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  • Huhu Pika!
    Ich finde es schade, dass du keine Kommentare bekommst, vor allem weil du echt ziemlich gut bist. Ich habe noch nie eine Kurzgeschichte kommentiert, aber ich dachte mir: Hey, so schwer kann es schon nicht sein! Ich werde Kampf der Unsterblichkeit kommentieren, weil mir die Thematik der Geschichte gefällt. Ich hoffe du freust dich, und noch mehr hoffe ich, dass ich dir hiermit wenigstens ein bisschen helfen kann. Und jetzt will ich gar nicht mehr viel vorab labern, sondern gleich zur Sache kommen.



    Kampf der Unsterblichkeit

    Respekt schon bei der Titelwahl, dieser hier gefällt mir wirklich ungemein. Es hat etwas... mächtiges, kolossales an sich. Durch Unsterblichkeit wird der Titel recht mystisch und hat eine traurige Wirkung, da ich eher der Meinung bin, dass Unsterblichkeit negativ ist. Alles in allem, kann man ziemlich viel über den Titel grübeln, wer wird gegeneinander kämpfen und warum? Geht es darum, dass jemand um Unsterblichkeit kämpft? Gut, so viel vor dem Lesen, nach dem Lesen muss ich sagen, einfach nur Hammer, der Titel passt so gut zur Geschichte. Arceus kann Mewtu die Unsterblichkeit geben, dafür müssen sie kämpfen, wirklich ein toller Einfall, auch im Bezug auf den Titel.
    Beginnen wir mit der eigentlichen Geschichte. Der Anfang ist schon mal ziemlich gut, du leitest durch die Explosion, die aber dank deiner Art von Beschreibung mehr interaktiv von statten geht. Gefällt mir insofern ganz gut, weil mir dadurch die Härte des Kampfes noch nicht so ganz bewusst wird, und ein weiterer Angriff möglicherweise mehr Erfurcht hinterlassen wird. Auch Mewtus Gedankengänge sind schon ganz gut, in einer Kurzgeschichte jedoch, muss man sich vor allem kurz halten, was dir hier gut gelungen ist, du hast es nicht übertrieben, aber auch nicht zu wenig geschrieben. Was mir allerdings trotzdem im ersten Abschnitt etwas fehlt wäre etwas Mewtus Gefühlswelt, insofern ob er nun Angst verspürt oder ob er Kampfeslust hat, oder halt was anderes. Du weißt bestimmt selbst, dass es dort nun viele Möglichkeiten der Beschreibung gibt, also halt dich nicht zurück und schreib dir alles von der Seele, unnötiges kannst du später ja immer noch wegstreichen, wenn es nicht passt, oder zu viel ist. Schön jedoch war aber auch, dass du noch nicht sagst, wer Mewtus Gegner ist. Du hast zuerst nur den Protagonisten vorgestellt (Mewtu) der Antagonist, beziehungsweise seine Person, sind uns unbekannt. Ansonsten gefällt mir der Anfang wirklich ziemlich gut, da wir so schön in die Situation der Geschichte eingeleitet werden. Mal schauen, was du daraus nun noch machst.
    Meiner Meinung nach ist Springmauspokémon keine wirklich gute Beschreibung für Mewtu, beziehungsweise passt sie irgendwie einfach nicht, ich habe zuerst gedacht, du meinst Arceus. Wie du seine Sinnesorgane beschreibst, gefällt mir recht gut und dass Mewtu nur davon träumen kann, stellt das "Springmauspokémon" noch ein Wenig stärker dar. Auf jeden Fall ist dir auch der Abschnitt hier gelungen, es ist logisch, dass Arceus die Kristalle und deren Spiegelfähigkeit benutzt um Mewtu zu finden. Auch hier wieder sehr logisch geschrieben.
    Ein Trugbild! Der Gedanke stach ihn wie ein Messer an den Kopf und bohrte sich durch ihn hin durch, bis er auf der anderen Seite wieder hinaus trat. Sowas hat mir an der Stelle gefehlt, wenngleich der Abschnitt trotzdem wieder mal wirklich toll war. Hier hat man besonders gemerkt, dass du dich vornehm und schön auszudrücken weist, und damit in jeder Art auch in der Lyrik umgehen kannst, was auch noch mal Abteil für sich ist. Nur fehlen mir hier ein paar Gedanken, vielleicht sogar auch Emotionen, seitens Mewtu, wie zuvor beschrieben und erwähnt, da so ein Trugbild doch wirklich ein fieser Trick ist. Ansonsten halt wirklich eine tolle Szene, auch die darauf folgende... So ein Spruch kann einen schon ziemlich runterziehen, wenn man gesagt bekommt, man ist nicht gut genug für etwas, genau wie Mewtu es hier von Arceus erfährt. Ich finde es wirklich sehr schön, wie du hier etwas mehr Einblick auf die Beweggründe des Kampfes eingehst, warum kämpft Mewtu gegen Arceus. Zwar wird es nicht zu Hundert Prozent klar, da nur Arceus spricht, allerdings kann man aus einer "Rede" schließen, dass es sich um ein Aufnahmeritual in den Kreis der Legendären Pokémon oder eine Aufnahme Prüfung handelt, was natürlich wieder eine tolle Idee ist. Auch stilistisch... Die Kristalle erzitterten, aufgrund der Kraft seiner Stimme, wirklich eine tolle Vorstellung. Was mir aber nicht gefällt, du bist so schnell in die nächste Szene gewechselt, das heißt, du bis mir zu schnell auf den Aspekt mit Urteilskraft und der Typen Variation gesprungen, meiner Meinung nach, hättest du hier etwas von Mewtus Gefühlswelt beschreiben sollen. Ist er niedergeschlagen und bedrückt, dass Arceus ihn nicht als Legende ansieht, oder ist er weiterhin mutig und kampfbereit. (Interessiert ihn Arceus Ansprache vielleicht sogar überhaupt nicht?) Wäre hier auf jeden Fall ziemlich interessant gewesen, zu lesen was Mewtu denkt. Nun gut, dann geht es weiter mit Arceus Angriff, du lässt ihn mit eine Käfer/Unlicht Urteilskraft angreifen, ist laut Pokémon Gesetzt sehr effektiv auf Mewtu und eine gute Wahl. (Kampf wäre zum Bleistift unlogisch) Mewtu kann ausweichen, wenngleich der Vorgang etwas... zu wenig nachvollziehbar erscheint, da die Attacke ihn noch streift. Hat er keine Schmerzen? Gut, aber hier kommt dann auch noch der meiner Meinung nach beste Satz der Kurzgeschichte: Ein schreckliches Knirschen erklang, und Mewtu hoffte, dass die Kristalle gebrochen waren und nicht seine Knochen. Einfach nur genial, wirklich!
    Mewtu wird also zwischen diesen Kristallen eingeschlossen? Schaurige Vorstellung, ernsthaft, dennoch aber ein guter Einfall, so wird klar, das ist das Ende. Oder nicht? An der Stelle bringst du auf jeden Fall eine Menge Spannung in die Geschichte mit ein und machst sie dadurch umso interessanter. Ein Diamant ist schön, wenn man von einem riesigen Diamanten erstochen wird, ist das eher weniger schön, was ich damit sagen will: Da hast du mir einfach zu Wenig von Mewtu beschrieben. Er hat sicherlich Angst davor zu sterben und aufgespießt zu werden, da kann man ruhig mal eine Träne vergießen, oder auch einfach nur Angst haben. Vielleicht erinnert er sich Familie/Freunde, etc. oder sowas? Einen Satz widmest du dem, das ist mir ehrlich gesagt etwas zu wenig. Seltsam ist aber auch: Mewtu kann den großen Kristall mit bloßen Händen (vorerst) stoppen. Bisher wirkten alle Handlungszüge sinnvoll, aber dieser hier, beziehungsweise sein Verhalten ist nicht sehr... nachvollziehbar. Anscheinend gibt es aber doch noch einen anderen Ausweg, er kann seine "dunklen" und mächtigen Kräfte einsetzten. Sowohl gut beschrieben, als auch eine gute Idee und damit mehr als gelungen, nur wird es wirklich gegen Arceus helfen? Man darf gespannt sein. Aber was ich mir eklig vorstelle... Ein zweites Herz. Gut, man könnte dies auch nur als Metapher verwenden, aber du scheinst es zumindest teilweise ernst zu meinen, und das ist irgendwie nicht so lecker. Aber gut, muss auch mal sein, diese Kräfte, wie du sie hier anpreist und deren Zerstörungskraft darstellst, muss wohl wirklich was ziemlich großes und starkes sein. Hier baust du wieder viel Spannung auf, weil du den Leser warten lässt. Du beginnst dann mit einer Beschreibung einer Art Druckwelle, aber Mensch, Mensch, das muss ja wirklich brutal sein, da geht es ja richtig ab. Gut, Arceus lässt jetzt von Mewtu ab und baut lieber erstmal einen Schutzschild auf, vernachlässigt dadurch aber auch seinen Angriff. Der lässt Augenblicklich nach, genau im richtigen Moment, wie es scheint, puh... Warum die Diamant-Klinge nicht zerborsten ist, genau wie alle anderen ihrer Artgenossen, will mir nicht ganz einleuchten, etwa weil sie von Gotteshand erschaffen wurde? Aber dann wären Arceus und seine Waffen ja unbesiegbar. Nein, das ist es nicht. Das hättest du aber eventuell mal beschreiben können, damit wir wissen, was abgeht.
    Halt, Arceus Augen sind grün, soweit ich mich an den Film und an das Event erinnern kann, und nicht pfirsichrot, aber gut, das nennt man wohl künstleriche Freiheit. Ansonsten scheint Mewtu echt abzugehen, Urteilskraft einfach mal mit nem Schutzschild an der Hand blocken und so, das ist schon Krass, es scheint dem Schöpfer nun gewachsen zu sein und ihn in seinem eigenen Heim zu unterwerfen. Mewtu schickte seinen Geist aus und befahl dem Diamantsplitter, der ganz in der Nähe lag, zu ihm zu kommen. - Da musste ich irgendwie lachen. Aber ansonsten ziemlich gut beschrieben, auch wie die Klinge auf den Schild trifft, supi. (Hier wäre aber richtig geil ein Vergleich, beziehungsweise eine Metapher, im Bezug zu einem richtigen Schwert, dass auf ein richtiges Schild prallt. Wie Mewtu aber versteht, was er gerade getan hat und dass es mehr als falsch war, das ist mal richtig gut gelungen! Mew erscheint, auch ein guter Einfall und letztendlich hat die Kurzgeschichte ein tolles, rundes Ende und ich bin wirklich begeistert von dem Kampf der Unsterblichkeit.


    Dein Schreibstil gefällt mir wirklich sehr gut, du beschreibst sehr anschaulich und eigentlich immer detailiert genug für eine Kurzgeschichte und deine Wortwahl ist an manchen Stellen wirklich einfach nur genial, an wenigen anderen ist sie normal, aber nicht schlecht, eben ganz normal. Deine Ideen sind auch klasse, zumindest die Idee dieser Geschichte war super, also ich kann nicht wirklich viel meckern, du musst nur ab und an mehr auf die Gefühls und Gedankenwelt eingehen, dann wird das wirklich. Ich warte noch die nächste Kurzgeschichte ab (oder lese mir ein paar andere durch) und überlege dann mal, wegen Profi Bereich.


    Ich schau auf jeden Fall wieder vorbei, ich wäre dir übrigens sehr verbunden wenn du mir in mein Gästebuch schreiben würdest, wenn du etwas neues online stellst, okay? Ich denke wir werden noch von einander hören.
    Liebe Grüße,
    Chess



  • [tabmenu][tab=Kinderliteratur tralah]Als Autor sollte man ja vielseitig talentiert sein. Nachdem ich jetzt schon einige Genres erfüllt habe (Fantasy, SciFi, Mystery, Horror, ...), wirds mal Zeit, dass ich meine Kinderstorys online stelle ^^ Beide wurden "veröffentlicht" im Reichesdorfer Boten, die Heimatzeitung meiner Muddi. Davon kommen pro Jahr zwei Ausgaben raus, einmal muttertags, einmal weihnachts.
    Diese KG ist von diesem Muttertag, die andere vom letzten Weihnachten (zu der es auch noch ein Bild von mir gibt, das muss ich dann noch einscannen und hochladen). Ich hoffe, sie gefallen auch den älteren Lesern, auch wenn die Zielgruppe natürlich Kinnas sind. Ich hab auch von Erwachsenen gutes Feedback bekommen... einer meiner Bekannten meinte sogar, ich sei besser als Cornelia Funke <.< Nyan, macht euch selbst ein Bild x3[tab=Drachenchen!]Tiger und das Kristallherz


    Es gibt sehr viele verschiedene Arten von Drachen. Die schönsten unter ihnen sind die Schmetterlingsdrachen mit ihren filigranen, leuchtend bunt gemusterten Flügeln, und die eleganten Engelsdrachen, die statt Schuppen ein strahlend weißes Federkleid besitzen. Aber es gibt auch unheimlichere, die riesigen Wyrm, die sich wie Würmer durch das Erdreich wühlen, und die gefürchteten Seeschlangen. Am gruseligsten sind die Fledermausdrachen, die in düsteren Höhlen hausen und sie nur nachts verlassen, wenn weder Mond noch Sterne vom Himmel scheinen.
    Die stolzesten und größten aller Drachen sind die Himmelsdrachen. Sie haben riesige Flügel, mit denen sie sich in den Himmel erheben können, und jeder einzelne von ihnen hat eine andere Farbe. Große, gedrehte Hörner wachsen aus ihren Schädeln, die sich auf dem Rückgrat in Form von Zacken bis zum Schwanz fortsetzen. Selbst unter anderen Drachenarten sind sie gefürchtet für ihre Fähigkeit, Feuer zu speien und die Erde zum Beben zu bringen. Doch sie sind, trotz ihres furchterregenden Erscheinungsbildes, die freundlichsten unter den Drachen.
    So unterschiedlich diese und noch viele mehr sind, haben sie alle doch eines gemein: Sie versammeln sich an einem ganz besonderen Tag alle auf der legendären Dracheninsel, die noch kein Mensch je gesehen hat. Dass sie noch niemand entdeckt hat, ist eigentlich ein Wunder, denn sie ist so groß, dass man sie sogar aus dem Flugzeug sehen könnte – aber die mystische Drachenmagie macht sie für alle Wesen unsichtbar, die nicht zur Gattung der Drachen dazugehören. Sie ist entstanden, als ein Vulkan vor unvorstellbar vielen Jahren, als es die Dinosaurier noch gab, ausgebrochen ist. Der Vulkan ist sogar heute noch aktiv. Auf der Insel gibt es Wälder, Wüsten, Sümpfe, Schneelandschaften – so kann sich jede Drachenart in ihrem gewohnten Lebensraum wohlfühlen.
    Jede Drachenfamilie versammelt sich auf der Dracheninsel, um den wichtigsten Feiertag für sie zu feiern: Den Muttertag. Denn jede Drachenfamilie stammt immer von einer Drachendame ab, die die älteste und weiseste ihrer Sippe ist. Um sie zu ehren, feiern ihre Kinder, Kindeskinder, Kindeskindeskinder und so weiter mit ihr, denn Drachen, vor allem die weiblichen können sehr, sehr alt werden. Zwar sind alle diese Sippenmütter sehr weise, doch eine von ihnen hat einst einmal das Weiseste gesagt und das Gütigste getan, was bis dahin bekannt war:


    Tiger war ein kleiner Himmelsdrache, noch lange nicht ausgewachsen, aber schon stolz darauf, dass er seit dem letzten Jahr kleine Hörner bekommen hatte. Seine Schuppen schimmerten braungolden, so wie der Edelstein Tigerauge, weswegen seine Mutter ihm diesen Namen gegeben hatte. Himmelsdrachen benennen ihre Kinder immer nach den Edelsteinen, die die gleiche Farbe wie sie haben. Mit seiner Mutter und seinen Geschwistern war er wie jedes Jahr auf die Dracheninsel gekommen, um den Muttertag für ihre Omama zu feiern. So wurde Smeralda, die smaragdgrüne Sippenmutter, von ihren Nachkommen genannt. Von denen hatte sie auch sehr viele: Sie selbst hatte siebenhundertsiebenundsiebzig erwachsene Kinder, von denen jedes nochmal so viele Kinder hatte, die auch schon Kinder bekommen hatten. So viele Gäste wollten natürlich untergebracht werden, und so besetzte Smeraldas Familie jedes Jahr für sich den Vulkan und sein unendliches Höhlenlabyrinth.
    Da Drachen Schätze mögen, hatte jedes Familienmitglied ein kleines Geschenk für die Omama mitgebracht. Tiger schenkte ihr einen kleinen Goldring, den er einer Prinzessin der Menschen geklaut hatte. Die hatte so viele Ringe besessen, dass ihr der Verlust dieses einen gar nicht aufgefallen war. Wie jedes andere Geschenk, das Smeralda heute erhielt, brachte sie ihn in ihre eigene Schatzkammer.
    Tiger war gerade dabei, zu den anderen Drachenkindern zurückzugehen, als ihm einfiel, dass er das ja gar nicht mehr musste. Er hatte jetzt Hörner, und wenn sie auch noch klein waren, musste er nicht mehr bei den ganz kleinen Drachenkindern sein, die erst vor Kurzem geschlüpft waren. Er konnte jetzt schon zu den älteren Drachenkindern! Aufmerksam sah er sich um und suchte nach der Gruppe. Als er sie fand, flog er schnell zu ihnen hin.
    Natürlich blieb der Neuankömmling nicht unbemerkt, und einer der jugendlichen Drachen kam auf Tiger zu. Er war schon viel größer als Tiger, und sein Schuppenkleid war kirschrot. Das war Tigers Cousin Rubin. Der ältere Drachenjunge sah auf den kleineren herab und kicherte.
    „Was?“, fragte Tiger und stellte die Schuppen auf, um größer zu wirken.
    Das löste jetzt auch bei den anderen Jungdrachen Gelächter aus. „Hast du dich nicht verlaufen, Nestling?“, wollte Rubin wissen. „Der Kindergarten ist da drüben.“ Wieder lachten die anderen.
    Aus Tigers Nasenlöchern stieg Rauch auf – das passiert bei Himmelsdrachen immer, wenn sie sauer sind. „Ich habe Hörner, ich darf hier bei euch sein!“, verteidigte er sich und drehte den Kopf, um die Hörner zu präsentieren.
    Rubin kam näher und tat so, als habe er Mühe, etwas zu erkennen. „Was, diese kleinen Stummel nennst du Hörner?“ Er lachte, wurde aber plötzlich ernst. „Pass auf, Kleiner“, sagte er versöhnlich und führte Tiger etwas von der Gruppe weg. „Es reicht nicht, dass einem die Hörner wachsen, um Mitglied bei uns zu sein“, vertraute er dem jüngeren Cousin an. „Wir haben ein Aufnahmeritual, eine Mutprobe, wenn du verstehst.“
    Tiger nickte. „Was muss ich tun?“, fragte er, und seine Augen leuchteten vor Tatendrang.
    Rubin zeigte ans Ende der Höhle, in der Smeraldas Familie feierte, wo ein Durchgang in die nächste Höhle führte. „Gehe in Omamas Schatzkammer und klaue eines ihrer Schätze – am besten etwas Großes und Kostbares! Meinst du, du kriegst das hin, Nestling?“
    Tiger gefiel es nicht, wenn Rubin ihn Nestling nannte, aber das spornte ihn noch mehr an, sich zu beweisen. Er nickte eifrig. „Nichts leichter als das!“


    Tiger wartete bis zur Nacht, als sich alle seine Verwandten schlafen gelegt hatten, und schlich sich in die Höhle neben der Haupthalle. Das war allerdings noch nicht Smeraldas Schatzkammer, sondern nur die Höhle davor. Nur am gegenüberliegenden Ende gab es ein großes eisernes Tor, das in die Schatzkammer führte. Aber das Tor wurde bewacht von Cerberus, einem riesigen schwarzen Hund mit drei Köpfen, den die Omama als kleinen Welpen aufgenommen und in dieser Höhle großgezogen hatte. Mittlerweile war er zu groß, um die Höhle zu verlassen, aber da sich Smeralda gut um ihn kümmerte, musste er auch nicht weg. Das schwarze Ungeheuer schlief friedlich, die drei Köpfe auf die Pfoten gelegt.
    Tiger schluckte, wusste er doch, dass Cerberus seinen Job als Wachhund sehr ernst nahm. Wenn jemand anderes als sein Frauchen versuchen sollte, die Schatzkammer zu betreten, würde er ihn fressen. Also musste Tiger aufpassen, ihn ja nicht aufzuwecken. Er schlich um den Hund herum, und wie durch ein Wunder schaffte Tiger es, das Tor zu erreichen. Glücklicherweise hatte die Omama es nicht ganz zugemacht, sodass er durch den Spalt schlüpfen konnte, denn er war viel zu klein, um die schweren Eisentüren aufzuschieben.
    Die Schatzkammer war eine riesige Höhle, über und über mit den Geschenken gefüllt, die Smeralda jedes Jahr bekam. Obwohl es so viele waren, hegte die grüne Drachin Ordnung: Die Schätze stapelten sich in Nischen in den Wänden, sortiert nach dem Material, aus dem sie gemacht waren. Gold und Silber bildeten eigene Haufen, sowie allerhand Edelsteine. Tiger fing sogleich an, nach einem geeigneten Stück zu suchen, als sein Blick auf den höchsten Punkt der Wand fiel.
    Da saß nämlich in einer eigenen Nische ein glasklarer Edelstein in Form eines Herzens. Vor sehr langer Zeit hatte Luna, die erste Tochter von Smeralda, ihrer Mutter dieses Schmuckstück zum Geschenk gemacht. Es war Smeraldas größter Schatz… und daher genau richtig für Tiger. Wenn er das berühmte Kristallherz seinen Cousins vorsetzte, würden die ihn ohne Zögern in ihre Gruppe aufnehmen. Mit vorsichtigen Flügelschlägen erhob Tiger sich in die Luft und steuerte auf das Herz zu. Es schimmerte bläulich, als brenne in ihm ein schwaches Feuer. Als er die Krallen um es legte, um es aus der Nische zu heben, spürte er das schwache Vibrieren des Edelsteins. Es hieß, Luna habe einen normalen Kristall ins Herz des Vulkans gebracht, dessen Lava ihn dann so geformt hatte. Ob ein Teil der Vulkanseele in dem Kristallherz lebte?
    Das Schmuckstück war fast so groß wie Tiger, und obwohl auch junge Himmelsdrachen schon sehr stark sind, hatte er seine liebe Mühe, das Kristallherz zum Tor zu transportieren. Immer wieder drohte er, zu Boden zu gehen. Als er in Cerberus‘ Höhle angekommen war, musste er einen weiten Bogen um den Hund fliegen. Doch mit dem zusätzlichen Gewicht konnte er nicht gut steuern, sodass er die Wand streifte und einen Steinsplitter davon löste.
    Das Bruchstück klimperte zu Boden und rollte Cerberus gegen die berührungsempfindliche Pfote. Tiger hielt die Luft an und hoffte, dass der Wachhund nicht aufwachen möge, doch es half nichts: Cerberus regte sich, zuerst der Kopf, der der berührten Pfote am nächsten war. Einige unendliche Sekunden grummelte er vor sich her, drehte seinen riesigen Körper herum und schlief dann wieder ein.
    Tiger atmete erleichtert auf. Was für ein Glück!
    Er flog weiter und hatte den Höhlenausgang erreicht, als Cerberus nun doch erwachte. Der dreiköpfige Hund bellte drauflos, als er den Eindringling sah, und Tiger erschrak so heftig, dass er das Kristallherz fallen ließ.
    Smeraldas unbezahlbarer Schatz fiel zu Boden und zersprang in tausende winzige Splitter.


    „Wie konntest du mein Kristallherz zerbrechen?!“, schrie Smeralda Tiger an. Alle Drachen waren von dem Krach, den der Wachhund verursacht hatte, aufgewacht, so auch die Omama. Die große grüne Drachendame war außer sich vor Wut. Ihr zorniges Brüllen hallte wie Donner in der Höhle wider, und die Erde bebte unter ihren Schritten.
    Tiger kauerte am Boden und schaffte es nicht, seiner Omama ins Gesicht zu blicken. Er traute sich auch nicht, sich zu entschuldigen. Denn was hätte das schon gebracht? Smeraldas liebstes Geschenk war zerbrochen, dafür gab es keine Entschuldigung. Luna trat neben ihre Mutter und legte einen Flügel auf deren Rücken. Die jüngere Drachendame war bläulich weiß, weswegen sie nach dem Mondstein benannt worden war. „Komm, Mama, ein bisschen frische Luft tut dir jetzt bestimmt gut“, versuchte sie, die Sippenmutter zu trösten. Die beiden verließen die Höhle, aber unter Smeraldas Schritten bebte die Erde auch noch, als sie draußen war.
    Schuldbewusst betrachtete Tiger die Glassplitter, die vorher einmal das kostbare Kristallherz gewesen waren. Warum nur hatte er sich dazu hinreißen lassen, gerade dieses Schmuckstück zu nehmen? Genauso gut hätte es doch auch eine Statue aus Gold getan oder eine versteinerte Koralle. Die waren auch sehr schön…
    Die anderen Drachen der Familie entfernten sich nach und nach vom Ort des Geschehens, auch Rubin und die anderen Jugendlichen ließen Tiger allein. Der kleine goldene Drache blickte die Splitter weiterhin an, als ob sie allein durch seinen Wunsch wieder zusammenkleben könnten.
    Plötzlich kam Tiger eine Idee. Genau, sie wieder zusammenschweißen! Der Vulkan hatte den einstigen rohen Kristall in das Herz umgeformt, dann würde er es doch auch schaffen, es wieder zusammenzuflicken!
    Tiger besorgte sich eine Schale, in die er die Splitter legte, und band sie an sich fest. Damit machte er sich auf den Weg tief in den Vulkan hinein, wo ein Lavasee vor sich hinblubberte. Hitze machte ihm als Himmelsdrachen nichts aus, aber er musste vorsichtig sein, sich nicht an der Lava zu verbrennen. Tiger startete von einem Steg aus festem Gestein aus, der über den See ragte. Vorsichtig flog er immer tiefer dem kochenden Magma entgegen. Auch wenn die Kristallsplitter in der Schale schwer waren, erleichterte die aufsteigende heiße Luft dem Drachen das Fliegen. Als die Schale kurz über der Lava schwebte, sprach Tiger: „Lieber Vulkan, ich bitte dich, bring das Kristallherz wieder zurück!“
    Der Vulkan erhörte ihn, und um ihn herum fing es zu beben an. Steine lösten sich von der Decke und versanken zischend im Magma. Blasen stiegen auf, und als sie platzten, flogen heiße Spritzer in alle Richtungen davon. Noch hatte Tiger Glück, keiner davon hatte ihn getroffen, aber das mochte sich bald ändern. Stattdessen landeten die Lavatropfen in der Schale und begannen, die Splitter zum Schmelzen zu bringen.
    Der Vorgang dauerte sehr lange. Tigers Flügel taten schon weh. Aber er musste durchhalten und Smeraldas Schatz wiederherstellen.
    Plötzlich schoss ein Krampf durch seinen Flügel, und Tiger sackte ab. Die Schale mit den Kristallsplittern versank in der Lava, und er sah sich auch schon darin verbrennen, als sein Fall plötzlich aufgehalten wurde. Keinen Moment zu spät, denn er war so nahe an der heißen Flüssigkeit, dass seine Schuppen kribbelten. Was auch immer ihn gefangen hatte, hob ihn hoch und beförderte ihn auf den Steg zurück.
    Tiger schüttelte sich, um den Schreck loszuwerden, und sah dann zu seinem Retter auf. Oder besser, zu seiner Retterin: Smeralda, die große grüne Sippenmutter, stand vor ihm und sah mit tadelndem Blick auf ihn herab. „Dummer kleiner Drache!“, schalt sie ihn laut, aber nicht vor Wut, sondern Sorge. „Willst du in der Lava verbrennen?“
    „Aber dein Kristallherz!“, rief Tiger und sah zum Lavasee runter. Die Schale mit den Splittern war mittlerweile bestimmt geschmolzen. Jetzt war das Herz auf ewig verloren.
    „Ach, mein Kleiner“, sagte Smeralda und klang jetzt ganz sanft. Sie beugte sich zu ihm herab und blies ihm blasse Flammen entgegen. Das machen Drachenmütter immer, um ihre Kinder zu trösten; das ist wie ein lieb gemeinter Kuss. „Ich hätte nicht so wütend reagieren sollen. Aber du musst mich auch verstehen, immerhin war das Kristallherz mein liebster Schatz.“
    „Ich weiß“, murmelte Tiger kleinlaut und blickte beschämt zu Boden. „Es tut mir leid.“
    Smeralda stupste ihn mit der Schnauze an. „Nicht doch, mir tut es leid. Ich war zuerst zornig auf dich, aber dann ist mir klargeworden, dass das Herz eines kleinen Drachen viel zerbrechlicher ist als ein Kristallherz. Niemals würde ich wollen, dass eines meiner Kinder, Kindeskinder oder Kindeskindeskinder für das Herz verbrennt. Das war zwar mutig von dir, aber sehr dumm, und ich danke dir dafür.“ Sie gab ihm wieder einen Feuerkuss. „Aber wenn es einen Schatz gibt, den ich noch viel lieber mag als alles, was in meiner Schatzkammer liegt, dann ist es meine Familie. Und es gibt für mich kein schöneres Geschenk, als mit euch zusammen Muttertag zu feiern!“
    Tiger freute sich, das zu hören, und schmiegte sich an den Kopf seiner Omama, der doppelt so lang war wie er selbst. „Heißt das, ich muss in Zukunft kein Geschenk mehr mitbringen?“
    Die weise alte Drachendame lachte. „Auf keinen Fall! Du weißt, ich mag es, wenn man mir Gold schenkt.“
    Tiger lachte mit und war sich sicher, dass seine Omama die beste der ganzen Insel war.[tab=Einhörnchen!]Nikki und das Zaubereinhorn


    Nikki, der Elf, klopfte vorsichtig an die Tür, auf der groß und breit „Büro des Weihnachtsmanns“ geschrieben stand. Der Weihnachtsmann würde bestimmt nicht glücklich über das sein, was er ihm gleich zu sagen hatte, daher war er etwas nervös.
    Als es „Herein!“ von drinnen tönte, öffnete Nikki vorsichtig die Tür. Dahinter lag ein kleiner Raum mit weißen Wänden, an denen Regale standen. Überall gab es Bücher über Weihnachten und den Nordpol. Die Frau des Weihnachtsmanns staubte gerade eines der Regale ab und dekorierte es weihnachtlich.
    In der Mitte des Zimmers stand ein großer Tisch mit einem riesigen Stapel Papiere in allen möglichen Farben. Einige davon waren sogar auf dem Boden verstreut. Nikki musste vorsichtig sein, auf keines zu treten, als er zu dem Bürotisch ging. An diesem Tisch saß nämlich der Weihnachtsmann, und der war sein Chef. Schlimm genug also, dass er die schlechten Neuigkeiten so kurz vor Weihnachten ausgerechnet ihm überbringen musste.
    „So Nikki, was kann ich für dich tun?“, fragte der Weihnachtsmann freundlich. Er hatte keine Mütze auf dem Kopf, und seine Glatze glänzte. Sein weißer, langer Bart war ungekämmt und stand wirr in alle Richtungen. Auch seinen berühmten Anzug trug er nicht, den würde er erst anziehen, wenn er die Geschenke verteilte. Aber er trug ein normales Hemd und eine normale Hose.
    Nikki setzte sich auf den kleinen Stuhl, der bereitstand. Plötzlich war er sich gar nicht mehr sicher, ob er dem Weihnachtsmann so etwas wirklich sagen sollte… Doch, er musste es tun. Schließlich war es wichtig für das Weihnachtsfest!
    „Herr Weihnachtsmann“, fing Nikki an. Der Weihnachtsmann setzte kurz einen Stempel auf einen der Zettel; das waren die Wunschzettel der Kinder, und der Stempel bedeutete, dass er erfüllt wurde. „Das Einhorn…“, wollte Nikki fortfahren, aber der Weihnachtsmann sprach ihm dazwischen:
    „Ich weiß schon. Das, von dem ich dir gesagt habe, du sollst es füttern, richtig?“ Der Weihnachtsmann lachte. „Aber wir haben ja auch kein anderes.“
    „Genau. Wegen dem Einhorn…“ Nikki rutschte auf dem Stuhl hin und her. „Ich wollte ihm heute Futter bringen, und als ich kam, war es… naja, weg.“
    „Weg?“, fragte der Weihnachtsmann und blickte auf.
    „Weg?“, wiederholte die Weihnachtsfrau und hängte einen kleinen goldenen Stern auf.
    „Weg“, sagte auch Nikki noch einmal.
    „Weg.“ Der Weihnachtsmann lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück und sah Nikki durch seine kleine Brille an. „Was soll das heißen?“, fragte er. Irgendwie hatte Nikki das Gefühl, dass er wütend wurde.
    „Ich… als ich heute morgen in den Stall gegangen bin, um die Rentiere und das Einhorn zu füttern, war es weg. Ausgebrochen, hat mir Rudolph gesagt.“
    Einen Moment war es still, bevor der Weihnachtsmann fragte: „Weißt du eigentlich, wie wichtig das Einhorn für mich ist?“
    Nikki schluckte und nickte. Das Einhorn brachte mit dem Zauberstaub aus seinem Horn die Rentiere und den Schlitten zum Fliegen, damit der Weihnachtsmann die Geschenke verteilen konnte. Es wurde jedes Jahr aufs Neue aus der Märchenwelt geliefert.
    „Wir können doch ein neues bestellen“, schlug Nikki leise vor.
    Nun stand der Weihnachtsmann auf, schrie schon fast: „Ein neues bestellen? Eins zu liefern dauert Wochen! Heiligabend ist aber schon morgen. Wenn ich jetzt ein Einhorn bestelle, kommt das nie rechtzeitig an!“ Der Weihnachtsmann war jetzt so wütend, dass sein Gesicht ganz rot wurde.
    „Klaus, achte auf deinen Blutdruck“, sagte die Weihnachtsfrau ganz ruhig. Sie sah ein bisschen wie eine liebe Großmutter aus und benahm sich auch so.
    „Du hast recht, Liebling. Tut mir leid.“ Der Weihnachtsmann setzte sich wieder. Erst, als er sich beruhigt hatte, redete er weiter: „Was soll ich jetzt nur machen?“ Es klang wie eine Frage, die er niemandem so wirklich stellte.
    Nikki wusste nicht, was er antworten sollte. Das Einhorn zu verlieren war der größte Fehler, den er tun konnte. Bisher hatte er in der Märchenwelt gelebt. Aber er träumte schon, seitdem er ein kleiner Elfenjunge gewesen war, einmal beim Weihnachtsmann am Nordpol arbeiten zu dürfen. Nun war er endlich hier, und das Erste, was er tat, war, das Zaubereinhorn zu verlieren. Es würde ihn nicht wundern, wenn der Weihnachtsmann ihn gleich wieder feuern würde.
    Der Weihnachtsmann seufzte. Er griff nach dem dunkelblauen Telefon mit den gelben Sternen. „An alle Elfen“, sagte er in den Hörer. Er gab eine Durchsage in alle Gebäude des Nordpols, wo die Elfen arbeiteten. „Ein dringender Notfall! Das Zaubereinhorn ist verschwunden. Sucht sofort in allen Bereichen nach ihm, und wenn ihr es nicht findet, auch draußen. Das ist eine sehr wichtige Aufgabe, deswegen lasst alles andere warten!“ Er legte wieder auf und sah zu Nikki rüber.
    „Soll ich auch suchen?“, fragte er vorsichtig.
    „Nein“, antwortete der Weihnachtsmann. „Du hast schon genug angerichtet. Geh in den Aufenthaltsraum und lass die anderen Elfen ihre Arbeit tun.“
    Nikki nickte traurig und verließ das Büro des Weihnachtsmanns.


    Nach sechs Stunden war das Einhorn noch immer nicht gefunden. In der Spielzeugfabrik war es nicht. Auch im Verpackungsbereich hatte es niemand gesehen. In der Dekomanufaktur, wo man Dekoartikel herstellte, wäre es bestimmt sofort aufgefallen. Ebenso in den Wohnungen, wo die Elfen wohnten. Auch nicht in der Buchhaltung, wo alle Wunschzettel aus jedem Jahr von jedem Kind aufbewahrt wurden, war es zu finden.
    Als man es in den Gebäuden nicht gefunden hatte, suchte man auch draußen. Mit kleinen weißen, zottigen Schneehunden sollte nach dem Einhorn geschnuppert werden.
    Nikki saß im Aufenthaltsraum. Das war ein großes, gemütliches Wohnzimmer mit Weihnachtsmusik und vielen Sitzmöbeln. Es gab flauschige Sofas, weiche Stühle und kuschelige Sessel. In so einen Sessel hatte sich Nikki gesetzt und starrte durch ein Fenster nach draußen. Am Nordpol ist es im Winter immer Nacht, deswegen war alles dunkel draußen. Doch der weiße Schnee leuchtete im Sternenlicht, sodass er die Elfen als Schatten darauf erkennen konnte.
    „So werden sie das arme Einhorn bestimmt nicht finden“, meinte die Weihnachtsfrau. Nach dem Büro ihres Mannes staubte sie nun auch im Aufenthaltsraum ab. Eigentlich musste sie das gar nicht tun, weil die Elfen das machen sollten, aber es machte ihr Spaß. Sie war eben eine Großmutter, die sich gerne um andere kümmerte. Sie backte sogar immer wieder Zimtsterne, die in einer Schüssel auf dem Tisch standen.
    „Warum denn?“, fragte Nikki. „Die Schneehunde haben sehr gute Nasen.“
    „Das stimmt schon“, bestätigte die Weihnachtsfrau. Mit einem langen Eisenstab stocherte sie im Kaminfeuer rum und legte Holz nach. Im Aufenthaltsraum war es immer schön warm. „Aber hier schneit es doch immer. Da verschwindet jede Spur sofort. Und das Einhorn ist ganz weiß. Wenn es irgendwo da draußen ist, kann man es vor lauter Schnee doch gar nicht sehen.“
    Nikki seufzte und sah wieder aus dem Fenster. Die Weihnachtsfrau hatte mal wieder Recht. „Ich frage mich aber immer noch, warum es abgehauen ist. Ich habe ihm immer genug zum Futtern gegeben, Hunger hatte es also keinen.“
    „Was hast du ihm denn gegeben?“, fragte die Weihnachtsfrau.
    „Heu“, sagte Nikki gleich, „genau wie den Rentieren.“
    „Heu?“ Die Weihnachtsfrau blickte überrascht auf. Plötzlich lachte sie. „Dann kann ich es verstehen! Nikki, das Einhorn kommt aus der Märchenwelt, von den großen Wiesen, wo es immer Blumen in Hülle und Fülle hat. Mit Heu gibt es sich nicht zufrieden. Als der Weihnachtsmann sagte, du sollst es füttern, hättest du in die Märchenwelt gehen müssen. Um Blumen zu kaufen, verstehst du?“
    „Dann ist es weggelaufen, weil ich ihm nicht das Richtige zu Fressen gegeben habe?“, fragte Nikki. Wie hatte er nur so ein Schussel sein können! Jeder Babyelf wusste, dass Einhörner nur Blumen fraßen.
    Die Weihnachtsfrau schüttelte den Kopf. „Nicht ganz“, sagte sie. „Vielleicht ist es ausgebrochen, um nach Blumen zu suchen. Eigentlich ist es gewohnt, überall Blumen um sich zu haben. Deswegen hat es vielleicht draußen danach gesucht. Bestimmt hat es sich verirrt, weil alles weiß und gleich aussieht hier am Nordpol.“
    „Dann kann es überall sein!“ Nikki war verzweifelt. In nur wenigen Stunden musste der Weihnachtsmann mit seinem Schlitten losfliegen. Aber ohne den Zauberstaub war das unmöglich. Zum ersten Mal musste Weihnachten für die Kinder in der Welt ausfallen, weil Nikki seine Aufgabe vermasselt hatte. Er wünschte, den Elfen bei ihrer Suche irgendwie helfen zu können, aber der Weihnachtsmann hatte es ihm verboten.
    Nikki blickte aus dem Fenster, wo die Elfen mit den Schneehunden schon verschwunden waren. Bestimmt waren sie schon weit weg und suchten dort nach dem Einhorn.
    Auf einem schneeweißen Hügel erkannte Nikki etwas aufblitzen. Zuerst dachte er, es sei ein Stern am Nachthimmel. Aber nein, es blinkte und funkelte wie eine Signalleuchte. Nikki wunderte sich über diesen seltsamen Stern, aber dann fiel ihm ein, was das war: Es war die Lampe, die den Eingang zum magischen Gewächshausgarten beleuchtete. Dort wurden Tannenbäume, Geschenkschleifensträucher und Weihnachtssterne angepflanzt.
    „Aber natürlich!“, rief Nikki und sprang aus dem Sessel. Weihnachtssterne waren Blumen, die im Winter wachsen konnten. „Wenn ich ein hungriges Einhorn wäre, würde ich zuerst dorthin gehen, wo es Blumen gibt!“ Nikki hüpfte vor Freude. Die Weihnachtsfrau wunderte sich, sagte aber nichts. „Ich muss weg“, sagte Nikki und rannte aus dem Aufenthaltsraum.
    Auch wenn der Weihnachtsmann ihm verboten hatte, nach dem Einhorn zu suchen, würde er jetzt trotzdem mithelfen!
    Bevor Nikki rausging, zog er sich einen warmen Mantel an. So schnell er konnte, rannte er durch die kalte Nacht zum Gewächshaus rüber. Das Gewächshaus war eine große Kuppel aus Glas, das im Sternenlicht so sehr funkelte, dass man nicht hineinschauen konnte. Es war ein bisschen wie ein Iglu, und am Eingang hing eine weißblaue Lampe. Es war die, die Nikki vom Aufenthaltsraum aus gesehen hatte.
    Wie er sich das gedacht hatte, war die Tür offen. Vorsichtig schob Nikki sich in den magischen Garten. Hier konnte er den Mantel wieder ausziehen, da das Glas das Sternenlicht in Wärme umwandelte. Da es der einzige Platz am Nordpol war, an dem Pflanzen wuchsen, musste es immer schön warm sein.
    Alle Tannenbäume waren bereits weg, weil sie in der ganzen Welt als Weihnachtsbäume verkauft werden mussten. Auch die Geschenkschleifensträucher waren kahl. Nur ein paar Weihnachtssterne mit ihren großen roten Blüten standen noch hier. Und dazwischen das …!
    „Einhorn!“, rief Nikki glücklich und lief auf das Einhorn zu. Es sah wie ein kleines Pferd aus, ganz weiß mit silbernen Hufen und einem schönen, kristallblauen Horn auf der Stirn. Es schnaubte beleidigt und drehte sich von Nikki weg. Ohne ihn zu beachten, kaute es auf einer roten Weihnachtssternblüte rum. „Es tut mir leid“, sagte Nikki traurig. „Ich habe nicht daran gedacht, dass ihr Einhörner kein Heu fresst. Ich will es in Zukunft besser machen. Aber der Weihnachtsmann braucht dich jetzt! Ohne deinen Zauberstaub kann sein Schlitten nicht fliegen. Stell dir doch nur mal vor, wie traurig dann alle Kinder sind, wenn sie morgen keine Geschenke haben!“
    Das Einhorn sah ihn an. Jetzt würde es mit ihm kommen, das wusste er. Nikki nahm eine Handvoll Weihnachtssterne mit und sagte: „Ich werde dir die leckersten Rosen aus der Märchenwelt holen, die ich finden kann!“


    „Die Rentiere sind angeschirrt, Herr Weihnachtsmann!“ Ein Elf zog die Zügel von Rudolph, dem Rentier mit der roten Nase ganz vorne am Gespann, fest. Die neun Rentiere des Weihnachtsmanns waren vor den großen Schlitten gespannt. Ein riesiger Sack mit hunderten Flicken war dort mit Seilen festgebunden, damit er nicht rausfiel. Dort waren alle Geschenke für alle Kinder der Welt drin, die sich was gewünscht hatten.
    Nikki stand neben dem Weihnachtsmann und dem Einhorn auf der Startstrecke. Von hier würde der Schlitten gleich losfliegen. Es war alles bereit.
    „Ich bin froh, dass du das Einhorn doch noch gefunden hast“, sagte der Weihnachtsmann und streichelte das kleine weiße Pferd. Das Einhorn fraß mal wieder Weihnachtssternblüten. Das war wohl sein neues Lieblingsessen – Rosen aus der Märchenwelt wollte es schon gar nicht mehr haben. „Niemand hat es im Gewächshaus erwartet, weil das abgeschlossen war. Aber Einhörner können Schlösser aufzaubern. So konnte es auch aus dem Stall ausbrechen.“
    Nikki nickte. „Ich werde es ab sofort richtig füttern“, versprach er. „Wenn ich nicht gefeuert werde“, meinte er noch kleinlaut.
    „Wirst du nicht“, sagte der Weihnachtsmann freundlich. Er sah jetzt wirklich ganz wie der Weihnachtsmann aus: Ein pelziger roter Wintermantel mit schwarzen Stiefeln, flauschigem Weihnachtsmannbart und der Bommelmütze auf dem Kopf. Er war wieder ganz freundlich, und nicht mehr wütend wie in seinem Büro. „Ich werde dich nicht feuern“, sagte er weiter, „wenn du mir sagst, was du aus dieser Sache gelernt hast.“
    Nikki wusste nicht, was sein Chef meinte. „Dass… Einhörner nur Blumen mögen?“, versuchte er, eine gute Antwort zu geben.
    Das Einhorn wieherte, und Nikki fand, es klang wie Lachen. Auch der Weihnachtsmann lachte. „Versuch es noch mal.“
    Jetzt dachte Nikki schon ein bisschen genauer nach. Schließlich sagte er: „Egal wie ausweglos eine Sache scheint, es gibt immer einen Stern, der einem wieder raushilft.“ So wie die Lampe am Gewächshauseingang, dachte er.
    „Schon besser“, meinte der Weihnachtsmann. Von seinem Zuhause kam gerade seine Weihnachtsfrau herbei. Sie brachte ihm eine Dose mit Vesper für unterwegs. „Danke, Liebling“, sagte er zu ihr und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Nikki musste kichern.
    Ein Elf kam zu ihnen und führte das Einhorn zum Schlitten rüber. Es wusste schon, was es tun musste: Es hob den Kopf mit dem wunderschönen Horn, das im Mondlicht glitzerte und funkelte. Zauberstaub, der wie tausende winziger Sterne aussah, kam daraus hervor und verteilte sich über die Rentiere und den Schlitten. Jetzt glitzerten die Beine der Rentiere und die langen Kufen des Schlittens, als wären sie mit Eis bedeckt.
    Der Weihnachtsmann und drei Hilfselfen stiegen in den Schlitten. Nikki lief ihnen hinterher. „Ähm, Herr Weihnachtsmann?“, fragte er. Der Weihnachtsmann nahm die Zügel in die Hände und sah zu Nikki runter. „Darf ich vielleicht… mitkommen? Ich weiß, ich habe viel angestellt, aber könntest du ein Auge zudrücken?“
    Der Weihnachtsmann schüttelte den Kopf. Nikki war enttäuscht. „Mit mir mitzukommen und Geschenke verteilen ist eine große Ehre“, erklärte der Weihnachtsmann. „Diese drei Elfen hier haben es sich lange erarbeitet, bei mir mitzufliegen. Mein Schlitten kann nicht noch mehr mitnehmen, sonst bricht er zusammen. Wenn du im nächsten Jahr fleißig bist und dir viel Mühe gibst, bist du vielleicht einer dieser drei, die nächstes Mal mitkommen.“ Er zwinkerte.
    „Ich werde mich anstrengen!“, versprach Nikki und nickte eifrig. Er trat zurück, um nicht umgeworfen zu werden, denn der Schlitten startete jetzt.
    Der Weihnachtsmann ließ die Zügel knallen, und die Rentiere liefen los. Die goldenen Glöckchen, die überall am Reitgeschirr angebracht waren, klingelten leise. Immer schneller und schneller wurden die Rentiere, bis der Zauberstaub sie zum Fliegen brachte. Wie ein glitzernder Schleier zog der Staub hinterher. Nikki fand, dass es wunderschön aussah. Der Weihnachtsmann ließ sein weltberühmtes „Hohoho!“ hören und winkte den Elfen zum Abschied, die sich um die Startbahn versammelt hatten. Das Einhorn wieherte froh.
    Nikki streichelte und umarmte es. Die beiden waren Freunde geworden.[/tabmenu]

  • [tabmenu][tab=Vorwort]Beide folgenden Texte sind WB-Texte (iwie produziere ich ja nix anderes mehr, obwohl ich durchaus die Ideen dazu habe...)
    Der erste, Hoffnungsfeuer, hat beim Klappentextgeschichte-WB den ersten Platz ergattert *stolz*. In den meisten Komments dazu wurde negativ darauf eingegangen, dass hier eine Schusswaffe vorkommt. Seltsamerweise haben dieselben User bei einer anderen Story in diesem WB, Volcano hieß sie glaub ich, zu der Schusswaffe, die dort vorkam, nix gesagt. Schon irgendwie merkwürdig, oder? Der erste Absatz ist übrigens jener Klappentext, nachdem wir haben arbeiten müssen. Ich habe ihn nicht verfasst!
    Naja, der andere Text war für den Collab-WB, den ich mit Taiyo angetreten habe. Leider haben wir nicht einen Punkt bekommen, und Lumi meldet sich auch nicht mehr seit damals... denkst du wirklich, dass wir wegen deines Bildes verloren haben? Es lag nicht an deinem mangelnden Zeichentalent; ich hätte es auch nicht besser hingekriegt, also meld dich mal wieder! Es ging ja darum, ein bereits existentes Märchen zu nehmen und in Pokeform umzuschreiben. Dieses hier ist von einem japanischen Märchen inspiriert, das da hieße Inochi no Rozoku, die Lebenskerze. Hab nur grad keinen Link parat... Hitomoshi ist der japanische Name von Lichtel, nur so nebenbei ^^
    Achja, und das letzte Tab enthält einen Drabble, den ich für den aktuell laufenden Drabble-WB geschrieben, jedoch nicht rechtzeitig abgeschickt habe x°D[tab=Platz 1! <3]Hoffnungsfeuer


    Wir leben in einer Welt, die voll ist von Wundern aller Art. Es gibt die unterschiedlichsten Pflanzen und Lebewesen, die diesen Planeten bevölkern und ihn mit Leben erfüllen. Auch wir Menschen sind Teil dieses großen Ganzen; eingegliedert in einen ewigen Kreislauf. Doch immer, wenn man es am wenigsten erwartet, geschieht das Unvorhersehbare. Wenn sich von einem Tag auf den anderen das Wetter drastisch ändert, die Bäume ihre Blätter verlieren, das Meer wie in Schmerzen ruhelos gegen die Felsen der Küste kracht und die Pflanzen von einem wütenden Wind gepeitscht werden, dann ist es an der Zeit, herauszufinden woran es liegt. Nur wir können diese Aufgabe übernehmen - die Frage ist nur: können wir dieses Ziel überhaupt erreichen?



