten dampfhammerartigen Scherenschlägen und der ohnehin gewaltigen Explosion zuvor und löste sich in seine bröckeligen Bestandteile auf. Staralili stieß einen panischen Schrei aus. Eagle verlor den Boden unter dem Hosenboden.
    Die schroffen Gesteinsfragmente jagten ihm auf seinem freien Fall nach. Der Wind peitschte ihm ins Gesicht, sein Magen stülpte sich quer, die Stimmen in seinem Kopf sangen seinen Untergang herbei. Der Pokéball, den er fest umschlossen in seiner gesunden Hand hielt, tobte einen verzweifelten Kampf. Die Welt stand Kopf, dann wieder normal, drehte sich auf seinem freien Fall immer wieder, als wäre er auf einer ungebremsten Achterbahnfahrt. Doch auf keinen dieser Loopings war ein Ende ersichtlich. Ende der Fahnenstange. Seine letzten Flüche wurden von der rasenden Luft verschluckt.
    Platsch!
    Eagle durchbrach die Wasseroberfläche, als ob ihn ein Speerhagel aus spitzen Eiszapfen gepfählt hätte, und jagte noch metertief hinab. Luftblasen stiegen hinauf. Mit dem letzten Atemzug schnürten die Lungen zu und füllten sich augenblicklich mit eiskaltem Gebirgsquellwasser. Eigentlich hatte er bereits gänzlich mit seinem Leben abgeschlossen, weshalb es ihm natürlich auch niemals in den Sinn gekommen war, die Luft anzuhalten. Im Nachhinein war es aber natürlich gleichgültig, ob der Aufschlag ihm den Garaus gemacht hätte oder er wie ein Stein versinken würde – konnte er schließlich nicht schwimmen ...
    Der zappelnde Inhalt in Eagles Hand hatte längst noch nicht aufgegeben und führte seinen eisernen Kreuzzug gegen die ihm auferlegten Ketten fort, völlig ahnungslos, dass er sich mittlerweile metertief in der eisigen Kälte eines pechschwarzen Sees befand. Noch schwärzer wurde es Eagle aber vor den Augen, während er unaufhaltsam in die andere Bewusstseinsebene driftete. Und doch, trotz dass es völlig unmöglich war, irgendwie den Kopf aus dieser meterdicken Schlinge ziehen zu können, klammerte er sich krampfhaft an den fuchtelnden Pokéball, als vermöchte die kleine Kugel ihm das Leben zu retten.
    Gute Nacht! Ein Schwall dicker Blasen entstieg seinem Mund, bevor er sich endgültig mit dem Schicksal seines nassen und gar eisigen Grabs abgefunden hatte.


