[tabmenu][tab=Was bislang geschah]
Bereits drei Monate sind ins Land gezogen, seitdem Ray Valentine mit seinem verspäteten Schulstart in der Celebi-High ein neues Zuhause gefunden hat. Keine Woche musste vergehen, bis fast ein jeder Schüler und ein jeder Lehrer wusste, mit wem sie bei dem notorischen Schlappmaul, Scherzkeks, Zuspätkommers, Nachsitzkönig und Schrecken eines jeden Notendurchschnitts dran waren. Für Ray aber natürlich alles kein Problem. Mit seinem vierbeinigen Freund Sheinux immer an seiner Seite, unterstützt in fast allen Lebenslagen von seiner besten Freundin, Sonja Lynn, und der gelegentlichen Erfahrung von Rückendeckung seines eigenbrötlerischen Zimmergefährten, Malcom Granger (Rufname Eagle), sieht er der Zukunft gelassen entgegen.
Freunde kommen und gehen, Feinde sammeln sich an: In der bislang nur kurzen Schulzeit hatte jeder der drei Schüler des Raikou-Schulhauses bereits gewisse Hürden zu meistern. Mit ihrem spektakulären Auftakt bei dem Schulturnier der ersten Jahrgangsstufe, bei der sich Sonja und ihre Partnerin, Evoli, bis ins Halbfinale mauserten, ließ die strebsame, dafür aber leicht schüchterne Schülerin ihre größten Kritiker, drei besonders aufdringliche, modefetischistische Suicune–Schülerinnen, vor Neid erblassen.
Eagle dagegen kämpfte sich erfolgreich in die Finalerunde durch. Sein zielsicheres Handeln führte ihn vorbei an seinen bittersten Rivalen und verschaffte ihm unter seinen Mitschülern den Respekt, nach dem es ihn verlangte. Für den Sieg reichte es leider nicht aus und so musste er und seine gefiederte Partnerin, Staralili, die größte Niederlage ihres Lebens einstecken.
Ray nahm seine Pleite bei dem Turnier, in dem es für ihn leider bereits im Viertelfinale Ende der Fahnenstange hieß, gelassen hin; soll doch schließlich der Spaß an der Freude im Vordergrund stehen. Drum sieht er sich mit dem Ende der Herbstferien mit seinen üblichen Problemen konfrontiert: Wie den Berg voll Hausaufgaben nachholen und dem Einfluss der einschläfernden Stimme seines zahlenfanatischen Mathematik- und Pokémontraining-Lehrers überstehen?
Nicht allzu weit von alledem entfernt, lockt der Ruf nach neuen Ufern und fremden Gestaden ein fremdes Gesicht nach Celebi-Island ...
[tab=Kapitel 9]
~Kapitel 9: Skip Faksen geht von Bord~
Part 1: Auf jede Nacht folgt ein neuer Morgen
Skip Faksen reckte seine Nase der steifen Meeresbrise entgegen. Die blonden Haarsträhnen, die unter dem rubinroten Kopftuch des sandalentragenden Jugendlichen frech heraushingen, wie auch der kompasähnliche Anhänger, den er um den Hals hängen hatte, flatterten wie Segel im Wind. Er sog die salzige Luft in seine Nase - ein Balsam für die Seele. Das Fährschiff seines Großvaters hatte seine besten Tage längst hinter sich gelassen. Während es geschmeidig über die Wellen ritt, konnte Skip deutlich das Ächzen und Stöhnen der Antriebsmaschinen hören, das kleinste Quietschen von verrosteten Nägeln und Bolzen, die das Schiff zusammenhielten, und die klagenden Rufe der längst pensionsreifen Schiffsschraube. Und dennoch brachte der verrostete Kahn ihn sicher seinem Ziel entgegen.
„Alle Achtung, deine alte Lady macht noch ganz schön was her!“, sagte Skip an seinen Großvater gerichtet. Seine Hände schabten etwas korrodiertes Metall von der Reling ab, als er seine Hände von ihr löste. Das Eisen zerbröselte noch zwischen seinen Fingern und verwehte schnell in alle Winde.