    „Warum, N?“, fragte Lotta tonlos und blickte auf den grünhaarigen Trainer herab, der vor ihr gegen die Felswand gelehnt saß. Ihre Stimme übertönte kaum das Tosen des Windes. „Warum tust du das?“
    „Das würde mich auch mal brennend interessieren.“ Cheren trat hinzu, nachdem er sich vom stundenwährenden Kampf am wolkendüsteren Himmel abgewandt hatte. Er würde nicht mehr lange dauern.
    N lächelte zu Lotta auf, mit demselben geheimnisvollen Glitzern in den Augen wie vor fünf Jahren, nach seiner großen Niederlage gegen sie. Damals hatte sie ihn nach seinem richtigen Namen gefragt, aber er hatte keine Antwort gegeben, bevor er für ein halbes Jahrzehnt von der Bildfläche verschwunden war. „Ich habe erkannt, dass sich mein Wunsch von einer Welt, in der Menschen und Pokémon gleichberechtigt nebeneinander leben können, nicht erfüllen kann, weil niemand die Pokémon so versteht wie ich.“ N stöhnte äquivalent zum schmerzerfüllten Brüllen Dialgas, das erbittert gegen Zekrom kämpfte. Blitze zuckten über den Himmel, und Donnern ließ den Kraterberg erzittern. „Nicht, solange es Menschen gibt, die die Pokémon ausbeuten“, erklärte N nach seinem Schwächeanfall weiter. Sein Kleoparda saß neben ihm und stupste seine linke Hand, die er fest auf die rechte Schulter gepresst hielt. „Das hat mir G-Cis klargemacht. Erst, wenn ich das alte Gleichgewicht zerstöre, kann ich ein neues erschaffen.“
    Nun sah er in den Himmel, wo der Zeitdrache soeben eine machtvolle Attacke lud. Aber Lotta wusste, dass es gegen Zekrom nicht viel nutzen würde. Der schwarze Drache hatte bereits Palkia besiegt, das am Boden des Kraters zur Steinstatue erstarrt lag. N sprach weiter: „Dafür brauche ich die Mächte, die diese Welt im Gleichgewicht halten – die Mächte über Zeit und Raum.“
    Lotta zuckte zusammen, als Cheren plötzlich herabstieß wie ein Washakwil auf der Jagd, N am Kragen packte und wieder mit sich hochzog. „Du hast vor, unsere Welt zu zerstören, du größenwahnsinniges Arschloch!“, keifte er dem Drachenmeister ins Gesicht. Lotta erkannte ihren Kindheitsfreund kaum wieder. Er war es gewesen, der herausgefunden hatte, dass N in Sinnoh agierte und ganz im Alleingang nach den beiden Dimensionsdrachen suchte, und daraufhin „das alte Trio“, wie er sich, Bell und Lotta als Gruppe bezeichnete, zusammengetrommelt hatte. Sonst war er immer nachdenklich und besonnen. Jetzt schien er innerlich mit sich selbst zu ringen, ob er N lange und qualvoll verprügeln oder ihm lieber gleich den Hals umdrehen sollte.
    N indes blieb gelassen. Als Kleoparda hinter ihm bedrohlich knurrte, ließ Cheren ihn wieder zu Boden fallen.
    Da stieß Zekrom ein wütendes Brüllen aus. Die Anzahl der Blitze nahm rapide zu, und nur die hauchzarte Membran, die der Drache vor Beginn des Kampfes zu ihrem Schutz um die Trainer heraufbeschworen hatte, bewahrte sie davor, gegrillt zu werden. N krümmte sich auf allen Vieren. „Mir ist… so heiß“, keuchte er atemlos und zog sich den Pullover über den Kopf.
    Lotta erschrak, als sie seine Schulter sah. „Was ist das?“, fragte sie und betrachtete entsetzt das blau glühende Blitzmuster, das sich über seinen ganzen rechten Arm bis zur Handwurzel herab und über das Schulterblatt erstreckte.
    N lachte bitter, Schweißtropfen auf seinem Gesicht glänzten im Schein des Mals. „Wenn man mit einem legendären Drachen paktiert, drückt er einem unweigerlich seinen Stempel auf. Zekrom bezieht seine Kampfkraft aus meiner Lebensenergie.“ Auch wenn sie selbst einen solchen Drachen gefangen hatte, hatte Lotta damit keine Erfahrung. Nach ein paar Wochen gemeinsamer Reise mit Reshiram hatte sie den weißen Engelsdrachen wieder freigelassen. Sie fand es vermessen für einen Menschen, über eine Legende zu gebieten – N war das beste Beispiel dafür.
    „Scheiße“, hörte Lotta Cheren fluchen und wandte sich wie er dem Drachenkampf zu. Doch dieser war, zu ihrem Entsetzen, nun endgültig vorbei: Zekrom schwebte über dem versteinerten Dialga, den aus der Stahlbrust gerissenen Diamanten in den Klauen. In seiner anderen Pranke erschien die Kugel, die es zuvor Palkia geraubt hatte. Der Donnerdrache hielt beide Kleinode gen Himmel, wo sie sich aus seinem Griff lösten und über seinem Kopf immer schneller werdend zu kreisen begannen. Bald war ihr mattes Leuchten nur noch ein einziger Ring aus Licht, in dessen Innern sich ein Wirbel aus Dunkelheit bildete. Aus der demolierten Kraterberglandschaft lösten sich Felstrümmer, flogen auf den Lichtring zu und verschwanden in der Finsternis.
    „Alle Materie dieser Welt wird jetzt durch das Dimensionsloch gesogen“, erklärte N selbstgefällig, auch wenn er wieder die Hand auf das Drachenmal presste. „Und auf der anderen Seite des Tunnels baut sich daraus dann die neue Welt.“ Er verzog das Gesicht vor Schmerz, doch selbst in diesem jämmerlichen Zustand strahlte er noch das ihm eigene Charisma aus.
    „Sag ihm, es soll damit aufhören.“
    Lotta wirbelte herum, als sie Bells ernste Stimme hinter sich vernahm. Die blonde Trainerin hatte sie schon fast vergessen, weil sich diese bislang stumm verhalten hatte. Als Lotta gewahrte, was ihre Freundin in Händen hielt, taumelte sie zurück. „Wo hast du die Waffe her?“, kreischte sie schriller, als sie bislang gesprochen hatte, obwohl sie auch schon vorher hysterisch gewesen war.
    „Das tut nichts zur Sache“, gab Bell aggressiv zurück und fuchtelte mit dem Revolver in Ns Richtung. „Ihr habt doch gehört, was er gesagt hat. Wenn ich ihn erschieße, hat Zekrom keine Energiequelle mehr.“
    „Wenn du mich erschießt“, sagte N ruhig, konzentriert auf die geifernde Mündung der Pistole, „wird seine Kraft unkontrollierbar sein. Dann wird diese Welt umsonst vernichtet!“
    „Ich bin bereit, dieses Risiko einzugehen“, meinte Bell schlicht und entsicherte die Waffe. „Dann besteht wenigstens eine Chance, dass meine Familie überlebt.“
    „Bell, nicht…“, versuchte Lotta, ihre Freundin zu beschwichtigen. Doch diese schoss nun tatsächlich – das Projektil verfehlte N jedoch knapp und schlug klingend auf dem Steinboden auf. Es war Absicht gewesen, das ahnte Lotta. Wenn Bell den Drachenmeister hätte treffen wollen, hätte sie es auch geschafft. Auch Kleoparda spürte die Gefahr, die von Bell ausging, und hielt sich dezent im Hintergrund.
    „Ihr denkt wohl, die süße, kleine, dumme Bell ist zu unschuldig, um jemanden zu verletzen, oder?“ Die Blondine verzerrte ihr Gesicht zu einer Fratze des Zorns. „Aber auch ich bin erwachsen geworden.“ Lotta konnte kaum glauben, was sie da hörte. Was war in den letzten fünf Jahren in Bells Leben geschehen, dass sich das liebenswerte Mädchen so drastisch verändert hatte? Oder war ihr Verhalten nur situationsbedingt, so wie es bei Cheren der Fall war? „Ich hab dich einmal bewundert, N, dich und dein Streben nach der perfekten Welt.“ Bells Stimme klang seltsam belegt. „Aber wenn ich sehe, was du dafür zu opfern bereit bist… Du bist der gleiche miese Dreckskerl wie dein Vater.“
    Sie drückte den Rücken durch und straffte die Schultern. Mit einem eindeutigen Kopfnicken in die entsprechende Richtung verlangte sie erneut: „Und jetzt befehle Zekrom, Dialga und Palkia ihre Juwelen zurückzugeben!“
    Mit unwilliger Miene stand N schwankend auf, hielt dabei stets Augenkontakt mit der einäugigen Handfeuerwaffe. Schließlich wandte er sich Zekrom zu, schloss die Augen. Für unendliche Sekunden, so kam es Lotta vor, stand N am gähnenden Abgrund. Mit dem langen Haar, das der Sturm ihm ums Gesicht wehte, und dem intensiv blau glühenden Drachenmal wirkte er wie ein fleischgewordener Held aus den uralten Sagen Einalls.
    Endlich öffnete er wieder die Augen. „Es funktioniert nicht“, sagte er tonlos und starrte zum Donnerdrachen auf. „Es lässt mich nicht in seinen Geist!“
    „Du lügst doch!“, kreischte Bell, aber Lotta wusste, dass N die Wahrheit sprach. Er war ein Mann, der ein Leben lang mit Pokémon telepathisch kommuniziert hatte. Die Bestürzung darüber, dass es ihm jetzt unmöglich war, konnte nicht einmal er vorschützen.
    Plötzlich krachte mit ohrenbetäubendem Getöse in der Nähe ein Brocken aus dem Berg, und das kleine Plateau erzitterte. Steintrümmer spritzten in alle Richtungen, vermochten aber den Schutzschild nicht zu durchbrechen. Cheren nutzte die Ablenkung und handelte so, wie man es von ihm gewohnt war: Kalt und berechnend. Er stieß gegen Bells Arm, sodass eine eventuell abgeschossene Kugel nur die Felswand treffen konnte, und entwendete ihr, ohne auf ihren Protest zu reagieren, geschickt den Revolver. Um diesen gänzlich loszuwerden, schleuderte er ihn durch die Membran den Abgrund hinab.
    Lotta beugte sich zu N runter, der sich erneut vor Qualen wand, ächzte und schrie. Das Blitzmuster leuchtete stärker als zuvor und breitete sich weiter aus, bis sein gesamter Oberkörper von dem Wurzelgeflecht zerwuchert war, aus dem Zekrom seine Macht bezog. Vorsichtig legte Lotta eine Hand auf Ns bebenden Rücken, zuckte dann aber zurück. Seine Haut war kochend heiß! Sie hob den Blick zu Zekrom. Der Donnerdrache war von einer unheimlichen blauen Aura umgeben. Der Ring über seinem Kopf nahm an Umfang zu, der Sog des Dimensionslochs wurde stärker. Gleißende Blitzexplosionen teilten den Himmel in albtraumhaftes Schwarz und blendendes Weiß. Wenn Zekrom so weitermachte, würde es N töten!
    In ohnmächtiger Wut ballte Lotta die Fäuste. Konnten sie denn gar nichts tun, um diese Katastrophe abzuwenden?
    Ein stechender Schmerz biss jäh in ihren linken Handrücken. Erschrocken starrte sie darauf, doch als sie den Grund dafür erkannte, wich ihrem Entsetzen Erstaunen. Auf ihrer Hand hatte sich eine kleine, leicht spiralförmig gewundene Flamme gebildet, ganz ähnlich Ns Drachenmal, die die Farbe heißer Glut hatte.
    In diesem Moment schoss über ihren Köpfen ein in orangegoldenes Feuer gehüllter Engel genau auf Zekrom zu.[tab=Lebenslichtel]Inochi no Hitomoshi


    Mit letzter Kraft hievte sich Pichu auf die nächste Stufe. Tausende Stufen, so schien es ihr, war sie mittlerweile geklettert, doch ein Ende der Treppe war nicht in Sicht.
    Sie dachte an Pikachu, ihren Bruder, der sterbenskrank zuhause lag. Ihr sehnlicher Wunsch, er möge wieder gesunden, war von Jirachi nicht ungehört geblieben. Aber um Pikachus Leben zu retten, musste Pichu selbst die Lebenskerze ihres Bruders wieder aufrichten, bevor diese erlosch. Jirachi hatte schwebende Plattformen heraufbeschworen, die Pichu als Leiter in den Himmel dienten. Doch der Weg war weit und der Aufstieg für die kleine Abenteurerin nerven- wie kräftezehrend. Immer häufiger drohten die Höhenwinde, sie von den kondenswasserglitschigen Steinplatten hinabzustoßen, und oft schaffte Pichu nur im letzten Moment, sich festzuhalten.
    Tausend weitere Stufen schlossen sich den vorigen an. Die Luft wurde kalt und feucht. Bald musste Pichu nach dem Rand der nächsthöheren Plattform tasten, weil sie sie im dichten Nebel nicht mehr sah. Zudem wurden ihre Hände zunehmend klamm. Lange würde sie das nicht mehr durchhalten.
    Doch das musste Pichu zum Glück nicht: Zunächst von den allgegenwärtigen weißgrauen Wolken verborgen, hob sich über ihr ein düsterer Schatten ab. Als die Reisende auf der letzten Plattform direkt darunter ankam, erkannte sie eine Wand, die aus dem gleichen goldbraunen Stein gemauert war wie die Himmelsleiter. Sie lag horizontal, wodurch sie wie die Decke eines Raumes wirkte. Das musste der Himmel sein!
    Sie streckte die Arme nach oben, um eine der vielen Platten, aus denen der Himmelsboden bestand, anzuheben und zur Seite zu schieben. Mit einem beherzten Sprung gelangte sie durch das Loch und fand sich in einem Saal wieder. Der Boden war mit silbrig glänzenden Fliesen ausgelegt, die Wände, die sich zu einem Kuppelgewölbe erhoben, weiß und schmucklos. Die Reinheit des Raums wurde nur von einem hochaufragenden feuerroten Tor unterbrochen, dessen Flügel jeweils aus einem einzigen Stein geschnitten zu sein schienen. Pichu ging darauf zu; als sie nahe genug war, schwang das Tor nach außen auf.
    Vor der Abenteurerin öffnete sich ein weiterer Saal, noch viel gigantischer diesmal, so groß, dass wohl ihr ganzes Heimatdorf hineinpasste. Die weit ausladenden Wände und die Decke glühten rot, der Boden war ein einziger See aus heißem, geschmolzenem Gestein. Lediglich einige feste Obsidianinseln und Basaltbrücken machten den Lavasee zugänglich. In weiter Ferne erblickte Pichu ein bläuliches Leuchten. In diese Richtung musste sie. Also machte sie sich auf den Weg über die Steinbrücken, auch wenn ihr die Hitze arg zusetzte. Nach dem anstrengenden Aufstieg war es aber auch eine Erleichterung, wieder über halbwegs festen Boden zu gehen.
    Pichu kam dem indigofarbenen Leuchten immer näher. Bald erkannte sie darin ein zweites Tor, das nicht wie das davor aus rotem, sondern blauem Stein geschnitten war. Doch davor ragte eine zwar nicht so hohe, dafür nichtsdestotrotz massige Gestalt auf. Über die roten, geschuppten Panzerplatten pulsierten feurig glühende Lichtwellen und ließen die Konturen der Kreatur verschwimmen. Pichu aber glaubte zu erkennen, um welches Wesen es sich handelte: Groudon, ein urtümliches Monster aus den Legenden und Sagen ihres Dorfes. Anscheinend war es hier dazu abbestellt, den Kerzensaal, zu dem Pichu wollte, zu bewachen.
    Diese wähnte ihre Reise für beendet, da sie an dem Wächter unmöglich vorbeikommen konnte, bis ihr auffiel, dass Groudons Augen geschlossen waren. Es stand reglos da, und das Heben und Senken seiner gepanzerten Brust waren die einzige Bewegung, die es von sich gab. Um Gewissheit zu haben, schlich sie auf das gigantische Ungetüm zu, doch es schien sie tatsächlich nicht zu bemerken. Also flitzten sie blitzschnell daran vorbei auf das blaue Tor zu, das sich auch sogleich vor ihr öffnete.
    Eigentlich hatte Pichu gehofft, sich nun schon im Kerzensaal zu befinden. Stattdessen schlug ihr eine frische, salzig duftende Brise entgegen. Wellenrauschen war zu vernehmen. Der Raum, den sie nun betrat, war so weitläufig wie der vorige, nur war er anders als dieser komplett blau: Die Wände nahmen sich wie ein Himmelszelt aus, das sich über einem wogenden Meer spannte. Auch hier führten aus dem Wasser ragende Sandbänke und erodierte Felsbögen ans andere Ende des Saals, von wo Pichu ein gelbliches Leuchten entgegenstrahlte. Wieder folgte sie ihm, und wieder fand sie ein großes Tor an seiner Quelle. Die Insel unmittelbar davor war irgendwie anders als die anderen im Meer. Sie war perfekt oval und so blau wie das Tor, das in diesen Saal führte. Pichu dachte nicht weiter darüber nach und setzte mit einem Sprung auf die Insel über.
    Sogleich erzitterte der lederartige Untergrund, und ein tiefer, lauter Summton brachte das Wasser zum vibrieren. Wellen türmten sich auf und überfluteten die Sandbänke. Pichu erstarrte, wusste sie doch aus den alten Mythen, dass es nur ein Wesen gab, dessen Brüllen Wellen auszulösen vermochte: Kyogre, der riesige Leviathan der Ozeane. Offenbar hatte es, wie auch Groudon, friedlich geschlafen, und drohte jetzt zu erwachen.
    Sofort rannte Pichu los, so schnell ihre kurzen Beine sie trugen, auf das goldene Tor zu. Zu ihrem Glück öffnete es sich ebenfalls wie von Geisterhand. Gerade, als Kyogre sich aus den Fluten erhob, sprang Pichu von seinem Rücken ab blindlings in den nächsten Raum. Das gereizte Brüllen des Torwächters warf regelrechte Tsunamis auf, doch die Sturmwellen prallten vom Eingang ab wie von einer unsichtbaren Barriere. Die schimmernden Torflügel schlossen sich wieder hinter der kleinen Besucherin.
    Die plötzliche Stille wurde übertönt von dem Klingeln in Pichus Ohren. Erst, als sich ihre geblendeten Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte sie wieder etwas sehen. Der Saal, in dem sie stand, war so ungeheuerlich gigantisch, dass ihr Verstand gar nicht in der Lage war, auch nur die Vorstellung daran zu fassen. Es war finster, sodass keine Wände in Sichtweite waren und die Decke sich in der Schwärze verlor. Nur die Abermillion Lichter gaben Aufschluss über die schieren Ausmaße des Raums, denn sie bildeten einen unendlichen Sternenhimmel um und über Pichu. Die Lichter gehörten zu ebensovielen Lichtel, die, jedes auf seinem eigenen Kerzenständer, hier verteilt standen. Manche von ihnen waren mit Pichu auf Augenhöhe, andere thronten so weit oben, dass man sie sogar über die Himmelsleiter nicht erreicht hätte. Jede Flamme hatte eine andere Farbe, manche von ihnen sogar zwei. Pichu wusste, dass die Farbe von dem Typ bestimmt wurde, den das Pokémon hatte, mit dem das Lichtel verbunden war.
    All die Lichtel waren Lebenskerzen. Pichu war im Kerzensaal angekommen!
    Hier irgendwo musste das Lichtel sein, das in Symbiose mit Pikachus Seele stand. Doch wie sollte sie es unter all den vielen Kerzen finden? Zumindest wusste sie, dass die Kerzenflamme rein gelb sein musste. Das schränkte ihre Möglichkeiten zwar nicht wesentlich ein, doch es war besser als nichts.
    Während Pichu über das Mosaik schritt, das den Boden bedeckte, beobachteten sie die kalten, stechenden Augen der Lichtel. Welches dieser unfassbar vielen Lebensfeuer wohl ihres war? Sie nahm immer wieder war, wie eine Flamme irgendwo erlosch oder eine neue entfachte, und ahnte, dass in solchen Momenten auf der Erde ein Pokémon starb oder geborgen wurde. Ihr blieb nur zu hoffen, dass das Licht ihres Bruders noch brannte.
    Aber auch nach scheinbar stundenlanger Suche hatte sie dieses eine Lichtel noch nicht gefunden. Der Saal war einfach viel zu kolossal, als dass jemand auch nur ein einziges Leben benötigte, um ihn zu durchqueren. Ganz zu schweigen davon, dass sie an die meisten Kerzen gar nicht herankam, da sie in unerreichbaren Höhen brannten. Ihre ganze Suche war hoffnungslos. Vielleicht blieben Pikachu nicht einmal mehr Stunden, wenn er denn überhaupt noch lebte. Pichu gab es auf und ließ sich unter den Blicken der Lichtel verzweifelt zu Boden fallen.
    Da hörte sie plötzlich eine leise Stimme ihren Namen rufen. Sie sah auf und erkannte einen goldenen Stern, der vor ihr schwebte. Die kleine Lichtkugel flog davon. Pichu war sich mit einem Mal sicher, dass sie sie zur Lebenskerze ihres Bruders führen würde. Sie rannte hinterher, zwischen den vielen Metallstangen hindurch; als das Licht erlosch, wusste Pichu, dass sie am Ziel war. Tatsächlich lag neben einem sehr kurzen Kerzenständer ein Lichtel auf dem Boden, dessen gelbe Flamme nur noch ein schwaches Flackern war. Kein Zweifel, das war das Seelenfeuer ihres Bruders!
    Schnell bückte Pichu sich und hob es zurück auf den Kerzenständer. Damit kein unvermittelt aufkommender Luftzug das winzige Flämmchen ausblasen konnte, schirmte sie es mit den Händen ab. Es schien ewig zu dauern, bis der Kerzenschein sich stabilisiert hatte und das Lebenslicht wieder so brannte wie all die umstehenden. Pichu war so erleichtert, dass die Anstrengungen der letzten Stunden augenblicklich ihren Tribut zollten: Die kleine Heldin fiel in Ohmacht…


    Als Pichu wiedererwachte, waren die Lichtel und der Kerzensaal verschwunden. Sie blinzelte und wusste zunächst nicht, wo sie sich befand. Dann registierte sie, dass sie neben Pikachus Krankenbett saß, genauso, wie sie zu Jirachi gebetet hatte, bevor sie vorige Nacht eingeschlafen war. Ganz so, als sei ihre beschwerliche Reise nie gewesen. Hatte sie alles etwa nur geträumt?
    Sie fing schon zu weinen an, weil ihr Bruder nun doch keine Rettung erfahren hatte, als sie sah, wie Pikachu seit langer Zeit endlich wieder die Augen aufschlug. Ihre Tränen wandelten sich in Freudentränen um, und sie fiel ihrem Bruder glücklich um den Hals.[tab=Drabble]Wind
    Sonnenlicht vergoldet die Welt, lässt die Natur vor Freude jauchzen. Der Wind weht und bringt das Korn zum Tanzen. Meereswellen gleich neigt es sich seiner sanften Macht, endlos bis zum Horizont.
    In den Reigen stimmt die Schwalbe sich ein, kleiner schwarzer Stern. Schraubt sich hinauf in die Freiheit des grenzenlosen blauen Himmels, lässt sich tragen von den Böen. Jäh stürzt sie herab, taumelnd – und doch, sie fängt ihren Flug dicht über den Ähren, dass ihre Schwingen sie streifen.
    Schwarze Schwalbe, Meisterin der Eleganz, verrate Dein Geheimnis: Vermagst du mit den Winden zu sprechen, oder gehorchen sie gar Deinem Willen?
    [/tabmenu]

  • Huhu Pika!
    Da ich bei den Kinder Kurzgeschichten verpennt habe, werde ich dieses Mal gleich kommentieren, damit du nicht so lange, beziehungsweise gar nicht, warten musst. Ich hoffe ich kann dir wieder helfen. (Awwr, wie ich Times New Roman atm liebe. x3)


    Hoffnungsfeuer
    Da habe ich ja schon bei Wetti meine Meinung geäußert, deshalb kopiere ich das einfach mal:
    Über diese Abgabe habe ich eine wirklich geteilte Meinung.
    Ich bin mir sicher, dass der Autor viel Herzblut in diese Kurzgeschichte gesteckt hat, von der guten Idee ganz zu schweigen, aber es gibt da irgendwie zu viele negative Aspekte...
    Da wäre zum einen die öfters verwendete Umgangssprache. Zwar wird das an anderen Stellen durch wunderschöne Formulierungen wieder etwas.. ausgeglichen, aber warum nicht immer so. Was ebenfalls etwas negativer ist, wäre allgemein die Struktur. Zwar war das eine tolle Idee, dass N die Herrscher von Raum und Zeit aus Sinnoh braucht um seinen Plan zu verwirklichen, allerdings... Ich finde hier wurden wichtigere Sachen ausgelassen und unwichtigere ausführlicher behandelt. Würde es so beginnen, dass Dialgas "Tod" der Anfang wäre, dann hätte der Autor am Ende noch genug Platz für das, für mich zumindest, eigentlich Augenmerk dieser Abgabe. Das Auftreten Reshirams. Dieses kam meiner Meinung nach viel zu kurz...
    Allerdings sind mir auch da wieder positive Aspekte aufgefallen. Das dunkle und das helle Mal, sollte zwar einigen *hust* Harry Potter Fans *hust* etwas bekannt vorkommen, jedoch trotzdem ein toller Einfall. Gerade die Beschreibungen der Schmerzen, die N ganz offensichtlich erleidet war richtig gut...
    Und hier kommen wir wieder ins negative. Und das geht finde ich gar nicht. Zum einen wären das solche Wörter wie Arschloch und Scheiße. Diese gehören einfach nicht dahin, da gibt es "gehobenere" Wörter die trotzdem das selbe Ausdrücken... Hochstapler und Mist zum Beispiel.
    Außerdem... Eine Knarre? Ehrlich? Bei Pokémon? Das war vom Inhalt wirklich das schlimmste, jedoch hat es mich von der Ausführung wieder beeindruckt. Die Wut von Bell, dieses Verzögern, Cherens Coolheit, das alles war toll umschrieben...
    Alledings, und das ist positiv zu vermerken, hat mich diese Geschichte in ihrem Bann gehalten...


    Wind
    Ein sehr schöner Text, den ich zu guter Letzt gerne noch etwas näher betrachten würde, was ich zwar beim Wettbewerb auch getan hätte, aber da du ja nicht abgegeben hast mache ich das eben hier. Der Titel gefällt mir jetzt eigentlich nicht so gut, Wind ist ein relativ einfaches Wort; wenngleich das nicht unbedingt negativ sein muss. Ich bin jedoch der Ansicht, dass Wind nicht dir richtige Definition für dein Drabble ist. Du hast dir sicherlich was dabei gedacht und weites gehend kann ich die Wahl auch nachvollziehen, allerdings finde ich, dass da mehr drin ist. Zunächst behandelst du im Drabble zwar den Wind, aber dann verlierst du dieses Thema etwa und kommst auf den Vogel zu sprechen. Von dort aus, spielt die Haupthandlung, die sich letzten Endes wieder zurück auf den Wind zieht, aber im Mittelpunkt steht irgendwie viel mehr der Vogel. Ich würde dir den Titel Bändiger empfehlen, da du ja "fragst" ob die Schwalbe nur mit dem Wind redet, oder ob sie ihn beherrscht. Für Letzteres wäre Bändigen ein recht interessantes Synonym; aber es sei gesagt, das ist nur ein Vorschlag, den du keines Falls annehmen musst. Was ich dir aber gerne ans Herz legen würde, dass du einfach nochmal über den Titel nachdenkst, du musst ihn nicht ändern; doch mach dir einfach mal den Kopf frei und denk' ein bisschen über ihn und seine Auswirkung nach. Das ist alles, was ich zum Titel zu sagen vermag. Nun aber mal zum Text an sich, ich beginne mal mit dem Inhalt, an sich gefällt mir die Idee des Drabbles ganz gut, vor allem weil die Schwalbe, zwar erst gegen Ende, jedoch dennoch zum rechten Zeitpunkt wie ich finde, exzellent eingebaut wird, und trotz ihres kurzen Einsatzes so gut wie das gesamte Augenmerk auf sich zieht. Was mir nicht so gefällt, ist der Anfang. Es geht eigentlich recht gut los; du bringst deine Leser direkt auf den Titel, beziehungsweise das Thema, mit dem das Drabble am Ende wieder ausklingen wird, zu sprechen, was meiner Meinung nach sehr gut passt. Allerdings schweifst du dann schon ein bisschen ab. Trotzdem sehr interessant, wie du den Wind mit Wellen vergleichst; allerdings ist mir der Übergang zur Schwalbe etwas zu holprig... Aber ansonsten hat mir das Drabble inhaltlich gut gefallen, gerade, dass du die Schwalbe so schön eingebaut hast. Nun aber ein bisschen noch zum sprachlichen Stil; ich finde du hast sehr gut geschrieben, die Sätze wirken alle sehr schön durchdacht und hängen sehr schön zusammen; man hat kaum den Eindruck, dass etwas nicht rund klingt. Einzig und allein an der Übergangsstelle von Beschreibung zu Schwalbe, da fehlt mir irgendwie die "Brücke" zum nächsten Thema. Aber das ist auch etwas inhaltliches und hat auch mit der Wortgrenze zu tun. Was mir auch gut gefallen hat, deine Ausdrucksweise; du hast sehr schön formuliert und auch sehr schöne Wörter verwendet, die sich zu einem wirklich sehr schönen Mosaik zusammensetzten. Insgesamt hat das Drabble viele Pluspunkte, negativ sind eigentlich nur der Übergang und in gewisser Maßen der Titel. Ansonsten, well done.


    Tut mir Leid, dass ich auf die anderen Kurzgeschichten nicht eingegangen bin, aber ich denke beim nächsten Update kommentiere ich wieder alles. Du bist sehr verdient wieder in den Profi Bereich gekommen, mach weiter so. Ich freue mich schon auf weitere Werke. ~
    Liebe Grüße.

  • Hallo Pika! (:
    Ich hab mich mal so durch den Bereich geklickt und bin auf dein Topic hier gestoßen, was ja doch eines der ältesten ist. ^^ Da dachte ich mir, ich schau mir mal an, was du da so alles hast und hatte ziemliche Probleme mich zu entscheiden, was ich jetzt kommentiere von deinen neueren Werken.
    Letztendlich hab ich mich für eine deiner Kindergeschichten und das Drabble entschieden. ^^ Aber bevor ich hier weiter laber, fang ich mal an zu kommentieren, ne?


    Tiger und das Kristallherz
    Zuallererst muss ich sagen, dass ich keinen einzigen Fehler gefunden habe, was äußerst angenehm war. ^^ So konnte man sich gleich viel besser auf den Inhalt konzentrieren und der war auch jedes bisschen Aufmerksamkeit wert. Du hast hier eine sehr schöne und lehrreiche Geschichte erzählt, wie es sich für Kindererzählungen gehört. Immerhin soll man ja bei solchen Geschichten immer auch etwas lernen. Diese Lehre hast du hier gut umgesetzt, finde ich. Erstmal, dass Fehler passieren und Dummheiten normal sind, aber auch, dass kein Gold der Welt so wertvoll ist, wie die Familie. Von Anfang bis Ende ist die Handlung schlüssig und in sich geschlossen, so wie man es von Kindergeschichten kennt, da gibt es selten offene Enden oder plötzliche Einstiege. Und so hast du das auch hier gemacht.
    Aber erstmal noch zum Titel: Ich war zuerst verwirrt aufgrund des Wortes „Tiger“, weil ich eigentlich die Raubkatze vor Augen hatte und mich dann aufgrund des fehlenden Artikels gefragt habe, ob du jetzt einen Tiger einfach Tiger genannt hast. Das Kristallherz im Titel hat mich sehr neugierig gemacht, nicht nur, weil es ein sehr schönes Wort ist und man sich gleich etwas vorstellen kann, sondern weil ich schon so das Gefühl hatte, dass es eine wichtige Bedeutung in der Geschichte haben wird.
    Jetzt, wo ich die Geschichte kenne, erklärt sich der Titel natürlich und gleichzeitig habe ich schon das Cover eines solchen Buches im Kopf. Typisch ich, aber ich finde, das könnte man wirklich gut publizieren.


    Sou, aber jetzt mal zur Handlung.
    Mir gefiel die Geschichte schon zu Beginn: deine Einleitung mit der Beschreibung der verschiedenen Drachenarten war faszinierend zu lesen, besonders, weil mir einige gar nicht so bekannt waren. Entstammen die deiner Feder oder hattest du eine Vorlage? Du hast sie alle kurz beschrieben und ich konnte sie mir auch gut vorstellen – bis auf die Fledermausdrachen, muss ich gestehen – und hab mich auch gleich gefreut, weil ich Geschichten über Drachen sehr gerne lese. Man erfährt also ihre Unterschiede, aber auch ihre größte Gemeinsamkeit: das gemeinsame Feiern des Muttertages. Nette Idee, allgemein scheinen die weiblichen Drachen hier mehr verehrt zu werden, als die Männchen. Im Zuge dessen, erfährt man auch, dass es eine Dracheninsel gibt – erinnert mich an Dinotopia <3 – die für jede Rasse ihre ganz eigenen Gebiete hat. Und man erfährt etwas über die Sippenmütter, die an diesen Tagen immer geehrt werden.
    Und hier steigst du in die Geschichte ein und wir erfahren wer Tiger ist. Nebenbei streust du immer wieder Informationen über das Leben der Drachen ein, wie die Namenswahl abläuft und natürlich wie der Tag an sich gefeiert wird. Auch wenn die Feier eher im Hintergrund steht, so war das mit dem Geschenk doch sehr wichtig. Lustig, fand ich die Idee, dass Tiger den Ring einer Prinzessin stibitzt hat.
    Tiger ist sehr stolz auf seine Hörner – oder eher den Beginn seiner Hörner, aber das ist ja für viele Kinder das größte, wenn sie ihren ersten Wackelzahn haben, das hast du hier mit den Hörnern finde ich, sehr schön umgesetzt – und fühlt sich jetzt älter. Natürlich hat er da keine Lust mehr am „Katzentisch“ bei den jüngeren zu sitzen, immerhin hat er Hörner und darf somit zu den Älteren. Mir war aber fast klar, dass das nicht so einfach für Tiger sein würde, da akzeptiert zu werden und so hat es mich wenig überrascht, dass Rubin ihn wieder weggeschickt hat. Mehr überrascht war ich aber von der Mutprobe, die der Cousin vorgeschlagen hat, aber das ist ja unter Kindern oft so, dass die anderen einen Beweis brauchen, dass man dazugehören kann. (Total schwachsinnig diese Mutproben, wenn ich das anmerken darf …) Tiger ist da aber nicht zu bremsen und nimmt die Herausforderung an, obwohl es nun wirklich keine einfache Sache ist. Wenn man sich etwas mit Drachen auskennt, weiß man, dass sie ihre Schätze lieben und gut bewachen. Es hat mich hier allerdings doch verwundert, dass Smeralda ihn nicht selbst bewacht, aber die Idee mit Cerberus hat mir gefallen. Wundersamerweise kommt Tiger also recht gut in die Schatzkammer rein und sucht sich dort natürlich ein Stück aus, was er herausnehmen und seinem Cousin zeigen könnte. Natürlich ist er ganz angetan von dem Kristallherz. Bereits an dem Punkt ahnt man irgendwie, das etwas schief gehen wird, allein schon, weil es die ganze Zeit so gut lief. Er hat Mühe das Herz zu tragen und weckt versehentlich Cerberus auf, der ihn mit einem Bellen so erschreckt, dass das Herz herunterfällt und zerschellt. Natürlich steht gleich die ganze Sippe auf dem Plan und Smeralda ist außer sich vor Wut. Da bekommt man dann ein sehr schönes Bild, wie wütend Himmelsdrachen werden können und Tiger ist zurecht sehr eingeschüchtert. Nicht mal sein Cousin und die älteren Drachenkinder beachten ihn, nachdem er ja eigentlich die Mutprobe erfüllt hat. Tiger plagt natürlich ein schlechtes Gewissen und er möchte seinen Fehler wiedergutmachen, sodass er alle Splitter einsammelt und in den Vulkan fliegt in der Hoffnung, dass dieser das Herz zusammenfügen kann, so wie es einst geschaffen wurde. Eine recht gefährliche Sache, zwar stört ihn die Hitze nicht, aber die Lava kann ihn trotzdem verbrennen und als der Vulkan schließlich anfängt seine Bitte zu erfüllen, wäre Tiger fast hineingefallen. Doch er wurde gerettet von Smeralda persönlich. Und dann kommt eine sehr süß gemachte Aussprache der beiden, in der sich Tiger entschuldigt und Smeralda klar stellt, dass das Herz eines kleinen Drachen viel zerbrechlicher ist, als ein Kristallherz. Ja, die Familie ist ihr sehr wichtig und diese Lehre hast du sehr eindringlich dargestellt, aber du lockerst die Situation am Ende sehr schön mit der Frage von Tiger auf, ebenso mit dem Schlusssatz. (:
    Rundum gelungen kann ich nur sagen, die ganze Handlung gefällt mir sehr und ich bin sehr angetan von dem Schreibstil. Kindlich gemacht, aber doch malerisch, eine perfekte Balance hast du hier, du bist weder zu ausführlich noch verwendest du zu komplizierte Begriffe. Du bleibst bei einem schönen für Kinder verständlichen Vokabular und das verpackt die Handlung einfach perfekt.
    Aww, das war jetzt sehr schön zu lesen, danke dafür! ^.^


    Wind
    Einfacher Titel und jeder weiß natürlich sofort was gemeint ist. Aber ich dachte mir fast, dass sich dahinter mehr verbirgt und tatsächlich beschreibst du hier sehr malerisch eine Situation. Diese erscheint dabei so zufällig und ungeplant, als würde man sich an dem beschriebenen Ort befinden und diese beobachten. Ich mag deinen Stil hier, wie du alles erst einführst von dem Kornfeld sprichst und dann die kleine Schwalbe einführst. Herrlich! Ich konnte genau sehen, wie sie durch die Luft geflogen ist, Schwalben zischen da ja regelrecht durch die Luft, schnell, elegant und egal welche Kapriolen sie auch in wahnwitziger Geschwindigkeit machen, sie schaffen es immer sich zu fangen. Die engsten Kurven gelingen, die schwierigsten Flugmanöver scheinen kein Problem zu sein. Wind? Was ist das für sie. Und deshalb hat mir die Frage am Ende sehr gut gefallen, denn ich finde sie schon berechtigt. Man könnte tatsächlich meinen, dass sie mit dem Wind spricht bzw. dieser ihr gehorcht.
    Es ist so malerisch geschrieben, ich hab gar nicht das Gefühl, ich würde Wörter lesen, sondern ein Bild ansehen. Das mag übertrieben klingen, ist aber wirklich der Fall. ^^ Ein herrliches Drabble.


    Sou, ich frage mich gerade ernsthaft, warum ich nicht schon früher reingeschaut habe … aber jut, besser spät als nie. Ich hoffe du kannst mit dem Kommentar etwas anfangen. (:


    - Squeek-san Feurigel

  • [tabmenu][tab=Eingang]Wird wohl mal wieder Zeit, dass ich etwas online stelle... Es warten sowieso noch zum teil ziemlich alte Texte darauf, hierher zu kommen. Und Cynda bekommt natürlich noch ein Recomment, sonst ists ja nich komplett <3


    Sodale, erledigt. Nu poste ich die heuptsächlich Wettbewerbstexte, wie sie chronologisch in meinem Ordner vorhanden sind. Dummerweise ist mir "Sommerengel" irgenwie irgendwo verloren gegangen, vielleicht beim letzten Datenabsturz meines Computers. Aber wayne, hier im Forum wird es sicher noch iwo sein, war ja ein WB-Gedicht ^^
    Stattdessen beginnt es eben mit dem "Steckbrief", ein... ja, Steckbrief halt, der für einen Wettbewerb entstanden ist. Da ich aber nicht einfach nur einen langweiligen Steckbrief zusammenschreiben wollte, habe ich es ganz unkonventionell als Bewerbung gestaltet. Damals im WB wurde der Name des Spoilers zwar leider nicht übernommen, er ist aber dennoch wichtig, um zu verstehen, dass Bettina tatsächlich angenommen wurde. Langlang ists her, ziemlich genau anderthalb Jahre. So lange musste es auf meinem PC versauern... aber jetzt wird es endlich public <3
    Danach kommt "Alle für Einen", ein Text für den Wettbewerb, dessen Name mir entfallen ist, in dem es aber darum ging, eine Legende oder ein Märchen aus der Welt der Pokémon zu nehmen und in Szene zu setzen. Ich habe mich für die Geschichte von Viridium, Kobalium und Terrakium entschieden, nach der sie Pokés aus einem brennenden Wald gerettet haben, und das tun lassen, was ihre jeweiligen Dexeinträge beschreiben. Da Keldium damals noch nicht beim Namen genannt werden durfte, habe ich es einfach nur eingebaut... und fertig x3 Zuerst sollte es "Alle für ein Ziel" heißen, doch da kam mir der Musketier-Charakter dieses Spruches nicht gut genug hervor. Deswegen habe ich ihn im Original belassen
    Zuletzt das Gedicht "Mit gespaltener Zunge". Ich habe lange nach einem guten Thema nachgegrübelt und bin über viele Ecken schließlich bei diesem Bibelausschnitt gelandet. Die Verführung durch die Schlange ist schließlich ein sehr interessantes Thema... und der Titel passte einfach so toll dazu, dass ich daraus was machen musste <33


    So nach und nach werden nun weitere Texte folgen. Das reicht aber fürs Erste ^^
    ~ Pika!
    [tab=Bewerbungsschreiben]

    [tab=Musketiere]Alle für Einen


    Fauchende Flammen wie von den Schlünden des Chaos ausgespieen röhrten dröhnend um sie auf, verwandelten die Umgebung in ein einziges Inferno glutheißen Lichts. Der Waldbrand fraß sich viel schneller durch das trockene Gehölz, als die panisch Flüchtenden vor ihm fliehen konnten. Mittlerweile waren sie von allein Seiten eingekesselt und es wurde zunehmend schwieriger, einen Weg durch diese Gluthölle zu finden.
    Viridium ließ den Blick über die schmerzlich geschrumpfte Anzahl Überlebender schweifen, die sie und ihre Brüder zu retten sich geschworen hatten. So viele Waldbewohner waren bereits aufgrund des ungewöhnlich trockenen Sommers ums Leben gekommen; jetzt wurden die wenigen, die nicht dem Durst erlegen waren, heimatlos, wenn sie denn aus dem brennenden Wald gelangten. Die Menschen hatten es mit ihren Kriegen untereinander zu weit getrieben, und ihr ewiger Schlagabtausch war letztlich dafür verantwortlich, dass unschuldige, unbeteiligte Pokémon um ihr Leben fürchten mussten.
    Genau das taten sie nun, wie Viridium erschrocken feststellte, anstatt Kobalium weiter zu folgen. Zu groß war ihre Angst, von den nahen Flammen verschlungen zu werden, die in direkter Nähe über ihnen aufragten. Genau wie die Wiesenkämpferin waren die meisten von ihnen vom Typ Pflanze, andere Käfer, und daher besonders empfindlich gegen das tosende Glutlicht. Viridium und Terrakium, die die Nachhut der Elendsprozession bildeten und dafür Sorge trugen, dass möglichst niemand verloren ging, versuchten ihr Bestes, um die verängstigten Pokémon zum Weitergehen zu bewegen. Kobalium, das schaffen wir nicht!, ließ Viridium ihren Bruder telepathisch wissen, und der stolze Ritter mit dem Eisenherz nickte bedächtig. Wie eine aufschießende Feder richtete er sich auf die Hinterbeine und schlug mit den Vorderläufen so kraftvoll in den Boden, dass die Feuerwaldlichtung unter dem Stoß erzitterte. Augenblicklich verstummten ihre wehklagenden Schützlinge und sahen demütig zu Kobalium auf. Der respektheischende Blick ihres kobaltblauen Retters veranlasste sie schließlich dazu, ihm ohne weitere Proteste durch das Feuer zu folgen.
    Kobalium war der geborene Anführer und fand die schmalen, halbwegs sicheren Korridore durch die Flammen ohne Probleme. Seine Geschwister und die Pokémon vertrauten ihm, doch manchmal war die Angst einfach mächtiger.
    Die Zeit tröpfelte nur so dahin, während die Flüchtlinge dem Eisenritter in angebliche Sicherheit folgten, aber letztlich wusste keiner von ihnen, welches Hindernis sie hinter der nächsten Feuerwand erwartete. Bald schon rief Kobalium Terrakium zu sich nach vorn, damit der Felsenkrieger einige Gesteinsbrocken aus dem Weg räumte, die das Weiterkommen behinderten. Viridium beobachtete von ihrem hinteren Posten, wie sich ihr massiger Bruder gegen die Felsen stemmte und mit unglaublicher Stärke von ihren Plätzen schob. Die Wiesenkämpferin wurde einen Moment abgelenkt, als eine Flammenzunge nach den Nachzüglern leckte, die um sie herum geschart standen und daraufhin Angstschreie ausstießen. Zum Glück wurde niemand ernsthaft verbrannt, sodass Viridium ihre Aufmerksamkeit wieder nach vorn richten konnte.
    Keinen Wimpernschlag zu spät, denn in genau diesem Augenblick stürzte ein hell lodernder Baum um, fiel direkt auf ihre Brüder und den Großteil ihrer Schützlinge zu. Ohne Zögern entsann sie sich ihrer überirdischen Schnelligkeit und preschte, zu einem einzigen blattfarbenen Schatten verzerrt, vor. Energie strömte in ihr stromlinienförmiges Geweih, sodass es grellgrün aufleuchtete. Mit einem gewaltigen Sprung brachte sie sich bedrohlich nahe an den umkippenden Feuerriesen, zerteilte diesen mit einer vernichtenden Sanctoklinge. Die beiden Hälften änderten abrupt ihre Fallrichtung und kamen in ungefährlicher Entfernung auf dem brennenden Waldboden auf. Auch Viridium landete zitternd auf allen Vieren; Brandflecken zogen sich schmerzhaft durch ihr Grasfell. Aber das war ihr egal – Hauptsache war, dass sie vorerst alle gerettet hatte. Sie keuchte und drohte einzuknicken, doch Kobalium trat neben sie und stützte sie mit seinem stählernen Körper.
    Wir müssen weiter, drängte seine Schwester, da sie nicht ausruhen wollte, nicht einmal konnte. Sie mussten die Pokémon in Sicherheit bringen, koste es, was es wolle!
    Das geht nicht, bemerkte Kobalium so ruhig und sachlich, wie er immer sprach, in jeder Situation, sei sie auch noch so brenzlig. Verwirrt hob Viridium den Kopf und erkannte, warum ihre körperliche wie geistige Stütze das sagte: Der umgefallene Baum, den sie in zwei Hälften getrennt hatte, versperrte den einzigen Durchgang aus dem Hölleninferno, den Terrakium zuvor freigelegt hatte. Sie saßen in der Falle, jetzt, da der letzte Ausweg ebenfalls in Flammen stand. Viridium überkam das Grauen, da ihr gewahr wurde, an ihrer misslichen Lage die Schuld zu tragen. Sie schwankte, als Kobalium zur Seite und nach vorn trat. Vielleicht kann ich ihn mit Sanctoklinge beseitigen, überlegte er laut, wollte weitergehen und seinen Plan in die Tat umsetzen, als Terrakium ihn daran hinderte, indem er mit tiefer, eindringlicher Gedankenstimme sagte: Bist du völlig verrückt geworden?! Der Felsenkrieger schnaubte aufgebracht. Deine Eisenhaut mag dich vor den meisten Elementen schützen, gegen Feuer aber macht sie dich nur umso verwundbarer. Wenn hier jemand direkt in die Flammen geht, dann bis das wohl ich!
    Terrakium
    , flüsterte Viridium, gerührt von der Solidarität ihres Bruders, ihren Fehler wiedergutmachen zu wollen. Kobalium musterte den Felsenkrieger berechnend, bevor er ihm stumm nickend die Erlaubnis gab. Terrakium walzte davon wie eine Gerölllawine und bewegte sich langsam auf den umgestürzten Baum zu. In seinem breiten Geweih glomm das Licht der Sanctoklinge auf, aber noch bevor er sie anwenden konnte, veränderte sich etwas an der herrschenden Atmosphäre...
    Die drei Retter spürten es noch vor ihren Schützlingen, und gleich darauf wurde es auch sichtbar: Ein gleißendes, magisches Licht strahlte zwischen den Flammen vor ihnen auf, ließ das Inferno gleichsam dunkel und blass wirken, so sehr blendete es, jedoch ohne in den Augen zu schmerzen. Das Leuchten schwoll an, nahm die Farbvarianz eines Regenbogens an und erfüllte die Gemüter die Anwesenden mit neuer Hoffnung. Als es erlosch, lag der Weg frei, und die beiden Baumhälften waren nunmehr nur noch glühendes Kleinholz.
    Terrakium... warst du das?, fragte Viridium in die angespannte Stille über das abgedämpfte Brausen der Brände, gab sich aber gleich selbst eine Antwort: Das war keine Sanctoklinge gewesen, sondern etwas ungleich Mächtigeres... ein Mystoschwert. Und sie wusste, im ganzen Universum gab es nur ein einziges Wesen, das diese machtvolle Attacke einzusetzen imstande war...
    In dem Moment, in dem Viridium, Terrakium und Kobalium realisierten, wer sie aus ihrem Kerker aus Feuer befreit hatte, trat das Wesen auch schon aus den Flammen, die sich ehrfürchtig von ihm wegneigten. Das Pokémon, das nun vor ihnen stand, hatte einen ähnlichen Körperbau wie die Drei, mit weißem, glattem Fell und breiten, dunkelblauen Hufen. Auf seiner Stirn befand sich ein spitzes, leicht nach hinten gebogenes Horn, dahinter erhob sich die rubinrote Mähne wie ein Geysir aus Wasser in die Höhe. Ihr Gegenüber peitschte begrüßend mit dem hellblau gefärbten Schweif und hob den Kopf dem rauchschwarzen Himmel entgegen. Es stieß einen langen, wunderschönen Sington aus, klar und hell, der sich anhörte, als schwängen darin noch tausend weitere Stimmen mit. Im gleichen Maße, wie der Ton immer weiter im Wald zu hören war, breitete sich kreisförmig vom Sänger ein hauchdünner, bläulich glühender Wasserfilm aus, der sämtliche, auch noch so kleine Oberflächen benetzte und dem Feuer direkt an seinem Ursprung die Überlebensgrundlage abschnürte. Auch über die Anwesenden lief dieses Wasser, und Viridium konnte spüren, wie es ihre Brandwunden kühlte und verheilen ließ.
    Als der Ton verstummte, war es in dem nächtlichen, von seinem feurigen Fluch erlösten Wald so still, dass nur noch das verhaltene Bersten dünner, verbrannter Zweige zu hören war. Viridium und Kobalium kamen zu Terrakium vor, der ihrem Retter fassungslos gegenüberstand.
    Du?, rief der Eisenritter ungläubig aus und warf den Kopf zurück. Wo kommst du auf einmal her? Viridium wusste, dass ihr Bruder vor hunderten Äonen mit ihrem blau-weißen Gegenüber um die Anführerschaft ihres Quartetts gewetteifert hatte und es ihm vielleicht gelegen gekommen war, dass sein Rivale im großen Krieg der Legenden verschwunden war.
    Wir dachten, du wärst damals gestorben, sagte Terrakium in Anspielung auf dieses Ereignis. Das Wesen, nur halb so hoch wie seine Geschwister, neigte das Haupt und schenkte ihnen ein verschmitztes Lächeln, das alles oder gar nichts bedeuten mochte. Ohne ein Wort drehte es sich um und machte Anstalten zu gehen.
    Warte!, hielt Viridium es zurück und trat hastig vor. Willst du uns schon wieder verlassen? Die Menschen wüten immer schrecklicher in dem Land, das unserem Schutz unterstellt ist. Wir brauchen deine Hilfe. Wir brauchen dich!
    Wir werden uns wiedersehen, Kobalium, Terrakium, meine Brüder, Viridium, meine Schwester
    , orakelte das Pokémon kryptisch, ohne auf Viridiums Ansprache einzugehen.
    Aber wann wird das sein?, fragte sie verzweifelt. So lange hatten sie ohne ihn auskommen müssen, und die Jahre schienen immer härter und länger geworden zu sein. Es war doch seine Pflicht, sie zu unterstützen!
    Wenn die Zeit reif dafür ist, erwiderte ihr dritter Bruder vielsagend und setzte sich in Bewegung. Zuerst wollte die Wiesenkämpferin ihm folgen, doch der allgegenwärtige Wasserdampf wurde mit einem Mal so dicht, dass sie ihn aus den Augen verlor. Bitte komm wieder, hauchte sie in den Nebel hinein, und Terrakium und Kobalium stellten sich links und rechts neben sie. Viridium spürte, dass jetzt nicht die Zeit dafür war, einem unerfüllbaren Traum nachzujagen. Sie mussten für die Waldbewohner da sein, ihnen beim Wiederaufbau ihrer Heimat helfen.
    Die Drei wandten sich ihren Schützlingen zu, die erwartungsvoll zu ihnen aufsahen. Es gibt wieder Hoffnung, sprach Kobalium ihnen allen Mut zu. Der Wassergladiator ist zurückgekehrt![tab=Eden]Mit gespaltener Zunge


    Paradies, das ist ein tückisch Wort,
    beschreibt nur dürftig diesen Ort.
    Wie kannst du etwas so nennen,
    ohne das andere zu kennen?