    „... mach schon!“
    Die Ohren pfiffen, die Wangen brannten, das erdrückende Gefühl im Brustkorb kam einer ganzen Tanzschule gleich, die sich mit einem wilden Walzer und hochhackigen Schuhen darauf vergnügten. Wenn es sich hierbei um das Nachleben handelte, eine derart unendliche Straße der Qual und des Leidens, dann lohne sich das tatsächliche Leben zweifellos.
    „Hast du nicht gehört? Wach auf! Komm schon! Wach auf!“
    „Gilp?“
    Ein greller Pfeifton durchdrang die gefühlte zentimeterdicke Mauer in den Gehörgängen. Ein verirrter Wassertropfen kitzelte frech im rechen Ohr. Alles war pechschwarz und doch fühlte es sich nicht kalt, sondern sogar seltsam warm an. Ein Geräusch, als ob jemand gerade mit einer saftigen Ohrfeige bestraft worden wäre, durchbrach die Finsternis. Erneut loderte der Schmerz in den Wangen auf. Eagle wollte sein Leiden hinaus in die ganze Welt schreien, doch drückte ihm scheinbar etwas gewaltsam den Mund zu. Ein schrilles, ihm äußerst vertraut vorkommendes Krächzen schaltete sich ein und durchbrach den grellen Pfeifton in den Ohren. Staralili?
    Eagle riss die Augen auf. Tageslicht! In seinen matten Beinen hatte sich gerade genug Kraft gesammelt, um Skip Faksen, der über ihm kniete und ihn wohl bereits die ganze Zeit über bearbeitet und georfeigt hatte, wüst ans Schienbein zu treten, bevor er ihm noch einmal die Lippen für den Kuss des Lebens aufpressen konnte. Skip, der seinen Klassenkameraden ans trockene Ufer gezogen hatte, jubelte, lachte und fluchte zugleich, Eagle brach dagegen in einen heftigen Hustenkrampf aus, der mit jedem einzelnen Atemzug mit einer ganzen Reihe fröhlich vor seinen Augen tanzender Sterne beantwortet wurde.
    „W-was fällt dir ... verdammt noch mal ein?!“, krächzte Eagle. Im gleichen Augenblick nahm ihn ein ganzer Schwarm Federn völlig in Beschlag – Staralili war zu ihm gekommen, schmiegte sich gurrend an den triefnassen Körper seines Freundes. Eagle nutzte den einen Moment, in dem er sich von dem oberkörperfreien Bild des Suicunes abwenden konnte, und tätschelte Staralili zärtlich den Schnabel.
    „Was mir einfällt?“, grinste Skip sichtlich erleichtert. „Außer dich aus dem See gefischt das Leben gerettet zu haben?“
    Eagle funkelte seinen Lebensretter böse an. „Hab’ dich nicht darum gebeten!“
    „Kein Problem. Willst du wieder rein?“ Skip winkte nach rechts, wo in nur wenigen Metern Entfernung das Ufer bereits wieder endete und zu einem Sprung ins kühle Nass führte.
    „Laber nicht!“
    „Wie viele Meter waren das? Einhundert? Einhundertfünfzig?“
    „Tut mir ja wahnsinnig leid, dass ich es wohl versäumt habe, ein Fahrtenbuch zu führen! Und jetzt rück mir von der Pelle!“, keifte Eagle. Er hatte es satt, seine Zeit mit dem lästigen Suicune zu verschwenden. In dem Glauben, er hielte einen äußerst geschmeidigen Stein in der Hand, der eigentlich viel zu gut für Skips Schädel war, wollte er bereits ausholen, als er das Objekt endlich realisierte. Die smaragdgrünen Augen weiteten sich.
    „Du warst ohnmächtig, bist abgesoffen wie ein Stein, warst eiskalt, als ich dich an die Küste gezogen habe, aber den Pokéball hast du nicht losgelassen. Du würdest eine gute Reuse abgeben, weißt du das? Übrigens: Was ist mit deinem Arm?“
    Eagle konnte sein Glück kaum fassen. Alles kam ihm irgendwie unwirklich, fast wie ein nebulöser Traum vor. Doch die Wärme der Sonne auf seiner Haut und die kühle Brise, die ihm durch das nasse Haar streichelte, waren real.
    „Geht dich ja wohl nichts an – und überhaupt: Was ist mit dir?“, erwiderte Eagle.
    Skip fuhr sich eiligst über die Stirn, wo ein kleiner Riss klaffte.
    „Staralili war nicht gerade zimperlich, als ich dir helfen wollte ...“
    Staralili klackerte abfällig mit dem Schnabel und wandte sich mit hochmütigem Gesichtsausdruck von dem Suicune ab.
    „Wirst es verdient haben ...“ Hier pausierte Eagle kurz. Er schluckte. „Danke ...“
    Skip runzelte die Stirn, bevor er aber antworten konnte, schnitt ihm Eagle bereits wieder das Wort ab. „Erwarte jetzt aber bloß keinen Orden, klar? Und das bleibt unter uns! Auch klar? Und jetzt gib mir gefälligst dein Handtuch!“
    „Aye!“, lachte Skip, half seinem Schulkameraden auf die Beine und wanderten im Anschluss gemeinsam in Richtung der Blockhütte in Ufernähe, die eine warme Mahlzeit in Aussicht stellte.

  • Huhu
    jetz, da ich mich überwunden hab, 'n Kommi reinzuhauen, kommt ein..... KOMMI!^^
    Rechtschreibfehler? Wenn einer drin war, hab ich ihn nich gefunden, ich such aber auch nicht danach :D
    So, der gute Eagle Granger mit seinem Pyrotechnicker und einem Zahnskorpi - war doch Skorgla ne? Den Gesteinsfritzen hab ich allerdings nich erkannt, bin aber auch bei sowas extrem schwer vom Begriff :D - Geowaz oder so vlt :D
    dass es dann bei eagle boomen muss war ja fast zu erwarten gewesen. was mich interessiert - sprengt sich das pokemon bei dir komplett wech oder sprengt es nur die äußeren scichten weg?
    Dann der Zahnskorpi auf Axe - Eagle hat das mit'm Pokemonkampf nicht so ganz gerafft glaub ich, da er sich ja selber beteiligt. Dass er dann den Flug-typen auskosten konnte, war super - ab ins Wasser mit ihm :D
    typisch war die reaktion nach skips widerbelebungsversuchen, war richtig amüsiert :)
    das wars schon,
    Almarik

    Warum wollen Männer keine Osterhasen sein?


    Rechtschreibfehler sind rein zur Belustigung da. Ihr müsst mich auch nicht darauf hinweisen, wie toll ihr sie fandet.