„Sie hat es bislang noch immer sicher in jeden Hafen geschafft“, antwortete Kapitän Jakob Faksen seinem Enkel über die Schulter. Er streichelte zärtlich das elfenbeinfarbene Steuerrad, gab dann aber einer klappernden Armatur einen bestimmenden Klaps. „Dreißig Jahre schon, als sie vom Stapel lief.“ Seufzend schüttelte er seinen Kopf. „Da holt mich doch einer ... Wie die Zeit vergeht ...“
Skip unterbrach die einmütige Stille. „Wie lange noch?“
„Seesterne im Hintern? Kannst es wohl kaum noch erwarten?“, lachte Jakob Faksen.
„Aye, etwas“, antwortete sein Enkel und kratzte sich ertappt am Hinterkopf.
„Bei dem Seegang vielleicht noch zehn Minuten.“ Er schenkte seinem Enkel einen warmen Blick über die Schulter. „Weißt du, ich bin froh, dass du dich nicht unterbuttern lässt.“
Skip wusste sofort, worauf sein Großvater hinaus wollte. Erstmals verschwand das Lächeln auf seinem Gesicht, das er bereits mit dem Einholen des Ankers und somit mit dem Aufbruch der Reise aufgelegt hatte. „Wir haben alle schwere Zeiten hinter uns. Gerade du, dein einziger Sohn ...“ Ihm schwand die Stimme dahin. Es fiel ihm schwer, sich das Unglück wieder in Erinnerung zu rufen, das seine Eltern zu Ufern geführt hatte, in denen es für ihn kein Hafen zum Anlegen gab.
Jakob Faksen schniefte in sein Taschentuch; ein Geräusch, was einem jeden Nebelhorn in nichts nachstand. „Dass der Vater seinen eigenen Sohn überleben muss, ist nicht leicht ... Die See heißt dich in seiner ganzen Pracht willkommen, gibt aber auch nichts wieder her, vergiss das niemals.“
„Ein nasses Grab ...“ Skip legte seinem Großvater seinen Arm über die Schulter. Mit brüchiger Stimme fuhr er fort. „Ich denke, wie es sie auch erwischen konnte - das Seemannsgrab war noch immer die feinste Art, auch wenn es dafür viel zu früh war ...“
Abermals hielt die peinliche Stille Enkel und Großvater auf Distanz zueinander. Einmal wieder in Erinnerung gerufen, fiel es Skip nun sehr schwer, den Bildern in seinem Kopf zu entsagen. Drei Wochen waren es nun, seitdem er als Waise seinen Kurs alleine finden musste. Ein herber Schlag, gleich beide Elternteile zu verlieren. Und saß der Schmerz auch noch so tief: Das Leben musste weitergehen. Sein Großvater hatte ihn auf den Gedanken gebracht, da auch er und seine ihm Anvertraute längst in die Jahre gekommen waren und deshalb nur dürftigen Ersatz für Skips Eltern darstellten, einen neuen Abschnitt in seinem Leben zu beginnen, nach neuen Ufern greifen, sich für das raue Leben, das die Meere für ihn bereithielten, vorzubereiten und vielleicht sogar ein paar Freunde fürs Leben finden. Die Celebi-High, eine Schule, die all dies versprach und dazu noch um die Ecke lag, war für dieses Vorhaben mehr als angemessen.
„Wingull“, bemerkte Jakob Faksen beiläufig und deutete mit dem Zeigefinger in die Höhe. Eine Scharr von schneeweißen Flug-Pokémon ritt anmutig auf dem Achterwind des Fährboots; ihre markanten Rufe und die länglichen Schwingen waren für jeden Seefahrer ein deutliches Zeichen für Küstennähe
Skip spähte über den Bug der Fähre hinaus. Am Horizont nahmen Landmassen immer mehr Form an und rückten Sekunde für Sekunde näher. Er warf seinem Großvater ein breites Lächeln zu. „Bald schon darfst du mich ,Süßwassermatrose’ nennen.“
Kapitän Faksen gluckste. „Hätte ich so oder so getan.“ Sein Enkel lugte bereits wieder sehnsüchtig den sich rasch nähernden Gestaden entgegen. „Weißt du“, begann Jakob Faksen, „wenn ich dich so sehe ... Du erinnerst mich irgendwie an diesen Jungen, den ich vor einigen Monaten auch dort abgesetzt habe. Er ist etwa in deinem Alter, im Kopf nichts außer Flausen. Wälentein oder so ähnlich.“ Er kratzte sich nachdenklich auf seinem fast kahlen Kopf. „Ich denke, ihr werdet sicher miteinander auskommen.“
Sein Enkel nickte. „Das hoffe ich doch.“
„Halt dich bereit wir gehen gleich vor Anker.“
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