    Sieh, ich will dich nicht stören,
    bitte dich nur, mich anzuhören:
    Ihr sitzt in eurem kleinen Garten,
    ohne Besseres zu erwarten.


    Dies ist nur ein winzig Teil der Welt,
    die der Schöpfer euch vorenthält.
    Drängt dich nicht zu wissen,
    was du bisher musstest missen?


    Sogar der Aufgabe, euch zu mehren,
    musstet ihr bisher verwehren,
    weil Er nicht will, dass ihr entdeckt,
    was alles in und an euch steckt.


    Du siehst, all das sind Fragen,
    an denen Kopf und Herz versagen.
    So koste, wer nach Antwort sucht,
    nur ein wenig von dieser Frucht.


    Zu essen von diesem Strauch,
    ist beiden euch verboten; auch
    der zweite gleich daneben
    soll euch nie ein Beerlein geben.


    Vergiss dies Verbot ohne Grund.
    Führe nur die Frucht zum Mund.
    So gehorche sie der Schlange,
    auf dass sie Erkenntnis erlange.


    Erkennst du nun, was ihr verpasst,
    was du noch nicht erfahren hast?
    So gehe und halte deine Reden,
    suche deinen Liebsten im Garten Eden.


    Sorg dich nicht, was da kommen mag.
    Denke nur an den heutigen Tag,
    an dem ihr ausbracht aus dem Schein,
    um endlich davon frei zu sein.[/tabmenu]

  • [tabmenu][tab=Und weiter gehts!]Sodann kommt nun auch ein weiteres Trio von Texten herein!
    Das erste ist ein Wettbewerbstext, in dem ein Festival-Auftritt beschrieben werden sollte. Iwas war noch, irgendein Extrapunkt, aber... ich glaub, ich habs vergessen x3 Viele WB-Voter haben mit dem Titel "Baijin" nichts anfangen können, war vielleicht auch Absicht. Ich wollte dem Text den Namen "Platin" (wegen Giratina) nur inner anderen Sprache geben - und auf japanisch klang er zu sehr nach dem deutschen Platin. Baijin ist chinesisch (ein Hoch auf Wikipedia Commons...) Der Arbeitstitel lautet langweilig "Drachenmeisterin".
    Das nächste schließt sich als Kinderding den Geschichten um Nikki und Tiger an. Es ist ein kleines Theaterstück, das meine Kusinen, meine Schwester und ich vor ein paar Jahren zu Weihnachten aufgeführt haben. Wems gefällt, der kanns auch gerne selbst aufführen... ^^
    Last but not least der Schülerbericht für die Abizeitung meines Jahrgangs (Haute Abiture for eva!) zu meiner Freundin. Aus Sicherheitsgründen ist der Nachname nur als T. angegeben. Viele werden mit den Insiderdingern nichts anfangen können (war im Übrigen auch bei den meisten unserer Mit-Abiturienten der Fall), aber es geht auch mehr um den Witz in dieser "Erörterung", und solange mans lustig findet, ist die Mission erfüllt <3
    Viel Spaß!
    [tab=Platin?!]Baijin


    Das Drachenfestival, das alle dreizehn Jahre stattfand, wurde diese Saison in einem eigens dafür errichteten Stadion abgehalten. Der ovale Grund der Arena machte größtenteils ein tiefes Becken aus, gekrönt von zwei sandbedeckten Inseln. Nach oben hin war das Gelände zum Himmel geöffnet. Dadurch war das Stadion so angelegt, dass die Drachenpokémon, die hier auftraten, all ihre Elemente nutzen konnten. Über den Tribünen schlängelte sich der Leib eines fiktiven Drachen, dessen Kopf weit in die Arena hineinragte. In seinem weit aufgerissenen Maul saß die vierköpfige Jury, die traditionell von den berühmtesten Drachentrainern der Regionen gestellt wurde.
    Seléne stand auf der kleineren der beiden Inseln, die für die Koordinatoren vorgesehen war, und beobachtete die applaudierenden Zuschauer auf den Tribünen ringsum. Die meisten dieser eingebildeten Geldsäcke erwarteten gewiss, Glurak, Garados oder Piondragi hier auftreten zu sehen, da sie nach Drache aussahen oder zumindest so klangen. Diesen ignoranten Stümpern würde sie einen echten Drachen vorführen! Und vor allem dem Juryquartett eine Kür servieren, die sie so schnell nicht vergessen würden.
    Thema des diesjährigen Drachenfestivals war, den Auftritt in Form eines Mythos darzulegen. Seléne hatte lange nach einer passenden Legende getüftelt, war entsprechend stolz auf das Ergebnis. Farblich hatte sie sich an ihren Drachen angepasst: Ein schwarzgraues Kleid, das lange blonde Haar mit roten Perlen geschmückt. Doch sie war nur der Hintergrund, trug nur den Text vor. Das war allein der Auftritt ihres Pokémon.
    Andächtig holte Seléne den Finsterball hervor, den sie bislang in ihren Ärmeln verborgen hatte. Sogleich wurde es ruhig im Stadion, als sie das Objekt auf die größere Insel warf, wo es im Sand liegenblieb. Angespannte Stille kehrte ein. Komm heraus, befahl sie telepathisch dem Pokémon in dem Ball, was dieses auch in seiner digitalisierten Form vernahm, langsam. Die Kugel öffnete sich einen Spalt breit, und tiefschwarzer Nebel quoll in dichten Schwaden daraus hervor, flutete die Insel, türmte sich immer weiter auf. Bald kristallisierten sich Konturen aus dem Dunst, und etwas nahm Gestalt an: Zuerst woben sich Flügel in die Realität, goldene Ornamente, ein kräftiger Hals. Rot glühende Augen öffneten sich. Der Nebel löste sich komplett auf. Ein Raunen brandete durch die Menge, als die Zuschauer die imposante Gestalt Giratinas erkannten, die sämtliche Farben und einen Großteil des Lichts trank.
    Seléne lächelte in sich hinein. Genau diese Reaktion hatte sie erzielt.
    „Vor langer Zeit“, hob sie an, und das Minimikrofon trug ihre Stimme durch das ganze Stadion, „lebte ein mächtiger Drache hoch in den Bergen. Als die Menschen in dieses Gebirge zogen, um es zu bevölkern, versuchte er, sie aus seiner Heimat zu vertreiben.“
    Drachenwut, war Selénes nächster Befehl an Giratina, noch während sie den letzten Satz sprach. Der riesige Drache breitete die Schwingen noch weiter aus und hob den Kopf, ein urgewaltiges Brüllen erklang. Violett-gelbe Flammen schossen aus seinem Maul und geisterten Irrlichtern gleich durch die Arena.
    Verwandle mich! Verwandle mich!, dröhnte Giratinas Gedankenstimme in Selénes Kopf, sein Geist glühte vor hitziger Vorfreude. Seine schwerfällige Gestalt in der echten Welt machte ihm zu schaffen.
    Sie vertröstete das Legendäre und rezitierte den Mythos weiter: „Der Drache hütete sich davor, jemanden zu verletzen oder gar zu töten. Die Menschen aber verließen das Gebirge nicht.“ Jetzt holte Seléne den Platinum-Orb hervor. Das mystische Kleinod war erfüllt von der Energie der Zerrwelt und pulsierte wie ein kleines Herz. Sie warf Giratina den Orb zu; kaum, dass dieser die graue Schuppenhaut berührte, erstrahlte der Dimensionsdrache in goldenem Licht.
    Aus dem Feuer, das die große Insel bedeckte, schoss Giratina in den Himmel, nun in seiner viel dynamischeren Urform. „Der Drache begann, die Träume der Menschen heimzusuchen“, fuhr Seléne fort und gab Giratina parallel dazu Anweisungen, in welche Richtung es fliegen sollte. Sein ungestümes Wesen war nicht dazu geschaffen, den komplizierten Tanz zu verinnerlichen, sodass die Koordinatorin ihm immer zur Leitung stehen musste. Der riesige Wyrm zog seine Kreise durch das Stadion, die Drachenwutflammen folgten ihm, wo es vorbeikam, wie einem Meister. Oft zischte Giratina nur knapp über den Köpfen des Publikums hinweg, das sich erschrocken davor duckte. Seléne musste lächeln. Sie wusste, der Geisterdrache aus der Paralleldimension war der Realität viel zu fremd, um nach herkömmlicher Physik einen Luftstoß zu verursachen. Für die Zuschauer musste es sich so anfühlen, als flöge gar nichts über ihnen.
    Während Giratina die violetten Irrfeuer einsammelte, fuhr Seléne mit der Legende fort: „Da zogen vier tapfere Krieger aus mit dem Ziel, sich endgültig des Drachens zu entledigen.“ Bleib stehen!, befahl sie ihrem Geisterdrachen, der auch sofort gehorchte. Nun schwebte das Legendäre genau gegenüber der Jury auf der anderen Seite des Stadions. „Sie wussten nicht, dass er sie einfach verbrennen konnte. Als der gutmütige Drache aber ihre Waffen und Absichten sah, erkannte er, dass sie sich nie auf Frieden einigen würden. Also fasste er einen Entschluss…“ Seléne brach ab und konzentrierte sich. Diesen Teil der Vorführung durfte sie unter keinen Umständen verhauen. Flieg los, wies sie Giratina an. Der Drache schoss augenblicklich auf die Jury zu, die Drachenfeuer umkreisten ihn in einem wilden Strudel. Das Legendäre würde von sich aus nicht stehen bleiben und mit voller Wucht ins Maul des künstlichen Drachen fliegen. In der Jury machte sich Panik breit.
    Im allerletzten Moment rief Seléne Giratina Schemenkraft! zu, und der lebendige Albtraum verschwand in einem Lichtblitz. Die Flammen, die ihn begleitet hatten, stoben auseinander und lösten sich in einem Farbenspiel aus allen Nuancen von Gelb und Violett auf. „Der Drache verschwand spurlos für lange Zeit.“
    Seléne gönnte sich nur einen Moment der Erleichterung, dass dieses heikle Kunststück gelungen war.
    Bereite das Finale vor, gab sie Giratina zu verstehen. Sie spürte seine Präsenz noch immer, auch wenn es gerade keine Substanz hatte. „Eines Tages“, setzte sie den Mythos fort, „geschah es, dass der Himmel der Erde zürnte.“ Wie ein Echo dieser längst vergangenen Katastrophe, zogen Wolken über dem Stadion auf, grau und schwer, und fernes Donnern erklang dumpf und der Wirklichkeit entrückt. Auch das letzte Licht wurde getilgt. Ein dunkler Schatten bewegte sich bedrohlich unter der spiegelglatten Oberfläche des Beckens, doch nichts war im Wasser, das regungslos dalag. „Die Menschen in den Bergen des Drachens bemerkten das nahende Unheil, doch für eine Flucht war es längst zu spät.“
    Seléne spürte, wie Giratina sich neben ihr knapp über der Wasseroberfläche materialisierte. Die Düsternis in der Arena verbarg es vor den Blicken des Publikums. Mache ich das gut?, wollte der legendäre Drache wissen.
    Die Koordinatorin lächelte. Ihr Pokémon war manchmal wie ein Kind, das nach Bestätigung bettelte. Du bist wunderbar, lobte sie es liebevoll. Aber noch sind wir nicht fertig.
    Sie setzte wieder an: „Da erhob sich der Drache aus einem verborgenen See, um seine Heimat und die Menschen vor dem Zorn des Himmels zu bewahren.“ Giratina richtete sich zu seiner ganzen Größe auf und breitete die dreigeteilten Flügel so weit aus, als wolle es das ganze Stadion umschließen. Jetzt fielen in düsteren Farben leuchtende Felsbrocken aus den Wolken. Der Dimensionsdrache ließ erneut sein charakteristisches Brüllen erklingen, das die Wirklichkeit selbst zum Erzittern zu bringen schien. Finsteraura, gab Seléne Giratina das Zeichen, auf das es wartete, woraufhin es Sphären schwarzer Energie durch die Arena schickte. Sie wehrten den Draco-Meteor ab, der aus dem Himmel regnete, ließen die Steine in einem farbenfrohen Feuerwerk bunter Sterne bersten und explodieren.
    Während das Publikum von diesem Lichtspiel abgelenkt war, schickte sie Giratina einen weiteren Gedanken: Zurück in den Ball. Wie es auch erschienen war, digitalisierte sich das Legendäre wieder in unauffällig dunklem Nebel. Der Finsterball nahm diesen auf und schloss sich mit einem leisen Klicken wieder.
    Als das Feuerwerk abbrach, war Giratina für die Zuschauer wieder einmal ins Nichts verschwunden. „Als die Menschen zum See kamen, um sich bei dem Drachen zu bedanken“, leitete Seléne das Ende ein, „war dieser nicht mehr da. Er hatte all seine Lebensenergie aufgebraucht, um sie zu retten. Sein Andenken aber sollten die Menschen des Gebirges nie vergessen.“
    Während die Scheinwerfer die Arena einen nach dem anderen wieder erhellten und Beifall im Publikum laut wurde, verbeugte Seléne sich, schritt über die schmale Brücke auf die größere Insel, um den Finsterball aufzulesen, und kehrte in die Umkleidekabinen zurück.
    Habe ich das gut gemacht?, wollte Giratina erneut wissen. Innerhalb des Balls konnte es den Applaus nicht vernehmen, doch der war ihm ohnehin egal. Wichtig war ihm lediglich das Lob der Koordinatorin, die es gefangen hatte.
    Es war perfekt, versicherte Seléne ihm und streichelte den Finsterball, auch wenn sie wusste, dass das Legendäre das nicht spüren konnte. Giratina schickte ihr einen zufriedenen Gedanken und genoss ihre Zuneigung.[tab=Theaterstück]Der verlorene Weihnachtswunsch


    Dramatis Personae
    Silberflöckchen – ein Schneeengel
    Eisstern – ein dienstälterer Schneeengel
    Wind – Arbeitgeber der Schneeengel
    Erzähler – wahlweise gleicher Sprecher wie Wind


    Utensilien
    Schnee – Wattebäusche
    Schneeschachteln – Pappkartons mit Wattebäuschen gefüllt
    Wunschzettel – Briefumschlag mit Zettel darin
    weitere (leere) Schachteln als Kulisse
    Besen



    Erste Szene


    Silberflöckchen und Eisstern sitzen zwischen Kartons, räumen auf, kehren Watte zusammen


    Erzähler: Hoch oben in den Wolken leben zur Winterzeit die Schneeengel. Ihre Aufgabe ist es, aus Wolken Schneeflocken in liebevoller Handarbeit anzufertig, über das Land zu streuen, sodass es schneit, oder in Kisten verpackt als Vorräte einzuräumen.
    Diesen Winter hatten sie schon viel verarbeitet, und es schneite nun seit zwei Wochen vor Weihnachten – viel früher als die vorigen Jahre. Davon wusste der kleine Schneeengel Silberflöckchen noch nichts, denn heute ist ihr erster Arbeitstag.


    Silberflöckchen: Duuu, Eisstern? (stapelt Schachteln) [i/]


    Eisstern: Hm? [i](kehrt Schnee)[i/]


    Silberflöckchen: Du arbeitest hier ja schon länger, nicht? Macht dir das Verstreuen von Schnee Spaß?


    Eisstern: Schon. Es ist schön zu sehen, wie die glitzernden Flocken zur Erde rieseln. Wenn du deinen Schnee verstreust, wirst du schon sehen.


    Silberflöckchen: Achso…


    [i]Kurzes Schweigen


    Der Wind: (aus dem Hintergrund) Achtung, Schneeengel, ich bitte um eure Aufmerksamkeit!


    Eisstern: Oh, das ist unser Boss, der Wind!


    Der Wind: Ich verordne hiermit, keinen Schnee an Weihnachten zu versteuen. Vielen Dank. Ende der Durchsage.


    Silberflöckchen: Keinen Schnee an Weihnachten? Warum das denn?


    Erzähler: Der ältere, erfahrenere Schneeengel Eisstern ahnte, was ihren Arbeitgeber zu dieser Entscheidung gebracht hatte.


    Eisstern: Schnee im Winter ist schon was Schönes, aber die Menschen wissen ihn an Weihnachten nicht zu schätzen, murren rum, weil sie ihn wegschaufeln müssen, anstatt mit ihren Familien zusammen zu feiern. Dann ist der Schnee für die Katz. Also verteilen wir ihn erst gar nicht.


    Silberflöckchen: Aber er ist doch sooo schön! (nimmt Handvoll und pustet)


    Eisstern: Mag sein. Aber wenn der Wind das befohlen hat, müssen wir auf ihn hören. In ein paar Tagen ist Weihachten, also sollten wir bis dahin alles eingeräumt haben.


    Silberflöckchen: Ok, mach ich, Eisstern.


    Eisstern verlässt Raum.


    Silberflöckchen: (seufzt) Weihnachten ohne Schnee… geht das überhaupt? (Sie räumt die letzte Kiste in den Schrank, unter der der Brief liegt.) Hey, was ist das?


    Erzähler: Silberflöckchen war erstaunt, als sie einen Brief fand, der an das Christkind, den höchsten Winterengel, adressiert war. Er war voller Wolkenstaub (Silberflöckchen pustet, tut so, als ob Staub aufwirbelt) und musste schon eine Weile hier liegen… (Silberflöckchen sieht sich um, dass niemand zusieht, und öffnet Brief)
    In dem Brief stand ein Wunsch eines Kindes an den Weihnachtsengel:
    Tut so, als ob sie den Brief läse


    Liebes Christkind,
    Es dauert jetzt gar nicht mehr lange, bis du wieder kommst. Mein Wunschzettel kommt sehr spät, aber meinst du, du kannst ihn doch noch erfüllen? Weißt du, letztes Jahr hatte es an Weihnachten keinen Schnee. Ich wünsche mir so sehr, dass es dieses Jahr schneit!
    Deine ---


    Die letzten Zeilen waren über die Zeit ausgebleicht und unleserlich geworden. Nur das Datum war zu erkennen: Der Brief war auf den Tag genau vor zehn Jahren geschrieben worden! (Silberflöckchen ist sehr überrascht, reißt Augen auf) Irgendwo da draußen wartete jemand schon seit zehn Jahren auf den weihnachtlichen Schnee, und das vergeblich!
    Silberflöckchen fasste einen gewagten Entschluss:


    Silberflöckchen: Ich werde diesen Wunsch irgendwie erfüllen, egal, was der Wind dazu sagen mag. (steckt Brief ein und geht)



    Zweite Szene


    Abgedunkelter Raum, nur wenig Licht, gerade genug, um zu sehen[i/]


    Erzähler: In dieser Nacht schlich sich Silberflöckchen in den Lagerraum, um eine Schachtel Schnee für Weihnachten zu stibitzen.


    Silberflöckchen: [i](schleicht sich rein, sieht sich um) Es scheint keiner da zu sein… (nimmt eine Schachtel vom Stapel und betrachtet sie prüfend) Die hier hat genau die richtige Größe!


    Im Flur geht das Licht an


    Silberflöckchen: Oh nein, da kommt jemand! (läuft hin und her auf Suche nach Versteck, findet aber keins)


    Eisstern: (aus Flur) Hallo, ist da wer? (kommt rein, entdeckt Silberflöckchen mit Schachtel) Silberflöckchen! (überrascht) Was tust du denn hier mitten in der Nacht?


    Silberflöckchen: Ich… na ja, weißt du… (macht erklärende Bewegungen, mit dem Mund blabla, aber ohne Ton)


    Erzähler: Silberflöckchen erklärte Eisstern, dass sie es an Weihnachten schneien lassen wollte, sagte aber nicht, warum. Sie hoffte aber auf die Unterstützung ihrer Freundin.


    Eisstern: Was? (entsetzt) Du willst dich dem Wind widersetzen? Nein, das geht so nicht! Da werde ich dir garantiert nicht helfen!


    Silberflöckchen: Aber Eisstern! Du hast selbst gesagt, wie schön unsere Flocken sind! Warum dürfen die Menschen das nicht auch an Weihnachten haben? Das ist ungerecht!


    Eisstern: Ist es gerecht, dass wir uns die Mühe machen, damit sie sich darüber beschweren können? Weihnachten und Schnee… das geht schon lange nicht mehr zusammen!


    Silberflöckchen: (ganz traurig) Dann kann ich diesen Wunsch also doch nicht erfüllen… (geht)


    Der Brief fällt runter, Eisstern hebt ihn auf


    Eisstern: Was ist das denn? (liest)


    Erzähler: Als Eisstern den Wunschzettel durchlas, kamen ihr Zweifel. Was, wenn der Wind Unrecht hatte? Wenn die Menschen doch Schnee an Weihnachten wollten? Dieser Brief war doch der beste Beweis! Sie musste Silberflöckchen irgendwie helfen! (geht und nimmt zwei Schneekisten mit)



    Dritte Szene


    Wieder hell, Silberflöckchen sitzt mit Rücken zu Eisstern und rupft Schneeflocken, Eisstern kehrt welche zusammen


    Erzähler: Die nächsten Tage sprachen die beiden Freundinnen nicht miteinander. Silberflöckchen, weil sie zu traurig und aufgewühlt war; Eisstern, weil sie nicht wusste, wie sie ihr nach ihrem Ausbruch klar machen sollte, dass sie ihre Meinung doch geändert hatte. So kam es, dass keine der beiden ein Wort sagte, bis der große Tag vor der Tür stand und Silberflöckchen Schnee verteilen ging…



    Vierte Szene


    Kisten weg.


    Erzähler: Silberflöckchen hatte herausgefunden, wo das Kind, von dem der Wunschzettel stammte, heute wohnte. Mittlwerweile war es fast erwachsen, aber sein Wunsch sollte trotzdem in Erfüllung gehen!


    Silberflöckchen: (öffnet seine Kiste und holt Schnee daraus hervor) Hier ist endlich dein Schnee, den du dir so sehr gewünscht hast! (verteilt ihn langsam)


    Eisstern kommt wie beiläufig mit den beiden Kisten rein und fängt auch an, Schnee zu streuen.


    Silberflöckchen: (überrascht) Eisstern?! Was machst du denn hier?


    Eisstern: Meinen Job, das siehst du doch. Schnee verteilen! Wie du.


    Silberflöckchen: Aber der Wind…


    Eisstern: Ach, lass doch den Wind! Der hat auch nicht immer Recht. (bläst Handvoll Schnee weg) Ich habe den Wunschzettel gelesen. Es stimmt, die Menschen wollen an Weihnachten wirklich Schnee. Du sollst das nicht alleine machen. Wir Schneeengel müssen doch zusammenhalten!


    Silberflöckchen:[b/] Danke, Eisstern!


    Silberflöckchen und Eisstern verteilen schweigend Schnee. Wenn der Schnee weg ist, geht es weiter.


    [b]Silberflöckchen: So, endlich fertig. (klopft sich Hände ab) Es ist schön, einen Wunsch zu erfüllen, auch wenn er zehn Jahre alt ist.


    Eisstern: Oh ja!


    Der Wind: Achtung, Achtung, eine wichtige Durchsage!


    Silberflöckchen: Nicht schon wieder der! (genervt)


    Eisstern: (Finger an Lippen) Pscht!


    Der Wind: Mit sofortiger Wirkung hebe ich das Verbot, an Weihnachten Schnee zu verteilen. Es ist mit Schnee tatsächlich schöner. Aber Überstunden werden nicht bezahlt! Durchsage Ende.


    Eisstern geht weg.


    Silberflöckchen: Hey, Eisstern, wohin gehst du?


    Eisstern: Ich hole uns noch eine Ladung Schnee.


    Silberflöckchen: Warte, ich komme mit! (beide gehen raus)


    Erzähler:
    Und so wurde dieses Weihnachten doch noch von Schneefall gesegnet, weil es sich ein Kind vor Jahren gewünscht hatte und auch immer noch tat. Und so lange es noch einen einzigen Menschen gibt, der sich Schnee zu Weihnachten wünscht, werden Silberflöckchen, Eisstern und ihre Kameraden niemals aufhören, auch an diesem Fest ihren Schnee zu verteilen.
    Drei alternative Enden:
    1) Wenn es in diesem Moment schneit:
    Und wer weiß, vielleicht fliegen sie gerade jetzt über diese Straße hinweg.
    2) Wenn es nicht schneit: Und wer weiß, vielleicht starten sie in diesem Moment, um es bald schneien zu lassen.
    3) Wenn es geschneit hat: Und wer weiß, vielleicht waren es sogar diese zwei, die es bis vor Kurzem hier haben schneien lassen.[tab=Schülerbericht]Erörterung: Julia T.


    Wer sich dem Abiturjahrgang 2012 des RMGs gegenübersieht, dem kann eine besondere Schülerin keinesfalls entgehen: Julia T., an der Schule seit dem Jahr 2009. Viele Eigenschaften heben sie von der grauen Masse ab und machen sie einzigartig. Wie einzigartig, soll im Folgenden geklärt werden.
    Schulisch betrachtet flaniert Julia im guten Mittel des Kursdurchschnitts, glänzt dabei besonders in den Fächern Englisch, Kunst und Chemie (es sei hier angemerkt, dass nicht zwangsläufig ausschließlich positiver Glanz gemeint ist…). Vor allem in der Fremdsprache neigt Julia zu chronischer Selbstunterschätzung, während neben ihr andere Schüler abstürzen. Trotz ihres ungeschlagenen Zeichentalents wählte sie die Bildende Kunst nicht zu ihrem Hauptfach. Stattdessen lässt sie sich in Freitagszusatzstunden in Biologie vom Gehirn mit großen Zähnen beißen und luchst den richtigen Astronomieschülern in betreffendem Unterrichtsfach die mündlichen Notenpunkte ab. Zu einem ihrer Lieblingsfächer gehört Informatik, denn in kaum einem anderen lässt es sich so gut über den Stoff aufregen.
    Ihre wichtigste akademische Arbeit bisher ist ihre Versuchsreihe für Jugend Forscht, in der sie sich mit kollektiver Intelligenz auseinandersetzt und das Zufallsprinzip dieser telepathischen Besonderheit außer Kraft setzen will.
    Besonders bemerkenswert ist Julias breitgefächertes ehrenamtliches Engagement, das auch die Schule betrifft: So unterrichtet sie Nachhilfeschüler in Englisch und bringt ihnen unter anderem die korrekte Schreibweise dieses Wortes in selbiger Sprache bei. Die viele Zeit unter Pfadfindern mit diversen Katzen und Namensvettern sowie in ADHS-Camps hat in ihr eine besondere Hassliebe zu kleinen Kindern herangezogen. Nichtsdestotrotz setzt sie sich für andere Menschen ein, hat gegen eine Gratis-Suppe nichts einzuwenden, malt Styroporkugeln an und unterhält sich mit spanischen Deckenbesitzern. Diese Freundlichkeit wird auch von umnebeltem Verstand nicht getrübt.
    Eine weitere herausragende Eigenschaft ist Julias übernatürlicher Magnetismus, den sie mit einer Freundin aus Kerner-Zeiten teilt: So ist es den beiden durch kosmische Kräfte möglich, sich zufällig in den Straßen Heilbronns, inmitten eines Labyrinths in Hamburg oder einer beliebigen Stadt an der Costa Brava zu begegnen.
    Wenn es um Süßigkeiten geht, schreckt Julia vor keinem Wetter und keinen knapp bemessenen Pausen zurück. Gut möglich, dass Müsliriegel und schokoladenglasierte Erdnüsse bereits zu ihren Grundnahrungsmitteln gehören.


    Die Persönlichkeit Julia T. setzt sich aus mehreren Teilen zusammen, die eine einmalige Kombination ergeben. Ob Julia nun tatsächlich einzigartig ist, lässt sich wohl nie mit Sicherheit beweisen. Fakt ist, dass dies nur gewährleistet sein kann, wenn sie bleibt, wie sie ist.[/tabmenu]

  • Hallo Pika!
    Mir sind deine Texte schon öfter in den Wettbewerben aufgefallen und ich wollte dir seit jeher ein Kommentar hinterlassen, endlich ist es soweit!
    Habe deine Geschichte Baijin gelesen und schreib jetzt einfach mal was dazu auf ^^
    Zunächst mal fällt mir schon der Anfang auf - das Drachenfestival, das alle 13 Jahre stattfindet. Ich habe keine große Ahnung von Traditionen, aber diesen Zeitraum finde ich viel zu lang. Keine Ahnung, ob es in der Realität große Feste gibt, die so lange auf sich Warten lassen und ich lasse mich da auch gerne belehren, aber ich würde das eingehend bezweifeln.
    Logisch betrachtet zieht das nämlich auch Nachteile mit sich, die in deiner Geschichte deutlich werden. Es tut mir leid, dass ich da jetzt insbesondere drauf rumreite, weil du dir dabei bestimmt ohnehin nicht viel gedacht hast, aber es stört mich immer ein wenig, wenn Autoren versuchen, durch solche Details Geschichten epischer wirken zu lassen, obwohl es in Wahrheit einfach nur Unsinn ist :/ (vor allem wenn in Fantasybüchern irgendwelche Leute mehrere Tausend Jahre alt werden und sich nicht dementsprechend verhalten).
    Ein möglicher Erklärungspunkt ist, dass das Festival mit den chinesischen Tierkreiszeichen in Verbindung steht, davon gibt es ja 13, oder? Und der Titel der Geschichte ist immerhin chinesisch. Und dass dann eben in jedem Drachenjahr das Festival stattfindet. Würde imho aber nur Sinn ergeben, wenn es ein vergleichbares Festival für jedes andere Zeichen gäbe, und das kommt mir in der Pokémonwelt etwas zu deus ex machina vor (was sollen die beim riesigen, epischen Hahnenfest machen? Gibt es überhaupt ein Hahnequivalentes Pokémon? *grübel*).
    Wenn man die Geschichte gelesen hat, fragt man sich, oder zumindest frage ich mich das, was Sélene so besonders macht, dass sie in den Besitz von Giratina gekommen ist. Über sie wird kein Wort gesagt, da hätte ich es als angenehmer empfunden, wenn du die Ich-Perspektive benutzt und das alles unter ein All Concealing I versteckt hättest, so wirkt es eher flach und konstruiert (à la du hast positive Eigenschaften einer Person zusammengestellt, aber keinen ganzen Charakter draus gemacht).
    Ähnlich wirkt es mit der Charakterisierung des Giratina. Ich weiß nicht, ob die Legende, wie das Mädchen sie erzählt, tatsächlich stattgefunden hat, würde es aber bezweifeln wegen des kindlichen Charakters von Giratina. Das bringt einen kleinen Bruch in die Geschichte, weil es nicht erklärt, nichtmal gehintet wurde.
    Aber egal! Du hast jetzt bestimmt einen ganz falschen Eindruck bekommen, eigentlich mag ich deine Geschichte sehr, und dein Schreibstil ist auffallend angenehm zu lesen. Was ich hier kritisiert habe, war schon recht weit in die Tiefe gehend, weil du von den Anfängerfehlern gar keine mehr machst.
    Noch ein paar (zum Teil auch kritische) Worte zum Storyaufbau.
    Und zwar merkt man, dass du versucht hast, das ganze möglichst episch darzustellen. Alle dreizehn Jahre ein solches Schauspiel, und dann auch noch ein Giratina, und dazu noch eine Trainerin, die es wundervoll beherrscht. Wirkt fast ein bisschen zu viel des Guten. Wo ist der Konflikt in der Geschichte? Wo wird Spannung aufgebaut? Spannung wird eigentlich nur dadurch aufgebaut, dass du an einer Stelle kurz erwähnst, dass sie hofft, dass alles gut geht. Den Moment konnte ich der Geschichte aber nicht so richtig abkaufen, denn wenn ein Turnier alle dreizehn Jahre stattfindet, kann ich mir vorstellen, dass da viele Drachenbenutzer teilnehmen wollen. Sélene muss also schon durch etliche Qualifikationsrunden gekommen sein, ich bin recht überrascht, dass sie das Publikum dann noch mit der Tatsache überraschen konnte, dass sie ein Giratina besitzt, das hätte sich gewiss schon rumgesprochen. Ich meine, bei einer Weltmeisterschaft tritt ja auch niemand auf, den vorher keiner kennt, und das hier ist immerhin nur alle 13 Jahre, da ist der Teilnehmerdrang schon recht hoch, würde ich meinen. Außerdem wundert mich etwas, dass die Show nur so kurz war, der Beschreibung nach hätte ich jetzt höchstens drei Minuten oder so erwartet, und das ist schon sehr spärlich für so ein großes Turnier.
    Wie du siehst, ist also die interne Logik der Geschichte nicht so ganz gegeben. Mir scheint sie deswegen eher so eine Situationsstudie zu sein, keine wirkliche Erzählung oder Kurzgeschichte. Vor allem besticht sie durch die sprachliche Ausgefeiltheit und deinen schönen Stil.
    Sicher kann man viele der Dinge, die ich genannt habe, erklären, wichtig ist aber zu erwähnen, dass das nicht so viel bringt, wenn sie nicht schon in der Geschichte erwähnt wurden.
    Ich würde dir deswegen empfehlen, nicht einfach drauflos zu schreiben, sondern dir wirklich tiefgehende Gedanken zu machen, auch, wenn du eine Fantasy-Story schreibst, und selbst dann, wenn es nur eine kleine Geschichte sein soll, die sich vielleicht auch nur an jüngere Menschen richtet.


    So sry dass ich da jetzt etwas auf dir rumgehackt habe, ganz so schlimm, wie es vielleicht klingt, ist es auch gar nicht gemeint, das wollte ich dir nur nochmal versichern. Aber ich finde auch, dass du ein wenig komplexere Kritik verdient hast, wo du ja im Profi-Bereich bist ^^


    Achja, ein paar Textstellen noch:


    Zitat

    Genau diese Reaktion hatte sie erzielt.


    Der Satz ergibt keinen Sinn, du meintest vermutlich "Genau diese Reaktion hatte sie erzielen wollen."


    Zitat

    „Vor langer Zeit“, hob sie an, und das Minimikrofon trug ihre Stimme durch das ganze Stadion, „lebte ein mächtiger Drache hoch in den Bergen. Als die Menschen in dieses Gebirge zogen, um es zu bevölkern, versuchte er, sie aus seiner Heimat zu vertreiben.“


    Das ist wirklich nur eine Kleinigkeit, aber hier bin ich über das Wort Minimikrofon gestolpert, und solche Stolperstellen sollte man eigentlich vermeiden.


    Zitat

    Also fasste er einen Entschluss…“


    Hier fehlt ein Leerzeichen. Es müsste heißen "Also fasste er einen Entschluss ...", da das Wort zuendegeführt wurde. Das Leerzeichen wird nur dann nicht gesetzt, wenn das Wort unterbrochen wird, beispielsweise, wenn jemandem ins Wort gefallen wird: "Also fasste er einen Entsch..." - "Jetzt sei doch mal ruhig!"


    Ich hoffe du stellst bald noch mehr Texte online, ich werde versuchen, dir ab und an mal wieder ein Kommentar dazulassen. :3
    Liebe Grüße,
    Aprikose

  • [tabmenu][tab=Ein weiteres Trio!]Sodale, da kommen also noch drei weitere meiner Werke zutage...
    Aber vorher:


    Hoffentlich reicht der Akku noch so lange xD Sirius, halte durch!


    Die erste Story im Gespann ist eigentlich schon mindestens ein Jahr alt, obwohl hier unter "Änderungsdatum" 26.06.2012 steht... Kann mich nur nicht erinnern, warum ich es da hätte ändern sollen o0 Nyan, eines meiner schlechteren Werke. Wortbegrenzung hiphiphurra! Der Wettbewerb war eine Reizwortgeschichte, in der Streit, Wasser und Eis eine Rolle spielen sollten... und ich glaube Eneco auch =/ Der Titel ist diesmal auf Latein, Disputum bedeutet Streit (dürfte sich aus den Reizworten erklären) und Mutavi verwandeln. Eneko ist hier mit K geschrieben, da hier wie bei Waninoko (Karnimani) der japanische Name benutzt wird - und das japanische Kana ko wird normalerweile mit K ins Romaji übernommen. Aber ganz ehrlich, ich weiß nicht mehr, ob ich die KG im Wetti auch so genannt habe oder mit C geschrieben xD Der Zauberspruch kommt in der Story selbst nicht vor, soll aber bedeuten, dass Traunmagil diesen auf Rinko gesprochen hat.
    Auf Numero zwei bin ich deswegen stolz, weil diese KG die erste ist, in der ich die Wortbegrenzung eines WBs im ersten Anlauf nicht überschritten habe! :sekt: Da hatte ich noch tollen Platz, ein paar schöne Sachen hinzuzufügen <3 Wie es der Zufall will, ist auch das eine Reizwortgeschichte, mit den Wörtern... ähm... Eis, Sommer, Hitze, ... und noch etwas. Weiß nichmehr xD Sogar meine Muddi fand die schön, obwohl sie mit Japan nicht viel am Hut hat <3 Der Titel "Itokuni Go!" bedeutet so viel wie "Die Fünf von Itokuni". Der fiktive Name der Insel lehnt an Bikuni an, eine Insel, die in Detektiv Conan vorkommt. Die entsprechenden Folgen haben mich sehr berührt...
    Zuletzt noch ein etwas weniger gelungener Wettbewerbstext. Davor sollte noch einer zur Postapokalyptischen Zukunft kommen, den ich nie abgegeben habe, weil ich zu viele tolle Ideen und einen zu langen Text fabriziert hatte. Der kommt dann halt später, weil ich ihn noch bearbeiten muss. Stattdessen also den etwas nicht so guten späteren, der angelehnt war an eines der Lieder, die für den WB zur Auswahl standen. Ich habe einige Themen versucht und bin schließlich auf diesem sitzen geblieben. Wie gesagt, nicht der beste, aber ok.
    [tab=Enecostreitverwandlung]Disputum Eneko Mutavi!


    Zikaden schmetterten ihr Lied in die schwüle Sommerluft, und die fast unbefahrenen Straßen flimmerten in der Mittagshitze. Innerhalb des kleinen Café Hikari war das Konzert über der unablässig laufenden Klimaanlage kaum zu hören. Nur wenige Gäste hatten sich hergewagt, um sich einen erfrischenden Eiskaffee zu genehmigen.
    Rinko hatte diesen ruhigen Ort für ihr Treffen mit Takemi absichtlich erwählt, da sie hier nicht auf die Gefahr hinauslief, auf streitende Menschen zu stoßen. Es reichte schon, dass ihre Eltern vor einer Scheidung standen, und sie sich nicht gefahrlos in ihrer eigenen Wohnung aufhalten konnte.
    „Ich weiß nicht, warum, aber du hast dich schon ziemlich verändert“, sagte Takemi unverwandt.
    Rinko rührte mit dem Trinkhalm in ihrem Eiskaffee. Sie konnte verstehen, warum er enttäuscht war – so lange hatten sie sich zwar unregelmäßig, aber häufig getroffen. Nach drei Wochen Pause in diesem freundschaftlichen Ritual hatte sich Rinko endlich durchgerungen, ihn wieder zu treffen.
    „Takemi“, hob sie an. „Ich… weiß nicht, ob…“
    Plötzlich hörte Rinko ein grauenvolles Geräusch: Die Kellnerin war aufgestanden, um einen Schwamm zu befeuchten, und das durchdringende Rauschen des Wasserhahns fuhr ihr in Mark und Bein. Erschrocken unterbrach sich Rinko und zuckte zusammen. Verdammte Hexe!
    „Siehst du, das meine ich!“, fuhr Takemi sie wütend an. „Beim Geräusch von fließendem Wasser schreckst du zusammen wie eine angespritzte Katze! Und vorhin beim Imbissstand hättest du dich fast für Sushi mit Thunfisch entschieden. Du hast Fisch noch nie gerne gegessen.“
    Geschlagen wich sie seinem zornigen Blick aus. Er hatte nicht ganz unrecht, wenn er sie mit einer Katze verglich, aber wenn er noch weiter aus der Haut fuhr und die Situation in einen Streit ausartete… „Takemi, lass uns bitte nicht streiten“, flehte sie, als ihre Finger zu kribbeln begannen. Das war kein gutes Zeichen!
    „Ach, und wieso?“, fragte er schroff, doch sie merkte, wie er sich beruhigte. „Vorhin in der Bushaltestelle hast du auch so reagiert, als die Mutter von diesem kleinen Jungen mit ihm zu diskutieren anfing. Da wolltest du so schnell wie möglich weg. Bist du neuerdings gegen Streit allergisch?“
    „Nein, so ist es nicht…“
    „Und was ich ganz besonders nicht verstehe“, unterbrach Takemi sie, „ist, wie du dir die Haare gefärbt hast. Musste es unbedingt rosa sein? Du siehst aus wie die Hauptfigur in einem Anime!“
    Peinlich ertappt wickelte Rinko ihren Finger um eine ehemals braunblonde Haarsträhne und betrachtete diese nachdenklich. Es war ja nicht so, dass sie sich ausgesucht hatte, mit welcher Haarfarbe sie herumlief, aber das konnte sie Takemi nicht sagen. Sie wusste nicht, wie er darauf reagieren würde, ob er es überhaupt verstehen würde… und vor allem hatte sie Angst davor, was diese Hexe mit ihm anstellen würde, wenn er davon erfuhr.
    Takemis Blick wurde plötzlich weicher. Erleichterung durchströmte sie, als das Jucken in ihren Händen verschwand – zumindest für jetzt musste sie nicht darum fürchten, sich vor ihm zu verwandeln. „Versteh mich nicht falsch, Rinko, ich mache mir nur Sorgen. Ist es wegen deiner Eltern?“ Für einen kurzen Moment schwieg er. „Oder… ist es ein anderer?“
    Überrascht blickte Rinko auf und suchte in Takemis Augen den Grund für diese Frage. War ihm ihre Beziehung so wichtig, dass er sich vor einem eventuellen Rivalen mehr fürchtete als um ihren häuslichen Familienfrieden? Natürlich bedrückte sie die Zwietracht zwischen ihren Eltern, aber nur deswegen hätte sie ihn trotzdem weiter getroffen. Aber die Wahrheit konnte sie ihm nicht sagen…
    „Nein, wo denkst du hin!“, erwiderte sie hastig und blickte aus dem Fenster. Eigentlich gab es dort nichts Interessantes, aber das war ihr egal. Doch dann fiel Rinko auf, dass auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Frau vor einem Schaufenster stand. Sie trug ein Sommerkleid und einen breitkrempigen Sonnenhut. Doch was Rinkos Aufmerksamkeit fesselte, war ihrs langes, schwarzviolettes Haar. Auch wenn die flimmernde Luft das Bild der Person verzerrte, hatte Rinko nicht den geringsten Zweifel…
    „Hey, hörst du mir überhaupt zu?“
    „Was, wie?“ Verwirrt aus ihren Gedanken gerissen versuchte sie, ihren Geist zu klären. „Ja, natürlich. Entschuldige mich, ich muss… gehen.“ Sie wusste, dass es Takemis Verdacht, sie hätte einen Neuen, nicht gerade entgegenwirkte, aber wenn sie diese Gelegenheit nicht beim Schopfe ergriff, konnte sie sich vielleicht nie wieder mit ihm treffen.
    Ohne auf seine Protestrufe zu achten, stürmte sie aus dem Café und sah sich um. Die Frau ging einige Meter weiter die Straße runter. Rinko folgte ihr eilig. Als sich die Fremde am Ende der Straße umdrehte und zu ihr zurücklächelte, war sich die Verfolgerin nun absolut sicher: Das war Traunmagil!
    Verschlagen lachend winkte ihr die Hexe und verschwand um die Häuserecke. Ohne zu zögern rannte Rinko ihr hinterher und bog ebenfalls in die Nebenstraße. Traunmagil war bereits weitergeeilt, steuerte direkt auf eine Seitengasse zu. Auf halber Strecke wurde sie kurz langsamer und berührte einen Mann an der Schulter, der sich aufgeregt mit seinem Kumpel unterhielt.
    Als Rinko ebenfalls an den Männern vorbeikam, erkannte sie – leider zu spät – was Traunmagil getan hatte: Mit ihrer Schwarzmagie hatte sie aus dem Gespräch einen Streit werden lassen! Sofort fingen Rinkos Hände wieder zu kribbeln an. Sie schaffte es noch, in die Gasse einzubiegen, in der Traunmagil verschwunden war, dann leuchtete ihr Körper auf…
    Da erlosch das Licht auch schon, und sie sah die Welt plötzlich von viel weiter unten. Verdammt!, fluchte sie in Gedanken und schüttelte sich. Sie hatte sich schon wieder in ein Eneco verwandelt!
    „Ri-Rinko?“
    Erschrocken fuhr sie herum, als sie Takemis Stimme wahrnahm. Er stand nur wenige Schritte entfernt und hatte ihre Verwandlung miterlebt! Rinkos Blick flog zu Traunmagil, die gerade in einem ihrer Geisterportale, die sie überall auftauchen lassen konnte, verschwand. Sie musste hinterher, und wenn Takemi sie jetzt so gesehen hatte, erst recht! Mit großen Sätzen folgte sie der Hexe in das Portal.
    Zuerst verzerrte sich das Licht, dann wurde ihr Eneco-Körper förmlich von dem Portaltunnel ausgespuckt. Sie fand sich in Traunmagils Geisterdimension wieder, in der blassbunte Nebelfetzen dem Auge Streiche spielten. Von ihrem letzten Besuch hier wusste sie, dass Traunmagil das Portal nicht schließen konnte, bis Rinko wieder draußen war.
    „Traunmagil!“ Die Frau hatte ihre eigentliche Gestalt angenommen, die eines hexenähnlichen Geistes in düsteren Farben. Sie grinste bösartig zu Rinko runter, ihre blutroten Augen blitzten amüsiert. Gelbe Blumen flimmerten um sie herum auf – eine Manifestation ihrer Gefühle, wie es in dieser Dimension üblich war.
    „Es war ein Fehler, hierherzukommen. Das hier ist meine Dimension – ohne Geisterattacken kannst du mir hier nichts anhaben!“ Sie lachte ein verzerrtes, angsteinflößendes Lachen.
    „Verwandle mich sofort zurück!“, verlangte Rinko.
    „Sonst was?“, fragte Traunmagil wenig beeindruckt. Plötzlich liefen deutlich spürbare Wellen durch die Geisterdimension, und Rinko konnte hinter sich jemanden spüren. Sie drehte sich um - und fand sich Takemi gegenüber. Ihr Freund starrte fassungslos um sich, und schließlich blieb sein Blick an ihr heften. „Ah, so wie ich sehe, magst du diesen Jungen.“
    Erschrocken stellte Rinko fest, dass von ihr pulsierende Herzen ausgingen. Jetzt wusste Traunmagil, wie viel Takemi ihr bedeutete!
    Die Hexe bemerkte ihre Angst und lachte. „Du willst also, dass ich auch ihn mit einem Fluch belege? Das kannst du haben; am besten noch ein Pokémon, das du als Eneco nicht leiden kannst!“ Vor ihr erschien eine Lichtkugel, die sich zu einem Buch materialisierte. Rinko überlief ein Schauer: Das Buch der Verwandlungen, mit dem Traunmagil sie verflucht hatte und das sie unbedingt zerstören musste. Ohne zu zögern rannte sie auf die Hexe zu, die aber schon die verhängnisvollen Worte sprach: „Disputum Waninoko Mutavi!“ Ein Strahl gleißenden Lichts schoss aus dem Buch direkt auf Takemi zu. Im selben Moment sprang Rinko hoch, holte instinktiv tief Luft und schoss einen Ball nebliger Energie auf Traunmagil ab.
    Die Magierin wurde zurückgestoßen, das Buch verschwand wieder. Traunmagil starrte Rinko, die dicht vor ihr landete, entgeistert an. „Spuk…ball? Du kleines Miststück, wo hast du diese Attacke gelernt?!“, schrie die Magierin aufgebracht, und die Juwelen an ihrem Körper leuchteten. Ein mörderischer Wind wehte Rinko um die Ohren, als Traunmagil eine Attacke auf sie einsetzte. Schreiend wich die Verfluchte zurück und ärgerte sich, auch diesmal das Buch nicht zerstört zu haben. Doch zuerst musste sie sich und Takemi in Sicherheit bringen…
    Sie lief auf ihn zu. Durch den Fluch hatte auch er sich in ein Pokémon verwandelt – ein Karnimani, zu Rinkos Leidwesen ein Wasserpokémon. Er war bewusstlos, also packte sie ihn am Kragen und zog ihn auf das Geisterportal zu.
    Kurze Zeit später fand sie sich in der Gasse wieder. Geblendet von dem plötzlichen Sonnenlicht rieb sie sich die Augen – und stellte fest, dass sie sich zurückverwandelt hatte. Auch Takemi war wieder ein Mensch; doch sein nun himmelblaues Haar zeugte davon, dass der Fluch auch bei ihm nach wie vor wirkte.
    Rinko blickte wütend zu der Wand, an der sich das Portal, kurz nachdem sie es durchtreten hatten, wieder geschlossen hatte. Jetzt war auch Takemi verflucht und würde sich genau wie sie nicht mehr in der Nähe streitender Menschen aufhalten können, ohne sich in ein Pokémon zu verwandeln – und Menschen neigen dazu, häufig zu streiten. Glücklicherweise hatte Rinko irgendwie eine Geisterattacke erlernt, wodurch Traunmagil nicht länger unantastbar für sie war. Sie würde die Magierin finden und sie und ihr dämliches Buch vernichten![tab=Go!]Itokuni Go!


    Wie eine leuchtende Perle aus Bernstein, die würdig gewesen wäre, den Hals der Göttin Amaterasu zu zieren, stand die Sonne über dem Horizont. Ihr flammenfarbener Schein tauchte den Himmel in alle Purpurtöne und setzte das wogende Meer in Brand. Die vergoldete Oberfläche narrte das Auge, sodass es schien, als müsse man nur die Arme ausstrecken, um sie zu umgreifen, und gleichzeitig wirkte sie unendlich weit.
    Niriko atmete tief die salzige Brise ein, die ihr entgegenwehte, und nahm die letzten Sonnenstrahlen dieses Tages in sich auf. Sanft rollten die Wellen an den Strand ihrer Kindheit und rauschten behäbig. Sie strich sich eine Strähne aus der Stirn und lauschte dem Geräusch vergangener Urgewalten.
    Plötzlich erklang ein Bersten und Krachen, und Niriko zuckte zusammen. „Mensch, Shuichi!“, tönte Shizue neben ihr gereizt und schubste den Angesprochenen, der zu ihren Füßen am Boden hockte. „Wie schaffst du es immer, beim Essen so einen Lärm zu veranstalten?“
    Der Junge schielte zu seiner älteren Schwester hoch, die mit Niriko auf der Bank saß. „So sind diese Kekse! Willst du auch einen?“ Shuichi hielt die Packung hoch, doch Shizue zickte nur:
    „Diese Ladung purer Geschmacksverstärker? Vergiss es!“
    „Früher mochtest du sie aber gern“, mischte sich nun auch Goru ein, der auf der Banklehne platzgenommen hatte.
    „Sagt der Kerl, der sich eben noch über das Eis beschwert hat“, gab Shizue zurück und griff jetzt doch nach der Kekstüte. Auch Niriko nahm sich ein Stück heraus und knabberte vorsichtig daran.
    Goru drehte den Holzstiel, an dem sich bis eben noch ein Fruchteis befunden hatte, nachdenklich in den Händen. „Ich dachte ja auch, nach der heutigen Hitze wäre ein Eis ganz gut. Ich kann mir kaum vorstellen, dass wir dieses pappsüße Zeug einmal gemocht haben. Schrecklich!“ Mit angewiderter Miene machte er Anstalten, den Stiel zu Boden zu werfen, entschied sich dann aber doch anders.
    Eine Weile herrschte Stille, die nur vom Rauschen des Meeres und dem Knuspern der Kekse durchzogen wurde.
    „Meint ihr, Asami sieht uns jetzt zu?“, fragte Niriko, die plötzlich von Melancholie überflutet wurde. Keiner ihrer Freunde antwortete, aber sie wusste auch so, dass sie alle dasselbe dachten: Asami war immer bei ihnen.
    „Sie ist viel zu früh gegangen“, meinte Goru schließlich und warf den Eisstiel nun doch weit von sich. Das Holzstück landete im Wasser an der Brandungszone und tanzte auf den Wellen vor und zurück. „Wir sind schon lange nicht mehr die Itokuni Go.“
    Niriko biss in ihren Keks und dachte über seinen traurigen Unterton nach. Heute war der letzte Jahrestag von Asamis Tod, den sie zusammen verbringen konnten. Bis auf Niriko würde ihre ganze Gruppe die kleine Insel Itokuni vielleicht für immer verlassen: Shizue und Shuichi zogen nach Nagasaki um, und Goru würde nach Tokyo gehen, um dort zu studieren. Nachdem Asami sie verlassen hatte, wurden die Itokuni Go nun gänzlich gespalten.
    Die Sonne berührte den Horizont und ließ die Ozeanfeuer noch heller auflodern. Ein frischer Wind kam auf und vertrieb die letzte Hitze des Sommertages.
    Goru schüttelte sich und stand auf. „Ich glaube, es ist Zeit.“
    Die anderen drei nickten und sammelten die Eisverpackungen und Kekstüten ein, die sie geleert hatten. Niriko ging zum Wasser, um sich die Hände zu waschen, und hob nebenher den Holzstiel auf. Kein Müll durfte an diesem wunderbaren Strand zurückbleiben, an dem sie praktisch aufgewachsen waren und so viele epische Abenteuer erlebt hatten, die ihrer Fantasie entsprungen waren.
    Seit Asami vor fünf Jahren erkrankt und vor drei verstorben war, hatten die Itokuni Go nur noch wenig Zeit hier verbracht – immerhin waren sie nur noch vier und entsprachen damit nicht mehr ihrem Clubnamen. Aber Niriko hatte auch gewusst, dass es nicht ewig so hatte weitergehen können. Immerhin wurden sie alle älter.
    Vier lange Schatten prozessierten an der Uferlinie entlang, bis sie zu einer Ansammlung Wellenbrecher kamen. Seeschaum hatte sich zwischen den fern an riesige Korallenäste erinnernden Betonklötzen verfangen und knisterte leise.
    „Weiß einer noch, wo wir sie versteckt haben?“, fragte Goru ratlos und erklomm den ersten Wellenbrecher.
    „Ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern, was ich geschrieben habe. Das ist zehn Jahre her, was erwartest du?“ Shizue folgte ihm vorsichtig, schlug dann aber eine andere Richtung ein.
    Auch Niriko beteiligte sich an dem Gespräch: „Ich weiß noch, dass es an einer Stelle war, die oberhalb der Tide liegt. Sie sollte ja nicht nass werden.“ Sie und Shuichi kraxelten nun auch auf den Brechern umher und lugten in jeden Zwischenraum, wo sich Miesmuscheln angesetzt hatten. Während sie suchten, tuckerte in der Nähe ein Fischerboot auf dem Heimweg entlang.
    „Ha, Bingo!“, rief Goru irgendwann. Mittlerweile war er fast an der Nase des Brecherhaufens angekommen und streckte sich gerade zwischen zwei Betondornen hindurch. Bis die anderen drei Jugendlichen zu ihm aufgeschlossen hatten, hatte er sein Fundstück schon hervorgeholt. Und es war tatsächlich das, was die vier gesucht hatten: Eine kleine Holzkiste, über und über mit Paketband überzogen, das sie damals angebracht hatten zum Schutz vor Feuchtigkeit. Der Inhalt hatte schließlich wasserdicht verschlossen sein müssen.
    Niriko erinnerte sich noch genau an jenen Tag: Die fünf Mitglieder ihrer Clique hatten der Zeitkapsel ihre Wünsche und Träume anvertraut und sie an einem Ort versteckt, wo sie niemand finden durfte. Weil sie heute vorgehabt hatten, sie wieder zu bergen, hatten sie das gleiche Eis und die gleichen Kekse, die sie damals gegessen hatten, wieder besorgt. Trotz all dieser Kleinigkeiten, die sie alle noch wussten, erinnerte sich keiner von ihnen mehr daran, welche geheimen Hoffnungen zehn Jahre hier geschlummert hatten.
    „So ein Mist“, fluchte Goru, als er begann, das Paketband zu entfernen. „Das löst sich hier überall…“
    „Was?!“, rief Shizue aus und wollte ihm die Kiste entreißen, doch Goru war schneller und zog ihren gemeinsamen Schatz außer Reichweite. „Was, wenn Wasser eingedrungen ist?“, fragte die verhinderte Diebin ängstlich.
    „Das kann nicht sein“, versuchte Niriko, ihre Freundin zu beschwichtigen. „Bis hierher spritzt nur die Gischt, und die reicht nicht, um das Innere nass zu machen.“
    „Und was ist mit der Sturmflut vor drei Jahren?“, meldete sich Shuichi zu Wort. „Die hat ganze Küstenstreifen zerstört.“
    „Das war doch im Osten von Itokuni“, informierte Niriko.
    „Kann trotzdem sein, dass die Wellen dann hier auch höher schlugen als üblich“, ergänzte Goru und legte das Klebeband zur Seite. Nun war die Holzkiste wieder völlig frei. Mit Schrecken erkannte Niriko, dass das Holz an manchen Stellen morsch geworden war. „Es führt kein Weg vorbei…“ Goru öffnete den Deckel und griff hinein.
    Schon an seinem Gesichtsausdruck erkannte Niriko, dass wenig Hoffnung bestand. Goru holte ein paar wellige, fleckige Papiere hervor. Was einst darauf gestanden hatte, war durch das Wasser verlaufen und unleserlich geworden.
    „Das sieht nicht gut aus…“, kommentierte Shizue und nahm einen Teil des Stapels an sich. „Hier können wir nicht einmal erkennen, welches unser Brief ist, geschweige denn, was unsere Wünsche waren!“
    Niriko verstand ihren Schmerz. Sie alle hatten wissen wollen, ob sie die Zukunftsvorstellungen ihres vergangenen Selbst erfüllt hatten. Plötzlich kam ihr etwas in den Sinn. „Das Bild!“, rief sie. „Was ist mit dem Bild?“
    Goru zog es aus dem Stapel und zeigte es herum. Die Farben des Fotos, das die Fünf vor der untergehenden Sonne Itokunis an ihrem Lieblingsstrand zeigte, waren vom Meerwasser angegriffen und verblichen. Das Papier hatte sich leicht aufgerollt. Ansonsten war es aber weit besser erhalten als die Briefe.
    „Leute, seht euch das mal an.“ Niriko und Shuichi, die das Foto betrachtet hatten, wandten sich Shizue zu, die ihren Teil der Briefe durchgeblättert hatte. „Das ist von Asami!“
    Das Blatt, das sie hochhielt, war in makellosem Zustand. Ihre verstorbene Freundin hatte es damals von ihrem Vater laminieren lassen, wie sich Niriko erinnerte. Durch Asami war diese normale Sache aus tristem Büroalltag zu einem Wunder geworden. Auf der einen Seite waren fünf Zeichnungen zu sehen, die die Itokuni Go als Chibis darstellten. Neben jedem waren die jeweiligen Namen in Hiragana aufgeschrieben; die Kana, die auch als Zahlen fungierten, besonders hervorgehoben: ichi, ni, san, shi und go.
    Niriko fiel auf, dass Asami jedem von ihnen Attribute eines Tieres verpasst hatte: Goru war als Fuchs dargestellt, Shizue als Hase, Shuichi als Marderhund und Niriko als Katze. Asamis Chibi hatte Flügel und etwas, das wie ein Heiligenschein aussah. Niriko machte ihre Freunde darauf aufmerksam.
    „Jetzt, wo du es sagst, merke ich es auch“, meinte Shizue und sah genauer hin. „Warum hat sie sich selbst als Engel gezeichnet?“
    „Ob sie damals schon wusste, dass sie früh sterben würde?“, fragte Goru und nahm Asamis Brief entgegen. „Obwohl… der Krebs wurde erst viel später diagnostiziert.“
    „Hey, auf der Rückseite steht etwas!“ Shuichi riss Goru das Papier aus der Hand und drehte es um. Er hielt es so, dass seine Freunde es auch lesen konnten.
    Dort war, in kindlicher Schrift, Asamis geheimer Wunsch aufgeschrieben: Meine Hoffnung für die Zukunft ist, dass wir für immer Freunde bleiben!
    „Oh, Asami…“, flüsterte Shizue gerührt. Auch in Nirikos Augen sammelten sich Tränen.
    Der letzte goldfarbene Rand der Sonne versank im Ozean, der ihr Feuer löschte. Eine sanfte Brise zog vom Meer heran wie die lebendige Hoffnung, die Vergangenheit und Zukunft miteinander verband, und wirbelte um die fünf Kinder von Itokuni.[tab=Ende Gelände für heute Leute]Kitsune


    Kitsune fuhr liebevoll mit ihrer weichen Zunge über das zerzauste Fell ihres Neugeborenen. Der Anblick der jungen Mutter erfüllte Mariko mit Wärme – aber auch mit Bedauern. Erst wenige Stunden alt, sah sich die Flammentochter schon einer furchtbaren Gefahr gegenüber.
    Mariko lauschte angestrengt. Obwohl sie sich mit Kitsune in dem geheimen Raum aufhielt, in dem alle Feuerfüchsinnen alle neunundneunzig Jahre zur Welt kamen, hatte sie Bedenken, ob ihre vermeintliche Sicherheit noch lange anhalten würde. Das Zimmer, in das die mannshohe Hüterin des Sonnenuntergangs gerade hineinpasste, lag unter der Erde. Von der oberirdischen Tempelanlage gelangte man nur hierher, wenn man den Weg durch das Labyrinth kannte – und dieser war sogar nur wenigen Tempelwächtern bekannt. Mariko gehörte zu dieser Elite, aber sie bezweifelte, dass sie der verantwortungsvollen Aufgabe, die daraus gründete, gewachsen war.
    Die neugeborene Füchsin quiekte leise im Schlaf. Kitsune beugte sich über sie und beschnüffelte sie vorsichtig. Die Göttin hob den Kopf und sah zu Mariko auf. Zwar sprach sie nicht wie Menschen mit Worten, aber allein der Blick ihrer großen schwarzen Augen reichte aus, um zu übermitteln, was sie sagen wollte: Sie sind ganz nah.
    Mariko nickte. Das hatte sie befürchtet. Wenn die Junggöttin geboren wurde, war es Pflicht aller Tempelwächter, Kitsune zu bewachen, da diese von der Niederkunft geschwächt war. Aber was auch immer sich gerade im Angriff auf den Tempel befand, mähte sie wie spröden Bambus nieder. Mariko zog ihr Katana. Sie war eine der besten Kendokämpferinnen im ganzen Bezirk und konnte es sogar mit einigen Männern aufnehmen. Sie würde keine leichte Beute sein.
    Das Bellen der Eindringlinge wurde lauter, als diese in den Korridor einbogen, der direkt zum Geburtsraum führte. Mariko platzierte sich zwischen Kitsune und der Tür. Anders als die Schiebetüren im Tempel war sie kein mit Papier bespannter Holzrahmen, sondern eine solide Tür aus dunklem Holz. Und doch hielt sie dem Ansturm der Dämonenhunde hinter sich nicht stand, als diese auf sie eindrangen: sie zersplitterte in tausende Holzstücke, die Mariko um die Ohren flogen. Die junge Tempelwächterin wich nicht zurück.
    Als wäre die Hölle selbst aufgebrochen, strömten nun dutzende wolfsgroßer Hunde in den Raum, ein jeder mit dunkelgrauem, gelblich getigertem Fell. Ihr infernalisches Gekläff dröhnte Mariko in den Ohren, doch sie zögerte keinen Augenblick und setzte sofort zum Angriff an. Der zu absoluter Schärfe geschliffene Stahl schnitt ohne spürbaren Widerstand in die Leiber der Hunde. Doch es setzten immer mehr hinter ihren gefallenen Kameraden nach. Zumindest war der Raum eng genug, dass die Wolfshunde nicht an Mariko vorbei zu Kitsune und dem Neugeborenen vordringen konnten.
    Plötzlich schoss zwischen Mariko und den geifernden Bestien eine gleißende Feuerwand empor. Erschrocken wichen die Kontrahenten beider Seiten zurück. Mariko wirbelte herum. Kitsune war aufgestanden, und obwohl das Zimmer eigentlich zu klein für sie war, stand sie in voller Größe vor Mariko. Sie hatte ihre Götterform angenommen: Die neun Schweife zu einem mächtigen Kranz aufgerichtet, wirkte sie noch majestätischer, als sie ohnehin schon war. An Schwanzspitzen, Pfoten und zwischen den Ohren loderten Flammen, die die Farben des Sonnenaufgangs verbreiteten. Das gereizt abstehende Fell glänzte wie Millionen haarfeiner Kupfernadeln. Die Augen der Feuerfüchsin glühten nunmehr wie Kohlen und sahen Mariko gebieterisch an.
    Verschwindet von hier, sagten sie. Die Tempelwächterin verstand sofort: Sie sollte sich die junge Kitsune nehmen und durch den zweiten Ausgang entkommen, während die Mutter die Dämonenhunde aufhielt. Auch wenn es gegen Marikos tiefste Überzeugung als Wächterin ging, die Feuerfüchsin schutzlos zu lassen, wusste sie, dass es keine andere Möglichkeit gab. Auch in ihrem geschwächten Zustand war Kitsune eine ernstzunehmende Gegnerin.
    Mariko steckte ihr mit schwarzem Blut besudeltes Schwert ein und trat an die kleine Kitsune heran, die blind suchend nach der verlorenen Wärme der Mutter umhertapste. Sie war nicht viel größer als ein Menschenkind, daher konnte Mariko sie in eine Decke wickeln und sie damit als Tragevorrichtung an sich festbinden. Ein letzter Blick zu der flammenden Füchsin verriet Mariko, dass es nun Zeit war. Zum Abschied drückte sie den Hals der Göttin an sich – im Normalfall ein blasphemischer Frevel, doch sie spürte, dass es richtig war.
    „Ich werde gut auf deine Tochter aufpassen“, versprach sie, auch wenn sie nicht wusste, wie sie das anstellen sollte. Höchstwahrscheinlich war sie die letzte Tempelwächterin. Und sie wusste nicht, was sie draußen erwartete.
    Sie prüfte noch einmal den Tragegurt, dann zwängte sie sich durch den kleinen Hinterausgang. Sie konnte hören, wie im Geburtsraum die Hunde wieder über Kitsune herfielen, doch sie zwang sich dazu, es zu ignorieren.
    Der viel zu enge und stockfinstere Gang mit der niedrigen Decke erweckte ein klaustrophobisches Gefühl in Mariko. Nach einer Weile erreichte sie eine Treppe, die nach oben führte. Oben angekommen schob sie die Geheimtür auf, die sich nur von innen öffnen ließ. Wie man ihr bei ihrer Ernennung zur Tiefen Wächterin versichert hatte, stand sie nun im Dojo, in dem sie jeden Tag mit ihren Kameraden trainiert hatte. Sie hatte befürchtet, hier Leichen dieser Freunde vorzufinden oder die Kadaver der Höllenhunde, doch es gab keinen Grund, hier zu kämpfen. Wahrscheinlich hatte der Großteil der Schlacht im Haupttempel stattgefunden, wo auch der Kitsune geweihte Schrein stand. Als sie an das von schwarzem Hundeblut entweihte Heiligtum dachte, wurde ihr übel. Ob das Feuer noch brannte, das bei jeder Geburt einer Kitsune neu entfacht wurde und neunundneunzig Jahre nicht erlosch?
    Mariko musste fort von hier und die junge Feuerfüchsin in Sicherheit bringen. Sie verließ das Kendodojo in den großen Tempelgarten. Von hier aus musste sie das Gebäude umrunden, um den Bezirk zu verlassen. Doch wohin sollte sie dann gehen? Ins nahegelegene Dorf? Wenn schon nicht hier, konnte man da erst recht nichts gegen die schrecklichen Dämonenhunde ausrichten.
    Sie durchquerte trotzdem den Garten, kam an Ahornbäumen vorbei, die ihre mit zartem, rotem Laub geschmückten Äste in den Nachthimmel reckten. In der Nähe hörte Mariko das Plätschern des Baches, der sich durch den Park schlängelte. Wie auch er erreichte sie den großen Teich, in dem flammenfuchsfarbene Koikarpfen schwammen und sich der halbe Mond spiegelte.
    Abrupt blieb Mariko stehen. Im Licht des silbernen Gestirns wurden Schemen sichtbar, dunkle Schatten mit hellen Streifen. Dämonenhunde, so viele von ihnen, dass ihre Leiber die Wiese bedeckten! Mariko presste das Fuchsjunge fester an sich. Hier käme sie nie hindurch.
    „Gib mir Kitsunes Tochter!“
    Die tiefe Stimme brachte das Teichwasser zum Vibrieren, und auch Marikos Magen verkrampfte sich. Erst jetzt zog sie wieder das Katana und hielt es schützend vor das Bündel, das sie trug. „Zeig dich!“, rief sie, und auch wenn sie Angst hatte, zitterte ihre Stimme nicht.
    Zwischen den Hunden trat nun eine Gestalt hervor, die so schwarz gekleidet war, dass sie sie zuerst nicht bemerkt hatte. Dieser Mann war es also, der die Hunde darauf angehetzt hatte, die Göttin der Sanften Dämmerung zu töten...
    Mariko spürte in sich eine heiße Wut aufsteigen, doch sie zwang sie zurück. Sie durfte das Junge nicht in Gefahr bringen! „Warum willst du sie?“, keifte sie den Schwarzgewandeten an.
    Doch der Dämon antwortete nicht. Er zückte nun seinerseits ein Schwert und lief so schnell auf Mariko zu, dass sie gerade noch ihr Katana abwehrend hochreißen konnte. Sein Schlag traf sie so heftig, dass sie in die Knie ging. Jetzt wäre er nahe genug, um Kitsune zu erstechen, doch er tat es nicht. Warum wollte er die Fuchsgöttin töten, ihre Tochter aber an sich reißen?
    Was auch immer er vorhatte, Mariko musste ihn davon abhalten. Die Mutter der Kleinen mochte tot sein, doch im Tempel konnte eine neue Feuerfüchsin leben. Aber die Tempelwächterin war der Kraft des Fremden nicht gewachsen. Er brauchte sie gar nicht bekämpfen, sondern musste nur lange genug mit der Klinge seines Schwertes auf ihres eindrücken, bis sie erschöpft nachgab. Seine eisigen Augen blitzten jetzt schon triumphierend.
    Mariko verlor schon jede Hoffnung, da spürte sie einen warmen, liebevollen Hauch im Gesicht. Es war Kitsune, die sie da berührte. Die Große Füchsin war tot und sandte ihrer einsamen Wächterin nun den Rest Energie, den sie mit ihrem letzten Atemzug aushauchte – um ihre Tochter zu retten. Kaum, dass diese Gewissheit sie erfüllte, durchströmte Gluthitze Marikos Adern. Neue Kraft pulsierte in ihr, und sie schob nun gegen den unbarmherzigen Druck ihres Gegners an. Sie stieß einen wütenden Schrei aus, und aus Klang wurde Feuer, das über den Garten fegte, die Dämonenhunde verbrannte und deren Gebieter über den Teich hinweg fortschleuderte.
    Der unheimliche Fremde rappelte sich schneller auf, als er gefallen war. Er keuchte vor Schmerz und presste eine Hand auf eine Brandwunde am Bauch. Ein Knurren entfuhr ihm, als sei er selbst ein Hund – eine Drohung an Mariko. Dann, plötzlich, löste er sich in dicken Qualm auf und war verschwunden.
    Die göttliche Kraft verließ Mariko ebenso unvermittelt, und sie brach zusammen. Fürs Erste waren die unbekannten Angreifer vertrieben, aber sie würden wiederkommen, um sich die kleine Kitsune zu holen, aus welchem Grund auch immer. Dann würde sie da sein, um die Feuerfüchsin zu beschützen – notfalls mit ihrem Leben.
    In diesem Augenblick ging über dem Tempel der Fuchsgöttin die Sonne auf. Der erste Sonnenaufgang von vielen, über die die junge Kitsune wachen sollte.[/tabmenu]Nur noch die Links, Sirius, dann hast dus geschafft, mein Kleiner! o0

  • [tabmenu][tab=drosch!]Auf vielfachen Wunsch einer einzelnen Person hin (sagte mein Mathelehrer immer, klingt das abgedroschen? xD) poste ich jetzt schon den Gelegenheitsdieb, den ich für den Freie-Kurzgeschichte-WB verfasst habe. Eigentlich hätten noch ein paar ältere KGs vorher gepostet werden müssen, aber da er jetzt aktuell ist, ziehe ich ihn vor. Bis ich mich aufraffe, weitere Texte zu posten, hat die Welt ihn schon vergessen xD
    Zja, leider nur Platz vier, wie ich grad feststelle, aber wayne ^^[tab=Gelegenheitsdieb full version]Der Gelegenheitsdieb


    „Herzog Villain von Downwood!“
    Kaum ein Gast sah auf, als der Name des wenig bekannten Herzogs des unbedeutenden Herzogtums ausgerufen wurde. Der Neuankömmling betrat den Bankettsaal, der an die Größe einer Basilika heranreichte, und ließ den Blick über die Prunksucht der Adeligen schweifen. Alle Gäste des Königs waren in Gewänder gekleidet, die eigens für diese Feierlichkeiten aus edelsten Stoffen geschneidert worden waren. Getanzt wurde über den besten Marmor, für dessen Anlieferung keine Kosten und Mühen gescheut worden waren. Magische Kronleuchter vertrieben die nächtliche Dunkelheit, die durch scheinbar himmelhohe Fenster hereindrang.
    Der falsche Herzog von Downwood kochte innerlich vor Wut. Während hier ein Leben in allem Luxus geführt wurde, wuchsen Waisenkinder wie er in den Gossen der Städte auf.
    Celio, erklang Lorettas Stimme in seinen Gedanken.
    Ich bin drin, erwiderte Celio sogleich und beruhigte seine Partnerin: Ich wurde nicht durchschaut.
    Gut. Wie vereinbart hielt Loretta ihr telepathisches Gespräch so kurz wie möglich. Sie kommunizierten zwar auf einer Ebene, die sonst selten genutzt wurde, doch Vorsicht war dennoch oberstes Gebot.
    Um weniger aufzufallen, mischte Celio sich unter die Gäste und hielt nach seinem Ziel Ausschau. Die Anführer der Untergrundorganisation, für die er und Loretta arbeiteten, verlangten von ihnen den Diebstahl der Halskette, die einst der verstorbenen Königin gehört hatte und nun den Hals der Prinzessin zierte. Nicht nur die Wachen stellten dabei ein Hindernis dar; auch die Prinzessin selbst, die wie alle Frauen über die Kraft der Magie verfügte. Zugute kam Celio, dass die Königstochter dafür bekannt war, mit jedem jungen Mann, der ihr begegnete, ihre Gemächer aufzusuchen. Dies wäre die Gelegenheit, das kostbare Collier zu entwenden.
    Da Prinzessin Gvenvenére dazu verpflichtet war, mit jedem ihrer männlichen Gäste zu tanzen, war es nur eine Frage der Zeit, bis die Reihe an Celio war. Als sie auf ihn zukam, verneigte er sich formvollendet und küsste die ihm dargebotene Hand. Die Prinzessin war gekleidet in ein prachtvolles smaragdgrünes Seidenkleid, das mit ihrem Haar harmonisierte, welches die Farbe roter Sonnenblumen hatte. Sie trug eine Hochsteckfrisur, die ohne Klammern, dafür aber mit einem kleinen magischen Kniff in Form gehalten wurde. Bis auf die Halskette, die aus verschiedenen Edelsteinen gefertigt war, hatte sie keinen anderen Schmuck aufgelegt. Es hieß, jeder der insgesamt dreizehn facettenreichen Gemmen verstärke eine andere Form der Magie.
    Das gut verborgene, aber akustisch meisterlich platzierte Orchester stimmte einen Walzer an, und wieder einmal machte sich Celios Tanzausbildung bezahlt. „Ihr tanzt, als hätten die Götter es Euch persönlich gelehrt, Herzog Downwood“, lobte die Prinzessin überschwänglich, ihre Worte dem Takt der Musik angepasst.
    „Ich fühle mich geehrt, dass Ihr das so seht, Prinzessin“, erwiderte Celio, „und ich würde zu Euch gern dasselbe sagen. Aber ich fürchte, es wäre eine Beleidigung an Euer Können.“
    Genvenére lachte höflich. „Ich sehe, man hat nicht versäumt, Euch auch das Schmeicheln zu lehren!“
    Die beiden Tanzpartner drehten sich, und erst jetzt fiel Celio auf, dass sie sich nicht mehr unter den anderen Tanzenden befanden. Stetig, aber unauffällig führte die Prinzessin ihn zum Ausgang. „Ihr gefallt mir, Herzog“, sagte sie dissonant zum Musikstück. „Seht Euch nicht um und folgt mir.“
    Ihre tänzerische Flucht endete kurzzeitig bei den Wachen, die am Ausgang des Bankettsaals patrouillierten. Eigentlich war es der Prinzessin verboten, die Feierlichkeiten frühzeitig zu verlassen, und Celio bezweifelte, dass die Gardisten sie durchlassen würden. Doch zu seiner Überraschung schnippte Gvenvenére nur mit dem Finger, und der Blick der Wachen umwölkte sich. Prinzessin und Straßendieb gelangten unbehelligt und unbemerkt aus dem Saal. „Ein kleiner Zaubertrick, den ich mir als Kind aneignete“, erklärte die Königstochter sorglos.
    Sie liefen durch Korridore, die gesäumt waren von kunstvoll gewebten Teppichen und Gobelins, und Wendeltreppen hinauf, die mit meisterhandwerklichen Steinmetzarbeiten verziert waren. Alsbald erreichten sie das Schlafgemach der Prinzessin. Nachdem diese sich vergewissert hatte, dass ihnen niemand gefolgt war, schloss sie die Tür und machte eine einladende Geste. „Bitte, macht es Euch bequem und fühlt Euch wie zuhause.“
    „Seid vergewissert, Euer Hoheit, meine heimatliche Schlafstatt kommt Eurer nicht im Entferntesten nahe“, erwiderte Celio. Was wie eine höfische Untertreibung klang, war angesichts seiner Herkunft leider bittere Wahrheit. Neben einer Kommode mit kunstvollen Schnitzereien und sündhaft großen Spiegel war das Gemach mit einem Bett möbliert, das mit samtenen, weinroten Vorhängen von der Außenwelt verborgen werden konnte. Auch an der zweiten Tür, die auf einen Balkon hinausführte, bauschten sich Vorhänge aus durchscheinender Seide in der nächtlichen Brise. Der perfekte Fluchtweg, entschied Celio, und Loretta bekräftigte diesen Entschluss telepathisch.
    Die Prinzessin stand vor dem Spiegel und löste ihre Frisur mit kurzen Berührungen an den magisch aufgeladenen Stellen. Eine kupferrote Locke nach der anderen fiel hinab und verdeckte die Kette ihrer Mutter. Celio trat an sie heran und begutachtete den goldenen Verschluss. Es wäre ein Leichtes, ihn zu öffnen und mit dem Collier über den Balkon zu entschwinden. Die Prinzessin erblickte ihn im Spiegel und drehte sich um. Seine Augen begegneten ihren lavendelfarbenen für einen Moment.
    „Ihr seid nicht Herzog Downwood.“
    „Woher wisst Ihr das?“, entfuhr es Celio, obwohl er eigentlich hatte fragen wollen: „Wie kommt Ihr darauf?“ Jetzt konnte er es nicht mehr abstreiten. Seltsam. Nicht Herr über seine Zunge zu sein war eigentlich ungewöhnlich für ihn.
    Gvenvenére lächelte schalkhaft. „Ich muss gestehen, ich kann mir nicht erklären, wie Ihr es geschafft habt, dass der echte Villain von Downwood nicht auf dem Bankett erscheint – aber ich hoffe doch sehr, dass Ihr ihn dafür nicht töten musstet.“
    Tatsächlich hatten seine Auftraggeber im Sinn gehabt, einen der vom König eingeladenen Adelsleute zu morden, um in dessen Identität den Ball zu besuchen. Doch dann hatte der Herzog von Downwood dem König seine Absage geschickt, die von den Spionen der Organisation abgefangen worden war. Hatte nur noch eine gefälschte Einladungsbescheinigung gefehlt, und aus Celio war Herzog Villain von Downwood geworden.
    „Ihr habt wohl darauf spekuliert, dass unsere Wache, die meisten der Gäste und ich verwöhntes Prinzesschen den Herzog einer so entlegenen Provinz nicht kennen“, fuhr Gvenvenére fort. „So gerissen Ihr auch seid, mein Lieber, konntet Ihr jedoch mit einer Sache nicht rechnen: Ich informiere mich regelmäßig über meine möglichen zukünftigen Ehemänner, zu denen zu meinem Leidwesen auch Herzog Downwood gehört. Aber nach allem, was mir über ihn gesagt wurde, kann er nicht halb so anziehend sein wie Ihr.“
    Das so von ihr zu hören, überraschte Celio – gleichermaßen, wie es ihm versicherte, die lasterfrönende Prinzessin genau da zu haben, wo er sie brauchte. Doch er musste noch immer vorsichtig sein, sonst führe man ihn schon zum Morgengrauen an den Pranger. „Um ehrlich zu sein, Prinzessin“, sagte er, trotz der Tatsache, dass sie ihn durchschaut hatte, „wünsche ich mir im Moment, eher ausziehend auf Euch einzuwirken.“
    Gvenvenére lachte ehrlich erheitert: „Humor habt Ihr auch, wie erfrischend!“ Sie stieß ihn aufs Bett und drehte sich wieder zum Spiegel. „Mit diesem Kleid könnte ich mir ein ganzes Dorf in Downwood ertauschen – wir wollen doch nicht, dass Ihr es in Eurem Ungestüm beschädigt!“ Sie hob die Faust und spreizte in einer magischen Geste die Finger. Wie von selbst öffneten sich die engen Verschnürungen ihres Mieders. Langsam entkleidete sie sich, doch unter ihrem Festtagsgewand kam nur ein weißes Unterkleid zutage, das außer den Armen und Füßen dem männlichen Blick nicht mehr freigab als das grüne Seidenkleid. Dieses warf die Prinzessin über die Lehne des Stuhls vor der Kommode, was dem Erhalt der Faltenfreiheit des Smaragdstoffs nicht gerade zuträglich war.
    Gvenvenére löste noch die letzten unsichtbaren Klammern in ihrem Haar und wandte sich dann endlich an Celio. „Jetzt sind meine Kleider ganz Eure“, sagte sie, setzte sich quer auf seinen Schoß und schlang die Arme um ihn.
    Möglichst ohne ihren Argwohn zu wecken, sammelte Celio ihre rotgoldene Lockenpracht vor ihrer rechten Schulter, um den Kettenverschluss besser sehen zu können. „Warum vertraut Ihr mir noch immer, obwohl Ihr wisst, dass ich kein Herzog bin?“, wollte er wissen und hielt in seinem Tun inne.
    „Mir ist einerlei, welchen Titel Ihr tragt“, begründete Gvenvenére. „Euer Körper spricht für Euch.“ Sie presste die Lippen auf seinen Mund und stahl ihm einen leidenschaftlichen Kuss, den er ihr ebenso entschlossen gewährte. Mit jedem wilden Herzschlag spürte Celio, wie sein Blut heißer wurde. Er verlor sich allmählich in ihren Lippen.
    Celio, wach auf, du Tor!, hallte es plötzlich in seinen vernebelten Gedanken. Loretta! Natürlich, hier lief etwas ganz und gar falsch: Er war es doch, der die Prinzessin umgarnen sollte, und nicht umgekehrt! Sofort reckte er die Fühler seines Sechsten Sinns. Ein Strom magischer Energie floss von der Prinzessin auf ihn zu, geradewegs durch den Rubin in ihrer Kette. Indem sie ihren Zauber durch den Stein der Leidenschaft verstärkte, versuchte sie, ihn zu verführen!
    So wie er das erkannte, riss Celio sich von der Prinzessin los und sperrte sich gegen ihren Einfluss. Gvenvenére stand auf und seufzte unzufrieden: „Ihr habt einen starken Geist… wie bedauerlich.“ Auch Celio erhob sich eilig vom Bett. „Verzeiht mir, dass ich Euch zu etwas hinreißen wollte, für das Ihr nicht bereit seid“, entschuldigte sich die Königstochter wenig überzeugend. „Wann gedenkt Ihr nun also, mir das Collier meiner Mutter zu entwenden?“
    Das Einzige, was Celio auf diese Frage tun konnte, war, die Prinzessin entsetzt anzustarren. Du musst dort weg!, warnte Loretta, doch er wagte nicht, sich zu bewegen.
    „Seid nicht so überrascht, Herzog“, sagte Gvenvenére. „Ihr beleidigt mich, wenn Ihr meine Menschenkenntnis so sehr unterschätzt. Es war Euch den ganzen Abend anzusehen, worauf Ihr wirklich aus seid. Euer Blick wanderte oft von meinem Gesicht zu etwas, das unterhalb liegt. Und da Ihr, anders als die meisten Männer, nicht tief genug geblickt hat, kann es nur die Königinnenkette sein, die Ihr begehrt.“
    Endlich schaffte es Celio, sich umzudrehen und auf die Balkontür zuzulaufen. Doch wie von Geisterhand schlugen die Flügel plötzlich zu, und ein magisches Knistern überzog seine Haut. Ein Schlusszauber, mächtig genug, dass er die Glastüren nicht einmal einschlagen konnte. Er saß in der Falle!
    Von seinem erschrockenen Anblick offenbar belustigt lächelte Gvenvenére. „Ängstigt Euch nicht“, beschwichtigte sie. Aber er hatte keine Angst – das konnte er sich in seinem Beruf nicht leisten –, sondern suchte berechnend nach einem anderen Ausgang. Durch die Tür auf den Flur konnte er nicht flüchten, dort würde er erst recht der Palastgarde in die Arme laufen.
    Die Prinzessin sprach seelenruhig weiter: „Von mir aus, nehmt die Kette an Euch.“ Überrascht blickte Celio sie an, doch wie er erwartete, äußerte sie sogleich eine Bedingung: „Aber ohne, dass ich sie vorher ablege. Nehmt mich mit Euch!“
    Celios Verwunderung demgegenüber, was die Prinzessin ihm anbot, wuchs nur noch weiter an. „Ich soll Euch… entführen?“ Seine Aufgabe war, der Kette habhaft zu werden – und nicht einer ganzen Prinzessin! Selbst wenn sie aus freien Stücken mit ihm ging, so hätte er sie doch aus dem Palast geführt, worauf unweigerlich die Todesstrafe stand. Außerdem war sie ein Leben auf ständiger Flucht nicht gewohnt. Und sie mitzunehmen und später umzubringen, um an das Collier zu gelangen, brächte zu weitreichende Konsequenzen mit sich.
    Gvenvenére machte eine wegwischende Geste. „Nennt es, wie auch immer es Euch beliebt. Ich bin des immergleichen Lebens bei Hofe müde. Ich will die Welt erleben, die sich außerhalb der Palastmauern erstreckt – nicht nur in Lehrbüchern darüber lesen oder sie im Kutschwagen vorbeifliegen sehen.“
    Das schien die übliche Klage der selbsternannten Gefangenen im Goldenen Käfig zu sein – und das, obwohl ihnen das Leben sie mit allem Reichtum beschenkte, den es von der einfachen Bürgerschaft stahl. Celio hatte ganze Familien den Armutstod sterben sehen. Das war die Welt, wie sie wirklich war und die Gvenvenére kennenlernen wollte!
    Plötzlich zischte etwas von hinter ihm so dicht an Celios Gesicht vorbei, dass er glaubte zu sehen, wie der Gegenstand die Luft zerteilte. Er glitt so knapp über Gvenvenéres linke Schulter, dass er die Kette mit sich riss. Ein feiner Blutsfaden lief von ihrer Schulter hinab und ging in eine leicht gekippte Horizontale über, als er auf das Schlüsselbein traf. Die Kette baumelte hinter der Prinzessin an der Wand: Ein Obsidianmesser hatte eines der weichen Glieder aus Gold zerschnitten und sich durch ein weiteres mit der Spitze in den Putz gebohrt.
    Alarmiert wirbelte Celio herum. Es gab im ganzen Königreich nur eine Person, die so ungeheuer präzise werfen konnte. „Loretta!“, rief er aus. „Was tust du hier?“
    Aus den Schatten trat nun eine in lederne Schwärze gekleidete Gestalt. Sie verursachte kein Geräusch und bewegte sich mit der Eleganz einer Katze. Als Säugling war Loretta ein schlagendes Katzenherz neben das ihre eingepflanzt worden, sodass sie im Laufe ihres Lebens einige Eigenschaften des Raubtiers angenommen hatte. Mit einem weiteren ihrer unfehlbaren Wurfmesser zeigte sie auf Gvenvenére und fauchte: „Sie hat die Wachen gerufen!“
    „Die Wachen?“ Celio verstand nicht, warum die Königstochter das hätte tun sollen, wo sie doch den Wunsch geäußert hatte, von ihm entführt zu werden. Außerdem musste sie sie noch gerufen haben, bevor sie die Balkontür magisch verriegelt hatte, sonst hätte Loretta sich nicht ins Gemach schleichen können.
    „Wehe Euch, königliches Miststück“, zischte Loretta bedrohlich und schritt mit gezücktem Messer um die Prinzessin herum, „wenn Ihr auch nur eine Faser Eures zerbrechlichen Körpers bewegt, seid Ihr des Todes!“ Ihre ganze drahtige Geschmeidigkeit war zum Zerreißen gespannt. Auch ohne die Magie verstärkende Kette war Gvenvenére noch gefährlich.
    Celio hoffte, dass dies nur eine leere Drohung war. Sie hatten ausdrücklichen Befehl, nur das Collier zu stehlen und keine Leben. „So war das aber nicht geplant“, sagte Celio zu seiner Partnerin.
    Loretta riss zu schnell, als dass menschliche Augen die Bewegung hätten verfolgen können, das Messer aus der Wand und fing die Kette auf. Gift spuckend gab sie zurück: „Es war auch nicht geplant, dass du mit Durchlaucht um ihre Entführung feilschst!“ Noch immer mit derselben Vorsicht ging Loretta zur Balkontür und fuhr mit einem ihrer Messer die innere Kante entlang. Bläuliche Funken sprühten auf, wo sie den Schlusszauber zerschnitt. Schnell stieß sie die Flügel auf, trat auf die Veranda hinaus und pfiff durch zwei Finger. „Lass uns verschwinden!“, drängte sie ihren Partner auf den Balkon hinaus.
    Celio folgte ihr und blickte sich noch einmal nach der Prinzessin um, die allein in ihrem Gemach zurückgeblieben war. Allein der finstere Blick, den sie ihnen hinterherschickte, hätte ausreichen können, sie zu töten. Loretta riss ihn am Arm, und die sprangen beide über das Geländer des Balkons. Kurz darauf sah man einen als Palastluftwache getarnten Greifen in den nächtlichen Himmel aufsteigen – auf seinem Rücken saßen zwei menschliche Gestalten.
    Erst jetzt wurde die Tür zu Gvenvenéres Gemach aufgerissen, und ihre Leibwache stürmte herein. „Prinzessin, Ihr seid verletzt!“, stellte der Hauptmann sofort fest. Doch als die Gardisten ihren harschen Blick bemerkten, beugten sie ehrerbietig das Knie.
    „Ihr seid spät“, meinte Gvenvenére ungerührt. „Ich hoffe, ihr habt euch auf den Feierlichkeiten nicht zu sehr gehen lassen.“ Sie presste dem Hauptmann den rechten Daumen auf die Stirn und sandte ihm das Bild der beiden Diebe. „Diese Verbrecher haben die Königinnenkette gestohlen! Findet sie und nehmt sie fest – aber unversehrt.“ Sie legte die Finger auf die Schnittwunde, die bei der Berührung leicht brannte. „Sie sollen am Leben sein, wenn sie erhalten, was sie verdienen.“ Nun wanderte ihre Hand weiter runter, wo ihr Herz bei dem Gedanken an den falschen Herzog auf eine ihr gänzlich unbekannte Weise gegen ihre Brust schlug. „Beide.“[/tabmenu]

  • [tabmenu][tab=Laaast Christmas...]Das ist eigentlich gar kein Weihnachtslied, wusstet ihr das? xD


    Wird mal wieder Zeit, Texte zu onnen... Hab schon lange nix mehr gepostet, das kann so nich bleiben. Ich hab noch ein paar, die so dahindümpeln x3


    Die erste Kurzgeschichte war ursprünglich für den Wetti mit Postapokalyptischer Zukunft andstuff. Ich schrieb und schrieb... und wie es bei mir so ist, wurde der Text viiieeel zu lang. Kürzen konnte ich kaum, und zu allem Überfluss kamen mir immer neue, immer mehr Ideen, die ich also nicht mehr einbauen konnte. Also entschloss ich mich, es sein zu lassen, beim Wetti mitzumachen. Den Text ergänzte ich trotzdem um die neuen Ideen <3 Da mir das ganze Ding gut gefällt, habe ich es auch in meine Hall of DieseIdeensetzeicheinesTagesinRomaneum aufgenommen. Also, eines Tages... <33
    Der Name hat eine tiefsinnige Bedeutung. Das ist natürlich Absicht, höhö.


    Das zweite war für den Crossover-WB. Öhm... weiß nich, was soll ich noch sagen? Vielleicht schreibe ich noch irgendwann ein oder zwei Versionen aus der Sicht anderer Charaktere, Kid oder Conan oder so x3 Achja, die beiden Ankündigungsschreiben gehören auch zum Text dazu, für den WB waren sie allerdings zu viel o0


    Und zu guter Letzt ein Drabble, das ich irgendwie vergessen habe. Habs bestimmt aufm Computer erstellt, der zu der Zeit seinen dritten (!!!) Datencrash hatte. Hops. Aber ein Segen manchmal, dass das Internet nichts vergisst lol. Hab anscheinend auch recht gut abgeschnitten, zweiter Platz *yay*


    Die nächste "Kurzgeschichte" ist etwas "länger", von daher wird sie allein wohl einen Post ausmachen .___. Wieviele Zeichen fasst hier ein Post eigentlich? Gott sei Dank sind diese 10.000-Zeichen-Zeiten vorbei .,.


    ~ Das Me!


    [tab=Gravy!]Erdanziehung


    „Lirinda, sieh nur, der Mond!“
    Lirinda riss sich vom trostlosen Anblick der Erde los und schwebte zu Carassa hinüber. Ihre Freundin hielt sich an einem der Griffe fest, die an der Innenseite der Panoramakugel angebracht waren, und blickte begeistert wie ein kleines Kind in den Weltraum. In einiger Entfernung trieb der Vollmond an ihnen vorbei in all seiner Schönheit. Lirinda hatte Bilder gesehen von dem ewigen Begleiter der Erde, als die Menschen noch auf ihrem Planeten hatten leben können. So groß, wie er sich den Besuchern der Aussichtskugel darbot, hatte man ihn damals nie sehen können. Allerdings hatte es zu dieser Zeit auch noch nicht die Straßen und Bauten der lunaren Forschungs- und Grabungsstation gegeben, die die zerfurchte Oberfläche überzogen wie ein Pilzgeflecht.
    Auf dem silberweißen Trabanten sollten noch immer Artefakte existieren, die die Menschen von damals auf ihren Mondbesuchen zurückgelassen hatten. Eines Tages wollte Lirinda die Station besuchen und sich diese Gegenstände ansehen.
    Carassa schlürfte lautstark aus ihrem Stardrink, irgendeine ominöse schwarze Flüssigkeit, in der leuchtende Kügelchen schwammen. Lirinda hasste das schmatzende Geräusch, das die Ventiltrinkhalme von sich gaben, doch in der Schwerelosigkeit waren sie unabdingbar. „Was hast du jetzt nach der Schule vor?“, wollte Carassa wissen und ließ den Griff los, um von der Glaswand abzutreiben.
    „Das weißt du doch“, antwortete Lirinda und folgte ihr im Freiflug. „Ich will studieren, am liebsten an der Universität in Satellitenstadt Alpha.“ Jene Stadt war die erste, die im Gravitationsbereich der Erde errichtet worden war und ihre eigene Umlaufbahn hatte. Ihre Universität war der beste Lehrstuhl, den man finden konnte, und Lirindas Startrampe zu den Zielen, die sie erreichen wollte.
    Carassa prustete gelangweilt. „Die haben doch viel zu viele Bewerber, als dass man da reinkäme.“ Offenbar bemerkte sie nicht die Ironie dieser Aussage. Manchmal fragte sich Lirinda ernsthaft, ob bei Carassas Intelligenztest einige Punkte durch Bestechung entstanden waren. „Willst du nach dem Vorschlag des Bildungspräsidiums noch immer …?“ Sie sprach das Wort nicht aus, ganz so, als könne es Unheil hervorrufen.
    Lirinda dachte mit Grauen an den Test, den sie durchgenommen und der als Ergebnis ausgespuckt hatte, dass ihr ideales Studienfach Biologie war. Doch es interessierte sie nicht, wie und warum die Tiere und Pflanzen, die der Mensch gentechnisch geschaffen hatte, funktionierten. Die Archaebiologie, die die Lebewesen Gayas behandelte, war schon eher interessant, hatte in ihren Augen jedoch keinen Nutzen für das Jetzt.
    „Ich will nunmal wissen, was uns hier herauf gezwungen hat“, erklärte Lirinda und stieß sich ab, um wieder auf die Stelle zuzutreiben, von der aus man die Erde sehen konnte. „Warum es dazu kam, dass wir unsere Mutter getötet haben…“ … und ob man es wieder rückgängig machen kann, fügte sie in Gedanken hinzu. Sie wusste, dass ihre Freundin dafür kein Verständnis hegte.
    „Lirinda, wie oft denn noch?“ Carassa, die ihr gefolgt war, klang gespielt genervt. „Das waren nicht wir, sondern die Menschen von damals, die sich unbedingt ein paar Atombomben um die Ohren hauen mussten, nachdem sie es endlich geschafft hatten, ihre Ökologie in den Griff zu kriegen.“ Wieder schlürfte sie an ihrem Drink.
    Was Carassa so salopp formulierte, war vor über eintausend Jahren das größte Massensterben gewesen, das die Erde bis dahin erlebt hatte – und von dem sie sich auch nie wieder erholen würde. Damals war Gaya – der Begriff für die Erde, bevor der Mensch sie zerstört hatte – ein Ort voller Leben gewesen. Jetzt hingegen war sie nur noch ein riesiger, schmutzbrauner, gefleckter Ball, der verloren im Weltenozean trieb. Vor der Katastrophe sollten dort über dreizehn Milliarden Menschen gelebt haben, eine Zahl, die Lirinda sich nicht einmal vorstellen konnte. Glück für die Überlebenden, dass es die Satellitenstädte da schon gegeben hatte, die den ehemaligen Heimatplaneten wie der Mond umkreisten oder einen festen Punkt hatten. Jetzt lebten hier noch ein paar Millionen, auf dem treuen Trabanten ebenfalls einige Hundert. Auch auf dem Mars wohnten wenige Tausend.
    Doch auch auf der Erde arbeiteten noch einige Millionen Menschen. Voller Trauer beobachtete Lirinda einen Aufzug, der gerade von der unfruchtbaren Oberfläche in eine fixe Satellitenstadt hochgefahren wurde. Diese Aufzüge transportierten Rohstoffe, die noch immer auf der Erde abgebaut wurden, nach oben; Nahrung und Abfall, der nicht mehr recycelt werden konnte oder sortiert werden musste, nach unten. Und manchmal auch Menschen…
    Mit Bitternis dachte Lirinda an ihren kleinen Bruder, der wie alle Kinder mit drei Jahren einem Intelligenz- und Körpertest unterzogen worden war. Hundertneunzehn hatte sein IQ betragen – ein einziger Punkt zu wenig, um in einer Gesellschaft zu leben, die nur die hellsten Köpfe unter sich duldete. Jetzt fristete er sein Dasein in irgendeiner dunklen Mine im Inneren der toten Erde.
    „Wenn ich Altertumskunde studiere“, sagte Lirinda gedankenverloren und fuhr mit den Fingerspitzen über das Glas, als ob sie so die Oberfläche des fernen Planeten streicheln könne, „will ich auch auf die Erde und mit ansehen, wie es dort ist.“
    „Das weiß doch jeder!“, meinte Carassa achselzuckend. „Die Menschen dort leben unter ihren Kuppeldächern in ihren Hütten, die sie aus irgendwelchem Schrott zusammengebastelt haben, und gehen jeden Tag in Schutzanzügen Steine klopfen.“
    Aber das meinte Lirinda nicht. Sie wollte das nicht nur wissen, sondern auch sehen, fühlen.
    Die halbe Stunde, die den Besuchern der Glaskugel eingeräumt wurde, war vorbei, und Lirinda und Carassa verließen die Aussichtskapsel. Der Magnetismus ihres Anzugs schaltete sich automatisch wieder ein, als sie auf den Gang hinaustraten, und damit auch die künstliche Schwerkraft. Lirinda genoss das Gefühl, wieder auf festem Boden zu stehen.
    Die beiden Freundinnen schlenderten am Gehweg entlang, neben sich das immergleiche Summen der Schwebmobile auf der Straße, mit denen man zwar schneller unterwegs war, die jedoch unsagbar teuer in Anschaffung und Energieverbrauch waren. Im röhrenartigen Gang über ihnen schienen sich Straße und Gehweg zu spiegeln, denn auch dort fuhren Mobile und spazierten Fußgänger, getragen durch die künstliche Schwerkraft, die ein Oben und Unten definierte, wo es eigentlich keine Schwerkraft gab. An den leicht nach innen gewölbten Wänden entlang zogen sich längliche, weiße Lampen, die den Gang ausleuchteten. Das Material von Wänden und Böden warf es matt zurück und erschuf ein stark verschwommenes Spiegelbild der surrealen Szenerie.
    Carassa warf ihren leeren Trinkbeutel in ein Abfallloch in der Wand, das den Müll artig aufsaugte und durch verborgene Rohre in einen Sammeltank abtransportierte. „Du hast noch gar nichts zu meinem neuen Tatoo gesagt!“, schmollte Carassa, als sie weitergingen.
    Lirinda musterte ihre Freundin skeptisch. Das Tatoo unter ihren Schlüsselbeinknochen changierte auffallend bunt wie Tritium in Festform und lenkte den Blick absichtlich in Carassas tiefen Ausschnitt. Dessen untere Spitze erreichte fast ihren Bauchnabel und verbarg gerade noch so die Brustwarzen ihrer enormen Oberweite, die Ergebnis einer Hormonbehandlung vor ein paar Jahren war. Ihr maßgeschneiderter Ganzkörperanzug, wie er von jedem Bewohner der Satellitenstädte getragen werden musste und die durch Magnetismus erzeugte künstliche Schwerkraft ermöglichte, war, wie Lirinda wusste, Carassas Eigenkreation. Seine Funktion sparte den Brustbereich aus, damit seine Besitzerin überhaupt imstande war, das Zusatzgewicht zu tragen. Das Tatoo war gewiss ein Geschenk Carassas wohlhabenden Vaters für den erfolgreichen Schulabschluss.
    Es war schwer, nichts Falsches zu sagen, also meinte Lirinda nur: „Sehr… aufreizend.“
    „Nicht wahr?“, flötete Carassa fröhlich. „Mit seinen Reizen sollte man nicht geizen, das wussten die Frauen auf der Erde damals auch schon. Du könntest übrigens auch mal was aus dir machen, damit dir die Männer nachsehen.“ Sie zwinkerte verschwörerisch. „Wir leben lange nicht mehr in Zeiten, in denen wir fürchten müssten, unverhofft schwanger zu werden!“
    Dafür lebten sie in Zeiten, in denen ihre Keimzellen, kaum dass sie zeugungsfähig waren, eingefroren wurden und ihnen, Männern wie auch Frauen, jene Fähigkeit genommen wurde. Erst später konnte frau sich eine mit den Spermien ihres Erwählten künstlich befruchtete und von allen eventuellen Erbfehlern befreite Zygote einpflanzen lassen – doch mehr als zwei Kinder beiden Geschlechts waren nicht erlaubt. Deswegen war Lirinda auch immer bruderlos geblieben nach dem schicksalhaften Test. Da Platz, Energie und Nahrung begrenzt waren, herrschte strenge Geburtenkontrolle, und Verstöße wurden mit schweren Strafen geahndet.
    Ein überteuertes Tattoo wollte sie sich nicht leisten. Für das bisschen Credit, das ihre Eltern, die in einer anderen Stadt wohnten, ihr zukommen ließen, konnte sie gerade so ihre Mietwohnung in einer Wohnpyramide bezahlen. Und die war nicht mal eine der teureren am Rande der Pyramide, wo man Blick in den Weltraum hatte! Wobei Lirinda sich nicht entscheiden konnte, ob es ein Privileg oder eine Strafe war, die tote Erde vom eigenen Wohnzimmerfenster aus zu sehen.
    „Hey, was ist denn das?“, hörte sie Carassa fragen. Ihre Freundin war an einem Fenster an den Gangwänden stehengeblieben, wo einige Gaffer nach draußen starrten. Lirinda gesellte sich dazu. Zuerst wusste sie nicht, was die Schaulustigen so in Erregung versetzte. Von hier aus konnte man die Erde sehen, in einiger Entfernung ein paar halbkugelförmige Farmsatelliten, in denen Mais angebaut wurde. Alles auf dem Hintergrund unendlich ferner Sterne, die die Weiten des Weltraums erfüllten und ihn doch leer ließen.
    Dann aber sah sie es auch: Es schien wie ein großer, schwarzer Kristall, weswegen es auch als Weltraumschrott durchgegangen wäre. Jedoch flog es, ganz anders wie ein Bruchstück, wie ein gesteuertes Fluggerät genau auf die Satellitenstadt zu.
    Wie kurzgeschlossen wusste Lirinda plötzlich, wohin das merkwürdige Flugobjekt wollte: Zu den Docks!
    Woher sie diese Erkenntnis einfach nahm, wusste sie nicht. Dennoch rannte sie sofort los, merkte aber, dass sie in die entgegengesetzte Richtung lief, die für diesen Gehweg vorgesehen war – die wandte sich entgegen des Stroms an Fußgängern, der ohnehin ins Stocken geraten war. Also kehrte sie hastig den Magnetismus an den Schaltkreisen an ihrem Unterarm des eng anliegenden Anzugs um, schwebte daraufhin einen Moment losgelöst zwischen Boden und Decke und landete schließlich auf letzterer, die jetzt der neue Boden für sie war.
    „Lirinda, wo willst du hin?“, rief Carassa über ihr, doch die Angerufene hielt nicht inne.
    Auch an den Docks, wo etliche Schwebmobile und Raumflieger parkten, hatten sich Schaulustige zusammengefunden. Lirinda schaffte es, sich auf eine Plattform zu drängeln. Der Hafen war mehrere Stockwerke hoch und breit, Gefilde, in die wenn nur Mechaniker vorstießen, wenn die automatische oder die ferngesteuerte Reparatur versagten. Wenn die Fahrer aus ihren Schwebmobilen auf die Plattformen stiegen, steuerten sich ihre Fahrzeuge von selbst zu einem freien Parkplatz. Andersherum schwebten sie zu den Plattformen herbei, wenn ihre Fahrer wieder einsteigen wollten. Verbunden mit einem zentralen Computer fanden sie zu freien Anlegeplätzen und kollidierten nicht mit anderen Fahrzeugen, die im Hafen unterwegs sein mochten.
    Eine Lampe an einer der vielen Luftschleusen, die das Tor in den luftleeren Raum bildeten, blinkte auf zum Zeichen, dass gerade jemand hereinkam. Ob das dieses seltsame Flugobjekt war?
    Ein leises Zischen hallte durch den Hafen, zum Zeichen dafür, dass Druckluft in die Schleusenkammer gelassen wurde. Die Klappe öffnete sich träge. Ein Raunen lief durch die Menge, als der schwarze Kristall daraus hervorschwebte. Langsam kam er näher, genau auf die Plattform zu, auf der Lirinda stand. Einige der Versammelten traten zurück, andere blieben erstarrt stehen – nur Lirinda machte einen unwillkürlichen Schritt nach vorn.
    Das Flugobjekt erreichte die Plattform und öffnete sich. Dabei schien es, als würde sich sein Material kurzzeitig verflüssigen und ein Loch in dem sonst massiven Schwarz auftun. Eine Rampe bildete sich, die auf die Plattform führte, und jetzt wichen auch die letzten Schaulustigen zurück.
    In dem dunklen Innern des Kristalls erkannte Lirinda eine Bewegung. Ein bleicher Schemen bildete sich heraus, als jemand in den hell erleuchteten Hafen trat. Es war ein Mensch, ein Mann undefinierbaren Alters. Obwohl er unbekleidet war, schien ihn die Schwerelosigkeit nicht in ihrem Griff zu haben. Ein verwirrendes Muster aus silbernen Linien bedeckte seinen ganzen Körper mit Ausnahme des Gesichts, aus dem blaue Augen hervorstrahlten. Sein Blick war kalt und emotionslos, doch in ihm lag etwas, das Lirinda nicht genau zu beschreiben vermochte, sie aber in ihrem tiefsten Innern berührte. Wie ferngesteuert ging sie auf den Unbekannten zu.
    Als dieser sah, dass sie ihm folgte, kehrte er um und in sein Fluggerät zurück. Willenlos trat auch Lirinda ein, und die Öffnung schloss sich hinter ihr.
    Erst jetzt registrierte sie, was geschehen war, und wirbelte herum. Das Material, das von außen so lichtundurchlässig wirkte, war von innen absolut durchsichtig, sodass Lirinda sehen konnte, wie sie sich von der Plattform entfernte. Gerade drängelte sich Carassa durch die Menge und rief etwas Unhörbares. Ob sie gesehen hatte, wie ihre Freundin eingestiegen war?
    Als die Tore der Luftschleuse Lirinda die Sicht auf den Hafen nahmen, drehte sie sich zu ihrem Entführer um. „Was soll das?“, keifte sie und lief auf ihn zu. „Wohin fliegen wir?“
    „Gaya“, erwiderte der Fremde nur, als sich die Schleuse nach außen öffnete und sie in den Weltraum entließ. Sofort flog der Kristall los, schneller als jede Schwebebahn, und doch spürte Lirinda nicht im Geringsten die Beschleunigung.
    Doch das fiel ihr kaum auf, so verblüfft war sie über die Antwort auf ihre Frage. Ihr Verstand brauchte einen Augenblick, an der klanglosen Stimme des Fremden Halt zu finden. Dann erst begriff Lirinda das Wort. „Gaya ist tot“, sagte sie mit aller bitteren Bestimmtheit, die sie aufbieten konnte. „Die Menschen haben sie umgebracht – vor über eintausend Jahren!“
    „Das haben sie“, bestätigte ihr Gegenüber schlicht. „Strecke deine Hand aus“, befahl er.
    Lirinda dachte gar nicht daran, einem nackten Mann zu gehorchen, und beschloss, zu rebellieren. Doch wieder bemächtigte sich ihrer eine höhere Macht, und ihre Hand hob sich von selbst. Der Fremde legte die seine gegen ihre, sodass sich die Flächen berührten. Ein schwaches Licht leuchtete dazwischen auf. Irgendwas kroch an Lirindas Fingern entlang, das sich kribbelnd durch ihre Haut zog. Ihr Reflex, die Hand zurückzuziehen, war ebenso unterdrückt wie die entsprechende ganz bewusste Geste.
    Endlich ließ der Unbekannte ihre Hand frei; Lirinda ging in die Knie und betrachtete entsetzt das Linienmuster auf ihrer Haut, das dem seinen bis auf die Farbe glich: ihres schimmerte regenbogenfarben. „Was… ist das?“, presste sie hervor.
    „Der Schlüssel zu Gaya“, antwortete der Fremde und deutete nach oben. Sein seltsames Raumschiff schwebte jetzt auf der aktuellen Tagseite der Erde genau über dem Großen Riss, wo es kaum Satellitenstädte gab. Außerdem schien es näher zu sein, als jede Stadt der Erde kommen durfte, wegen der Gefahr, Opfer des Gravitationsfeldes des Planeten zu werden und abzustürzen.
    Lirinda wagte kaum zu atmen. Der Große Riss, der Schandfleck der Menschheit. Er zog sich fast über die ganze Länge von Pol zu Pol, war entstanden durch die erhöhte Plattentektonik aufgrund der vielen Atomexplosionen. Aus ihm trat stetig bedrohlich pulsierende Lava wie Blut aus einer schrecklichen Wunde. So entsetzlich die Zerstörung durch die Nuklearwaffen auch gewesen war – diese freigelegte Hölle war es gewesen, die die Atmosphäre verbrannt und Gaya gänzlich vernichtet hatte, die die Biosphäre, ungezählte Tier- und Pflanzenarten und Milliarden Menschen das Leben gekostet hatte. Lirinda hatte Aufnahmen von Forschungssatelliten gesehen, doch den Riss vor sich zu haben, war grauenhafter, als sie je befürchtet hatte. Zitternd wandte sie den Blick ab.
    „Ich bin der Reisende“, stellte sich nun endlich der Unbekannte vor. „Ich bin der letzte Lebende, der Gaya gesehen hat.“ Wieder deutete er nach oben, und wieder zog etwas Lirindas Blick dorthin.
    Aber es war nicht die Erde zu sehen, wie sie in all ihrer tödlichen Pracht durchs All trieb – sondern eine gigantische blaue Murmel, so wunderschön, dass Lirinda die Tränen kamen. An die azurblauen Ozeane schlossen sich smaragdgrüne und goldbraune Kontinente an, alles überzogen von feinen weißen Wolken. Sie sah zum Reisenden und erkannte endlich, was sie an seinen Augen so fasziniert hatte: Sie hatten dieselbe Farbe wie Gaya.
    „Seit anderthalb Jahrtausenden, seitdem der Mensch die Erde verschmutzt, fliege ich unerkannt um die Erde“, erzählte er, „um der Menschheit eines Tages das Geschenk zu überreichen, das ihr von einer anderen Spezies gegeben worden ist. Die sich in ihr wiedererkannte und helfen wollte. Und nun ist meine Reise zu Ende.“ Er hob wieder den Finger nach oben, zur Erde. Lirinda fiel auf, dass das Muster auf seiner Hand verschwunden war – im gleichen Maße, wie es sich auf ihrer Hand ausgebreitet hatte. „Dies ist leider nur ein Hologramm, das Gaya vor ihrer Zerstörung darstellt, gespeist aus meiner Erinnerung. Sie kann wieder so werden, durch dich.“ Jetzt zeigte er auf ihre Hand. „Dieses Geschenk gibt dir die Macht, Materie beliebig zu verändern und zu manipulieren.“
    „Manipulieren?“ Lirinda rieb sich unbewusst die Handfläche. Was war hier nur los?
    Der Reisende nickte. „Wie du weißt, baut sich alles aus Atomen auf, und diese wiederum bestehen aus noch viel kleineren Bausteinen. Und diese können, neu angeordnet, andere Arten von Atomen hervorbringen. Es ist möglich. Versuche es.“
    Sie war sich nicht ganz sicher, ob sie ihn verstanden hatte, blickte aber trotzdem auf den Glasboden vor ihr. Was erwartete er denn von ihr? Sie hatte nicht einmal Ahnung, was hier gespielt wurde, und sollte jetzt etwas tun, das sie nicht begriff? Natürlich war ihr seine Erläuterung der Nuklearphysik bekannt, doch bislang war es noch niemandem gelungen, stabile Elemente aus Atomen eines anderen Elements herzustellen.
    Dennoch… Wenn er Recht hatte, und Gaya wiederhergestellt werden konnte, so unglaublich das auch klang, musste sie tun, was er sagte.
    Lirinda schloss die Augen und streckte die Hand vor, die Fläche nach unten. In ihrem Geist bildete sich das Bild einer Blume, wie es sie auf der Erde gegeben hatte. Da sie so klein, unscheinbar und wenig nützlich war, hatte man sie nicht in den Index der Satellitenstädte aufgenommen, auch wenn ihre DNA in digitaler Form existierte. Bellis perennis hatte man sie genannt, Gänseblümchen. Wie gerne wollte Lirinda dieses schlichte kleine Pflänzchen einmal sehen!
    Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie warten musste, bis etwas geschah, geschweige denn, ob überhaupt etwas geschehen würde. Schießlich öffnete sie die Augen, glaubte aber zuerst, einer weiteren Illusion des Reisenden aufzusitzen. Vor ihr wuchs aus dem massiven Glas tatsächlich ein Gänseblümchen! Obwohl es kaum einen erkennbaren Geruch von sich gab, kam er Lirinda dennoch aufdringlich intensiv vor. „Ist… ist sie echt?“, fragte sie verwundert.
    „So echt, wie du sie dir vorgestellt hast“, antwortete der Reisende kryptisch. „Das ist aber nur ein winziger Bruchteil dessen, was du zu tun vermagst. Die Energie, die dafür nötig ist, erhältst du aus deinem innigen Wunsch, Gaya wiederzuerwecken. Doch das wird nicht ausreichen.“ Zum ersten Mal blickte er selbst nach oben und schien sich im Anblick des blauen Planeten zu verlieren. „Um das wiederherzustellen, brauchst du ungleich mehr Energie. Mit jedem Mensch, den du von heute an mit dieser Hand berührst, wirst du eine Verbindung eingehen, ein mentales Band, das dir Energie liefert, wenn er vom selben Wunsch beseelt ist wie du. Wenn alle Menschen diesen Wunsch haben und du mit ihnen allen verbunden bist, wirst du in der Lage sein, Gaya wieder ins Leben zurückzuholen. Aber sei gewarnt: Solltest du deine Macht je für ein anderes Ziel als dieses anwenden wollen, wirst du sie augenblicklich verlieren!“
    Lirinda schwirrte der Kopf von dem, was der Reisende ihr eröffnete. Sie dachte an den Großen Riss. Sollte allein der Wunsch dazu ausreichen, diese klaffende Wunde zu heilen?
    Sie betrachtete das regenbogenfarben schimmernde Muster auf ihrer Hand. Es war nicht allein der Wunsch – sondern auch dieses sonderbare Geschenk, das dem Wunsch als Kanal zu seiner Verwirklichung diente.
    „Hätten damals, vor Gayas Tod, alle Menschen danach gestrebt, sie zu erhalten, wäre dies alles nicht geschehen“, resümierte der Reisende und klang dabei fast melancholisch. „Aber es ist nunmal passiert. Jetzt gilt es, den Fehler wiedergutzumachen. Es sind nicht viele, die das wollen – doch du musst dennoch ihr Sprachrohr sein, Lirinda Maraca Gondon.“
    Überrascht horchte Lirinda auf. Woher kannte der Reisende ihren vollen Namen, der aus ihrem und den Vornamen ihrer Eltern bestand? Andererseits saß sie in einem Raumflieger, der nur aus Glas zu bestehen schien, und blickte auf einen Planeten, den es so nicht mehr gab, und sprach mit einem eintausendfünfhundert Jahre alten Mann. Eigentlich dürfte sie gar nichts mehr wundern.
    „Es ist eine große Aufgabe, die dir verliehen wurde“, sprach der Reisende weiter. „Aber du wirst nicht ohne Unterstützung sein.“ Was genau er damit meinte, verschwieg er aber.
    Lirinda hatte gar nicht bemerkt, dass das Raumschiff wieder losgeflogen war, die tote Erde umrundet und die Docks der Satellitenstadt Eta-IV erreicht hatte. Es tauchte in die Luftschleuse ein, und als sich deren innere Türen öffneten, flog es in den Hafen.
    Die Schaulustigen hatten sich noch nicht von der Plattform entfernt, wahrscheinlich über das seltsame Ereignis unterhalten. Jetzt starrten sie wieder, als der schwarze Kristall näher kam und erneut seine Rampe ausfuhr. Lirinda stand vor dieser und blickte hinab. Was die Menschen wohl sagen würden, wenn sie jetzt wieder hier auftauchte? Sie drehte sich zu dem Reisenden um, der sie ausdruckslos musterte. Eigentlich hatte sie eine kleine Geste von ihm erwartet, ein Nicken, das ihr Mut machen sollte, hinaus in die Welt zu gehen und ihre ungeheuerliche Aufgabe zu erfüllen. Doch er scheuchte sie nicht einmal aus seinem Fluggerät, sondern wartete geduldig, bis sie von selbst ging.
    Lirinda seufzte und trat auf die Rampe hinaus in das kalte Kunstlicht, das hier herrschte. Kaum, dass sie mit beiden Beinen auf der Plattform stand, zog sich das schwarze Glas zurück, das Loch im Kristall schloss, das Fluggerät entfernte sich. Wahrscheinlich würde es wieder durch die Schleuse in den Weltraum zurückkehren, doch Lirinda kam nicht dazu, auch diesen Vorgang zu beobachten.
    „Lirinda!“ Carassa rief ihren Namen so laut, dass er vielfach im Hafen widerhallte, und fiel ihrer Freundin stürmisch um den Hals. Geistesabwesend umarmte Lirinda sie ebenfalls und berührte mit der bemusterten Hand deren freie Schulter.
    Ein leichter Stromschlag fuhr durch Lirindas Arm, und sie löste sich aus der Umarmung. „Lirinda, ist alles in Ordnung?“, fragte Carassa ehrlich besorgt, doch die Angesprochene antwortete nicht. Die Augen ihrer Freundin, die normalerweise violett und gelb gefleckt waren, schimmerten jetzt in einem unheimlichen Graubraun. Lirinda blinzelte, und die Illusion verflog. Sie wusste, dass Carassa das Schicksal Gayas herzlich egal war. Ob die braune Verfärbung Indikator dafür war?
    Lirinda ließ den Blick über die Menge schweifen, die sich eingefunden hatte. Es war ein solides Leben, das sie führten, und kaum einer von ihnen dürfte den Drang verspüren, auf eine Erde zurückzukehren, die schon lange gestorben war. Geschweige denn, dass sie sich verantwortlich dafür fühlten, einen Schaden zu beheben, den sie nicht verursacht hatten. Bei wie vielen von ihnen würden die Augen so ozeanblau erstrahlen wie die des Reisenden, wenn Lirinda sie berührte? Wie sollte sie schon bei dieser Mentalität genug Energiequellen zusammenbekommen, um Gaya wiederzubeleben?
    Die meisten Menschen mochten zwar nicht ihren Wunsch im Herzen tragen, dies zu vollbringen – doch das bedeutete noch lange nicht, dass Lirinda ihnen diesen nicht einpflanzen und in ihnen heranwachsen lassen konnte. Immerhin hatte sie ein Gänseblümchen aus dem Nichts in Glas wachsen lassen.
    „Mitmenschen“, sagte sie, und ihre Stimme tönte laut und voll über die Menge hinweg, sodass jeder sie hören konnte. „Wir haben den Boden unter den Füßen verloren, und unsere Wurzeln sind darin vertrocknet. Doch gemeinsam können wir es schaffen, sie wieder gedeihen zu lassen …“
    [tab=Monny!]Im Mondschein


    Heute um Mitternacht werde ich dem Mondhasen
    im Schein seines großen Bruders die Schönheit rauben.
    gezeichnet: Jeanne die Kamikazediebin


    Im Licht der Nacht werde ich noch heute den Hasen befreien,
    den der Vollmond beschützt.
    Kaito Kid


    Im stockfinsteren Belüftungsschacht robbte Jeanne dem Blinken hinterher, das ihr Rosenkranz von sich gab und immer schneller wurde. Ganz hier in der Nähe war der Dämon, das spürte sie sogar auf der Haut. Natürlich hatte sie auch einen Bauplan des Kunstmuseums genauestens studiert, um jeglichen Zweifel auszuräumen, doch sie konnte nie wissen, was Miyako im Schilde führte. Aber wie sie ihre Freundin richtig eingeschätzt hatte, hatte diese die Fallen dort bereitet, wo Tsuki no Usagi, der Mondhase, normalerweise ausgestellt wurde. Noch hatte Jeanne keine Ahnung, welche Fallen das waren, aber sie war wie immer zuversichtlich, dass sie sie überlisten würde.
    Während sie durch die Dunkelheit kroch, dachte sie an die Probleme ihres anderen Lebens. In einem Apartment auf der Etage, in der auch Maron lebte, war ein neuer Bewohner eingezogen. Obwohl er nicht älter als siebzehn schien, lebte er allein, wie sie und Chiaki. Seinen Vornamen kannte Maron nicht; sie hatte noch nicht mit ihm gesprochen. Von dem Namensschild an seiner Tür wusste sie, dass sein Nachname Kuroba lautete. Doch etwas anderes beunruhigte sie. Stets, wenn sie ihre Wohnung verließ, lungerte er im Treppenhaus herum und grinste dabei, als wüsste oder plane er etwas. Sein Stalkergehabe kam ihr noch extremer vor als das von Chiaki. Ob der Böse König ihn geschickt hatte?
    Endlich kam Jeanne an dem Gitter an, durch das sie in den Ausstellungsraum des Hasen gelangen würde. Sie spähte durch die Stäbe. Im Schein des Vollmonds war nichts im Zimmer zu sehen, das auf eine von Miyakos Fallen hindeutete. Keine Lichtschranken und auch keine versteckten Schalter. Aber das musste natürlich noch lange nichts bedeuten. Der Raum war spärlich eingerichtet, enthielt nicht mehr als den Schaukasten, in dem der Mondhase ausgestellt war. In dem silberlichtdurchfluteten Zimmer gab es keine Versteckmöglichkeit für Polizisten. Das bestätigte sich, als draußen ein Hubschrauber vor dem Fenster vorbeiratterte und ein Scheinwerfer das Innere für kurze Zeit beleuchtete. Aus irgendeinem Grund war vor dem Gebäude mehr Trubel als sonst, wenn sie ihre Diebstähle vollzog.
    Jeanne entfernte leise das Gitter und ließ sich durch die Öffnung in den Ausstellungsraum fallen, richtete sich aber sogleich wieder auf, um eventuell ausgelösten Fallen entgehen zu können.
    Doch nichts geschah. Kein verräterisches Klicken zeugte von einem aus der Decke fallenden Käfig oder etwas anderem.
    Merkwürdig, dachte Jeanne misstrauisch und trat vorsichtig an den Schaukasten heran. Der Rosenkranz piepste wie durchgedreht, aber es schien, als habe er sich um eine Winzigkeit verlangsamt, als sie sich vom Fenster entfernt hatte. Die Diebin beugte sich über den Glaskasten. Der Usagi saß darin wie ein lebender Hase, doch der Dämon, der in ihm Einzug gehalten hatte, zeigte sich nicht. Sie legte die Hände an beide Seiten des Kastens und wollte ihn gerade anheben, als erneut ein Helikopterscheinwerfer ins Zimmer flutete.
    An der Wand zeichnete sich ein menschlicher Schatten ab. Außer dem ihren.
    Sofort wirbelte Jeanne herum, jederzeit bereit, dem vom Dämon besessenen Menschen gegenüberzutreten. Zuerst war sie geblendet, da der Hubschrauber in der Luft schwebend innegehalten hatte. Doch als sich ihre Augen an das grelle Licht gewöhnt hatten, erkannte sie, wer da am Fenster stand: Ein junger Mann in einem eleganten Anzug, mit langem Cape und einem lächerlich hohen Zylinder, alles in strahlendem Weiß. Er entriegelte das Fenster und schob die Flügel weit auf. Wind, vom Helikopter aufgewirbelt, wehte herein und brachte seinen Umhang zum flattern. Dann wandte er sich Jeanne zu.
    Sowie sie seine Augen sah, das eine durch ein Monokel verglast, erkannte sie, dass er unmöglich der Besessene sein konnte. Dennoch verrieten ihr der Rosenkranz und das Kribbeln auf der Haut, dass der Dämon in seiner Nähe war.
    „Tut mir sehr leid“, sagte der Unbekannte wenig bedauernd, „aber der Mondhase ist bereits davongehoppelt. Das im Kasten ist nur eine Attrappe, um die Falle nicht auszulösen, die auf sein Gewicht reagiert.“
    Überrascht blickte Jeanne in den Glaskasten. Diese Art von Falle hatte Miyako noch nicht angewandt. Doch sie war hier, um den Dämon zu bannen, daran würde er sie nicht hindern! „Ich wäre dir sehr verbunden, wenn du mir das Original trotzdem gäbest“, sagte Jeanne zu dem Fremden, ahnte jedoch, dass das wenig Wirkung zeigen würde.
    Wie erwartet grinste ihr Gegenüber selbstgefällig. Irgendetwas an diesem Gesichtsausdruck kam ihr bekannt vor, doch sie konnte nicht sagen, was und woher. „Ich bin doch nicht extra den weiten Weg hierher gereist, um mir den berühmten Tsuki no Usagi durch die Lappen gehen zu lassen. Oh nein. Nicht einmal ein Gotteswind oder dieses doppelte Polizeiaufgebot von Nakamori und Todaiji wird mich davon abhalten.“
    Jeanne horchte auf. Woher kannte er die Bedeutung ihres Künstlernamens Kamikaze?
    Der Weißgewandete sah aus dem Fenster, und Blitzlichtgewitter brandete zu ihm auf. Waren da unten etwa Journalisten? „Weißt du, vieles an deiner Situation erinnert mich an die meine“, meinte der Unbekannte melancholisch. „Deine beste Freundin, die Tochter des ansässigen Polizeichefs, wünscht sich nichts mehr, als dich hinter Schwedische Gardinen zu bringen. Und du musst alles dafür tun, damit sie deine wahre Identität nicht herausfindet.“ Er hob den Blick und sah sie mit einem Funkeln in den Augen an. „Habe ich nicht recht, Maron Kusakabe?“
    Entsetzt wich Jeanne zurück und fing zu zittern an. „W-woher …?“, stammelte sie, versuchte aber, ruhig zu bleiben. Wie nur hatte dieser aufgeblasene Angeber ihren Namen herausgefunden? War er etwa ein Spion des Bösen Königs?
    „Keine Angst“, sagte er beschwichtigend. „Ich werde deine Identität den Proleten da unten nicht verraten. Sagen wir es mal so, als Arbeitskollegen sollten wir uns nicht gegenseitig ausliefern.“
    Jeanne verstand. Er ging davon aus, dass auch sie sein wahres Gesicht kannte, oder wollte ihr zumindest auf die Sprünge helfen. Er spielte mit ihr! „Wer bist du?“, fragte sie, auch wenn sie wusste, dass es ihr zum Nachteil gereichen würde.
    „International bin ich unter der Nummer 1412 bekannt“, antwortete der Unbekannte. „Aber dort, wo ich herkomme, nennt man mich Kaito Kid!“
    Kaito Kid?“, wiederholte Jeanne ungläubig. Also war er auch ein Dieb!
    Kids Blick fiel hinter sie, und erneut zauberte sich ein Lächeln auf sein Gesicht. „Ah, dein Freund ist endlich eingetroffen.“
    Auch Jeanne sah sich jetzt nach dem Quietschen um, das hinter ihr ertönte. Die Tür in den Ausstellungsraum öffnete sich, und Sindbad in Begleitung des Schwarzen Engels Access stürzte herein. Hinter ihm hechteten Polizisten den Gang entlang, doch er wirbelte herum und verriegelte die Tür mit einem Boomerang. „Jeanne, hast du schon den Däm-“ Als Sindbad Kaito Kid bemerkte, verstummte er augenblicklich. Es war nicht gerade ratsam, im Beisein von Zivilisten über Dämonen zu reden. „Wer zum Geier bist du denn?!“, polterte der Dieb.
    Doch Kid grinste nur noch breiter. Ohne auf Sindbad zu achten, sprach er wieder mit Jeanne: „Da ich ein Gentleman-Gangster bin, will ich dir als kleine Wiedergutmachung das hier geben.“ Er schnippte mit den Fingern, und scheinbar aus dem Nichts tauchte eine rote Rose in seiner Hand auf, die er Jeanne hinüberwarf.
    Sie fing die Blume zwar auf, ließ ihr Gegenüber aber nicht aus den Augen. Dieser Austauschdieb hatte doch keine Ahnung, wie wichtig es war, dass sie den Hasen bekam! Vielleicht hatte der Dämon ja noch keinen Menschen in Besitz genommen, und er könnte sich dazu entscheiden, Kid zu befallen.
    „Wie es aussieht, ist auch mein Kumpel heute anwesend.“ Kid sah aus dem Fenster zu der Menschenmenge hinunter. Etwas abseits stand ein kleiner Junge und blickte mit grimmig-entschlossener Miene zu ihm herauf. Mondlicht spiegelte leicht in seiner Brille. „Nun denn, ich muss dann mal“, verabschiedete sich der Weiße Dieb und schnippte wieder mit den Fingern.
    Jeanne zuckte zusammen, als plötzlich Rauch aus der Blume in ihrer Hand hervorquoll und ihr die Sicht nahm. Das Piepsen des Rosenkranzes wurde langsamer, als der Dämon sich entfernte. „Das lasse ich nicht zu!“, rief sie und rannte zum Fenster. Kid glitt über die Menge hinweg, die sich vor dem Kunstmuseum versammelt hatte, getragen von einem weißen Gleiter auf seinem Rücken. Ohne Zögern warf Jeanne ihr Band aus, das sich um seinen Fuß wickelte und den Flug des Diebs zum Schlingern brachte. Plötzlich schoss von unten fast senkrecht etwas in den nachtschwarzen Himmel und zerstörte einen Flügel des Gleiters. Jeanne sah dem Objekt hinterher, das dem Vollmond auf seltsame Weise ähnelte. Ein Fußball?!
    „Jeanne, der Dämon!“, rief Sindbad hinter ihr. Kaito Kid stürzte soeben ab, doch dabei hatte er die Hasenskulptur verloren. Im Silberlicht funkelte der Mondstein, aus dem er bestand, bläulich. Ein schwarzes Flackern umgab das Kunstwerk, als der Dämon hervorbrach. Unter ihm waren gerade genug Menschen, unter denen er sich ein Opfer erwählen konnte.
    Jeanne umfasste den Griff ihres Bands fester. „Im Namen des Herrn…“, begann sie ihren Bannspruch, wurde aber von etwas unterbrochen, das so haarscharf an ihrem Gesicht vorbeizischte, dass sie den Luftstoß fühlen konnte. Ein schwarzer Pin traf den Hasen und bannte den Dämon augenblicklich.
    „Bis du deinen Zauberspruch aufgesagt hast, ist es zu spät“, rechtfertigte Sinbad seine Tat. Access flog aus dem Fenster, um den entstandenen schwarzen Springer aufzufangen.
    Jeanne hingegen blickte nur hinunter.
    Dort, wo Kaito Kid abgestürzt sein musste, bildete sich eine Menschentraube. Doch der Magier mit den tausend Gesichtern war bereits in der Masse untergetaucht.[tab=Inny!]Inschrift


    Hier ruht Ramoth, Geist der Sonne, auf immer im Wüstensand gefangen und seine Flammen erstickt. Groß war seine Macht, schrecklich sein Zorn. Wo er wütete, brannten die Häuser der Menschen darnieder.
    So banne ihn dies Siegel bis in Ewigkeit, auf dass sein Feuer die Welt nie mehr heimsuche. Die Seelen seiner Opfer, Könige wie Bauersleute, sollen jeden davon abhalten, dies Unheil erneut zu erwecken. Sein Palast soll niemals wieder von menschlichem Fuß betreten werden.
    Und wer dennoch bis in diese Halle vordringt, höre auf diese Warnung: Lasse ab von dieser Macht, die sich nur durch sich selbst kontrollieren lässt!
    [/tabmenu]

  • [tabmenu][tab=OMFD?!]Jener Ankündigung der etwas längeren Kurzgeschichte kann ich noch nicht nachkommen. Zuerst muss ich noch ältere Texte loswerden .,. DIe hab ich zum Teil fast ganz vergessen...


    Numero uno ist "Seelenlicht", ein Text für einen Wettbewerb (oh Wunder), namentlich Best of all Generations. Man bekam fünf Pokés vorgesetzt, die man in die Handlung einbauen sollte. Das ist mein Ergebnis ~ Trotz der knuffigen und liebenswerten Pokémon doch ziemlich dramatisch xD


    Das Zweite ist Glückskinder, ein Gedicht, das beim zugehörigen Wetti den ersten Platz abstaubte <3 *knuddlit* Zuerst wollte ich ein Gedicht über die Geschichte von Orihime und Hikoboshi (Grundlage des chinesischen und japanischen Tanabata-Festes) schreiben, dann eins zu Nanatsu no Ko (Die Sieben Kinder, ein wunderschöntrauriges japanisches Kinderlied). Daraus ergaben sich dann halt diese Kinder lol


    Zum Schluss nochmal Kinder, nämlich "Sternenkinder", ein Weihnachtsgedicht, das schon über ein Jahr alt ist. Ich weiß, es is nichmehr Weihnachten, aber online stellen will ichs trotzdem x3


    Und das nächste Mal kommt dann der Walltext .___.[tab=Seele]Seelenlicht


    „Kinder, ich kann die Insel sehen!“
    Unter anderen Umständen hätte Blanas eine schnippische Bemerkung zurückgeworfen, dass er schon lange nicht mehr als Kind galt und zumindest Ariados von ihnen allen erwachsen war. Aber im Moment brachte er nicht die Kraft dazu auf, irgendetwas zu sagen – zumal man einem alten Weisen, sei es auch ein Relaxo, nicht widersprach. Er streckte sich und versuchte im Dunst der Entfernung die Insel auszumachen, die sie schon seit dem Morgen ansteuerten. Hätte Relaxo ihn nicht darauf aufmerksam gemacht, er hätte den blassen Streifen Land am Horizont gewiss übersehen. „Bald sind wir da“, munterte er Pantimimi auf, die an ihn gelehnt die Hand um das Zauberwasser gelegt hatte, das sie an einer Kette am Hals trug. Das magische Objekt bewahrte sie alle vor dem Meer, das um sie herum in sanften Wogen auf und abwankte. Doch der Schein trog. Jeden Augenblick konnte es sie mit einer gewaltigen Welle verschlingen, wenn nicht das Zauberwasser wäre, dessen Schutzschild die Passagiere auf dem schwimmenden Relaxo behütete. Pantimimi antwortete nicht, so geschwächt war sie von der Aufrechterhaltung des Bannkreises, aber immerhin öffnete sie kurz die Augen und lächelte erschöpft.
    Blanas, Pantimimi, Ariados, Folikon und Relaxo waren einige der wenigen ihrer Heimatinsel, die noch nicht an dem gefährlichen Fieber erkrankt waren, das unter ihren Freunden und Bekannten so verheerend seine Runde gemacht hatte. Außer ihnen gab es nur noch alte und ohnehin schwache Pokémon, die bisher eigentlich nur Glück gehabt hatten, dass die Krankheit nicht auch noch sie heimgesucht hatte. Der Hüter des Zauberwassers Simsala, Ältester der Insel und Pantimimis Lehrmeister, war ebenfalls noch gesund, jedoch unentbehrlich für ihre Insel. Die große Schale mit dem Zauberwasser, das den kleinen Flecken Land vor der Vernichtungswut des Ozeans beschützte, konnte ihre Aufgabe nur ausführen, wenn er anwesend war und ihre Magie lenkte. So waren sie fünf die einzigen, die zur nächsten Insel gelangen konnten, um Hilfe anzufordern.
    Seit einigen Jahren war das eigentlich immer vorhandene Zauberwasser langsam aber stetig weniger geworden, und das Meer hatte um die Insel im gleichen Maß an Kraft gewonnen. Einige Strände waren schon völlig überspült, und wo es einst Häuser und Felder gegeben hatte, schwappte nun das Salzwasser gegen Sandbänke, die es sich selbst auftürmte. Die Schutzwälle, die sie errichtet hatten, waren nur ein Tropfen auf dem heißen Stein gewesen, denn das Meer hatte sie alsbald ohne Mühe abgetragen. Das Fieber kam alle Jahre wieder, war aber weiter eigentlich kein Problem, solange die entsprechenden Heilkräuter wuchsen, doch diese vertrugen keinen zu übersalzten Boden. Ihre Vorräte gingen zur Neige, und sie brauchten dringend Nachschub. Von dem verschwindenden Zauberwasser ganz zu schweigen, doch das konnten sie anderen Inseln auch nicht nehmen. Die brauchten es schließlich selbst zum Schutz gegen den Ozean. Da musste später noch eine andere Lösung her…
    Glaubt ihr wirklich, ihr könntet mich so einfach daran hindern, auch noch das letzte bisschen Land eurer kümmerlichen Welt zu verschlingen?, erklang die boshafte Stimme, die Blanas schon seit Beginn ihrer Reise vernahm. Er schien der einzige zu sein, der sie hörte. Seht es doch ein, dass ihr dem Untergang geweiht seid! Er legte den Arm um Pantimimi, die wieder eingeschlafen war – zumindest hoffte er, dass sie nur schlief, denn wenn ihre Seele ihren Körper verließ, wären auch die anderen nicht weit vom Tod entfernt – und redete sich Mut zu. Sie würden es schaffen, wenn er sich nicht von den Drohungen des Meeres einlullen ließ.
    Plötzlich fing Pantimimi neben ihm zu zucken an, als jagten tausende Blitze durch ihren Körper. Er hatte Mühe, sie ruhig zu halten, und ahnte, dass sie drauf und dran war, gegen den Ozean zu verlieren.
    „Was ist los da oben?“, fragte Relaxo, auf dessen Bauch sie reisten. Eigentlich wollte Blanas zurückrufen, doch schon im nächsten Moment schaukelte Relaxo so heftig, dass eine Antwort unmöglich wurde: Direkt neben dem treibenden Riesen hatte sich das Meer aufgetan, und ein gewaltiger Mahlstrom versuchte, sie an sich zu ziehen.
    „Relaxo, du musst abdrehen!“, rief Blanas panisch zu ihm herunter und hielt Pantimimi fest an sich gepresst, damit sie nicht runterfiel, hatte aber arge Mühe, sich selbst dieses Schicksal zu ersparen. Dasselbe tat Ariados mit der total verängstigten Folikon. Doch so sehr Relaxo es auch versuchte, gegen den Sog anzuschwimmen, es gelang ihm nicht. Quälend langsam saugte das Meer an ihnen, immer weiter auf seinen Schlund zu. Die Stimme hatte recht, dachte Blanas, die letzte Hoffnung ihrer Insel würde hier und jetzt mit ihnen sterben…
    Im letzten Moment, bevor sie das Herz des Mahlstroms erreichten, schlug Pantimimi plötzlich die Augen auf. Von ihnen ging ein grelles, bläuliches Glühen aus, und eine Blase von derselben Farbe bildete sich um Relaxo und seine Passagiere. Sie gingen unter, doch der Schutzschild hielt das schäumende, schwarze Wasser davon ab, seine Schützlinge zu töten. Aber das behinderte es auch nicht weiter. Wie ein junges Spoink, das mit seiner Kugel spielt, warf es sie in alle Richtungen und schüttelte sie so heftig, dass Blanas mit einem Schlag auf den Kopf das Bewusstsein verlor…


    Als er wieder zu sich kam, hatte sich die Szenerie verändert. Sie waren nicht mehr unter Wasser, in den todeswütigen Fluten, sondern trieben wieder so ruhig auf ihnen, als sei nie etwas geschehen. Doch obwohl es noch Tag sein musste, war es beinahe stockfinster; überdichte Nebelschwaden hielten alles Licht ab und verbargen das, was sich in nur wenigen Metern Entfernung befand. Blanas sah sich auf Relaxos Bauch um. Folikon und Ariados waren ebenfalls ohnmächtig geworden, erwachten jetzt aber ganz langsam. Die große rote Spinne schien verletzt zu sein. Pantimimi lag nach wie vor in seinen Armen, die Hand immer noch fest um das Zauberwasser geschlossen. Sie war kreidebleich und bewusstlos. Hoffentlich.
    „Relaxo, bist du wach?“, fragte er nach unten und wagte einen vorsichtigen Blick über die Wölbung des riesigen Bauches.
    „Die ganze Zeit“, erklang die Antwort von dort. „Aber ihr wahrt nur ein paar Minuten bewusstlos. Das Meer hat uns bald wieder ausgespuckt.“
    So locker, wie er das sagte, konnte man fast meinen, sie seien gar nicht in Lebensgefahr. „Warum schwimmst du nicht mehr?“, wollte Blanas wissen und blickte unsicher zu den beiden Käferpokémon. „Ariados ist verletzt und braucht Hilfe, wir müssen die Insel so schnell wie möglich erreichen!“
    „Und wie stellst du dir das vor? Das Wasser hat uns in alle Richtungen geworfen, und der Nebel versperrt mir die Sicht. Selbst wenn die Insel nur noch ein paar Meter entfernt wäre, würde ich in die richtige Richtung schwimmen? Ich weiß nicht, wohin ich mich wenden soll. Es ist aus“, fügte er nüchtern hinzu, als habe er sich schon seit ihrem Aufbruch mit dieser Tatsache abgefunden.
    „Nein, ist es nicht!“, begehrte Blanas auf, obwohl er eigentlich wusste, dass Relaxo recht hatte. Verzweifelt suchte er nach etwas, woran er sich psychisch festhalten konnte, und fand es schließlich in Pantimimi. Wenn sie die Macht des Zauberwassers anrufen würde, könnte sie den Nebel vertreiben. Vorsichtig beugte er sich über sie und betrachtete ihr aschfahles Gesicht. Täuschte er sich oder konnte er wirklich keinen Atem mehr von ihr hören? Plötzlich in Panik versuchte Blanas, die klammen Finger von dem Amulett um Pantimimis Hals zu lösen, bereute es aber sofort, als er den Anhänger sah: Der tropfenförmige Kristall hatte einen breiten Riss, und das Zauberwasser in ihm war durch diesen hinausgeflossen.
    Mit einem Mal kam ihm die Erkenntnis, die Relaxo schon seit Stunden hatte. Das Zauberwasser hatte sich verflüchtigt, ihr letzter Schutz vor dem mörderischen Ozean war damit verschwunden. Sie würden es nie zur nächsten Insel schaffen, geschweige denn die ihre vor dem steigenden Meeresspiegel retten…
    Ganz langsam öffnete Pantimimi die Augen, als ob sie die Verzweiflung ihres Freundes gespürt hätte. Sie sah ihn traurig an, lächelte aber dabei. Schließlich fielen ihr die Augen wieder zu, und ihr Körper erschlaffte. Ihre Seele entfloh ihren immer noch lächelnden Lippen in Form eines kleinen, sternenähnlichen Lichts und stieg in den Nebel hinauf. Fassungslos starrte Blanas hinterher, unfähig, irgendetwas zu tun oder auch nur zu begreifen, dass Pantimimi gerade gestorben war.
    Doch sie war nur die erste. Kaum, dass der Schutz des Zauberwassers mit ihrem Tod nun endgültig vergangen war, schoss aus dem Meer ein Tentakel aus Wasser hervor und umschlang Ariados. Folikon schrie verzweifelt auf, doch die Spinne wurde bereits von dem Tentakel fortgerissen. Der Nebel verbarg zum Teil, wie ein zweiter hinzukam und mithilfe des ersten ihr gemeinsames Opfer in zwei Hälften zerteilte. Dann wurde es wieder ruhig, nur Folikon rief dem Wasser wütende Beleidigungen entgegen, die jedoch auch nichts mehr gegen den Verlust ihres Freundes bringen würden.
    Und die Ruhe war ebenfalls nur gespielt. Der Ozean genoss es, sie leiden zu sehen, weidete sich daran, dass sie an der Gewissheit, bald sterben zu müssen, den Verstand verloren. Er spielte ein grausames Spiel mit ihnen, nun nicht mehr wie ein Spoink, sondern wie ein Ibitak mit einem Waumpel…
    Blanas konnte es durch Nebel und Tränen fast nicht sehen, aber spüren. Vor ihnen türmte sich das Wasser zu einer Wand auf, die lautlos heranrollte. Und sie waren ihr machtlos ausgeliefert, als sie sich über sie wölbte, um auch ihre Seelenlichter einzufordern.[tab=Glück]Glückskinder



    Es war einmal, vor langer Zeit:
    In einem Land, von hier nicht weit,
    lebten zwei Findelkinder klein
    im gülden strahlend‘ Sonnenschein.


    Der Vater tot, die Mutter fort,
    kannte ein jeder sie im Ort
    aufgrund geschehener Dinge
    als die Glücklichen Zwillinge.


    Das erste Glück lag auf der Pirsch:
    Begegnung mit dem stolzen Hirsch.
    Der Junge traf mit einem Schuss,
    sehr zu des Altjägers Verdruss.


    Dann, nur im folgenden Frühjahr,
    rettete aus dem Zwillingspaar
    die Schwester dem Königssohne
    mit dem Leben auch die Krone.


    Das Dritte hatte bestanden,
    als sie eine Höhle fanden.
    Und keiner wusste zu sagen,
    warum Goldschätz‘ darin lagen.


    Als Glückliche war’n sie bekannt,
    weil niemand Glück so recht verstand.
    Denn verborgen in beider Herz
    saß schon immer ein tiefer Schmerz.


    Hatten die Eltern verloren
    und waren doch auserkoren,
    dass falsches Glück wanderte mit
    überallhin, bei jedem Schritt.


    Doch obwohl sie mussten leiden,
    gaben sie sich ganz bescheiden.
    Lebten fort in dieser Lage
    bis ans Ende ihrer Tage.[tab=Sterne]Sternenkinder



    Geboren aus dem Licht
    und dem Staub der Sterne,
    schwebend aus hoher Ferne,
    klein, weiß, mild und schlicht.


    Auf dem Weg aus blauem Himmel
    - wie aus flatternden Kristallen –
    aus den Flöckchen allen
    wird heiteres Gewimmel.


    Was mag eines von ihnen denken,
    wenn es sieht, wie wir,
    die Menschen unter Tieren hier,
    Grund suchen, uns zu beschenken?


    Weihnachten und Feiertage
    bedeuten für sie nichts.
    Sind sie doch Kinder des Lichts
    und stellen keine Fragen.


    Sie beobachten auf ihrem Flug
    geschmückte Weihnachtsbäume,
    Vorbereitungen zum Feste,
    Wirklichkeit und auch Betrug.


    Frage eine dieser Flocken,
    was der Weihnacht Seele ist:
    Weder die Geburt des Christ,
    noch Geschenke in den Socken.


    Winz’ges Sternchen in Weiß
    ist nicht sehr redlich.
    Die Frage ist vergeblich;
    Die Antwort zergeht wie Eis.[/tabmenu]

  • [tabmenu][tab=Vorwort]

    Taruhamatsu shi buru no Okkido
    Taruhamatsu und die Blaue Orchidee

    Detektiv Conan FanFiction


    [Blockierte Grafik: http://www.bilder-hochladen.net/files/74ha-uh-3185.png]
    Bildquelle


    Es ist tatsächlich wahr: Ich schreibe auch noch von selbst Texte! Da meine Werke nur in Wettbewerben Achtung finden und sich hier nix tut (srsly, guys? .___.), schreibe ich fast nur noch für Wettbewerbe. Aber manchmal hab ich halt genug Inspiration und Motivation, was Wettifreies zu verfassen, so wie dies hier <3
    Diese Kurzgeschichte – oder wie man sie halt bezeichnen mag – habe ich ursprünglich für das Detektiv-Conan-Forum geschrieben (les klick). Wie ich auch schon dort geschrieben habe, war mein Ziel, nicht einfach nur eine DC-Fanfic zu schreiben, sondern, dass sich der Leser fühlt, als würde er eine Animefolge DC schauen, und trotzdem der Text als solcher erkennbar bleibt. Die Version hier ist etwas abgewandelt – ich hab noch ein paar Rechtschreibfehler entdeckt und sie entfernt xD Aber sonst ist es natürlich dasselbe ^^ Es empfielt sich, so genau wie möglich zu lesen, denn genau wie im Manga und Anime gilt: Jeder Pups, der gelassen wird, passiert nicht zufällig! o__O Also, jede Kleinigkeit hat irgendeine Bedeutung für den Fall xD

    [tab=Teil 1]

    So wie das Wasser keine Form hat und der Wind unsichtbar ist, so können auch Schlussfolgerungen in jedem Fall die unterschiedlichsten Formen annehmen.
    Der heutige Fall führt uns in ein nobles Vorortviertel. Doch die Idylle wird gestört, und eine Blume wird zur makaber schönen Mordwaffe. Jeder scheint zu lügen, doch wer ist der Täter?
    Auch wenn ich jetzt klein bin, hab ich den Verstand eines siebzehnjährigen Teenagers behalten. Man nennt mich Detektiv Conan!


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    „Ran, wohin gehen wir eigentlich? Die Detektei liegt doch in der anderen Richtung!“ Verzweifelt versuchte Conan, mit Ran Schritt zu halten, doch die Einkaufstüte, die sie ihm in die Hand gedrückt hatte, erschwerte seine Bemühungen. „Und überhaupt, warum hast du so viele Tees gekauft?“ Die Schachteln in der Tüte schlugen dumpf aneinander. Wenn man sie so sah, konnte man fast denken, Ran hätte einen Kräutergarten geplündert.
    „Jetzt hab doch ein bisschen Geduld, Conan“, gab Ran, die die übrigen Einkäufe für diesen Tag trug, grinsend zurück. „Ich muss das Mittagessen ja nicht sofort machen. Vorher will ich noch jemanden besuchen…“
    Damit ist die Frage mit den Tees aber nicht beantwortet, dachte Conan unzufrieden, sagte aber nichts, sondern seufzte nur.
    Ran schleppte ihn jetzt schon eine halbe Stunde auf einem Umweg durch Beika, und er hatte immer noch keine Ahnung, was genau sie vorhatte. Alles hatte ganz harmlos angefangen, als Ran festgestellt hatte, dass ihr die Zutaten für das Mittagessen ausgegangen waren. Conan war mitgekommen, um ihr beim Tragen zur Hand zu gehen – was er mittlerweile bereute, denn er hatte ja nicht ahnen können, dass sie erst das halbe Viertel unsicher machen würden, ehe sie mit ihrer Last wieder nach Hause zurückkehrten. Zu allem Überfluss war es nicht einmal besonders warm. Es war zwar ein klarer Herbsttag, und die Sonne sandte ihre goldenen Strahlen in die Straßen Tokyos, doch war es noch Vormittag, und die Morgenkühle hing noch spürbar in der Luft.
    In einer kleinen, wenig befahrenen Straße hielt Ran dann endlich vor einer unscheinbaren Tür an, an der Conan im Normalfall vorbeigelaufen wäre. Der Eingang in das Reihenhaus, das sich nahtlos an die anderen Gebäude anschloss, wirkte wie jeder andere Eingang in die Wohnanlagen des Viertels. Über der Tür war jedoch ein Schild aufgehängt, auf dem Café Tarumi geschrieben stand.
    „Vor fünf Jahren“, erklärte Ran und trat auf den Eingang zu, „sind Shinichi und ich im Herbst oft hier gewesen und haben Tee getrunken.“
    Conan waren die Straßen, durch die sie geirrt waren, tatsächlich bekannt vorgekommen, und jetzt, da Ran dies sagte, ging ihm auch endlich auf, warum. Er und Ran waren damals noch nicht lange in der ersten Mittelstufe gewesen und hatten auf dem Heimweg aus der Schule dieses kleine Café entdeckt. Eine junge Studentin hatte sie stets bedient und ihnen einen hervorragenden Tee serviert, der die Kälte des Herbstes vertrieben hatte. Nachdem diese am Ende ihrer Semesterferien aufgehört hatte zu arbeiten, waren die beiden Mittelschüler nur noch selten und irgendwann nicht mehr gekommen. Der wunderbare Tee, den sie von der Studentin bekommen hatten, war durch nichts zu ersetzen gewesen.
    Als Ran eintrat, klingelte eine Türglocke. Ein paar wenige Gäste des kleinen Cafés sahen kurz auf, andere nahmen die neuen Besucher nicht weiter zur Kenntnis. Die heimelig warme Luft roch nach frisch aufgebrühtem Kaffee. Conan folgte Ran an die Theke, wo die Bedienung sie freundlich begrüßte. „Arbeitet Emi Shiraho wieder hier?“, fragte Ran sogleich. „Ich weiß, dass sie vor fünf Jahren aufgehört hat, aber ich dachte nur, nachdem sie ihr Studium beendet hat…“ In ihrer Stimme schwang der leise Unterton naiver Hoffnung mit, der Conan nicht verborgen blieb. Sie schien sich wohl sehr zu wünschen, dass Emi hier war.
    Die Frau hinter dem Tresen schüttelte bedauernd den Kopf. „Tut mir sehr leid“, meinte sie. „Es haben schon viele nach ihr und ihrem Tee gefragt, weil er so gut schmeckte. Aber seit sie gekündigt hat, hat sie sich hier nicht mehr sehen lassen.“
    „Ach so.“ Die Enttäuschung darüber, dass die erhoffte Person nicht hier war, stand Ran ins Gesicht geschrieben. „Na gut, vielen Dank“, sagte sie trotzdem und verbeugte sich höflich, bevor sie und Conan das Café wieder verließen.
    „Wieso wolltest du diese Emi eigentlich treffen?“, fragte Conan und schulterte die Einkaufstüte, um sie besser tragen zu können. Seit der Sache mit dem Apoptoxin fielen ihm selbst solch banale Dinge schwerer als vorher.
    „Ich wollte sie etwas Wichtiges fragen“, sagte Ran traurig.
    „Das da wäre?“, wollte Conan weiter wissen.
    „Ist egal.“ Sie wedelte mit der Hand, um weitere Fragen abzuwimmeln. Ihre Augen leuchteten plötzlich, als sie sich an etwas zu erinnern schien. „Mir ist die Tage nur in den Sinn gekommen, wie Shinichi und ich damals ihren Tee getrunken haben, und wie sehr er uns geschmeckt hat.“ Die beiden bogen um eine Ecke, und die Detektei Mori kam in Sicht. „Sie hat ihn immer selbst zusammengemischt, hat sie mir erzählt, weißt du? Er hat auch einen ganz bestimmten Namen…“
    Ob sie Conan nun jenen Namen verraten hätte oder nicht, sollte ein Geheimnis bleiben. Denn in diesem Moment kamen er und Ran am Fuße der Treppe an, die rauf in die Detektei und noch weiter in die Wohnung führte. Dort stand eine junge Frau vor der Tür des Büros, offenbar unschlüssig darüber, ob sie eintreten sollte oder nicht. Als sie die beiden Neuankömmlinge bemerkte, breitete sich jedoch ein strahlendes Lächeln über ihr Gesicht aus.
    Vor Freude und Überraschen rief sie: „Ran!“


    Taruhamatsu shi buru no Okkido
    Taruhamatsu und die Blaue Orchidee


    Tangan
    Teil 1 – Gesuch


    Mit einem Bein auf der nächsthöheren Treppe stehend, starrte Ran die Fremde an, die sie so plötzlich und überraschend bei ihrem Namen genannt hatte. „Meine Güte!“, japste die Frau glücklich, „bist du groß geworden, dabei ist es nur fünf Jahre her. Wie die Zeit vergeht!“ Sie legte den Kopf schief, als sie Conan bemerkte. „Nanu, ich wusste ja gar nicht, dass du einen kleinen Bruder hast.“
    „Das ist Conan“, stellte Ran automatisch vor und berichtigte: „Er wohnt nur zurzeit bei uns. Aber, entschuldigen Sie, kennen wir uns?“
    Die Frau strahlte immernoch bis über beide Ohren und kicherte. „Du erkennst mich wohl nicht, was? Ich bin’s, Emi! Aus dem Café Tarumi!“
    „Was, Sie sind Emi?“, rief Ran überrascht aus, und auch Conan musste genau hinsehen. In seiner Erinnerung war die nette Studentin, die sie stets mit einem Lächeln bedient hatte, ganz anders als die Frau, die jetzt vor ihnen stand. Damals hatte Emi langes, glattes schwarzes Haar gehabt, das sie meistens zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden getragen hatte. Ihre braunen Augen waren immer von einer blauen Hornbrille eingerahmt gewesen. Die Fremde, die von sich selbst behauptete, Emi zu sein, hatte braunes, vielleicht getöntes, kurzgeschnittenes Haar und trug keine Brille, sondern höchstwahrscheinlich Kontaktlinsen. Anders als die Emi damals war sie leicht geschminkt, was sie erwachsener wirken ließ, aber ihr Gesicht war noch immer unverkennbar dasselbe wie vor fünf Jahren.
    Ran erklomm die Stufen, bis sie bei Emi an der Diele angekommen war, Conan folgte etwas langsamer. Warum ist sie hier?, überlegte er gewohnt misstrauisch. Man konnte schließlich nie sicher sein, wen die Schwarze Organisation wohin schickte. Zumindest Emis Kleidungsstil unterschied sie von Gin und seinen Kollegen: Sie trug einen cremefarbenen Rock und eine weiße Bluse, die beide nicht so recht zur Jahreszeit passen wollten.
    „Du bist es tatsächlich“, erkannte nun auch Ran. Als ob sie denselben Gedanken wie Conan gehabt hätte, fragte sie: „Aber was führt dich hierher?“
    „Man liest so viel über deinen Vater in letzter Zeit“, erklärte Emi. „Ich könnte seine Künste als Detektiv gut gebrauchen…“
    „Dann bist du wirklich an der richtigen Adresse“, flötete Ran fröhlich und drehte sich der Bürotür zu. „Was immer es ist, Paps löst es bestimmt.“ Sie drückte den Riegel runter und öffnete die Tür.
    In diesem Moment tönte es lautstark aus der Detektei: „JAA, ICH GEWINNE!! Gegen den großen Kogoro Mori und seine Schlussfolgerungen kann man nur verlieren!“ Es folgte das typische Lachen, das einer dieser hochtrabenden Reden immer hintenangestellt wurde und das Conan und Ran nur zu gut kannten.
    „Paps, was ist denn hier los?“, wütete Ran und lief augenblicklich ins Büro an den Schreibtisch, um den viel zu laut eingestellten Fernseher auszuschalten.
    „Hey, was soll das?“, protestierte Kogoro. „Wo ich grade eine Glückssträhne hatte!“
    „Du wettest mal wieder auf Pferderennen, was?“ Ran ließ den Blick über das Chaos auf dem Schreibtisch gleiten und riss ihrem Vater die Bierdose aus der Hand, die er sich soeben an den Mund führen wollte. „Es ist nicht mal Mittag und du kippst schon wieder dieses Zeug runter! Hoffentlich war das die erste.“ Zornentbrannt stapfte sie auf den Mülleimer zu und schmetterte die Dose hinein. Dann, als ob nichts gewesen wäre, wandte sie sich mit ihrem freundlichsten Lächeln an Emi. „Wenn ich meinen Vater vorstellen darf…“
    Als Kogoro die junge Dame entdeckte, die da im Türrahmen seiner Detektei stand, schoss er plötzlich aus dem Schreibtischstuhl hoch, lief auf Emi zu und verneigte sich ehrerbietig. „Kogoro Mori, stets zu Ihren Diensten“, sagte er nicht halb so charmant, wie er vermutlich dachte. „Ran, wieso sagst du mir nicht gleich, dass ein solch zartes Wesen meine Künste in Anspruch nehmen will?“
    Künste kann man es wohl kaum nennen, du Genie, und schon gar nicht deine, dachte Conan sarkastisch und schlüpfte hinter Emi und Kogoro ins Büro.
    „Bitte, nehmen sie doch erst einmal Platz.“ Rans Vater machte einige einladende Gesten in Richtung des Sofas und wartete, bis Emi sich gesetzt hatte, bevor auch er sich ihr gegenüber niederließ. Conan setzte sich neben Kogoro, während Ran die Einkäufe in die Küche brachte und Tee aufsetzte. „Nun“, sagte Kogoro geschäftlich, „wie kann ich einer so reizenden jungen Dame helfen?“
    „Mein Name ist Emi Shiraho“, stellte sich die Klientin vor. „Ich besitze und leite ein kleines Café in Haido.“
    „Dann hast du vor fünf Jahren ja gut geübt, als du im Tarumi gearbeitet hast!“, fiel Conan dazwischen, ganz in seiner Rolle des kleinen, nervigen Kindes. „Ran hat mir davon erzählt.“
    Emi nickte lächelnd. „Oh ja, meine Zeit dort hat mir sehr geholfen.“
    „Misch dich gefälligst nicht ein!“, fuhr Kogoro den Jungen neben sich barsch an. „Bitte“, sagte er, wieder die Höflichkeit in Person, zu Emi. „Fahren Sie fort.“
    Emi erwiderte nichts, sondern kramte in ihrer ledernen Handtasche und holte einen kleinen Stapel Karten hervor. „Seit einiger Zeit erhält mein Vater immer wieder Drohbriefe. Vielleicht wollen Sie sie sich mal ansehen.“ Sie legte die Nachrichten vor sich auf den Tisch und breitete sie aus.
    Die beiden Detektive beugten sich vor und beäugten die Zettel. Kogoro nahm ein paar davon auf und sah sie sich genauer an. „Also, so weit ich das sehe“, verkündete er nach genauer Musterung, „sind alle Kärtchen gleich groß und bedruckt – also keine Handschrift, über die man auf den Verfasser schließen könnte. Außerdem sind die Sprüche nicht gerade einfallsreich, wenn Sie mich fragen.“ Er zog einen Zettel aus denen hervor, die er in der Hand hielt und las sie vor: „Sie werden sterben klingt mir nicht sonderlich bedrohlich. Eher wie der schlechte Scherz eines Kindes.“
    „Genau das findet mein Vater auch“, sagte Emi unglücklich. „Aber meine Mutter nicht. Sie wollte zuerst die Polizei rufen, aber mein Vater hat es ihr untersagt. Und sie würde nie etwas tun, gegen das er so vehement Wort einlegt. Deswegen bin ich gekommen.“
    „Wann und wie haben diese Briefe Sie erreicht?“, wollte Conan wissen, der aus den Karten vor sich nicht schlau wurde. Kogoro hatte recht, was die Drohungen, oder für was der Schreiber sie halten mochte, betraf. Ob es sich um irgendeinen komplizierten Code handelte?
    „Jeden Samstag findet meine Mutter einen in ihrem Briefkasten. Ohne Briefumschlag und Absender, in genau der Reihenfolge, wie Sie sie hier sehen“, antwortete Emi.
    Kogoros Blick überflog die Karten. „Elf Karten, jede Woche eine, heißt, seit fast drei Monaten werden diese Briefe anonym zugeschickt.“ Er sah auf. „Heute ist Samstag. Welcher von diesen ist heute gekommen?“
    „Keiner.“ Während Kogoro sich über diese Antwort wunderte, wühlte seine Klientin erneut in ihrer Handtasche und holte daraus eine weitere Karte hervor. Sie unterschied sich von den anderen in keiner Weise, bis auf das, was auf ihr geschrieben stand: Dein 60. Geburtstag wird dein letzter sein!
    „Also haben wir damit ein Datum“, bemerkte Kogoro und lehnte sich zurück. „Wann hat Ihr Vater denn Geburtstag?“
    „Heute“, antwortete Emi, und ihre beiden Gegenüber rissen erschrocken die Augen auf. „Eben deswegen bin ich ja gekommen“, bekräftigte die junge Frau. „Bislang konnte man es noch als dummen Streich abtun, aber jetzt hab ich doch etwas Bedenken, was die Glaubhaftigkeit dahinter betrifft. Warum sollte der Verfasser sich informieren, dass mein Vater heute Geburtstag feiert, wenn er nicht darauf aus ist, seine Drohungen wahr zu machen?“
    Kogoro lehnte sich vor und stützte das Gesicht nachdenklich in die Handfläche. Auch Conan sah sich die Karten noch einmal an. Falls in den Worten und der Reihenfolge, in der sie eintrudelten, eine Bedeutung lag, irgendeine verschlüsselte Botschaft oder etwas Ähnliches, wollte sich diese ihm auf die Schnelle nicht erschließen.
    Während die beiden über den Karten grübelten, kam Ran wieder ins Büro, beladen mit einem Tablett, auf dem zwei dampfende Becher Tee standen. „Verzeihung, dass es so lange gedauert hat“, entschuldigte sie sich und stellte Emi und ihrem Vater jeweils einen Becher hin. Conan sah auf die Uhr und wurde einen Moment von dem Rätsel um die Drohbriefe abgelenkt. Ihm war es gar nicht aufgefallen, dass Ran für die Zubereitung des Tees länger gebraucht hatte als gewöhnlich.
    Ihr Gast nahm sogleich einen Schluck und zog die Augenbrauen hoch. „Das ist ja…“, sagte sie verwundert und sah überrascht zu Ran auf.
    Diese schickte ein verschmitztes Lächeln zurück. „Ich habe es nicht vergessen. Ist er so richtig?“
    „Hervorragend“, lobte Emi und trank noch einmal. Begriffsstutzig blickte Conan zwischen ihr und seiner Kindheitsfreundin hin und her. Worüber sprachen die beiden?
    „Sagen Sie, Frau Shiraho“, meldete sich Kogoro wieder zu Wort, „mir kommt Ihr Name sehr bekannt vor. Shiraho ist nicht gerade ein Allerweltsname, wenn ich das anmerken darf.“
    Jetzt, da er das ansprach, fiel auch Conan wieder ein, wo er Emis Familiennamen schon einmal gehört hatte. „Ist dein Vater zufällig Akira Shiraho?“
    Emi nickte, und Kogoro fragte skeptisch: „Woher weißt du denn das schon wieder?“
    „Von ihm hört man zurzeit viel in den Nachrichten“, meinte Ran. „Irgendwelche Gerüchte über Eheprobleme, glaube ich.“
    Die Tochter des Fraglichen kicherte peinlich berührt. „Ja, das hört man. Aber Sie werden sehen, dass zwischen meinem Vater und meiner Mutter alles in bester Ordnung ist.“ Als Kogoro ihr einen verwirrten Blick zuwarf, fügte sie schnell hinzu: „Das ist mein Auftrag für Sie. Heute feiert mein Vater im Kreise einiger Freunde und Bekannte seinen Sechzigsten.“
    „Und Sie wollen nun, dass ich mitkomme und mir diese Gäste einmal genau ansehe, stimmt’s?“
    Wieder nickte Emi und sagte: „Meine Mutter und ich hegen den Verdacht, dass es einer von ihnen sein könnte. Sie wissen, wo er wohnt, wann er Geburtstag hat und kennen ihn recht gut. Die Vermutung liegt also nahe.“
    „Wo wohnen Ihre Eltern überhaupt?“, wollte Kogoro wissen.
    „In Oshita.“
    Der Detektiv zog die Augenbrauen hoch. „Dieser noble Außenbezirk? Da müsste ich erst noch einen Wagen mieten...“
    „Ach was“, winkte Emi ab, sammelte die Karten ein und stand auf. „Ich bin mit meinem Wagen hier und kann Sie gerne mitnehmen. Da ist auch genug Platz für Ran und Conan.“ Sie wandte sich mit einem strahlenden Lächeln an die beiden. „Es würde mich sehr freuen, wenn ihr auch mitkommen würdet!“[tab=Teil 2]

    Taruhamatsu shi buru no Okkido
    Taruhamatsu und die Blaue Orchidee


    Dekigoto
    Teil 2 - Ereignis


    „Ein ganz schön schicker Flitzer, den Sie da haben, Fräulein Shiraho“, kommentierte Kogoro, während die letzten Gebäude Beikas an ihnen vorbeihuschten. Er hatte rechts von Emi auf dem Beifahrersitz platzgenommen, während Ran und Conan hinter ihnen saßen. Auch dem geschrumpften Oberschüler war aufgefallen, dass der Wagen eines der extravaganteren Modelle war. Allein die Polster, die mit weichem, hellem Leder überzogen waren, mussten schon ein Vermögen wert sein. Außerdem war der Wagen eindeutig ein importierter, denn er war nicht für den japanischen Linksverkehr gebaut. Dennoch fuhr seine Besitzerin ihn sicher.
    Emi kicherte verlegen. „Mein Vater hat ihn mir zum Abschluss meines Studiums geschenkt. Seine Firma wirft viel Geld ab, da stehen solche Geschenke fast schon an der Tagesordnung.“
    „Ach, richtig, Emi!“, japste Ran auf und beugte sich nach vorn. „Du hast uns damals nie gesagt, was du genau studierst. Shinichi hat immer vermutet, dass es Medizin sein muss. Keine Ahnung, wie der Krimispinner da wieder draufgekommen ist.“ Bei ihrem letzten Satz warf Conan ihr einen mürrischen Blick zu.
    „Fast richtig. Genau genommen habe ich Zahnmedizin studiert.“ Emi hielt an einer Kreuzung und bog auf eine Straße ab, die sie geradewegs nach Oshita führen würde. „Meine Eltern wollten immer, dass ich einen soliden Beruf erlerne, deswegen haben sie mich in die Uni gesteckt. Aber eigentlich wollte ich nie etwas anderes, als mein eigenes kleines, bescheidenes Café zu leiten.“
    „Was dir ja auch gelungen ist“, bemerkte Ran.
    „Kann man wohl sagen“, lächelte Emi zurück. Während sie sich weiterhin auf die Fahrbahn vor sich konzentrierte, sprach sie weiter: „Dieser Shinichi, das ist doch der Junge, mit dem du immer ins Tarumi gekommen bist, oder? Der, mit dem du Beruferaten gespielt hast, während ihr euren Tee getrunken habt?“
    „Und der immer haushoch gewonnen hat“, bestätigte Ran gespielt grimmig, aber in ihren Augen blitzte Belustigung. „Ja, das war er. Wieso fragst du?“
    „Ich hätte ihn auch gerne wieder getroffen.“ Emi warf einen Blick in den Rückspiegel, und Conan kam es so vor, als sähe sie ihn direkt an. Oder täuschte er sich da? War er nicht ein bisschen zu paranoid, was seine Vermutung anbelangte, Emi könne der Organisation angehören? Die Fahrerin richtete die Augen wieder auf die Straße und fuhr fort, diesmal mit einem humorvollen Lächeln und witzelndem Unterton: „Ich frage mich nur, ob er in den letzten fünf Jahren auch so in die Höhe geschossen ist wie du.“
    Wie so oft war es allein Conan, der die Ironie dieser Aussage in ihrer ganzen Schärfe verstand: Ich sitze hinter dir, dummerweise in die Tiefe denn in die Höhe geschossen! Aber er kam zu dem Schluss, dass Emi wohl vorerst keine Gefahr darstellte. Es war ohnehin besser, wenn er sich erst auf die Drohbriefe und die Beobachtung der Gäste konzentrierte. Wenn die Sache erledigt war, würden sie sowieso schnell von Emi wegkommen, falls sie doch gefährlich sein sollte.
    „Er ist zurzeit nicht… da“, gab Ran zögernd Auskunft. „Irgendein verstrickter Fall, wie er sagt. Er meldet sich selten.“


    „So, da wären wir. Das Oshita-Viertel“, gab Emi nach einer Weile kund und steuerte ihren Wagen durch die verwinkelten Gassen der Ortschaft. Die Grundstücke waren hier wesentlich größer als in der dichten Innenstadt, und die Einfamilienhäuser muteten wie Villen an. Das Auto steuerte auf einen kleinen Parkplatz zu, auf dem bereits drei weitere Wagen standen.
    Während die Neuankömmlinge ausstiegen, fragte Kogoro erstaunt: „Ist das hier das Haus Ihrer Eltern?“ Sie hatten auf einem Parkplatz gehalten, der offensichtlich zu dem Gebäude gehörte, das der Detektiv bemerkt hatte. Es war ein großes Wohnhaus im westlichen Stil, das sich zwei Stockwerke über ihnen auftürmte. Die Fassade war in schlichtem Weiß gestrichen, kontrastierend zu den dunkelgrauen Dachschindeln aus Schiefer. Um die rechte Außenecke führte ein Grünstreifen, der zum nächsten Grundstück mit einem Holzzaun abgeschirmt war. An der linken Seite schlängelte sich ein Bachlauf vorbei, der leise plätscherte.
    „Teure Geschenke sind in meiner Familie Tradition“, erklärte Emi. „Das Haus hat mein Großvater meinem Vater vor dreißig Jahren bauen lassen, als er die Firma übernommen hat.“ Ihre drei Fahrgäste folgten ihr zum Eingang.
    Im nahen Fluss tummelte sich ein Schwarm kleiner Vögel und spielte im Wasser. „Wie niedlich!“, rief Ran verzückt. „Sind die öfters hier?“
    „Das sind Bachspatzen, oder?“, fragte Conan an Emi gewandt, wusste es jedoch eigentlich sehr genau. „Die sind ziemlich selten in Japan geworden, hab ich gehört.“
    „Ja, das ist schade, es sind sehr freundliche Vögel“, meinte Emi. „Als Kind habe ich immer versucht, sie zu jagen. Sie kommen oft her, weil im Fluss viele Steine sind, zwischen denen sich Flohkrebse verstecken, und die fressen die Spatzen sehr gerne. Aber im Herbst kommen sie eigentlich eher weniger, weil die Strömung dann schneller ist.“
    Der Eingang war, von der Hausfassade aus gesehen, etwas zurückgesetzt, und zu ihm führten ein paar Stufen auf eine Veranda, die davor lag. Auf der terassenähnlichen Konstruktion standen zwei Stühle und ein runder Tisch, darauf ein sauberer Aschenbecher. Kogoro fröstelte bei dem Anblick und murrte: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand bei diesen Temperaturen draußen rauchen will!“
    Emi kramte in ihrer Handtasche, während sie erwiderte: „In meiner Familie raucht niemand, und mein Vater kann es nicht leiden, wenn es im Haus nach Zigarettenqualm stinkt. Der Becher steht hier für eine unserer Gäste, die passionierte Raucherin ist.“
    „Hm“, machte Kogoro mürrisch, „dann werde ich wohl auch hier eine anlegen müssen.“
    „Verzeihen Sie, aber bitte seien Sie so nett“, bat Emi und beugte sich über ihre Tasche, als wolle sie hineinkriechen. „So was aber auch, ich habe meinen Hausschlüssel vergessen.“ Sie zuckte die Schultern und betätigte kurzerhand den Klingelknopf.
    Es dauerte nicht lange, und ihnen wurde von einem jungen Mann geöffnet, der Emi verblüffend ähnlich sah. „Emi, du bist es“, sagte er ohne große Überraschung, bevor er die anderen drei Personen auf der Veranda bemerkte. „Und wie es aussieht, hast du diesen Detektiven tatsächlich aufgetrieben.“
    „Ja, hab ich.“ Emi deutete nacheinander auf die Besucher und stellte sie vor: „Das ist Kogoro Mori, der herausfinden soll, was es mit diesen Drohbriefen auf sich hat. Das ist seine Tochter Ran, und der kleine Junge heißt Conan.“ Jetzt wandte sie sich den Gästen aus Beika zu. „Das ist mein älterer Bruder Toshiaki. Er ist Co-Direktor von Shiraho Mashines und wird die Firma bald übernehmen.“
    Toshiaki deutete eine höfliche Verbeugung an. „Freut mich sehr.“
    „Toshi, wer ist denn da?“ Der junge Herr Shiraho schob die Tür noch etwas weiter auf, als eine Frau mit langem, schwarzem Haar hinter ihm erschien. Als sie die Neuankömmlinge sah, wirkte sie verwirrt. „Hat dein Vater die auch eingeladen?“
    „Nein, das ist Herr Mori“, berichtigte Toshiaki sogleich. „Meine Frau Sayuri“, stellte er die neu Hinzugekommene vor.
    „Soso, der Profischnüffler“, gab diese herablassend zurück. Sie drehte sich um und ging den Flur zurück, den sie soeben gekommen war. „Na mal sehen, ob er wirklich so gut ist, wie die Zeitungen immer sagen“, rief sie, bevor sie rechts um die Ecke verschwand.
    Verlegen wandte Toshiaki sich an die Besucher. „Bitte verzeihen Sie ihre Worte. Sie tut die Briefe auch nur als Scherz ab. Aber, bitte“, er machte eine einladende Geste ins Innere des Hauses, „ein Ohr abknabbern können wir uns auch drinnen, wo es warm ist.“ Sie traten ein, und die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss. Jetzt gingen sie den gleichen Flur hinunter, den auch Sayuri eben gegangen war und der nach wenigen Metern nach rechts abbog. „Vater und Mutter machen sich oben noch für die Feier fertig“, informierte Toshiaki seine jüngere Schwester.
    „Sind sonst noch Gäste da?“, wollte sie wissen.
    „Nur Koji. Er sitzt schonmal im Esszimmer.“
    „Herr Mori“, wandte Emi sich an den Detektiv, als sie an der Ecke angekommen waren. „Wie wäre es, wenn ich Ihnen das Haus zeigen würde? Um die Sache mit den Drohbriefen zu lösen, wäre es vielleicht gut, wenn Sie mit unseren Räumlichkeiten vertraut sind. Außerdem stört es ja kaum jemanden, wenn niemand im Erdgeschoss ist.“
    „Ähm… ja, einverstanden“, willigte Kogoro nach kurzem Zögern ein.
    „Also gut, wir sehen uns dann ja später.“ Toshiaki schritt den Gang entlang, von dem links und rechts jeweils zwei Türen abzweigten und der an seinem Ende in eine Treppe überging, und betrat den hinteren linken Raum.
    Die Tochter des Hausbesitzers führte ihre Gäste jedoch zur Tür des vorderen, die ihnen am nächsten war. Es war ein hell erleuchtetes, quadratisches Zimmer, höher, als ein Raum gewöhnlich war, gewiss drei Meter. Zwei Fenster, die fast bis zur Decke hinaufreichten, ließen das goldene Licht der Herbstsonne einfallen. Eines befand sich an der Wand gegenüber der Tür, das andere links davon. Ein kleines Sofa stand annähernd in der Mitte des Raumes und teilte ihn in zwei Hälften. Die vordere ließ Platz, um darin herumzugehen, die hintere war ein einziger Dschungel: Prächtige Orchideen in allen Formen und Größen standen auf dem Boden oder auf gusseisernen Ständern oder hingen an Haken von der Decke herab. Sie verwandelten das einfallende Sonnenlicht in ein Farbenspiel, das dem Auge schmeichelte und es gleichermaßen gaukelte. Es schien fast, als sei die Ansammlung an edlen Blumen eine einzige Pflanze.
    „Dies ist das Orchideenzimmer“, instruierte Emi und ließ die Gäste eintreten.
    Ran, völlig verzaubert von der Schönheit der Blüten, bemerkte ein Regal aus dunklem Holz, das gleich neben der Tür an der Wand stand. Es war vollgestellt mit allen möglichen Souvenirs aus der ganzen Welt. „Unglaublich“, murmelte sie fasziniert. „Wer in deiner Familie reist denn so viel?“
    „Mein Vater tat es“, antwortete Emi und trat ebenfalls an das Regal heran. „Als er noch für die Firma tätig war, hat er viele Länder besucht, und jedes Mal ein kleines Schmuckstück von dort mitgebracht. Es war schon ziemlich aufregend, wenn er von seinen Reisen erzählte, aber er war auch ziemlich selten zuhause.“
    „Was ist denn mit dieser Orchidee?“, fragte Conan, der vor der einzigen Pflanze stand, die sich nicht bei den anderen befand. Sie thronte auf einem Podest vor dem Sofa. „Sie steht hier so alleine…“
    Emi lächelte. „Eigentlich steht sie nur hier, wenn Vater vor Gästen mit ihr angeben will. Das ist die buru no Okkido, eine ganz besondere Pflanze. Blaue Orchideen sind nämlich sehr schwer zu züchten und zu pflegen.“
    Okkido?“, wiederholte Ran verwirrt. „Aber das bedeutet doch nicht Orchidee. Mein Name bedeutet das doch.“
    „Das liegt daran, dass die blaue Sorte nicht in Japan gezüchtet wird“, erläuterte Emi geduldig. „Sie kommt aus dem Ausland, deswegen hat sie die übertragene Bezeichnung.“
    „Ist das nicht die Orchidee, die neulich wegen irgendetwas ausgezeichnet wurde?“, mischte Conan sich wieder ein. „Ich habe darüber etwas im Fernsehen gehört.“
    Emi trat an die Blaue Orchidee heran und strich sanft mit dem Finger über eine der azurnen Blüten. „Genau das ist sie. Sie ist die Blaue Orchidee mit den meisten Blüten. Zehn Stück, das ist sogar für eine normale Orchidee viel. Aber das ist ja auch kein Wunder: Mein Vater kümmert sich immer gut um sie. Schau.“ Sie zeigte nacheinander auf die drei Gegenstände, die sie jetzt ansprach: „Diese Zimmerecke liegt genau im Süden, sodass sie das stärkste Licht des Tages, das den Orchideen nicht gut tut, abschirmt. Durch das südwestliche und das südöstliche Fenster kommt dann vor- und nachmittags genau das Licht herein, das sie brauchen. Erst neulich hat mein Vater neue, höhere Fenster einbauen lassen, damit das auch gewährleistet ist.“
    „Aber nicht nur hier, Emi.“
    Conan, Ran und Kogoro drehten sich überrascht um, als noch jemand in das Orchideenzimmer trat. Es war Akira Shiraho, ein großer, breit gebauter Mann, dem man sein wahres Alter kaum ansah. Das ergraute Haar trug er zu einer edlen Frisur gekämmt. Gekleidet war er in einen adretten, schwarzen Anzug, der seinen ausgezeichneten Kleidergeschmack hervorblicken ließ.
    Der Direktor der Maschinenfirma schob sich an den Anwesenden vorbei zu seiner Orchidee. „Ich habe im ganzen Haus neue Fenster einbauen lassen, weil auch Menschen viel Licht brauchen, damit sie glücklich sind“, sagte er philosophisch und wandte sich mit einem grimmigen Gesichtsausdruck an Emi. „Ist das der Detektiv, den du und deine Mutter mir angedroht habt?“ Als seine Tochter vorsichtig nickte, schnaubte er dezent: „Ich sagte euch doch, dass diese Briefe halb so wild sind, wie sie tun! Da Sie, Herr Mori, nun aber schon einmal hier sind, will ich Sie nicht fortschicken. Aus meinem Haus wurde noch nie ein Gast vertrieben, und das soll sich heute nicht ändern.“ Er drehte sich der buru no Okkido zu. Als er nun sprach, war seine Stimme sanft und liebevoll. „Orchideen sind wirklich wunderbare Geschöpfe. Man muss viel Mühen und Liebe in sie investieren, aber der Dank, den sie einem durch ihre Schönheit zurückgeben, macht alles wett. Jedoch sollte man vorsichtig sein: Jede kleinste Nachlässigkeit wird augenblicklich bestraft!“
    Conan grinste schief zu Ran hinauf. Oh ja, da kenne ich noch so eine Orchidee, kommentierte er in Gedanken. Dabei kamen ihm einige Begegnungen mit ihren Karatekünsten in den Sinn, die ihn sowohl als Shinichi als auch als Conan ereilt hatten.
    Herr Shiraho griff um den Topf der Blauen Orchidee, dessen Rand etwas breiter war als der untere Teil, und hob sie von ihrem Sockel auf. „Aber was erzähle ich Ihnen das alles?“, fragte er hypothetisch. „Sie müssen sich selbst gut mit Orchideen auskennen...“ Er reichte Kogoro den Blumentopf.
    Dieser nahm ihn vorsichtig entgegen, schien aber erst nichts zu entgegnen zu wissen. „Ja, kann man so sagen“, erwiderte er schließlich verlegen.
    „Natürlich muss das so sein!“, bekräftigte Herr Shiraho und wandte sich an Ran. „Wenn Sie sogar Ihre Tochter so genannt haben, die ebenfalls ein solch zauberhaftes Wesen ist.“ Er nahm ihre Hand und küsste sie in echter Gentleman-Manier. Ran errötete leicht.
    Na großartig, gab Conan erneut seinen gedanklichen Senf dazu, der eine flirtet mit der Tochter des anderen. Aber er macht es wesentlich geschickter als Kogoro. Da fiel ihm aber etwas auf: Woher hatte Herr Shiraho Rans Namen gewusst? Er musste sie vielleicht eine Weile belauscht und mitbekommen haben, dass sie Orchidee hieß. Oder aber sein Sohn war ihm über den Weg gelaufen und hatte ihn über die Gäste informiert, die Emi hergebracht hatte.
    Conan seufzte, vergrub die Hände in den Hosentaschen und ließ den Blick gelangweilt über die Orchideen schweifen. Dabei fiel ihm die Pflanze auf, die in der hinteren rechten Ecke des Raumes stand. Sie war viel größer als die zierlichen Orchideen und reichte, gestützt von einem Gittergestell aus Stahl, bis fast unter die Decke. Ihre Blätter waren breit und dunkelgrün, hatten tiefe Einkerbungen und mehrere Löcher; beides schien nicht in sie hineingerissen worden zu sein, sondern zu ihrer Natur zu gehören.
    „Nanu, das ist aber eine große Orchidee“, sagte Conan erstaunt, natürlich wohl wissend, dass es nie und nimmer eine solche sein konnte – ganz in der Rolle des kleinen, nervigen Kindes.
    „Das ist keine Orchidee“, korrigierte Herr Shiraho, „das ist eine Monstera oder auch Fensterblatt. Mein Freund Koji hat sie mir zu meinem Vierzigsten geschenkt, als sie noch ein Setzling war. Sie ist die einzige Pflanze, die keine Orchidee ist, die mir in dieses Zimmer kommt. Seit ich sie habe, steht sie unverrückbar an diesem Platz!“
    „Ich weiß noch, wie ich sie, als sie noch neu war, zum Versteckspielen benutzt habe“, sinnierte Emi und lachte. „Das hat dich immer zur Weißglut getrieben!“
    „Natürlich hat es das!“, empörte sich ihr Vater. „Immerhin ist das hier kein Spielplatz!“
    „Du Bengel, was fragst du auch so blöd“, motzte Kogoro Conan an. „Man sieht doch sofort, dass das keine Orchidee ist, oder siehst du hier irgendwelche Blüten?“
    „Täuschen Sie sich nicht, Herr Mori“, tadelte der Hausherr. „Auch Monstera können Blüten tragen, wenn auch ganz andere als Orchideen. Aber genug gequatscht.“ Er wandte sich um und verließ den Raum. „Kommen Sie doch ins Wohnzimmer und gesellen sich zu uns.“
    „Ich entlasse ihn gleich“, rief Emi ihrem Vater hinterher. In normaler Lautstärke sagte sie wieder zu den drei Gästen: „Aber lasst uns zuerst unsere Führung beenden.“ Damit geleitete sie sie zurück in den Flur.
    Kurz, bevor sie durch die Tür schritten, glaubte Conan, etwas im Augenwinkel zu sehen. Er wirbelte herum und starrte an die Stelle, wo er vermutete, dass etwas aufgeblitzt war. Doch da war nichts. Vielleicht hatte sich nur das satte Sonnenlicht in seiner Brille gespiegelt.
    Emi dirigierte sie in die erste der beiden rechten Türen. Kaum, dass sie ins Zimmer eintraten, schlug ihnen verführerischer Bratengeruch entgegen. Sayuri saß an einem Tisch und schwang ein Küchenmesser, um damit Tomaten kleinzuschneiden. An der Arbeitsplatte betätigte sich eine Dame, die ihre mittleren Jahre weit hinter sich hatte. Aus ihrer Ähnlichkeit zu Emi und Toshiaki schloss Conan, dass es sich hierbei um deren Mutter handeln musste.
    Sogleich bestätigte Emi diese Schlussfolgerung: „Meine Mutter Miko, die gute Fee. Sie ist heute unsere Köchin, wie eigentlich immer. Vor ihrer Heirat war sie Physiklehrerin, also seht es ihr nicht krumm, wenn sie sich vielleicht mal etwas eigen benimmt.“ Als Miko sie bemerkte, drehte sie sich nur kurz um und grüßte knapp, um sich gleich darauf wieder ihrer Arbeit zu widmen.
    Besonders begeistert scheint sie ja nicht zu sein, dass Kogoro hier ist, um ihren Mann zu beschützen, dachte Conan. Aber wahrscheinlich war sie gerade zu sehr in ihr Tun vertieft, von dem sie sich nicht ablenken lassen durfte, um jetzt besonders gastfreundlich zu sein.
    „Von ihr bekocht zu werden, ist eigentlich das Beste, was Ihnen passieren kann, Herr Mori!“ Als plötzlich jemand ins Zimmer polterte, sprangen Conan und Ran eilig aus dem Weg; nur Kogoro wurde stürmisch zu einem unsanften Händedruck gezwungen. „Koji Ito, mein Name, freut mich wirklich sehr, sie kennen zu lernen!“, stellte sich der Neuankömmling mit einem Bass vor, der einem in den Ohren dröhnte.
    „G-ganz meinerseits“, presste Kogoro hervor, der sichtbar versuchte, ein schmerzerfülltes Keuchen zu unterdrücken. Es gelang ihm nicht ganz, und er gab ein leises Quietschen von sich.
    Dessen ungeachtet ging Koji zu Miko herüber und lugte ihr über die Schulter. „Dein Hackbraten ist immerhin der beste in ganz Japan.“ Er langte um sie herum und tauchte den Finger in eine Soße, die die Hausherrin gerade vorbereitete, um ihn anschließend abzulecken. „Deine Kochkünste sind noch immer genauso wie früher!“
    „Und du bist immer noch derselbe Kindskopf!“, gab Miko zurück. „Wann wirst du endlich erwachsen?“
    Koji lachte lautstark. „Zum Erwachsenwerden bin ich zu alt.“
    Conan zupfte an Emis Rocksaum, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Als sie sich runterbeugte, fragte er sie leise: „Wie lange kennen sich Herr Ito und deine Mutter schon?“
    „Eigentlich seit der Schulzeit“, antwortete Emi. „Sie waren eine Weile zusammen, bis sie meinen Vater kennen lernte. Aber da hatten sie schon vorher schlussgemacht. Mein Vater und Onkel Koji sind dennoch beste Freunde geworden.“
    „Achso.“ Wahrscheinlich war Herr Ito daher verdächtig, weil er seinem Kumpel diese Sache noch immer nachtrug. Conans Blick wanderte von ihm zu Sayuri, die bislang unbeteiligt die Salattomaten geschnitten hatte. Aber noch verdächtiger ist eigentlich sie. Ich sollte hier bleiben und sie etwas beobachten, falls sie das Essen vergiften will. Von Ito geht vorerst keine so direkte Gefahr aus. Und wenn Kogoro dabei ist, wird er Herr Shiraho gewiss nicht umbringen.
    „Herr Mori“, wandte sich Ito wieder an den Detektiv, „ich ließ mir sagen, dass sie einen guten Tropfen nie abschlagen würden. Nun, man hat hier leider weder Sake noch Bier, aber der französischen Wein, den Akira von seinen Reisen mitgebracht hat, ist wirklich ausgezeichnet.“ Er ging zur Tür und winkte Kogoro mit sich. „Kommen Sie und stoßen Sie mit uns auf seinen Sechzigsten an!“
    „Gerne!“, sagte Kogoro begeistert und wollte gerade hinterher, drehte sich aber nochmal zu Emi um. „Ich meine… wenn das in Ordnung ist?“
    „Doch, gehen Sie nur“, gab Emi Erlaubnis. „Vielleicht ist es besser, wenn Sie beobachten, anstatt im Haus herumzuschleichen. Das bringt ja nicht viel.“
    „Würde ich auch sagen“, bekräftigte Herr Ito. „Nach diesem Drohbriefschreiber schnüffeln können Sie auch später noch!“
    Hier scheint wirklich jeder zu wissen, wozu Kogoro da ist, überlegte Conan unzufrieden. Wie soll man die Gäste da brauchbar observieren?
    „Ich würde sagen, wir bleiben hier und helfen ein bisschen“, meinte Ran, als ihr Vater gegangen war, und beugte sich zu Conan runter. „Einverstanden?“ Dieser nickte. Das kam ihm sehr gelegen, so konnte er Sayuri ein bisschen überwachen und vielleicht noch etwas herausfinden.
    „Es tut mir leid“, entschuldigte Emi sich unvermittelt, „ich habe euch durchs Haus gescheucht, ohne vorher zu fragen, ob ihr etwas trinken wollt. Möchtet ihr Saft oder Wasser?“ Sie öffnete einen Schrank, in dem verschiedene Getränke aufgereiht waren.
    „Für mich nichts, danke“, lehnte Ran ab.
    „Ich hätte gerne einen Saft!“, verkündete Conan. Emi holte eine Flasche heraus, goss ihren Inhalt in ein Glas und überreichte es ihm. „Danke.“ Während er einen Schluck nahm, blickte er sich unauffällig über den Glasrand hinweg nach einer geeigneten Stelle in der Küche um, von der aus er jede der Anwesenden beobachten konnte. Eine solche war auch schnell gefunden: Ein unbenutzter Teil Küchentheke in der hinteren Ecke. Conan zog sich auf die Arbeitsplatte, setzte sich hin und stellte das Saftglas neben sich.
    Ein paar Minuten verstrichen, in denen ihm nichts Auffälliges ins Auge fiel. Sayuri benahm sich nicht verdächtig, bereitete den Salat ganz gewöhnlich zu und zückte keine Tütchen oder Fläschchen, um ihn damit zu vergiften. Was ja auch nicht sehr schlau gewesen wäre: Sie konnte nicht wissen, wer von was essen würde, und der Verfasser der Drohbriefe hatte es nur auf Herrn Shiraho abgesehen.
    Als es an der Haustür klingelte, übergab Miko Shiraho ihrer Tochter die Arbeit am Herd, um dem neuen Gast aufzumachen. Kurz darauf ging die Hausherrin, begleitet von einer weiteren Frau, an der Küchentür vorbei, vermutlich zum Esszimmer.
    „Wer war das?“, fragte Conan in die Runde.
    „Hanako Yamano“, antwortete ihm Emi. „Sie ist die Vertreterin einer Metallfirma, die mit der Firma meines Vaters kooperiert. Die beiden kennen sich geschäftlich recht gut, deswegen hat er sie wohl eingeladen.“
    Frau Shiraho kehrte in die Küche zurück und nahm ihr Werk wieder auf.
    Nach einer Weile klingelte es erneut. Wieder war es die Hausherrin, die die Küche verließ. Verantwortungsbewusst stellte Emi sich wieder an die Soßen und probierte von jeder einmal.
    „Ah, diese hier braucht noch etwas Oregano“, meinte sie und zeigte auf einen kleinen Schrank, der neben der Stelle aufgehängt war, an der Conan saß. „Ran, reiche mir bitte den Oregano. Der Streuer müsste beschriftet sein.“
    Die Angesprochene öffnete den Schrank und lugte hinein. „Ich hab ihn.“ Sie griff hinein, und gerade, als sie ihn wieder herausholen wollte, hallte es durch den Flur:
    „NIEMALS!! Sie kommen mir nicht ins Haus, nach allem, was Sie über uns geschrieben haben! VERSCHWINDEN SIE!“ Dann hörte man eine Tür zuknallen.
    Ran schreckte ob dieser plötzlichen Geräuschkulisse zusammen, und etwas fiel aus dem Schrank, an dem sie gerade tätig war. Es stieß gegen Conans Saftglas und kippte es um. Schnell sprang er von der Arbeitsplatte, als sich die klebrige Pfütze ausbreitete, bevor sie ihn erreichte. „Mist“, fluchte Ran und stellte den Wasserkocher, der unter dem hängenden Schränkchen stand, beiseite, damit er nicht nass wurde.
    Sayuri war sogleich zur Stelle und wischte den Saft mit einem Lappen auf. „Halb so wild“, meinte sie so ruhig, wie Ran verzweifelt war. „Das ist schnell wieder weggewischt.“
    „Und das hier?“, fragte Conan und fischte aus der Pfütze den Gegenstand, den Ran hatte fallenlassen. „Oh, ist das eine Zeitschaltuhr?“
    „Ja, meine Eltern benutzen manchmal welche. Deswegen liegen in jedem Zimmer welche bereit“, erklärte Emi.
    „Die haben wir auch gleich wieder sauber.“ Sayuri nahm einen Lappen, feuchtete ihn mit Wasser an und wischte die Zeitschaltuhr damit gründlich ab. Danach legte sie sie wieder in den Schrank zurück. „Jetzt ist sie auch nicht sehr nass. Bis man sie das nächste Mal verwendet, ist sie trocken.“
    Ran atmete erleichtert auf. „Danke, Frau Shiraho. Sie sind viel freundlicher, als Sie an der Haustür waren.“
    Die Retterin in der Not kicherte. „Nichts für ungut, aber ich mag einfach nur keine Schnüffler. Und nenn mich doch bitte Sayuri.“
    In diesem Moment kam die ältere Frau Shiraho wieder zurück, mit einer Zornesfalte auf der Stirn. Ohne ein Wort widmete sie sich wieder den Soßen. Ihr Mann kam kurz nach ihr und fragte: „Was war denn los? Warum hast du so rumgeschrien, Miko?“
    „Dieser unausstehliche Schreiberling war es“, zickte seine Frau. „Ich weiß wirklich nicht, warum er hier war!“
    „Satoshi Karagawa?“
    „Wer denn sonst! Hast du ihn etwa eingeladen?“ Herr Shiraho gab schon keine Antwort mehr, sondern lief den Flur hinunter zur Eingangstür. „Na wunderbar“, kommentierte Miko schnippisch. „Jetzt läuft er ihm auch noch hinterher. Ich will diesen Mann nicht an meinem Esstisch haben!“
    „Was hat er denn getan, dass Sie ihn so verabscheuen?“, wollte Ran wissen. Auch Conan interessierte dies.
    Miko schnaubte: „Dieser unverschämte Mistkerl hat das Gerücht in die Welt gesetzt, dass mein Mann eine Affäre hätte und wir deswegen mit Eheproblemen zu schaffen hätten. Jetzt sind wir in allen Zeitungen verschrien. Der kommt mir nicht ins Haus!“


    Als das Essen fertig war, wurde es auch sogleich im Wohnzimmer serviert.
    Jenes Zimmer war vielmehr ein Saal, das sich in Wohn- und Essbereich aufteilte. Rechterseits der Tür nahm eine Couch ein, neben einer großzügigen Stereoanlage führte eine Terassentür hinaus in den weitläufigen Garten. Links stand ein großer Esstisch mit ausreichend Stühlen – offenbar hatte man auf die unerwarteten Gäste schnell reagiert und weitere Sitzgelegenheiten aufgetrieben. Am Tisch saßen bereits Herr Shiraho und Kogoro, die sich bei gutem Wein von Herr Ito mit Geschichten von früher beschallen ließen. Offenbar hatte der Hausherr Karagawa nicht mehr einholen können, um ihn zurückzubeten. Die Vertreterin, Hanako Yamano, saß abseits der Männergesellschaft.
    Nachdem alle Platzgenommen hatten, schnitt Frau Shiraho den Hackbraten an und teilte jedem ein Stück aus. Emi übernahm den Salat und Sayuri die Beilagen.
    Es dauerte nicht lange, bis sich einzelne Gesprächsgruppen am Tisch zusammengebildet hatten und über verschiedene Themen diskutierten. Conan, der sich zwar nicht an diesen Unterhaltungen beteiligte, aber mit halbem Ohr lauschte, beäugte die Anwesenden genau. Keiner von ihnen benahm sich irgendwie auffällig oder anders, als es seinem Charakter entsprach. Vor allem Herr Ito und Frau Yamano nahm der Jungdetektiv genau unter die Lupe, da er von ihnen noch mit am wenigsten wusste.
    Die Teller leerten sich allmählich, und immer wieder stand jemand auf und verließ kurzzeitig das Zimmer. Herr Ito holte aus dem Weinkeller eine neue Flasche, als die erste verbraucht war. Frau Shiraho brachte aus der Küche auf Bitten ihres Sohnes Pfeffer zum Nachwürzen. Sayuri, Frau Yamano und Ran besuchten zu unterschiedlichen Zeiten die Toilette, zu der die letzte Tür des Gangs gehörte. Frau Yamano ging einmal, Kogoro zweimal auf die Veranda, eines davon mit der Vertreterin, um Eine zu rauchen.
    Conan fiel auf, dass Frau Shiraho immer häufiger auf ihre Uhr schaute, wofür sie den Saum ihres linken Blusenärmels zurückschlug. Sie schien auf etwas zu warten, das anscheinend, nach dem einstündigen Mahl, eintraf: „Ich glaube, es ist jetzt Zeit für den Tee“, verkündete sie und stand auf. „Ich hoffe, es wird Sie alle freuen, wenn ich Taruhamatsu serviere.“ Am Tisch schienen die meisten zu wissen, um welchen Tee es sich dabei handelte. Auch Conan kam dieser Begriff bekannt vor, aber ihm wollte nicht einfallen, woher.
    „Soll ich mitkommen und Ihnen helfen?“, fragte Ran, und auch Sayuri bot ihre Hilfe an.
    Doch Miko winkte ab. „Nein, nein, ihr seid doch meine Gäste. Bleiben Sie einfach alle hier sitzen, ich kümmere mich schon um alles.“
    Als sie weg war, fragte Conan Ran, die neben ihm saß: „Was ist Taruhamatsu?“
    „Das ist der Tee, den ich heute eigentlich machen wollte“, antwortete seine Kindheitsfreundin. „Es ist derselbe, den ich aufgesetzt habe, als Emi in der Detektei war, und den sie mir und Shinichi damals serviert hat.“
    Jetzt erinnerte auch Conan sich wieder daran, wo er den Namen des Tees schon einmal gehört hatte. Emi hatte ihnen im Tarumi erzählt, wie aufwendig es war, einen Taruhamatsu zu kochen. Es war ein spezielles Gemisch aus verschiedenen anderen Teesorten, das man ganz genau zusammenstellen musste, um den unvergleichlichen, farbenfrohen Geschmack zu schaffen. Die Studentin hatte ihnen gesagt, sie habe die Zubereitung dieses besonderen Tees von ihrer Mutter gelernt, ihnen aber auch eingeschärft, dass Miko es nie erfahren dürfe, dass sie ihn in dem Café anbot. Woran das lag, konnte Conan sich auch heute nicht erklären.
    Frau Shiraho kam schließlich zurück, ein großes Tablett tragend, auf dem sie einige Tonbecher und eine dampfende Teekanne balancierte. Toshiaki sprang auf und half seiner Mutter, das Tablett sicher auf dem Tisch abzuladen. Während Miko jedem einen Becher des edlen Tees überreichte, übertünchte der Kräuterduft des Taruhamatsu allmählich den schwächer gewordenen Geruch des Hackbratens. Conan schnupperte an dem heißen Gebräu und nippte vorsichtig daran. Der Geschmack kam ihm augenblicklich bekannt vor, aber irgendetwas war anders.
    „Komisch“, murmelte Ran, die ebenfalls einen Schluck genommen hatte. „Irgendwie schmeckt er ein bisschen… bitter.“ So leise, dass nur Conan es hören konnte, flüsterte sie: „Und Frau Shiraho hat auch nicht sehr lange gebraucht.“ Ihr Nebensitzer warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Sie hatte recht: Die Hausherrin war gerademal zehn Minuten weggewesen, während Ran in der Detektei bestimmt mehr als eine Viertelstunde gebaucht hatte. „Naja, wie auch immer“, meinte Ran schulterzuckend. „Vielleicht hatte sie die Kräutermischung schon vorher fertig.“
    Conan bekam nicht mit, wie das Gespräch begann. Er hörte nur irgendwann, wie Herr Shiraho mit herablassendem Tonfall sagte: „Du musstest ja unbedingt sie heiraten! Wie soll ich dir die Firma guten Gewissens überlassen, wenn deine Frau keine Kinder kriegen kann?“
    Toshiaki entgegnete daraufhin wütend: „Hast du eigentlich keine anderen Sorgen, Vater? Warum müssen wir das ausgerechnet jetzt ausgerechnet hier besprechen?“
    „Wir besprechen gar nichts“, behauptete sein Vater seelenruhig und trank von seinem Tee. „Ich bemerke nur, was stimmt. Dass deine Frau unfähig ist, dir einen Erben zu zeugen.“
    Sayuri stand so plötzlich auf, dass Ran und Conan zusammenzuckten. „Es reicht!“, rief sie tief beleidigt und stürmte aus dem Zimmer.
    „Yuri, warte doch!“, versuchte Toshiaki, seine Frau noch zurückzuhalten, doch sie reagierte nicht. „Toll gemacht, Vater!“, giftete er Herrn Shiraho an. Ohne ein weiteres Wort lief er Sayuri nach. Von oben konnte man hören, wie eine Tür zugeschlagen wurde.
    Ran, die so schon wegen des Streits, dessen Zeugin sie soeben geworden war, angespannt war, und zur Beruhigung eigentlich einen Schluck Taruhamatsu hatte nehmen wollen, zuckte wieder zusammen. Der Tee schwappte über den Becherrand und bespritzte Conans dunkelblauen Anzug. „Heiß, heißheiß!“, japste er erschrocken und sprang auf, verzweifelt mit dem Arm wedelnd, um die Flüssigkeit so schnell wie möglich abzukühlen. Auf dem Ärmel und der Brust breiteten sich braungrüne Flecken aus.
    „Heute ist einfach nicht mein Tag“, seufzte Ran und tupfte den Stoff mit einer Serviette ab. „Tut mir leid, Conan“, entschuldigte sie sich aufrichtig. „Geht’s wieder?“
    „Ja, ich glaube schon“, meinte er und besah sich den Fleck am Ärmel genauer.
    „Den müssen wir sofort rauswaschen, sonst bleibt er noch dauerhaft.“ Ran warf die Serviette auf den Tisch und nahm Conan an der Hand. „Dann sind Jackett und Hemd beide ruiniert. Wir sollten sie kurz ins Wasser halten…“
    Erschrocken entwand Conan sich ihrem festen Griff. „Danke, ich schaff das auch allein!“, wehrte er sie ab und lief schleunigst aus dem Wohnzimmer, bevor er hochrot anlief. So weit kam es noch, dass Ran ihn bis auf die Haut auszog!
    Nachdem Conan das Gröbste an grünen Teeflecken entfernt hatte, ging er wieder zurück. Das weiße Hemd war wahrscheinlich nicht mehr zu retten, aber auf dem blauen Stoff des Jacketts fiel die Verfärbung fast nicht auf.
    Als er die Tür des Wohnzimmers erreichte, öffnete sie sich von selbst, und Herr Ito kam ihm entgegen. Eine Sorgenfalte prangte auf seiner Stirn, und als er die Tür hinter sich schloss, seufzte er. Da bemerkte er Conan und legte schnell das an ihm gewohnte sorglose Lächeln auf. „Na, Kleiner, Dreck entfernt?“
    „Ja, so gut es ging“, antwortete Conan. Herr Ito ging an ihm vorbei ins Badezimmer, während Conan selbst wieder ins Wohnzimmer trat. Sogleich fiel ihm auf, dass am Esstisch mehr Personen fehlten, als er in Erinnerung hatte. „Nanu? Wo sind denn Frau Yamano und Herr Shiraho?“, fragte er verwundert.
    „Frau Yamano ist wieder rauchen gegangen“, gab Ran ihm Auskunft, als er sich wieder neben sie setzte. „Und Frau Shiraho hat ihren Ehemann ins Orchideenzimmer geschickt, eine CD holen.“
    „Mein Vater liebt europäische Klassik, musst du wissen“, informierte Emi. „Vor allem Bach hat es ihm angetan. Meine Mutter denkt bestimmt, dass etwas Musik uns alle etwas beruhigen wird.“
    Frau Shiraho seufzte. „Ja, das könnten wir nämlich wirklich gebrauchen.“ Sie warf einen Blick in die Runde, die nur noch aus Conan, Ran, Kogoro und Emi bestand. „Und vielleicht sollten wir die dicke Luft rauslassen. Emi, könntest du bitte…“ Sie brach plötzlich ab und stand auf. „Nein, lass nur, ich mach das“, meinte sie unzusammenhängend und ging um den Tisch herum. Sie entriegelte das Fenster und schob gegen die beiden Flügel an, die kurz zu klemmen schienen, dann aber nach außen aufschwangen.
    „Sie haben wirklich einen wunderschönen Garten!“, bemerkte Kogoro und trat ans Fenster. Die herbstlichen Ebereschen, die auf der Wiese standen, verwandelten das Sonnenlicht in pures Gold.


    Akira Shiraho suchte in seinem Orchideenzimmer nach der CD mit Bach-Musik. Eigens für seine Sammlung an Tonträgern bester Klassik hatte er ein Fach im Massivholzregal freigehalten, das mit den leblosen Souvenirs seiner Reisen beladen war. „Wo ist denn nur diese CD…“, grummelte er in sich hinein, konnte sie aber nicht finden.
    Da hörte er hinter sich ein Rascheln und drehte den Kopf nach hinten.
    Das Letzte, was er sehen sollte, war, wie der Topf seiner geliebten Blauen Orchidee auf ihn niedersauste.


    Sie bestaunten noch immer den goldenen Garten, als plötzlich ein lautes Klirren ertönte.
    „Was war denn das?“, fragte Ran verwirrt.
    „Ich glaube, das kam aus dem Orchideenzimmer“, meinte Frau Shiraho. „Ich habe es durch das Fenster gehört.“
    Von einer plötzlichen Vorahnung getrieben stürmten Conan und Kogoro aus dem Wohnzimmer. Dabei stießen sie fast mit Herrn Ito zusammen, der seinen Toilettengang beendet hatte und gerade zurückkommen wollte. „Hey, was ist denn hier los?“ Aber die beiden Detektive nahmen ihn nicht zur Kenntnis, sondern liefen weiter zum Orchideenzimmer.
    Dort bot sich ihnen ein fürchterlicher Anblick: Herr Shiraho lag zusammengesunken vor dem Souvenirregal, umgeben von einigen CDs, die aus ihrem Fach gefallen waren, Scherben des Blumentopfs und der dazugehörigen Erde. Der Blütenstand der Blauen Orchidee war von der Pflanze abgebrochen.
    Hinter Conan und Kogoro kamen nun auch Emi und Herr Ito ins Zimmer. „Was zum …?“, entfuhr es letzterem, und er stürmte zu seinem Jugendfreund. „Akira!“, donnerte er, doch der Hausherr konnte ihn bereits nicht mehr hören. „Akira, was ist passiert?“ Vor Entsetzen stieß Emi einen spitzen Schrei aus.
    „Der Täter muss durch das Fenster geflohen sein!“, sagte Kogoro bestimmt und lief auf das Südwestfenster zu und riss es auf, um dem Mörder nachzulaufen.
    Das kann nicht sein! Warum sollte er das Fenster von außen schließen? Daher stürmte Conan durch die Tür, den Flur runter und aus dem Haus. Der Täter konnte noch nicht weit sein, musste sich noch hier auf dem Parkplatz befinden. Doch da war er nicht. Ob er nach hinten in den Garten gelaufen ist?, fragte sich Conan und rannte nach links zu dem grasbewachsenen Weg, der um das Haus herum in den Garten führte.
    Doch an der Ecke stieß er nur mit Kogoro zusammen. Der Aufprall warf beide nach hinten. „Hast du ihn gesehen?“, polterte Kogoro sofort, ohne sich um sein schmerzendes Gesäß zu kümmern. Conan schüttelte nur den Kopf – also war der Täter nicht durch den Garten und auch nicht durch den Eingang geflüchtet. Die beiden Detektive rappelten sich auf und überquerten den Parkplatz. „Wenn er weder in die eine, noch in die andere Richtung gelaufen ist“, schlussfolgerte Kogoro, „dann kann das nur eines bedeuten. Der Mörder…“ Er verstummte und sie blieben vor dem Gebäude stehen und sahen zur Fassade auf.
    Mit ernstem Gesichtsausdruck brachte Conan den Satz zu Ende: „Der Mörder ist noch im Haus!“

  • [tabmenu][tab=Whut?]Ich musste es aufteilen - es ist viel zu lang! x'D
    Oder zumindest nehme ich das an, da das Tabmenu ab Teil 3 nicht mehr angezeigt wird o0
    Edit: Hm, oder auch nicht. Irgendwas ist nicht in Ordnung mit dem Code... kommt vielleicht daher, dass ich ihn per Hand erstellt habe. Irgendwo muss ein Fehler sein o0 Ich arbeite dran...
    Edit²: So, jetzt klappts. War wohl alles zu lang .__. Teil 3 und 4 kommen dann halt in nen eigenen Post...[tab=Teil 3]

    Taruhamatsu shi buru no Okkido
    Taruhamatsu und die Blaue Orchidee


    Chosa
    Teil 3 - Untersuchung


    Conan und Kogoro kehrten zum Hauseingang zurück, auf dessen Veranda Frau Yamano sich gerade eine Zigarette anzündete. Der geschrumpfte Oberschüler wurde sogleich stutzig: Hatte sie schon hier an dem Tisch gesessen, als er vorhin rausgerannt war? Er konnte sich nicht daran erinnern, allerdings war er auch so überhastet herausgestürmt, dass sie ihm schlichtweg entgangen war. Trotzdem war etwas merkwürdig, auch wenn ihm nicht einfallen wollte, was es war…
    „Frau Yamano“, sprach Kogoro die Vertreterin sogleich an, „saßen Sie die ganze Zeit über hier?“
    Bevor sie antwortete, zog sie einmal genüsslich an ihrem Glimmstängel und klopfte die Asche in den dafür bereitstehenden Becher, in dem ein paar abgebrannte Kippen lagen. „Ja, die ganze Zeit“, erwiderte Frau Yamano hinter einer Wolke aus Zigarettenqualm.
    „Haben Sie irgendjemanden herauslaufen sehen?“, wollte Kogoro wissen.
    Frau Yamano zog eine Augenbraue hoch. „Nein, wieso fragen Sie?“
    Conan horchte auf.
    „Wenn das so ist, möchte ich Sie bitten, mit reinzukommen“, verlangte der Privatdetektiv, ohne weiter auf ihre Frage einzugehen.
    „Wenn’s denn sein muss“, seufzte Frau Yamano und drückte ihre eben angefangene Zigarette aus. Die drei betraten wieder das Haus. Während Frau Yamano gleich ins Wohnzimmer weiterging, kehrten Conan und Kogoro noch einmal ins Orchideenzimmer zurück.
    Hier hatte sich mittlerweile eine Blutlache unter Herrn Shiraho gebildet und zeugte eindeutig davon, dass er nur wenige Minuten zuvor ermordet worden war. Über ihm hockte Koji Ito, sein Jugendfreund, fassungslos das Blut an seinen Händen anstarrend. Toshiaki hielt seine schluchzende Schwester tröstend im Arm, doch auch an seinem Gesichtsausdruck erkannte man, dass ihn der Anblick seines toten Vaters mehr mitnahm, als er zeigen wollte. Das Fenster, durch das Kogoro rausgesprungen war, stand noch immer offen, und der Wind wehte ein paar Blätter herein.
    Kogoro trat an Herrn Ito heran und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Ich weiß, dass der Tod Ihres Freundes Sie sehr mitnimmt“, sagte er vorsichtig, in seiner Stimme schwang Bedauern mit. „Aber dies ist ein Tatort, und Sie müssen leider von der Leiche zurücktreten.“ Nun wandte er sich an alle Anwesenden. „Bis auf weiteres sollten Sie sich alle ins Wohnzimmer begeben, bis die Polizei eingetroffen ist und sich der Sache annehmen kann. So lange sollte sich niemand dem Orchideenzimmer nähern.“
    Ohne ein Wort umfasste Toshiaki Emis Schultern und führte sie mit sanftem Druck aus dem Zimmer. Auch Herr Ito stand nun endlich auf und folgte ihnen, mit dem Entsetzen in seinem Gesicht nur noch ein Schatten seiner selbst. Das Schlusslicht bildeten Kogoro und Conan, der sich jedoch noch ein letztes Mal umdrehte und den Blick über den Tatort schweifen ließ. Konnte es sein, dass der Täter durch die Tür hereingetreten war? In diesem Fall musste das Opfer ihm ganz vertraut haben, wenn er weiterhin am Regal gestanden und nach der CD gesucht hatte. Außerdem war es notwendig, hinter Herrn Shiraho zu gehen, um die Blaue Orchidee, deren Blumentopf als Mordinstrument gedient hatte, von ihrem Sockel zu nehmen.
    Im Wohnzimmer stellte Conan rasch fest, dass sich hier alle Gäste – bis auf Herrn Ito, der sich wohl das Blut seines Freundes abwusch – eingefunden hatten. Auch Sayuri, Toshiakis Ehefrau, war hier, obwohl sie bis eben noch in ihrem Zimmer im ersten Stock gewesen war. Vielleicht war sie von dem Schrei, den Emi ausgestoßen hatte, nach unten gelockt worden, und hatte fälschlicherweise angenommen, er käme aus dem Wohnzimmer. Sie, Ran und Frau Shiraho warfen den Eintretenden ratlose Blicke zu.
    „Was ist denn passiert?“, wollte Ran wissen. „Warum hast du so geschrien, Emi?“
    Die junge Frau antwortete nicht, sondern wankte zum Sofa und ließ sich darauf nieder. An ihrer Stelle antwortete ihr älterer Bruder mit belegter Stimme: „Vater… Vater ist ermordet worden!“ Ein Terzett aus geschockten Gesichtern brandete ihnen entgegen. Frau Shiraho schlug die Hände vor den Mund. Auch Frau Yamano riss die Augen auf, jedoch sprach aus ihrem Blick eher Überraschung als wirkliche Entrüstung.
    „Ran, rufe bitte die Polizei“, trug Kogoro seiner Tochter auf, als Herr Ito ins Wohnzimmer kam. Seine Augen waren noch immer entsetzensstarr, als er sich auf einen Stuhl sinken ließ. „Sie alle sind, mit Verlaub, Verdächtige in einem Mordfall. Deswegen müssen Sie vorerst hierbleiben, damit ich ausschließen kann, dass sie eventuelle Spuren an Tatort oder Leiche entfernen.“
    „Und was ist mit dem Jungen?“, fragte Frau Yamano. „Darf der hier einfach so rumstromern?“
    Erschrocken sah Kogoro sich im Zimmer um. Conan war nicht mehr da. „Dieser Lausebengel!“, schimpfte er wütend. „Wenn ich ihn in die Finger kriege!“ Schnaubend bremste er sein Temperament und hüstelte, um den Ausbruch zu kaschieren. „Nun, er gilt ja nicht als Verdächtiger. Ich glaube nicht, dass er Grund hätte, etwas am Tatort zu verändern.“


    Jenen Tatort suchte Conan auch gar nicht auf. Anstatt am oberen Ende des Flurs vom Wohnzimmer aus gehend nach rechts ins Orchideenzimmer abzubiegen, wandte er sich nach links und verließ das Haus. Dabei versuchte er zurückzuverfolgen, welchen Weg der Täter genommen haben könnte. Es war eher unwahrscheinlich, dass er durch das Fenster geflohen war, immerhin war es bei ihrer Ankunft im Orchideenzimmer angelehnt gewesen. Warum sollte ein flüchtiger Mörder sich schon die Zeit nehmen, ein Fenster zuzuziehen? Natürlich war dabei noch immer rätselhaft, warum das Fenster überhaupt angelehnt und nicht ganz geschlossen war.
    Conan ließ den Blick über den Parkplatz schweifen. Ob der Mörder ein Auto zur Flucht genommen hatte? Wenn es keiner der Anwesenden war, dann vielleicht ein Bekannter, der ebenfalls einen Schlüssel für den Fluchtwagen hatte. Auf dem Platz standen fünf Autos. Mit einem davon hatte Emi den Detektiv und seine Begleitung hergefahren. Drei davon waren bereits hiergewesen, als sie angekommen waren – jeweils ein Auto der beiden Ehepaare Shiraho und eines, das Herrn Ito gehörte. Der letzte gehörte wahrscheinlich Frau Yamano, die als Letzte eingetroffen war.
    Ob der Täter ein eigenes Auto hatte?, fragte sich Conan und nahm denselben Weg, den er gerannt war, bevor er mit Kogoro zusammengestoßen war. Unerklärlich war jedoch in beiden Fällen, warum Frau Yamano nichts mitbekommen hatte. Wenn sie nicht auf der Veranda gewesen war, als der Täter oder Conan herausgelaufen gekommen waren, so hätte sie doch wenigstens ein Motorengeräusch hören müssen.
    An der Ecke, an der Conan so unsanft auf Kogoro getroffen war, hörte der Asphalt des Parkplatzes auf und machte einem schmalen Grünstreifen Platz, der nach hinten in den Garten führte. Rechts wurde er von einem hohen Holzzaun eingegrenzt, der es unmöglich machte, dass der Mörder über ihn in ein anderes Grundstück entkommen war.
    Auf seinem Rundgang ums Haus kam Conan an einem Wohnzimmerfenster und der Terassentür vorbei. Wenn der Täter doch durch das Fenster des Orchideenzimmers gestiegen war, um anschließend durch den Garten zu laufen, hätten Ran und Frau Shiraho, die sich währenddessen im Wohnzimmer aufgehalten hatten, ihn dabei sehen müssen. Der Garten an sich bot jedenfalls nicht genug Deckung, um sich irgendwo zu verstecken, und war ringsum, außer an der Flussseite, mit dem hohen Holzzaun umfasst.
    Conan erreichte das Fenster, das Frau Shiraho, kurz bevor sie das Klirren des Orchideentopfes gehört hatten, geöffnet hatte. Mittlerweile musste es jemand wieder geschlossen haben. Auf halber Höhe des Rahmens entdeckte Conan etwas, das eigentlich nicht dorthin gehörte: Zwei kleine Haken. Er konnte sich nicht erinnern, sie am anderen Wohnzimmerfenster gesehen zu haben. Wozu sie wohl dienen mochten?
    Das nächste Fenster war jenes, durch das Kogoro aus dem Orchideenzimmer in den Garten gelangt war. Es stand noch immer offen und gab den Blick auf den Tatort frei. Es hatten sich noch weitere hellgelbe Eschenblätter im Raum gesammelt, sodass Conan die nach außen schwingenden Flügel zuschob, damit nicht noch mehr reingeweht wurden.
    Nun war er am Fluss angekommen, der leise plätschernd neben dem Haus vorbeiführte. Conan stellte sich an die Hausecke und blickte ans andere Ufer. Eine mannshohe Hecke schirmte den Blick zum nächsten Grundstück ab, weswegen unwahrscheinlich war, dass die Nachbarn etwas gesehen haben konnten. Wenn der Täter durchs Wasser stromauf- oder abwärts geflohen war, wäre er kaum schnell genug vorangekommen. Am Fluss entlang war es auch nicht möglich, denn dieser floss so nahe am Haus vorbei, dass nur Platz für einen schmalen Bordstein war, auf dem man zwar gehen, aber nicht laufen konnte.
    Conans Aufmerksamkeit wurde kurz abgelenkt, als er eine Bewegung im Wasser ausmachte. Ein Bachspatz badete dort im Wasser und flatterte aufgeregt mit den Flügeln. Doch irgendetwas an diesem spielerischen Bad war seltsam. Bachspatzen waren niemals allein, sondern immer im Schwarm unterwegs. Außerdem tauchte der kleine Vogel immer wieder unter. War sein Gefieder zu nass, um aufzufliegen und dem tiefen Wasser zu entkommen?
    Auf den Knien im Gras hockend, beugte Conan sich vor, um dem Vogel aus seiner misslichen Lage zu helfen. Vorsichtig schloss er die Hand um das verängstigte Tier, das erschrockene Piepslaute ausstieß. Es wehrte sich, als sein verkannter Retter es aus dem Wasser zog und, es festhaltend, damit es ihm nicht runterfiel, genauer in Augenschein nahm. Die Flügel hatten sich hoffnungslos in einem dünnen, durchsichtigen Plastikfaden verheddert. Wer wirft denn Drachenschnur in einen Bach?, fragte sich Conan und nahm Schneidersitz an. Mit äußerster Sorgfalt begann er, den Spatz von der Schnur zu befreien. Das kleine Wesen zappelte nun wenigstens nicht mehr, was aber auf Erschöpfung zurückzuführen war. Noch ein bisschen länger, und es wäre hilf- und kraftlos ertrunken.
    Endlich war der Piepmatz von seiner Fessel befreit. In Conans Hand schüttelte er kurz sein Gefieder, ordnete die malträtierten Schwungfedern und flatterte dann mit letzter Kraft über den Bach in die gegenüberliegende Hecke.
    Conan blickte ihm hinterher und widmete sich dann wieder der Drachenschnur. Wahrscheinlich hatte der Bachspatz sich darin verfangen, als er zwischen den Steinen nach Flohkrebsen gesucht hatte. So, wie es ihm ergangen war, würden sich auch seine Artgenossen darin verheddern. Also fasste Conan sich ein Herz und begann, die Schnur aufzuwickeln. Sie war wesentlich länger, als er zuerst angenommen hatte, mindestens zehn Meter – was natürlich auch kein Wunder war, immerhin ließ man einen Drachen so hoch wie möglich steigen. An einer Stelle etwa in der Mitte war die Schnur wellenförmig ausgeleiert, ganz so, als sei sie stramm um etwas gewickelt gewesen. Außerdem klebte an dieser Strecke ein Streifen Klebeband.
    Schließlich endete die Schnur in einer kleinen, zerrissenen Schlaufe. Sehr merkwürdig, dachte Conan und hielt sich das Ende vor die Nase. Die Schlaufe war gebunden und überstrapaziert worden, sodass sie gerissen war. Warum sollte jemand seinen Drachen nur einfach anbinden?
    Der Rest der Schnur war weniger leicht aufzuwickeln. Nach nur kurzer Zeit schien sie sich zwischen den Steinen verklemmt zu haben. Conan zog und zupfte, aber statt nur des anderen Endes löste sich mit diesem ein ganzer faustgroßer Stein, an dem die Schnur angebunden war. Die ganze Sache wurde immer mysteriöser, aber im Moment hatte er ein anderes Rätsel zu lösen. Um später darauf zurückzukommen, schlug Conan Stein und Schnur in ein Taschentuch ein und steckte das Ganze in seine Hosentasche.
    Nur zufällig fiel sein Blick auf den Bordstein, der am Fluss vorbeiführte. Dort war das gleichmäßige Dunkelgrau des Betons durch einen helleren Fleck unterbrochen. Irgendetwas musste hier vor gar nicht langer Zeit aufgeschlagen sein und hatte dabei diese kleine Delle hinterlassen. Conan hob den Blick. Genau über dieser Stelle befand sich das Südostfenster des Orchideenzimmers. Auch an der Unterseite des Fensterbretts befanden sich frische Abschürfungen. Wie war etwas dorthin gelangt, um Kratzer zu hinterlassen?
    Während Conan darüber nachgrübelte, fiel ihm auf, dass auch das Südostfenster wie zuvor sein Äquivalent im Südwesten angelehnt war. Dabei waren beide Fenster fest verschlossen gewesen, als Emi ihnen das Orchideenzimmer gezeigt hatte. Kein Zweifel, irgendwie musste das mit dem Mord zusammenhängen. Aber wie?
    An die Hauswand gepresst, schob Conan sich den schmalen Bordstein entlang, unter dem Südostfenster hindurch und weiter flussaufwärts. Schließlich kam er wieder bei der Veranda an. Das Ufer war von Gras bewachsen und grenzte den Fluss somit zum harten Teerboden des Parkplatzes ab. Im Gras entdeckte Conan einige graue Flecke. Er ließ sich in die Hocke sinken, zerdrückte die krümelige Substanz in den Fingern und roch vorsichtig daran. Zigarettenasche?, erkannte er sogleich und stand wieder auf, misstrauisch zur Veranda blickend. Aber warum gerade hier?
    Er nahm den Aschenbecher genauer unter die Lupe. Fünf Kippen lagen darin und eine angefangene Zigarette. Drei der Kippen waren von derselben Marke wie die Unverbrauchte – das musste Frau Yamanos Abfall sein. Insgesamt war sie zweimal rausgegangen, einmal während des Essens, einmal kurz vor dem Mord. Wahrscheinlich hatte sie die Angewohnheit, bei jedem Mal zwei Zigaretten zu rauchen, und als Conan und Kogoro zur Veranda gekommen waren, hatte sie sich die zweite angezündet. Hieß das also, dass sie die ganze Zeit über hier gesessen und die erste geraucht hatte? Warum hatte sie Conan dann nicht bemerkt? Da fiel ihm endlich ein, was ihm gleich komisch vorgekommen war, als sie mit Frau Yamano gesprochen hatten: Es hat auf der Veranda nicht nach Zigarettenqualm gestunken…
    Soeben erklangen Motorengeräusche auf der Auffahrt. Ein silbernes Auto fuhr auf den Parkplatz, gefolgt von einem schwarz-weißen Streifenwagen und dem Mobil der Spurensicherung. Vielleicht findet die Polizei mehr heraus, entschied Conan und näherte sich den Neuankömmlingen. Aus dem Auto, das die kleine Prozession angeführt hatte, stiegen nun Inspektor Megure und Kommissar Takagi. Als letzterer den Jungen erblickte, huschte ein überraschter Ausdruck über sein Gesicht.
    „Nanu, Conan?“, begrüßte er ihn. „Was machst du denn hier?“
    „Wir wurden zum Geburtstag des Opfers eingeladen“, antwortete er wahrheitsgemäß.
    Wir?“, wiederholte der Inspektor. „Soll das heißen, Mori ist auch hier?“ Mit genervtem Blick wandte er sich an Takagi. „Warum wundert mich das nicht?“
    „Ja, der ist auch da“, bestätigte Conan. „Er hat alle Gäste ins Wohnzimmer gebracht. Sie warten schon auf Sie.“ Gefolgt von der Polizei und der Spurensicherung erklomm Conan die Stufen und trat auf die Eingangstür zu. Wie Kogoro zuvor, als die beiden und Frau Yamano wieder reingegangen waren, drückte er die Tür einfach auf.
    Ein plötzlicher Gedankenblitz ließ ihn innehalten. Die Tür verfügte über einen Mechanismus, der es ermöglichte, durch einen kleinen Riegel einstellen zu können, ob sie einfach von außen geöffnet werden konnte, wie er es gerade getan hatte, oder man einen Hausschlüssel benötigte. Als sie mit Emi gekommen waren, hatte diese ihren Schlüssel nicht gefunden und klingeln müssen. Als Kogoro und Frau Yamano rausgegangen waren, um zu rauchen, waren sie ohne weiteres reingekommen. Das musste bedeuten, dass zumindest seit dem Essen jener Mechanismus aktiv war. Dadurch wäre es möglich, dass Frau Yamano ins Haus eingedrungen war, um Herrn Shiraho zu erschlagen.
    Grübelnd zeigte Conan den Beamten den Weg ins Wohnzimmer.


    „Das Opfer ist Akira Shiraho, auf den Tag genau sechzig Jahre alt, Inhaber und Direktor der Maschinenbaufirma Shiraho Mashines“, leierte Megure seine gewohnte Litanei herunter, während die Spurensicherung den Tatort inspizierte. „Todeszeitpunkt ziemlich genau 15:09 Uhr. Todesuhrsache war ein Schlag auf den Kopf mit dem Blumentopf einer seiner Orchideen, der daraufhin zerbrochen ist. Der Mörder ist vermutlich einer der Anwesenden. Und einer dieser Anwesenden ist – wie soll es auch anders sein – unser werter Herr Mori!“ Seine Stimme triefte vor Sarkasmus, als er sich dem Detektiv zuwandte, der mit Conan der einzige Außenstehende im Orchideenzimmer war. „Wie kommt es eigentlich, dass wir uns immer an Tatorten begegnen? Sind wohlmöglich Sie diesmal der Täter?“
    Kogoro rieb sich verlegen den Hinterkopf. „Ich bitte Sie, Herr Inspektor, ich bin zum ersten Mal hier. Das ist alles …“
    „… purer Zufall?“, beendete Megure donnernd; Kogoro verstummte eingeschüchtert. „Ja, das sagen Sie immer.“ Der Inspektor seufzte. „Nun ja, man kann nichts dagegen machen, dass Ihr Weg mit Leichen gepflastert ist. Jedenfalls sollten wir die Gäste befragen und sehen, was dabei herauskommt.“


    Kurze Zeit später waren alle Gäste im Wohnzimmer auf der Sofaseite versammelt. Während Inspektor Megure die Befragung durchführte, schrieb Kommissar Takagi die relevantesten Details in sein kleines Notizbuch nieder. Conan und Kogoro standen bei den beiden Polizisten.
    „Wie mir Herr Mori bereits mitgeteilt hat“, verkündete der Insektor, „befanden sich zur Tatzeit fünf Personen in diesem Raum. Ich denke, Herrn Mori und die Kinder können wir als Verdächtige ausschließen, nicht nur, weil sie sich hier im Zimmer aufgehalten haben, sondern auch, weil sie zum ersten Mal hier sind. Mit ihnen im Wohnzimmer waren Frau Shiraho und ihre Tochter. Ist das richtig so?“ Er wandte sich an die Hausherrin und Emi. Die beiden nickten synchron, und auch Kogoro bestätigte noch einmal. „Gut“, fuhr Megure fort, „damit ist Ihr beider Alibi eindeutig bewiesen. Dennoch muss ich Sie fragen, in welcher Beziehung Sie zum Opfer standen.“
    Emi ließ ihrer Mutter den Vortritt, sodass diese auch gleich begann: „Mein Mann und ich hatten ein sehr gutes Verhältnis. In den Klatschblättern wurde in letzter Zeit nur aus irgendeinem Grund von Eheproblemen gesprochen.“
    „Entspricht das denn der Wahrheit?“, wollte der Inspektor wissen.
    „Um Himmels Willen, nein!“, empörte sich Frau Shiraho entrüstet.
    „Mein Vater und ich haben uns immer gut verstanden“, gab Emi Auskunft, als die Reihe an ihr war. „Seit ich ein Kind war, hatten wir nur selten Krach. Allerdings war er auch nicht oft zuhause, wenn er auf Geschäftsreise war. Er war zwar nie begeistert davon, dass ich nicht Zahnärztin geworden bin, wie er sich das gewünscht hat, aber wir hatten uns deswegen nie in den Haaren. Er hat mir immer meine Freiheiten gelassen.“
    „Sie, Frau Shiraho, und Ran waren im Wohnzimmer, als die Leiche gefunden wurde. Man hat mir gesagt, der Täter sei vielleicht durch das Fenster geflüchtet. Haben Sie irgendjemanden durch den Garten rennen sehen?“
    „Nur Paps“, antwortete Ran stellvertretend. „Da ist er wahrscheinlich dem Täter nachgelaufen.“
    „Also gut.“ Der Inspektor wandte sich nun an das jüngere Ehepaar Shiraho. „Toshiaki und Sayuri Shiraho, Sie sind Sohn und Schwiegertochter des Opfers, richtig? Wo hielten Sie sich zur Tatzeit auf?“
    „Wir waren beide oben“, antwortete Toshiaki sofort – ein bisschen zu schnell, wie Conan fand. „In unserem Zimmer. Es hatte einen… kleinen Streit gegeben, und ich wollte Sayuri ein bisschen Gesellschaft leisten, bis sie sich wieder beruhigt hätte.“
    „Ein Streit?“, hakte Megure genauer nach. „Wessen Inhalts?“
    Toshiaki senkte den Blick. Ihm war es wohl unangenehm über etwas zu sprechen, das eigentlich allein seine Frau betraf. Sayuri schien seine Verlegenheit zu bemerken, sodass sie diesen Part übernahm: „Ich kann keine Kinder kriegen. Akira war das immer ein Dorn im Auge, weil er sichergehen wollte, dass seine Firma in der Hand seiner Familie bleibt. Er wollte unbedingt einen Erben und hat mich daher nie gemocht.“
    „Da hätten wir doch ein Motiv!“, meldete Kogoro sich plötzlich zu Wort. „Einer von Ihnen muss es gewesen sein, und zwar aus dem Grund, dass Herr Shiraho keine Ruhe in dieser Angelegenheit gab!“
    „Aber wir waren doch die ganze Zeit zusammen“, gab Toshiaki zurück. „Wie hätten wir da einen Mord begehen sollen?“
    „Ganz einfach.“ Mit theatralischer Geste deutete der Detektiv auf das junge Ehepaar. „Sie sind Komplizen! Es ist nicht nötig, dass Sie beide runter gegangen sind, um Herrn Shiraho zu erschlagen – es reicht auch nur einer, und der andere behauptet einfach, Sie seien die ganze Zeit zusammengewesen.“ Siegessicher verschränkte er die Arme vor der Brust. „Ich stelle mir das folgendermaßen vor: Nachdem Sie, Toshiaki, Ihrer Ehefrau in Ihr Gästezimmer gefolgt waren, fassten Sie zusammen den Entschluss, Ihren Vater zu ermorden. Sayuri blieb allein im Zimmer zurück, während Sie runtergingen und im Orchideenzimmer auf Ihr Opfer lauerten. Sie wussten, Ihr Vater würde im Laufe des Nachmittags irgendwann zwangsläufig hereinkommen. Als er dann endlich kam, wunderte er sich nicht weiter, dass Sie dort waren, schließlich ist das Zimmer frei zugänglich. Sie warteten auf den richtigen Moment, griffen sich die Blaue Orchidee“, während Kogoro die Handlungen aufzählte, führte er sie mit einem imaginären Blumentopf vor, „und erschlugen Ihren Vater von hinten!“ Zur Demonstration zog er dem Inspektor mit der unsichtbaren Mordwaffe eins über den Kopf.
    „Und woran stützen Sie diese haltlosen Anschuldigungen?!“, fuhr Toshiaki aus der Haut. „Ich war doch nicht im Orchideenzimmer, als Sie und die anderen angelaufen kamen!“
    „Das ist korrekt“, stimmte Kogoro gelassen zu. „Aber Sie kamen kurz nach uns am Tatort an. Nachdem Sie Herrn Shiraho erschlagen haben, sind Sie nämlich aus dem Zimmer gerannt und haben sich in der Küche versteckt, bis wir die Leiche entdeckt haben. Danach mussten Sie sich einfach nur zu uns gesellen.“
    „Das ist doch absurd!“, konterte Toshiaki, doch auch er schien zu erkennen, dass er dagegen nicht viel einwenden konnte.
    „Nun bremsen Sie sich wieder, Herr Mori“, verlangte Inspektor Megure und legte seinem ehemaligen Kollegen die Hand auf die Schulter. „Hören wir uns erst noch die anderen Verdächtigen an, dann sehen wir weiter.“
    „Wenn ich mich hätte verstecken können“, griff Toshiaki wieder auf, „dann wohl auch Onkel Koji! Nur ist er einfach früher rausgerannt und vor mir angekommen.“
    Der Inspektor zog die Augenbrauen hoch und wandte sich an Herrn Ito. „Stimmt das?“
    Der Angesprochene, der ob des Todes seines besten Freundes noch immer leicht apathisch wirkte, nickte mechanisch. „Ich war kurz davor auf der Toilette. Als ich rausgekommen bin, sind mir Herr Mori und der Junge entgegengekommen und ins Orchideenzimmer gerannt. Bis dahin habe ich nicht mitbekommen, was passiert ist.“
    „Sie haben also das Klirren des Blumentopfes nicht gehört?“, fragte der Inspektor.
    Koji Ito nickte. „Aber ich hätte niemals ein Motiv gehabt, Akira zu töten“, bekräftigte er. „Wir sind beste Freunde seit der Mittelschule.“
    „Sicher?“ Es war wieder Kogoro, der sich in das Verhör einmischte. „So weit ich informiert bin, sind Sie damals mit Miko zusammen gewesen, die Sie dann jedoch verließ und später Herrn Shirahos Frau wurde.“
    In Herrn Itos Augen blitzten Zorn und Trauer gleichermaßen, als er zurückwarf: „Meinen Sie wirklich, ich würde meinen besten Freund wegen dieser Sache umbringen? Das ist vierzig Jahre her, so nachtragend bin ich nicht!“
    Kogoro setzte soeben zu einer genauso scharfen Erwiderung an, als Inspektor Megure ihm dazwischenfuhr: „Ihre Vermutungen bringen uns jetzt auch nicht weiter. Bitte lassen Sie uns erst die Befragung beenden!“
    Frau Yamano, die als Letzte an der Reihe war, schnippte Zigarettenasche in einen Aschenbecher auf dem Wohnzimmertisch. Besonders pietätvoll ist sie nicht, überlegte Conan misstrauisch. Die Leiche des Hausherrn ist noch nicht kalt, und schon tut sie das, was er am meisten verabscheute. Das macht sie sehr verdächtig…
    „Ich war die ganze Zeit über auf der Veranda draußen“, sagte die Vertreterin und blies eine Rauchwolke in die Luft.
    „Kann das irgendjemand bezeugen?“, wollte der Inspektor wissen.
    „Leider nicht“, antwortete Frau Yamano knapp. „Ich war allein.“
    „Haben Sie jemanden überstürzt rauslaufen sehen?“
    „Es kam niemand aus dem Haus.“ Frau Yamano deutete mit der Zigarette auf Kogoro. „Es kamen nur Herr Mori und der Kleine irgendwann zur Veranda.“
    Schon wieder!, schoss es Conan durch den Kopf. Sie hat mich schon wieder nicht erwähnt! Aber so überhastet, wie er aus dem Haus gestürmt war, hätte sie ihn nie und nimmer übersehen können. Die einzige Erklärung dafür war, dass sie tatsächlich zu dem kurzen Zeitpunkt nicht auf der Veranda gewesen war. Wenn sie auch schon vorher nicht dort gesessen hatte, machte sie das nicht zwangsläufig zur Täterin, war aber suspekt genug.
    „Welche Beziehung hatten Sie zu dem Opfer?“, fragte der Inspektor nun.
    „Eine rein geschäftliche. Ich vertrete eine Metallfirma, die mit seiner kooperiert“, antwortete Frau Yamano. Sie zuckte die Schultern. „Was auch immer Sie denken, ich war es nicht; aber sein Tod kommt meinen Vorgesetzten sehr gelegen. Durch ihn haben wir Verluste gemacht, und das wollte der Alte nicht einsehen. Daher sollte ich ihn heute darum bitten, den Vertrag entweder zu ändern oder ganz zu stornieren.“ Jetzt zeigte sie auf Toshiaki. „Die Verhandlungen mit seinem Spross waren wesentlich zuvorkommender. Jetzt werden sie wohl endlich in Kraft treten, wenn er die Firma übernimmt.“
    „Da haben wir doch auch ein Motiv für Sie!“, verkündete Kogoro. Er beugte sich zu Frau Yamano vor und sah ihr eindringlich in die Augen. „Weil Herr Shiraho nicht bereit war, Kompromisse einzugehen, hatten Sie den Auftrag von ihren Vorgesetzten, ihn umzubringen, damit sein Sohn seine Sache profitabler für Ihre Firma machen würde.“
    „Was bilden Sie sich eigentlich ein?!“, keifte Frau Yamano zurück und sprang auf, um nicht von oben herab von ihm angestarrt zu werden. „Ich bin Vertreterin, keine Auftragsmörderin!“
    „Bitte, setzen Sie sich wieder“, forderte Inspektor Megure höflich auf und schob Kogoro beiseite. „Und was Sie betrifft“, sagte er drohend zu dem Detektiv, „halten Sie sich ein bisschen zurück! Sie können hier nicht einfach mit Anschuldigungen um sich werfen.“
    Zunächst hielt Kogoro dem Blick des Inspektors trotzig stand, dann schlug er die Augen nieder. „Verstanden. Verzeihen Sie bitte.“
    Soeben öffnete sich die Wohnzimmertür, und ein Beamter der Spurensicherung betrat den Raum. „Hier sind die Auswertungen, Inspektor“, sagte er und überreichte dem Angesprochenen eine Akte.
    Dieser überflog sie kurz und wandte sich dann an alle Anwesenden: „Dies ist das Ergebnis der Untersuchung an den Scherben des Blumentopfes. Bis auf Fräulein Emi Shiraho, Ran und Conan finden sich von jedem der Gäste Fingerabdrücke darauf, einschließlich Frau Shiraho.“ Unzufrieden kratzte der Inspektor sich an der Schläfe und seufzte: „Das vereinfacht nichts. Wie kommt es, dass sich auf dem Topf so viele verschiedene Abdrücke finden?“
    „Das war eine Macke meines Mannes“, erläuterte Frau Shiraho. „Jedem Gast in unserem Haus drückte er die Orchidee in die Hand. Er meinte, an der Art, wie derjenige den Topf hielte, könnte er den Charakter eines Menschen ablesen. Dass er das deswegen macht, hat er allerdings nur mir erzählt.“
    „Und warum befinden sich Ihre Fingerabdrücke darauf?“, wollte Inspektor Megure weiter wissen.
    „Die Blaue Orchidee steht normalerweise bei den anderen. Akira hat mich damit beauftragt, sie auf ihren Sockel zu stellen, bevor die Gäste eintreffen.“
    „Das ist aber ungewöhnlich“, kommentierte Toshiaki sogleich. „Vater hat doch niemanden an seine Pflanzen herangelassen.“
    Der Inspektor widmete sich wieder den Akten. „Wie ich sehe, sind auf den Scherben auch Fingerabdrücke, die mit keinen der hier Anwesenden übereinstimmen. War denn noch irgendjemand zu Besuch?“ Ihm antworteten unsichere Blicke und einheitliches Kopfschütteln.
    „Halt, nein, da war noch jemand!“, rief Ran plötzlich aus. „Er hat nur geklingelt, und Frau Shiraho hat ihn ziemlich barsch wieder fortgeschickt.“
    „So?“ Der Inspektor wandte sich an die Redliche. „Wieso das denn?“
    Ein Schatten legte sich über die Augen der Hausherrin. „Dieser Mann hat unser friedliches Leben durcheinander gebracht! Er ist es, der die Gerüchteküche mit unseren angeblichen Eheproblemen eingeheizt hat. Ich habe ihn zwar weggeschickt, aber es kann gut sein, dass Akira ihn noch einmal eingeholt hat. Satoshi Karagawa heißt er.“
    „Veranlassen Sie sofort, dass nach ihm gesucht wird!“, bellte der Inspektor einem der beiden Beamten zu, die sich bislang im Hintergrund gehalten hatten. Der Polizist salutierte und eilte aus dem Raum. „So lange sollten wir uns ansehen, was die Spurensicherung noch so zusammengetragen hat“, sagte Megure an Kogoro gewandt, der zustimmend nickte, bevor er ihm folgte.
    Conan wollte ebenfalls hinterher und erwartete, dass Takagi auch mitkommen würde, doch dieser blieb kurz stehen und wartete, bis sein Vorgesetzter außer Hörweite war.
    „Entschuldigen Sie“, sagte er zu Frau Shiraho, die im Sessel saß, neben dem er stand. „Ich brauche fürs Protokoll unbedingt die genaue Uhrzeit, aber meine Armbanduhr ist unglücklicherweise stehengeblieben.“ Verlegen tippte der Kommissar auf den fraglichen Gegenstand.
    Die Hausherrin warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, wofür sie wieder den Rand ihres Blusenärmels zurückschlug. „Es ist jetzt genau zehn nach Vier“, gab sie dem Beamten die Zeit durch. „Aber eigentlich findet sich in jedem Zimmer eine Uhr.“
    „Vielen Dank“, meinte Takagi ehrlich und kritzelte eilig in seinem Notizbuch, bevor auch er den Raum verließ.
    Conan folgte nicht sofort. Irgendetwas an der Situation gerade war merkwürdig, irgendein kleines Detail, das vorher anders gewesen war. Aber ihm wollte nicht einfallen, was es war.


    Im Orchideenzimmer herrschte rege Betriebsamkeit. Die Leiche war weggeschafft worden, und weißes Band markierte Stelle und Position, an der sie gelegen hatte. Einige der Tonscherben des Blumentopfes und die CDs waren fort, und sogar der Blütenstand der Blauen Orchidee war in eine Plastiktüte verpackt worden. Im Moment wuselten die Beamten der Spurensicherung durch den Raum und suchten nach weiteren Spuren.
    Conan ließ den Blick über die Plastiktüten schweifen. Wahrscheinlich hatte man alles nach Fingerabdrücken untersucht, jedoch nur auf den Tonscherben die wirklich relevanten gefunden. Die Orchideenblüten leuchteten noch immer in ihrer strahlenden blauen Farbe, aber etwas an ihnen machte Conan stutzig. Fehlte da nicht etwas?
    Während sich die Männer um ihn herum verhalten unterhielten und Informationen austauschten, trat Conan an die Stelle heran, an der das Opfer gelegen hatte. Das Blut, das aus der Kopfwunde getreten war, war mittlerweile getrocknet. Es fanden sich keine Spritzer davon das Regal hinauf, was darauf hindeutete, dass Akira Shiraho erst zu bluten begonnen hatte, als er bereits am Boden gelegen hatte. Daher konnte der Täter ebenso keine Blutspritzer abbekommen haben. Auf der Suche nach Indizien wanderte Conans Blick immer höher das Regal mit Souvenirs nach oben, bis er schließlich an etwas an der Decke hängen blieb.
    Was ist denn das?, fragte sich der geschrumpfte Oberschülerdetektiv, umrundete die Blutlache und kletterte mutig das Regal hoch, bis er direkt unter der Zimmerdecke war. Angestrengt kniff er die Augen zusammen und versuchte zu erkennen, was der dunkle Fleck am weißen Putz war. Plötzlich schoss es ihm wie ein Blitz durch den Kopf: Blumenerde! Aber wie kommt sie hier herauf?
    „Conan, was machst du da oben?“
    Der Kletterkünstler zuckte ertappt zusammen, schaffte es aber, sich festzuhalten und nicht runterzufallen. Stattdessen drehte er den Kopf, um zu Ran zu blicken. „Ähm… klettern?“, schlug er zögernd vor.
    „Also wirklich!“, schimpfte seine Kindheitsfreundin. „Dich kann man keinen Moment aus den Augen lassen! Aber zumindest findet man dich dann immer dort, wo du nicht sein sollst.“ Conan begann den Abstieg, und auf halber Höhe griff Ran ihm unter die Arme, um ihm den Rest des Weges runterzuhelfen. „Hier ist jemand gestorben, und du spielst Bergsteiger“, tadelte sie ihn.
    „Tut mir leid, kommt nicht wieder vor“, entschuldigte er sich und wusste es doch besser – immerhin gehörte es zu seiner Arbeit als Detektiv, an Tatorten nach Hinweisen zu suchen, auch wenn er seine wahre Identität geheim halten musste. Gerade wollte Ran ihn wieder absetzen, als Conan etwas ins Auge fiel. Um schneller von ihr loszukommen, zappelte er sich aus ihrer Umarmung frei.
    „Hey, was soll das denn schon wieder?“ Sie versuchte, ihn wieder einzufangen, doch er tauchte unter ihr hindurch und sprang auf die Kiste zu, die ein Beamter an die Wand des Südostfensters vor das Regal geschoben hatte.
    „Entschuldigen Sie, Onkel“, machte Conan einen Arbeiter der Spurensicherung auf sich aufmerksam und deutete in die Kiste, die randvoll mit Musik-CDs aus allen Herren Ländern war. „Sind das die CDs, die Onkel Shiraho durchsucht hat?“
    Der Mann bestätigte, aber bevor Conan noch etwas sagen konnte, war Kogoro schon über ihm und zog ihm eins über. „Nervenzwerg!“, donnerte er. „Reicht es denn nicht, dass Ran dich schon von hier wegholen will? Verschwinde endlich und lass uns unsere Arbeit tun!“
    Conan rieb sich mit grimmigem Gesichtsausdruck den Kopf. Unbeirrt fragte er den Beamten weiter: „Liegen sie genau so da, wie sie auch im Regal waren?“ Er deutete auf das Fach des Schrankes, das auf Augenhöhe eines Erwachsenen lag und nun als einziges komplett leer war.
    „Genau so“, gab der Befragte Auskunft. „Diese vorne und diese hier hinten.“
    „Conan, was soll denn das schon wieder?“, fragte Ran verzweifelt und trat hinter ihn.
    „Na, seht doch mal!“, verlangte Conan unbeirrbar mit dem ratlosen Tonfall eines Kindes und deutete in die Kiste. „Das hier ist doch die CD mit Bach-Musik, oder?“
    Kogoro seufzte genervt und beugte sich widerwillig hinunter, um auch ein Auge darauf zu werfen. „Wunderbar, dass du schon so gut römische Buchstaben lesen kannst, aber tu uns jetzt bitte alle den Gefallen und hau ab!“
    „Nein, Onkelchen, schau doch genauer hin!“, forderte Conan ihn weiter auf. „Die Bach-CD war ganz hinten im Regal!“
    „Na und?“
    Conan seufzte innerlich. Und er will ein Detektiv sein? Ein hoffnungsloser Fall… „Wo hast du die Kassette mit deinem Lieblingsfilm von Yoko Okino stehen?“, fragte er und gab Kogoro damit ein Sprungbrett. Mal sehen, ob er jetzt darauf kommt.
    „Ganz vorne, natürlich“, antwortete dieser kurz angebunden.
    „Damit du schnell an sie herankommst, weil du sie oft ansiehst, nicht wahr?“ Komm schon, das kann doch nicht so schwer sein!, drängte Conan in Gedanken.
    Doch anstatt die richtigen Schlüsse zu ziehen, fragte Kogoro nur ungeduldig: „Was hat das mit dem Fall zu tun?“
    Gerade als Conan davor war, an so viel Halsstarrigkeit völlig zu verzweifeln, meinte Ran endlich an Stelle ihres Vaters: „Wenn Herr Shiraho so oft und gerne Bach-Musik hörte, warum liegt die CD dann so weit hinten im Regal? Da müsste er doch jedes Mal alle anderen rausräumen, nur um an die eine heranzukommen.“
    „Was?“, fragte Kogoro begriffsstutzig.
    „Aber natürlich!“, verkündete Inspektor Megure plötzlich, der bislang schweigend dabeigestanden hatte. „Jemand muss die CD weiter nach hinten geschoben haben, damit Herr Shiraho ganz sicher danach suchen musste!“
    Conan grinste triumphierend. Jetzt habt ihr es endlich!
    „Wahrscheinlich hat der Täter das gemacht, um Herrn Shiraho abzulenken und damit in Ruhe mit dem Topf ausholen zu können.“ Der Inspektor wurde grüblerisch. „Aber das würde bedeuten, dass der Mord nicht aus Affekt stattfand. Das könnte seinen Sohn entlasten. Der Täter hat vermutlich länger geplant, Herrn Shiraho umzubringen, und mit der CD die Situation provoziert, die für die Tat am günstigsten war.“
    „Dann können wir den Kreis der Verdächtigen auf diejenigen einschränken, die von seiner Vorliebe für Bach wussten“, knüpfte Kogoro weiter.
    Während die beiden über diese Möglichkeit nachdachten, sah Conan sich noch einmal im Orchideenzimmer um. Dabei entdeckte er in den Schatten zwischen dem Souvenirregal und der südöstlichen Wand einen gräulichen Schimmer. Er sah genauer hin und entdeckte eine gewöhnliche Klappleiter, die groß genug war, um auf ihrer obersten Stufe stehend an die hohe Decke des Zimmers heranzukommen. Wahrscheinlich hatte Herr Shiraho sie benutzt, wenn er die Orchideen runtergenommen hatte, die an der Decke an Haken hingen.
    „Herr Inspektor.“ Es war Kommissar Takagi, der das Zimmer betrat und seinen Vorgesetzten anrief. „Herr Karagawa ist jetzt hier“, informierte er ihn.
    „Gut. Ich komme gleich ins Wohnzimmer.“ Der Inspektor wandte sich an Kogoro. „Sprechen wir erst mit diesem Karagawa, dann sehen wir weiter.“


    Satoshi Karagawa war ein junger, aufstrebender Journalist, dem man ansah, dass er seinen Aufstieg auf der Karriereleiter in allen Vorzügen genoss. Sein überheblicher Blick deckte sich mit dem strengen Haarschnitt und dem dunkelgrauen Seidenanzug. Er hatte abseits der anderen Gäste auf einem Esstischstuhl Platz genommen.
    „Ich habe gehört, dass Herr Shiraho ermordet wurde“, begrüßte er den Inspektor, als dieser ansetzte, etwas zu sagen. „Aber ich weiß nicht, was das mit mir zu tun haben will. Ich bin hier zwar zum ersten Mal fortgeschickt worden, aber das wäre doch kein Grund, ihn zu töten. Er war es ja nicht, der mich weggescheucht hat wie einen Straßenköter.“
    Inspektor Megure räusperte sich beleidigt. „Nun, dann waren Sie also schon häufiger hier?“
    Der Journalist zuckte mit den Schultern. „Zwei, drei Mal. Um das Ehepaar zu interviewen wegen… der Sache.“
    „Die Sie sich ausgedacht haben!“, polterte Frau Shiraho aus dem Sofabereich des Wohnzimmers.
    „Bitte, es geht hier jetzt allein um Herrn Karagawa“, wies der Inspektor sie höflich auf ihren Platz zurück. Zu jenem gewandt bat er: „Fahren Sie fort.“
    „Da gibt es nichts fortzufahren“, behauptete Herr Karagawa. „Das war auch schon alles. Nachdem man mich hier vertrieben hat, bin ich nach Hause gefahren, wo Ihre Kollegen mich aufgesammelt haben.“
    Ein Beamter erschien und hielt dem Inspektor eine weitere Unterlage unter die Nase. Dieser zog überrascht die Augenbrauen hoch. „Das ist ja interessant“, kommentierte er und drehte Karagawa den Wisch zu. „Auf den Scherben des Blumentopfes, mit dem Herr Shiraho erschlagen wurde, haben wir unbekannte Fingerabdrücke entdeckt. Und siehe da, sie stammen von Ihnen, Herr Karagawa! Aber angeblich sind Sie heute ja nicht im Haus gewesen. Wie erklären Sie sich das bitte?“
    Zuerst hielt der Journalist dem bohrenden Blick seines Gegenübers unnachgiebig stand, auch wenn dieser versuchte, ihn in Grund und Boden zu starren. Endlich gab Karagawa auf und korrigierte sich: „Ist ja gut, ich gebe zu, dass Herr Shiraho mich noch einmal einholte, nachdem seine Frau mich weggeschickt hat.“
    Der Inspektor verschränkte die Arme vor der Brust. „Na also. Weiter.“ Sein Tonfall war unbarmherzig.
    „Ich war noch nicht weggefahren, da kam er auf den Parkplatz und bat mich doch noch ins Haus“, führte Herr Karagawa weiter. „Allerdings bestand er darauf, dass ich im Orchideenzimmer warten sollte. Er wollte vor seiner Frau geheim halten, dass ich da war. Irgendwann kam er dann ins Zimmer und bat mich, wieder zu gehen, weil er sie nicht verärgern wollte. Das war kurz vor dem Mittagessen.“
    „Warum waren Sie hier?“, fragte der Inspektor.
    „Herr Shiraho hat mich eingeladen“, meinte der Journalist, den rebellischen Verhörten nun ganz abgelegt. Wahrscheinlich ahnte er, dass er den Verdacht der Polizei auf sich nur vertiefen würde, wenn er die Wahrheit abstritt. „Er wollte die Angelegenheit mit seinen Eheproblemen in den Medien ein für alle Mal klären.“
    „Stimmt es, dass die Beiträge zu diesen Gerüchten Ihnen in Ihrer Karriere weiterhalfen?“ Als Herr Karagawa bestätigte, fragte Inspektor Megure weiter: „Dann käme es Ihnen nicht sehr gelegen, wenn er an die Öffentlichkeit brachte, dass sie doch nicht wahr sind.“
    „Aber das ist doch kein Grund, ihn zu töten!“, hielt Karagawa dagegen. „Ganz im Gegenteil, denn jetzt gibt es doch denjenigen nicht mehr, über den ich diese Beiträge schreiben kann!“
    Jetzt mischte auch Kogoro sich in die Befragung mit ein: „Wussten Sie von Herrn Shirahos Vorliebe für klassische europäische Musik?“
    Der Journalist blickte ihn skeptisch an. „Wieso fragen Sie das?“
    „Bitte beantworten Sie die Frage“, verlangte Megure.
    Karagawa seufzte. „Natürlich weiß ich das. Jedes Mal, wenn ich hier war, dudelte doch Bach aus der Stereoanlage.“
    „Es war kein Geheimnis“, meldete sich Toshiaki vorsichtig zu Wort. „Jeder, der einmal in unserem Haus gewesen ist, weiß, dass Vater gerne Bach hörte.“
    Der Inspektor und Kogoro steckten die Köpfe zusammen. Conan und Takagi kamen näher, um dem Gemurmel zu lauschen. „Unter dem Gesichtspunkt kann es wirklich jeder gewesen sein“, meinte der Detektiv mit schwindender Hoffnung.
    Inspektor Megure brummte: „Aber es muss auf jeden Fall jemand sein, der vor dem Mord die CDs unauffällig verschieben konnte. Und da passt Karagawa ganz gut ins Bild.“
    „Ja, genau so muss es gewesen sein!“, verkündete Kogoro plötzlich lautstark, und der Inspektor blickte ihn erschrocken an. Der Detektiv wandte sich an Karagawa. „Ich weiß, wie Sie es gemacht haben!“, behauptete er. „Nachdem Herr Shiraho Sie gebeten hatte, wieder zu gehen, wurden Sie zornig, weil er das versprochene Interview doch noch abgesagt hatte. Doch anstatt das Haus zu verlassen, blieben Sie im Orchideenzimmer, ordneten die Musik-CDs um und warteten auf Herrn Shiraho. Als dieser dann kam und davon abgelenkt war, nach seiner Lieblingsmusik zu suchen, erschlugen Sie ihn von hinten!“
    Der Journalist lachte kalt. „Herr Mori, Sie sind dafür bekannt, Ihre Fälle im Schlaf zu lösen. Vielleicht legen Sie sich erst mal aufs Ohr und denken nochmal genau nach: Herr Shiraho hätte mich doch sehen müssen, als er ins Orchideenzimmer kam. Und was wäre gewesen, hätte seine Frau mal das Zimmer betreten? Ich weiß, meine Branche ist dafür bekannt, für gute Storys so einige Risiken einzugehen, aber ich bin nicht lebensmüde!“
    „Ganz einfach.“ Der Schlafende Kogoro blickte siegessicher auf seinen Hauptverdächtigen hinab. „Sie haben sich irgendwo zwischen den Pflanzen versteckt und sind leise hervorgekommen, als Herr Shiraho reinkam!“
    Plötzlich kam Conan ein Geistesblitz: Versteckt? Hat Emi nicht etwas Ähnliches gesagt? Rückwärts schlich er von den Männern ab, die sich gerade zu streiten begonnen, wie und wo sich Karagawa vor dem Hausherrn hätte verbergen können. Als er feststellte, dass alle auf den Disput konzentriert waren und nicht einmal Ran auf ihn achtete, flutschte er aus dem Wohnzimmer und lief den Gang hinauf zum Orchideenzimmer.
    Die Spurensicherung war glücklicherweise nicht um die Monstera herum beschäftigt, sodass der Schrumpfdetektiv dort nachprüfen konnte, was Kogoro behauptet hatte. Er versuchte, sich zwischen Topf und Wand hinter die Monstera zu schieben, was ihm mit einigem Quetschen auch gelang. Doch in der Zimmerecke war nicht genug Platz, um längere Zeit dort zu verbringen. Hier passt kaum ein Kind durch, geschweige denn ein Erwachsener, sinnierte Conan. Und das Rascheln der Blätter hätte unweigerlich Herrn Shirahos Aufmerksamkeit auf die Monstera gelenkt. Zudem kommt man hier nicht schnell genug raus, um dann auch noch jemanden zu erschlagen, der einen längst bemerkt hat.
    Gerade, als er das unbrauchbare Versteck verlassen wollte, blieb er mit dem Ärmel an dem Stahlgestell hängen, an dem sich die Fensterblatt emporrankte. Beim Lösen des Stoffes fiel ihm ein Faden auf, der sich etwas weiter oben an einem der spitzen Enden des Drahtes verfangen hatte. Conan streckte sich und pflückte den Faden, um ihn genauer zu betrachten. Es war ein gewöhnliches graues Nähgarn, etwas verfilzt und zerrissen. Das brachte ihn auf eine Idee: Könnte es sein, dass …? Vorsichtig, um nicht noch einmal hängen zu bleiben, kroch er hinter der Monstera wieder hervor. Sein Blick fiel auf den Blütenstand der Blauen Orchidee, der in seiner Tüte verpackt auf dem Tisch lag. Aber wenn es so wäre, wo ist dann dieses fehlende Teil? Wenn der Täter wirklich hinter Herr Shiraho gestanden hat, um ihn zu erschlagen, hätte es irgendwo zwischen Sofatisch und Regal liegen müssen. Er blickte sich im Zimmer um, aber fand nirgendwo auf dem Boden liegend das, was er suchte. Auch in den Tüten der Spurensicherung war es nicht dabei.
    Einer intuitiven Eingebung folgend hob Conan den Blick und sah nach oben in die Monstera. Kontrastreich von den dunklen Blättern der exotischen Pflanze abgehoben leuchtete es ihm entgegen. Da ist sie ja, dachte er verwundert, aber warum da oben? Als die Beamten allmählich auf ihn aufmerksam wurden, wandte er sich um und verließ artig den Tatort. Was auch immer mit diesem Ding ist, kann ich auch später noch herausfinden. Erst muss ich noch etwas überprüfen…


    Im Wohnzimmer keiften sich gerade Kogoro und Inspektor Megure gegenseitig an. Das Thema waren anscheinend die Drohbriefe, die Herr Shiraho noch bis heute erhalten hatte. „Warum haben Sie diese Drohungen nicht früher erwähnt?“, fragte der Inspektor aufgebracht. „Das sind vielleicht wichtige Beweismittel!“
    Conan hörte gar nicht hin, sondern ging auf Herrn Karagawa zu, der von seiner Lage offensichtlich gelangweilt war, jedoch seine aufrechte Sitzhaltung beibehielt. Der geschrumpfte Oberschüler schlich sich von hinten an und hielt den grauen Faden, den er im Orchideenzimmer gefunden hatte, gegen den Stoff des Anzugs, um die Farben zu vergleichen.
    „Was verloren, Kleiner?“, fragte Karagawa, der ihn bemerkt hatte und bedrohlich hinter sich blickte.
    Conan schreckte zurück und verbarg den Faden schnell hinter seinem Rücken. Verlegen kichernd stammelte er eine Ausrede zusammen: „Nein, ich… ich dachte nur, dass Ihr Jackett ein Loch hat.“
    „Was?!“ Wie von der Tarantel gestochen sprang der Journalist auf, zog sich das Jackett aus und untersuchte es hastig von allen Seiten. Als er feststellte, dass der Stoff doch unversehrt war, seufzte er erleichtert und kleidete sich wieder an. Während er sich setzte, murmelte er: „Jag mir nicht so einen Schrecken ein…“
    Doch Conan war mit den Gedanken schon weiter: Er kann es nicht gewesen sein. Niemand würde so unvorsichtig sein und sich irgendwo verstecken, wo er hängenbleiben könnte, wenn er bei einem möglichen Loch so durchdreht. Außerdem… Nachdenklich hielt er sich den abgerissenen Faden vor die Augen. Außerdem ist dieses Grau zu hell, um von seinem Anzug zu stammen. Nur woher kommt es sonst?
    Ihm war gar nicht aufgefallen, dass sich Emi nicht mehr im Wohnzimmer aufhielt. Er merkte nur, wie sie wieder hereinkam, einen dampfenden Becher Tees in der Hand, den sie Herrn Karagawa vorsetzte. Wahrscheinlich wollte sie mit dieser Geste der Gastfreundlichkeit wiedergutmachen, dass man ihn des Hauses verwiesen hatte, noch bevor es Tee gegeben hatte.
    Der Journalist nahm einen Schluck und rollte ihn genüsslich auf der Zunge herum. „Brennnessel und Kümmel“, diagnostizierte er fachmännisch, „mit einem Schuss Anis. Acht Minuten aufgebrüht.“
    „Wow, Sie kennen sich aber gut mit Tee aus!“, staunte Conan ehrlich beeindruckt.
    Bevor Herr Karagawa antwortete, trank er noch einmal. „Das will ich doch meinen!“, sagte er überheblich. „Meine Eltern hatten einen Teekräuterladen. Ich habe sogar eine Kolumne zu verschiedenen Teesorten für ein Wissenschaftsmagazin geschrieben. Es ist ziemlich bekannt, vielleicht hast du schon davon gehört: Es heißt Iden.“
    Conan schüttelte den Kopf. „Nein, so was lese ich nicht.“ Und dennoch kam ihm der Name bekannt vor, als ob er ihn unlängst irgendwo gelesen oder gehört hätte.
    „Ich halte das nicht mehr aus!“ Alle Anwesenden wirbelten erschrocken herum, als Toshiaki plötzlich auf den Sofatisch schlug und aufgebracht aufsprang.
    „Toshi…“, versuchte seine Frau, ihn zu beruhigen und dazu zu bringen, sich wieder zu setzen.
    „Nein, Yuri!“, donnerte er und wehrte ihre Hand ab. „Mein Vater wurde ermordet! Ich kann nicht mehr auf dieser Lüge sitzen bleiben!“ In seinen Augen blitzte Verzweiflung.
    „Was denn für eine Lüge?“, wollte der Inspektor wissen und ließ von seiner Diskussion mit Kogoro ab.
    „Ich habe gelogen!“, wiederholte der Sohn des Opfers. Er ballte die Hände zu Fäusten, während er sagte: „Sayuri und ich waren nicht zusammen in unserem Zimmer. Sie hat abgeschlossen und mich nicht reingelassen.“
    „Dann ist es also doch möglich, dass Sie der Täter sind?“, grub Megure weiter.
    „Niemals!“, schrie Toshiaki in die Ecke gedrängt. „Durch die Tür haben wir uns noch immer unterhalten. Wir haben zwar nicht die ganze Zeit gesprochen, aber die Pausen dazwischen waren viel zu kurz, um auch nur die Treppen runterzugehen.“
    „Wenn das so ist“, meldete sich Frau Yamano zu Wort, „und hier schön langsam alle mit der Wahrheit rausrücken, sollte ich mich wohl auch korrigieren. Führt ja doch kein Weg dran vorbei.“ Sie drückte die Zigarette aus, die sie sich vor einigen Minuten angesteckt hatte. „Ich saß nicht die ganze Zeit auf der Veranda“, meinte sie. „Ich habe ein paar Meter weiter am Fluss Bachspatzen beim Baden beobachtet. Erst kurz bevor Mori und das Kind gekommen sind, habe ich mich wieder hingesetzt. Fragen Sie die Spatzen, ob Sie mein Alibi bestätigen können“, endete sie sarkastisch.
    Das erklärt dann endlich auch, warum sie mich nicht erwähnt hat, wie ich aus dem Haus gelaufen bin, schloss Conan.
    „Und warum haben Sie dann diese Falschaussage gemacht?“, fragte der Inspektor sowohl Toshiaki als auch Frau Yamano.
    Die Vertreterin sah ihn merkwürdig an. „Ist das nicht offensichtlich, Herr Inspektor? Sie müssen selbst zugeben, dass es wie eine Ausrede geklungen hätte, nicht wahr?“ Auch Toshiaki gab diesen Grund an, und Conan musste ihnen insgeheim Recht geben. Dennoch machte es sie nur umso verdächtiger.
    „Das Geld kannst du übrigens behalten“, meinte Toshiaki zu seiner Mutter, als er sich setzte. „Es ist doch jetzt sowieso alles egal!“
    „Was denn für Geld?“, erkundigte sich Conan bei Emi, die noch immer neben ihm stand.
    Die junge Frau beugte sich zu ihm runter und erklärte ihm die Angelegenheit: „Siehst du die Bluse, die meine Mutter trägt?“ Conan folgte ihrem Fingerzeig zu dem silbern glänzenden Kleidungsstück in einem hellen Grauton. „Erst heute waren wir in der Stadt, weil wir noch ein paar Einkäufe erledigen mussten. Dabei hat Mutter diese Bluse entdeckt, aber ihren Geldbeutel zuhause vergessen. Toshiaki hat ihr etwas Bargeld geliehen.“
    Conan nickte und wandte sich ab, um seinen Überlegungen nachzuhängen. Der Fall wurde immer verzwickter und undurchsichtiger, obwohl für Kogoro und die Polizisten klarer zu werden schien, wer der Täter war. Es gab eine ungeheure Masse an Indizien, die aber nicht zusammenpassten. Es war hoffnungslos, damit den wahren Mörder zu finden.
    Tief in Gedanken versunken vergrub Conan die Hände in den Hosentaschen. In der einen stieß er auf einen Gegenstand und holte diesen verwundert hervor. Als er bemerkte, worum es sich handelte, schoss ihm ein Blitz der Erkenntnis durch den Kopf. Jetzt weiß ich es!, jubilierte er in Gedanken. Jetzt weiß ich, welchen Trick der Täter angewandt hat! Aber wenn das so ist, bleiben noch drei Verdächtige… Er ging wieder auf Emi zu und fragte sie: „Wo sind eigentlich die Gästezimmer?“
    „Oben“, gab sie freundlich Auskunft. „Zwei auf der rechten und eins auf der linken Seite des Gangs. Meins ist das näher an der Treppe. Wieso fragst du?“
    Conan erwiderte nichts, sondern war schon auf dem Weg raus aus dem Wohnzimmer, als Ran ihn plötzlich aufhielt. „Das reicht jetzt aber!“, schimpfte sie. „Ständig rennst du hier herum. Es ist unhöflich, in anderer Leute Haus herumzustreunern!“
    Der verhinderte Schnüffler zappelte in ihrem festen Griff. „Aber… aber ich muss doch nur aufs Klo!“, brachte er seine Standartausrede und kämpfte sich frei.
    „Na gut“, gab Ran sich geschlagen, „aber danach kommst du sofort wieder her!“ Sie sah ihm nach, bis er aus der Tür geschlüpft war, und seufzte dann. „Es ist doch immer wieder dasselbe mit dir.“


    Die Badezimmertür ignorierend erklomm Conan die Stufen in den ersten Stock. Der Gang, der sich vor ihm erstreckte, endete in einer einzelnen Tür; vermutlich das Schlafzimmer der Hausherren. Zwei Türen zur Linken führten in eines der Gästezimmer, von denen Emi gesprochen hatte, und wahrscheinlich ein weiteres Badezimmer. Ihn interessierte jedoch nur die rechte Seite, und so betrat er das Zimmer, das Emi als das ihre beschrieben hatte.
    Gegenüber der Tür lag das Fenster, auf das Conan auch sofort zusteuerte. Wie alle anderen Fenster des Hauses öffnete es sich nach außen. Ein Blick nach unten zeigte ihm, dass es direkt über der Terassentür lag, die aus dem Wohnzimmer in den Garten führte. Er verrenkte sich den Hals, um nach links zu schauen, wo weiter unten das ungewöhnlich hohe Südwestfenster des Orchideenzimmers war. Für diesen Trick ist die Strecke viel zu lang, stellte er fest und schloss das Fenster wieder.
    Das Fenster des Zimmers, das Toshiaki und seine Ehefrau bezogen hatten, war schon nicht mehr so weit vom Orchideenzimmer entfernt. Trotzdem war es noch zu weit, als dass der Trick hätte funktionieren können. Außerdem bestünde dann keine Notwendigkeit, es zu zerreißen…, überlegte Conan und blickte nach unten. Dort lag das Fenster des Wohnzimmers, das Frau Shiraho kurz vor dem Klirren des Blumentopfes geöffnet hatte.
    Und plötzlich verstand er. Deswegen waren daran diese beiden Gegenstände angebracht!
    Zufrieden grinsend schloss Conan auch dieses Fenster und machte sich auf den Rückweg nach unten. Jetzt weiß ich zwar, wer es getan hat und wie, überlegte er, aber ich kann immer noch nicht sagen, wie diese Person es vorbereiten konnte. Eigentlich wollte er ins Wohnzimmer zurückkehren, doch er hörte Geräusche aus der Küche. Neugierig geworden ging er weiter und trat ein. Emi stand dort, mit dem Rücken zur Tür, vor dem kleinen Gewürzschrank.
    „Was machst du da?“, fragte Conan mit dem naiven Unterton eines Kindes.
    Die junge Frau zuckte ertappt zusammen und knallte den Schrank eilig zu. Sie wirbelte erschrocken herum, doch ihre entsetzte Miene wich, als sie ihn erkannte. Sie atmete tief durch. „Du bist es nur“, meinte sie und stützte sich auf die Arbeitsplatte hinter ihr. „Die diskutieren gerade darüber, ob Sayuri oder Toshiaki es gewesen sein könnten. Ich konnte das nicht mehr mit anhören…“ Sie seufzte traurig. „Weißt du, Sayuri war für mich immer schon wie eine ältere Schwester, und mit Toshiaki erübrigt sich das von allein. Ich will mir einfach nicht vorstellen, dass einer von ihnen es gewesen ist.“ In ihren Augenwinkeln sammelten sich Tränen.
    Sie weiß, wer es war, erkannte Conan sofort. Und sie versucht eindeutig, diese Person zu decken!
    „Keine Sorge“, meinte er fröhlich, „ich bin mir sicher, dass Onkelchen Kogoro und der Inspektor die einzige Wahrheit finden!“
    Emi sah ihn zuerst überrascht an, dann lächelte sie nostalgisch. „Die einzige Wahrheit – Shinichi… Jetzt, wo du das sagst, fällt mir auf, wie sehr du ihm ähnelst. Ich weiß, ich sollte das nicht sagen, weil ich ihn ja kaum kannte, aber… Du hast denselben Blick, der einem bis auf die Seele schauen kann…“ Ihre Gedanken schienen an einer zeitlich weit entfernten Erinnerung zu hängen. „Ob er wohl den wahren Täter entlarven könnte?“ Ihr nachdenklicher Gesichtsausdruck wich einem Lächeln, das wie aufgesetzt wirkte. „Ach, was sag ich denn da! Er war damals selbst kaum mehr als ein Kind, dann erst recht du.“ Sie lächelte Conan noch einmal strahlend an, dann verließ sie hastig die Küche. Als sie an ihm vorbeiging, konnte er sehen, wie die Tränen aus ihren Augenwinkeln rannen.
    Conan blickte ihr hinterher, ein Schatten legte sich um seine Augen. Er wandte sich dem Gewürzschrank zu, den Emi bei seiner Ankunft in der Küche zugeschlagen hatte. Was hatte sie darin gesucht? Der geschrumpfte Oberschüler schob sich einen Stuhl vom Küchentisch an die Arbeitsplatte und kletterte darauf, um besser an den Schrank heranzukommen. Es schien nichts verrutscht und nichts fehlte, also konnte er wenigstens davon ausgehen, dass Emi keines der Gewürze herausgenommen hatte. Gerade, als er den Schrank wieder schließen wollte, fiel ihm aber auf, dass die Zeitschaltuhr, die Sayuri nach Rans Missgeschick mit dem Saftglas abgeputzt hatte, anders lag als zu diesem Zeitpunkt. Aber was hätte Emi denn damit machen sollen?
    Wie zufällig glitt sein Blick ein klein wenig zur Seite auf ein abonniertes Magazin, das unter dem Gewürzschrank auf der Arbeitsplatte lag. Das Cover zierte ein breiter Schriftzug aus römischen Buchstaben: Iden. Daneben stand ein Wasserkocher, den man eben noch benutzt haben musste, denn ein feiner Wasserfilm hatte sich an seinem Fuß gebildet – Emi hatte darin das Wasser für Herrn Karagawas Tee aufgekocht.
    Da wurde Conan plötzlich alles klar: So war das also! Das erklärt auch, warum diese Person so gereizt reagiert hat. Jetzt durchblicke ich den ganzen Fall. Mit einem Taschentuch holte er die Zeitschaltuhr aus dem Schrank und sprang vom Stuhl. Aber das reicht noch nicht, überlegte er, als er im Wohnzimmer ankam. Nachdenklich blickte er zu Inspektor Megure und Kogoro hinüber, die über den Esstisch gebeugt standen und die Drohbriefe genauer in Augenschein nahmen. Ich kann diesen Bürokraten das so noch nicht servieren. Bevor Ran ihn bemerken und wohlmöglich noch einmal aufhalten konnte, lief er wieder hinaus und ins Orchideenzimmer.
    Hier war die Spurensicherung mittlerweile fertig und dabei, ihre Utensilien zusammenzuräumen. „Entschuldigen Sie“, sprach Conan einen der Beamten an und gab ihm die Zeitschaltuhr. „Könnten Sie das hier bitte für Onkelchen Kogoro auf Fingerabdrücke untersuchen? Aber, wenn Sie es wissen, sagen Sie es bitte mir, ja? Er will im Moment nicht gestört werden.“
    Der Beamte nickte und widmete sich sogleich dem Auftrag.


    Der Inspektor und Kogoro waren noch immer mit den Drohbriefen beschäftigt, als ein paar Minuten später die Spurensicherung im Wohnzimmer erschien. Während sein Kollege ihrem Vorgesetzten Bericht erstattete, kam der Beamte, mit dem Conan gesprochen hatte, zu ihm und überreichte ihm eine Akte. Der Jungdetektiv bedankte sich und überflog das Formular. Wusste ich’s doch, dachte er und grinste entschlossen. Jetzt muss ich das nur noch…
    „Ich würde sagen, wir gehen jetzt“, verkündete der Inspektor soeben und rückte seinen Hut zurecht. „Ich glaube nicht, dass wir so noch viel in Erfahrung bringen werden. Toshiaki Shiraho, Sayuri Shiraho, Frau Yamano und Herr Karagawa, Sie müssen wir leider aufs Revier mitnehmen und noch einmal eingehender befragen.“
    Mist, noch nicht jetzt! Conan sah sich verzweifelt im Zimmer um. Ich brauche unbedingt mehr Zeit! Hastig kritzelte er einige Zeilen auf ein Papier. „Herr Takagi?“, sprach er den Kommissar an, der etwas abseits vom Inspektor und dem Detektiv stand. Er gab dem Polizisten den Zettel, der das darauf Geschriebene überflog. „Das sind Anweisungen von Onkelchen“, erklärte Conan schnell. „Sie müssen das für ihn vorbereiten.“
    „Ich hab dich gar nicht mit ihm sprechen sehen…“ Takagis Miene wurde immer skeptischer. „Das sind ganz schön merkwürdige Sachen, die er da verlangt. Was will er denn damit?“
    „Na, was denn wohl?“, meinte Conan salopp. „Natürlich den Fall aufklären!“ Er zwinkerte. „Eigentlich weiß er schon längst, wer der Täter ist, und macht nur Theater, um‘s spannender zu machen!“
    Takagi brummte. „Ich werde sehen, was ich tun kann.“ Der Kommissar verließ das Wohnzimmer.
    Und ich versuche, noch etwas Zeit zu schinden! Conan kletterte auf einen Esstischstuhl und beäugte wie auch Kogoro die Drohbriefe. „Kann man mit diesen Zetteln denn den Täter herausfinden?“, fragte er naiv und nahm einen davon in die Hand.
    Kogoro raufte sich verzweifelt das Haar. „Ja, irgendwie muss es möglich sein!“ Er nahm zwei Kärtchen auf und hielt sie nebeneinander, wie als wolle er versuchen, daraus einen längeren Satz mit mehr Sinn zu bilden.
    „Herr Mori, das bringt doch nichts…“, fing der Inspektor an in dem Bestreben, den Detektiv von seinem Vorhaben abzubringen.
    „Vielleicht ist der Name in den Nachrichten versteckt!“, unterbrach Conan ihn jedoch dreist. Er musste unbedingt verhindern, dass die Polizei fortging, wenigstens so lange, bis Takagi mit den Vorbereitungen fertig war! „Schaut mal“, meinte er und zeigte auf die Karten. „Wenn man all diese Kanji in einzelne Zeichen aus Hiragana schreibt und von jedem Brief ein Zeichen nimmt, ergibt sich in der Reihenfolge, in der sie gekommen sind, vielleicht der Name des Täters!“
    Kogoro kniff die Augen zusammen und versuchte wohl, sich vorzustellen, welcher Name dabei herauskommen könnte. „Aber wir haben hier niemanden, dessen Namen aus zwölf Silben besteht“, sagte er schließlich.
    Soeben tauchte Takagi draußen am geschlossenen Wohnzimmerfenster auf und fingerte am Rahmen herum. Als er den fragenden Blick seines Vorgesetzten bemerkte, winkte er wie nebenher und zog dann weiter in Richtung Orchideenzimmer. „Was macht der Quatschkopf dort?“, kommentierte Megure verwundert.
    „Vielleicht muss man ja nicht alle nehmen, sondern nur jeden zweiten“, spann Conan ungeachtet der Unterbrechung weiter. „Oder es sind zwei Namen. Hast du nicht selbst gesagt, dass Toshiaki und Sayuri Komplizen sein könnten?“ Er tat so, als würde er die Silben beider Namen an den Fingern abzählen. „Ah, nein, das geht ja gar nicht!“, rief er gespielt überrascht aus. „Die Namen zusammen haben ja dreizehn Silben! Oder könnte bei Sayuri statt Shiraho ihr Mädchenname benutzt worden sein?“
    Tatsächlich schien Kogoro über diese Möglichkeit nachzugrübeln und ließ den Blick nachdenklich über die Karten schweifen. Plötzlich polterte er: „Was für ein kindischer Schwachsinn! So kann doch jeder Name irgendwie kombiniert werden! Und zudem, welcher Täter wäre schon so dumm, seinen Namen in Drohbriefen zu hinterlassen, egal wie verschlüsselt?“
    „Das sind ganz schön komplizierte Kanji“, plapperte Conan unbeirrbar weiter. „Vielleicht war es jemand, der ganz viele schwierige Schriftzeichen kennt!“ Er sprang auf, lief auf Herrn Karagawa zu und deutete übermütig auf ihn. „Er schreibt doch für Zeitschriften, dann kennt er bestimmt ganz viele Kanji!“ Schneller, Takagi!, drängte er in Gedanken. Mir gehen die irrsinnigen Vermutungen aus!
    „Aber, aber, Kleiner“, wehrte der Journalist hastig ab. „Ich will ja meine eigene Arbeit nicht herunterputzen, aber ich schreibe für ein reines Klatschblatt – das benutzt nicht allzu viele komplizierte Zeichen.“
    „Und doch müssen Sie diese in Ihrer Branche kennen“, ergänzte Kogoro, klang aber selbst nicht so, als ob er glaubte, dass das mit den Drohbriefen zusammenhing. Er beugte sich wieder über die Karten, als Conan an den Tisch zurückkam.
    „Wie auch immer diese Briefe auf den Täter hindeuten, können wir auch noch später herausfinden“, meinte Megure und wandte sich an seine Polizisten. „Findet mir diesen Chaot Takagi, und dann lasst uns gehen!“ Kaum, dass er das gesagt hatte, betrat auch schon der Fragliche das Wohnzimmer. „Wenn man vom Teufel spricht!“, nahm der Inspektor ihn in Empfang. „Was haben Sie da draußen überhaupt getrieben?“
    Der Kommissar antwortete nicht, sondern sagte zu Kogoro: „Herr Mori, ich habe jetzt alles so vorbereitet, wie Sie es verlangt haben.“
    Der Detektiv blickte überrascht drein und deutete auf sich. „Ich soll was von Ihnen verlangt haben?“
    „Das ist doof!“, rief Conan, als die Polizisten die vier Verdächtigen darum baten, mit ihnen zu kommen. Er sprang wieder vom Stuhl und zupfte an Kogoros Hemdärmel. „Ich muss dich ganz dringend was fragen!“, sagte er, und sein Zupfen ging immer mehr in Zerren über. Es war kaum noch Zeit!
    „Dann frag endlich und lass mich in Ruhe, Nervenzwerg!“, blaffte Kogoro ihn an und machte scheuchende Handbewegungen.
    „Das geht aber nicht hier“, drängte Conan auf ihn ein. „Nur im Orchideenzimmer. Ich muss es dir nämlich zeigen!“
    Der Detektiv, der wohl einsah, dass alles Weigern und Abwimmeln nicht helfen würde, stand seufzend auf. „Also schön“, murrte er, „aber nur, weil ich hier nichts mehr zu tun habe!“
    Conan führte ihn hinaus auf den Flur und zum Orchideenzimmer. Kurz nach ihnen verließen auch die Beamten und ihre übrig gebliebenen Verdächtigen das Wohnzimmer. Schneller, schneller!
    Endlich im Orchideenzimmer angekommen zeigte Conan hoch in die Monstera. „Onkel Shiraho hat doch gesagt, dass diese Pflanzen auch blühen können, oder? Weißt du, wie diese Blüten aussehen?“
    „Was fragst du mich das?“, seufzte Kogoro genervt. „Ich bin Detektiv, kein Pflanzenexperte!“
    Auf dem Flur vor der Tür wurden Stimmen laut.
    „Aber du weißt doch auch sonst immer so viele Sachen.“ Conan versuchte die übliche Masche, indem er ihm Honig ums Maul schmierte. „Kuck doch mal da oben! Ist das eine Monsterablüte?“ Hinter seinem Rücken aktivierte er das Narkose-Chronometer.
    Kogoro resignierte und trat näher an die große Pflanze heran. „Was weiß ich“, meinte er. Conan zielte auf seinen ungeschützten Nacken. „Das sieht mir eher nach einer…“ Ein leises, wohlbekanntes Zischen ertönte, und der Narkosepfeil schoss aus der Armbanduhr hervor und traf den Detektiv. Kogoro zuckte zusammen und vollführte seinen üblichen Tanz, torkelte um das Sofa herum und landete schließlich in lässiger Pose auf dem Polster.
    Schnell eilte Conan durchs Zimmer und untersuchte, was Takagi nach seinen Anweisungen vorbereitet hatte. Alles schien perfekt.
    Nachdem er seine kurze Inspektion beendet hatte, wollte er rauslaufen, um die Polizisten noch einmal zurückzurufen. Doch zu seinem Glück stand schon der Kommissar im Türrahmen und riss erstaunt die Augen auf. „Der Schlafende Kogoro!“, rief er aus. „Heißt das etwa, dass …?“
    „Ja, tut es“, bestätigte Conan. „Onkelchen sagt, Sie sollen bitte alle herholen. Er wird den Fall jetzt auflösen!“

  • [tabmenu][tab=Endlich!]Gut, jetz hab ichs. Nicht mehr als 100.000 Zeichen... hab mal juchzeshalber woerter-zaehlen.de konsultiert, das 99.992 Zeichen zählte. Aber wayne, das is eh doof! xD[tab=Teil 4]

    Taruhamatsu shi buru no Okkido
    Taruhamatsu und die Blaue Orchidee


    Nazotoki
    Teil 4 - Auflösung


    Nachdem der Kommissar die Polizisten und Verdächtigen, die im Gehen inbegriffen gewesen waren, wieder zurückgerufen hatte, versammelten sich die Verwandten und Bekannten des Mordopfers, Megure, Takagi und Ran im Orchideenzimmer. Der Inspektor, ungehalten ob Kogoros angeblicher Dreistigkeit, ihn von seiner Arbeit abzuhalten, schnaubte ungeduldig: „Was soll das denn jetzt schon wieder? Ich dachte, wir sind damit übereingekommen, dass wir die Verdächtigen erst auf dem Präsidium noch weiter befragen!“
    „Nun, Herr Inspektor“, antwortete es kühl von der Sofaseite des Zimmers. Für die Anwesenden mochte es wie stets so aussehen, als spräche Kogoro in seinem tiefen Detektivschlaf mit ihnen – doch wie so oft war es Conan, der sich hinter dem Sitzmöbel versteckt hatte und mit seinem Stimmentransposer Kogoros Tonlage imitierte. „Sehen Sie“, fuhr er fort, „es ist nicht mehr nötig, die Verdächtigen aufs Revier zu bringen. Ich habe den Fall auch so schon gelöst.“
    „Na, das kam aber plötzlich“, brummte der Inspektor. „Hätten Sie das nicht etwas zeitiger andeuten können? Nun, wie auch immer. Dann klären Sie uns doch bitte auf!“
    „Nichts lieber als das“, erwiderte Conan. „Zunächst möchte ich Ihnen allen jedoch etwas demonstrieren. Kommissar Takagi, gehen Sie doch bitte ins Wohnzimmer und öffnen dort das Fenster neben dem Esstisch.“ Der Beamte warf Kogoro zwar zuerst einen verwunderten Blick zu, nickte aber dann folgsam und verließ das Zimmer. „Und Sie alle bitte ich, einen Schritt zurückzugehen“, sprach Conan weiter. „Am besten wäre es, wenn Sie sich alle an der von Ihnen rechten Wand des Zimmers verteilen und das Innere frei ließen.“
    Als die Anwesenden zögernd Folge geleistet hatten, rief Takagi aus dem Flur: „Herr Mori, das Fenster klemmt etwas!“
    „Das macht nichts“, entgegnete Kogoros Stimme, „geben Sie ihm einen Ruck, dann klappt das schon.“
    Tatsächlich konnte man hören, wie sich das Fenster öffnete. Nur wenige Sekunden später raschelte es in den Blättern der Monstera, und etwas kam aus ihrer Krone hervorgeschossen: Ein mit Sand gefülltes Glas, in dem ein Zweig steckte. Wie eine Gewehrkugel zischte es an den staunend starrenden Anwesenden vorbei auf das Souvenirregal zu, um dort gegen eine Schranktür zu schlagen und in tausend Scherben zu zerspringen. Der Sand verteilte sich unter der Stelle, wo das Glas aufgekommen war, und bedeckte die Blutlachte, die von dem kaltblütigen Mord übrig geblieben war. Erst jetzt wurde eine fast durchscheinende Schnur sichtbar, die um das Glas gewickelt gewesen war. Die Schlaufe, befreit von ihrer Last, fetzte nach oben, stieß gegen die Decke. Die Schnur wurde durch einen Haken an der Decke mehr in die Mitte des Raumes gezogen, an dem für gewöhnlich Orchideen befestigt werden konnten. Sie zischte hindurch und aus dem angelehnten Südostfenster. Ein Großteil hing noch im Zimmer, wurde aber nach und nach wie von Geisterhand eingezogen, bis nichts mehr darauf hindeutete, wie das Glas am Regal zerschellt war.
    Eine Weile herrschte angespannte Stille im Orchideenzimmer, dann endlich meldete sich Inspektor Megure zu Wort: „Ein netter Zaubertrick“, kommentierte er. „Was genau hat das jetzt mit dem Fall zu tun, außer“, er blickte missmutig auf den buchstäblich im Sande verlaufenen Tatort, „dass Sie den Tatort völlig zerstört haben?“
    „Ist das denn nicht offensichtlich?“, fragte Conan ironisch. „Das ist der Trick, mit dem der Täter Herrn Shiraho erschlug, ohne selbst im Zimmer anwesend zu sein!“
    „Was sagen Sie da?“, entfuhr es dem Inspektor. „Aber die Verdächtigen hatten alle Zeit und Gelegenheit, hierherzukommen und es zu tun. Warum war so ein Trick notwendig?“
    „Weil zumindest Frau Yamano und Herr Karagawa unschuldig sind“, erklärte der versteckte Detektiv. „Frau Yamano sagte aus, sie sei die ganze Zeit auf der Veranda gewesen und habe geraucht, bis auf ein paar Minuten, die sie die Bachspatzen beobachtet hat, die im Fluss gespielt haben. Ist das so richtig, Frau Yamano?“
    Die Vertreterin nickte. „Ja, genauso war es.“
    „Das deckt sich auch damit, dass sie Conan nicht erwähnte, auch wenn man sie mehrmals danach fragte, ob sie jemanden das Haus verlassen gesehen habe“, fuhr jener nicht Erwähnte fort. „Als er und ich, nachdem wir den Täter versuchten zu verfolgen, wieder zum Hauseingang kamen, war sie gerade erst auf die Veranda zurückgekehrt und hat wohl gedacht, wir seien beide denselben Weg gegangen. Als wir zu ihr kamen, roch es zudem nicht nach Rauch auf der Veranda – weil sie nicht dagewesen war.“
    „Aber das mit den Bachspatzen kann doch genauso gut eine Falschaussage sein, um sich ein Alibi zu verschaffen“, wandte Megure ein.
    „Dass sie am Ufer gestanden haben muss, ist an der Zigarettenasche zu sehen, die dort im Gras liegt. Natürlich kann Frau Yamano diese auch schon im Vorfeld dort platziert haben, um uns glauben zu machen, sie hätte dort gestanden und geraucht. Dass sie Bachspatzen beobachten war, gestand sie jedoch recht spät – warum hätte sie sich ein so durchdachtes Alibi zurechtlegen sollen, nur um es dann nicht anzuwenden? Sie kann also unmöglich die Täterin sein.“
    „Und was ist mit Herrn Karagawa?“ Megure wandte sich an den Journalisten. „Sie sagten, auch er sei unschuldig. Woran machen Sie das fest?“
    Conan erklärte: „Nachdem Herr Shiraho ihn fortgeschickt hatte, muss er wohl tatsächlich gegangen sein, aus Angst, die Hausherrin mochte ins Orchideenzimmer kommen und an seiner Anwesenheit Anstoß nehmen. Hier gibt es keine geeignete Versteckmöglichkeit, um einer Begegnung mit ihr zu entgehen. Durch ihre heftige Reaktion, als sie ihm die Haustür öffnete, kann man sich denken, was wohl passiert wäre, hätte sie ihn hier angetroffen. Außerdem muss er nach dem Mord irgendwohin geflohen sein; doch als wir am Tatort ankamen, waren zwar beide Fenster angelehnt, jedoch keines offen. Ein Täter auf überstürzter Flucht würde sich wohl kaum die Zeit nehmen, ein Fenster zuzuziehen.“
    „Moment mal!“, unterbrach der Inspektor weitere Ausführungen. „Sie sagten doch selbst, dass nur das Südwestfenster angelehnt war.“ Er deutete hinter den Schlafenden Kogoro auf besagtes Fenster. „Warum sollten beide Fenster angelehnt gewesen sein?“
    „Das hängt mit dem Trick zusammen, den ich Ihnen vorhin demonstriert habe“, begründete Conan.
    Wie aufs Stichwort schwangen nun die Flügel des Südostfensters auf, und Takagi steckte den Kopf ins Zimmer. „Herr Mori“, sagte er und reichte etwas ins Zimmer, „ich habe geholt, wonach sie gebeten haben.“
    „Was ist denn das?“, wollte der Inspektor wissen und trat ans Fenster, um das Objekt höchst selbst in Empfang zu nehmen. Verwundert hob er einen faustgroßen Stein in der einen, und eine aufgewickelte Drachenschnur in der anderen Hand hoch.
    „Erkennen Sie die Schnur wieder?“, fragte Conan hinter dem Sofa. „Es ist eben jene, die vorhin noch an dem Glas befestigt gewesen ist. Schauen Sie auf den Tisch, Herr Inspektor. Dort liegen ebenfalls Stein und Drachenschnur – die Originale des Mordfalls. Fällt Ihnen irgendetwas an beiden Schnüren auf?“
    Der Polizist nahm auch den Gegenstand vom Tisch auf und begutachtete beide. „An beiden ist am Ende eine zerrissene Schlaufe“, stellte Megure fest und hielt eben jene vergleichend nebeneinander.
    „Ganz genau“, bestätigte Conan. „Nachdem der Mörder nämlich den Trick vorbereitet hatte, musste er die Schnur, die die ganze Konstruktion hielt, noch irgendwo befestigen, und zwar mit dieser Schlaufe. Als Herr Shiraho dann hier im Orchideenzimmer war, brauchte der Täter sie nur noch zu lösen, und die Schwerkraft erledigte den blutigen Rest.“ Etwas lauter fügte er hinzu: „Vielen Dank, Herr Takagi. Kommen Sie nun bitte wieder ins Haus.“ Der Beamte nickte und verschwand vom Fenster.
    „Wenn es so ist, wie Sie gesagt haben“, führte der Inspektor weiter und legte beide Steine und Schnüre auf den Couchtisch zurück, „dann können sowohl Toshiaki als auch Sayuri Shiraho es getan haben – wenn die Schlaufe in einem der Gästezimmer befestigt war, kann einer der beiden sie gelöst haben, als sie eine kurze Pause in ihrer Unterhaltung eingelegt haben.“
    „Es gibt viele Gründe, warum das nicht möglich ist“, widersprach der verborgene Stimmenimitator. „Erstens haben beide nicht wissen können, wann Herr Shiraho im Orchideenzimmer sein würde. Zweitens wäre es nicht nötig gewesen, die Schlaufe zu zerreißen. Wenn sie tatsächlich irgendwo in einem Gästezimmer angebunden gewesen war, hätte es gereicht, sie durchzuschneiden. Und drittens ist die Schnur nicht lang genug, um durch das ganze Orchideenzimmer, durch das Südwestfenster und durch eines der oberen Fenster zu verlaufen. Deswegen habe ich Kommissar Takagi soeben darum gebeten, das Fenster im Wohnzimmer zu öffnen. Außen am Rahmen befinden sich nämlich zwei Nägel, die an keinem anderen Fenster im Haus zu finden sind, und an denen die Schlaufe befestigt war. Es war nur nötig, das Fenster zu öffnen, um die Schlaufe zu zerreißen. Diesen Trick konnte man auch nicht oben anwenden, da man schließlich nicht an die Außenseite der Rahmen gelangt, wenn das Fenster geschlossen ist.“ Conan legte eine kleine Kunstpause ein. „Der Täter muss somit die Person sein, die das Fenster im Wohnzimmer geöffnet hat!“
    „Moment!“, fuhr Ran ihm dazwischen. „Dann muss das ja bedeuten…“ Sie schluckte schwer. „Das bedeutet ja, dass Emi die Mörderin ist!“ Sie drehte sich zu dieser um, doch Emi hatte den Blick abgewandt.
    „Überleg noch einmal genauer, Ran“, verlangte Conan sogleich. „War es wirklich Emi, die das Fenster geöffnet hat? Zuerst sollte sie es zwar öffnen, doch dann hat es eine andere Person an ihrer Stelle getan… Es war die einzige Person, die zur Tatzeit außer uns dreien und Emi noch im Wohnzimmer war.“
    „Aber das war doch…!“, presste Toshiaki hervor, seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Auch seine Ehefrau und Koji Ito schienen nun zu begreifen. Geschockt drehten sie sich zu jener Person um, die sie nun alle im Verdacht hatten, und Unglauben lag in ihrem Blick.
    „Ganz genau“, bestätigte Conan und fuhr gnadenlos fort: „Die Person, die die Kettenreaktion mit dem Öffnen des Fensters ausgelöst hat, ist niemand anderes als… Miko Shiraho! Sie sind die Mörderin Ihres Mannes!“
    Die beschuldigte Ehefrau des Opfers regte sich nicht – nur ihre Augen verrieten, wie entrüstet sie ob dieses Vorwurfs war.
    „Aber…“, fing Toshiaki an, doch seine Schwester platzte ihm plötzlich dazwischen:
    „Wie können Sie es wagen!“, fuhr Emi aus der Haut. „Ich habe Sie hierher beordert, damit Sie herausfinden, von wem mein Vater diese Drohbriefe erhält, und nicht, damit sie meine Familie in Verruf bringen!“
    Conan erwiderte gefasst: „Ich bedaure sehr, dass mir Ersteres nicht gelungen ist. Aber was geschehen ist, ist geschehen, und jetzt bin ich hier, um die Wahrheit ans Licht zu bringen. Und die sieht nunmal so aus, dass Ihre Mutter die Mörderin ist.“
    Soeben schob Takagi sich ins Orchideenzimmer an den Anwesenden vorbei und stellte eine dampfende Tasse Tees auf den Couchtisch. „Ist das so richtig, Herr Mori?“, wollte er wissen.
    „Ja, vielen Dank.“ Unauffällig spähte Conan hinter dem Sofa hervor und stellte an dem dunkelgrünen Inhalt der Tasse zufrieden fest, dass der Kommissar den richtigen Tee aufgebrüht hatte. „Ich werde Ihnen sagen, wie es passiert ist“, fuhr der Schrumpfdetektiv fort, als er sich wieder hinter die Lehne hatte sinken lassen. „Frau Shiraho hat die Schlaufe der Schnur außen am geschlossenen Wohnzimmerfenster angebracht und an dem anderen Ende am Stein festgebunden. Das muss natürlich nach dem letzten Mal gewesen sein, da jemand das Fenster geöffnet hat – vielleicht erst heute Vormittag. Dann ging sie zum bereits geöffneten Südwestfenster und legte den Stein ins Orchideenzimmer. Zwischen all den Pflanzen, die unter dem Fenster stehen, war er gut verborgen, und auch die Drachenschnur war kaum zu sehen. Außerdem konnte nun auch das Fenster ganz verschlossen werden.
    Das sind die Vorkehrungen, die sie bereits getroffen hatte, bevor die Gäste gekommen waren. Die Konstruktion, die sie später für den Mord nutzen würde, bereitete sie jedoch erst danach vor.
    Dafür musste sie nämlich nicht mehr das Haus verlassen, da die Schnur ja bereits im Orchideenzimmer hing. Die lehnte das Südwestfenster an, damit es die Drachenschnur nicht blockieren würde, und führte sie unter dem Flügel hindurch, wickelte sie mehrfach um den Topf der Blauen Orchidee und stellte diesen in die oberen Zweige der Monstera, und zwar so, dass er nach vorne kippen würde. Da er aber von hinten mit der Schnur befestigt war, fiel er nicht hinunter. Damit sich die Schnur nicht lösen konnte, fixierte sie die Umwicklungen mit einem Tesastreifen. Den Rest der Schnur hängte sie in den Haken an der Decke – wofür sie die Leiter benutzte, die hinter dem Regal versteckt ist – und das Ende mit dem Stein aus dem Südostfenster, das ebenfalls nur angelehnt war. Zum Schluss verschob sie die CD mit der Bach-Musik im entsprechenden Regalboden ganz nach hinten.
    Damit waren die Vorbereitungen für den Mord getroffen“, schloss Conan.
    „Ja, aber ist es denn möglich, damit jemanden zu erschlagen, noch dazu, wenn man selbst nicht sieht, was passiert?“, fragte Inspektor Megure.
    „Es dürfte möglich sein“, räumte Kogoros Stimme ein, „wenn Sie bedenken, dass Frau Shiraho vor ihrer Heirat Physiklehrerin war. Es fiel ihr gewiss nicht schwer, die genaue Länge der Schnur zu berechnen, damit der Blumentopf seinen Kopf traf, als ihr Mann konzentriert nach der CD mit seiner Lieblingsmusik suchte. Sie wusste, dass sein Kopf dann genau dort sein würde. Sie wartete nur auf einen geeigneten Moment – sie spekulierte darauf, dass die angespannte Situation zwischen Herrn Shiraho und seinem Sohn zu einem Streit eskalieren würde, und dass dann ein paar der Gäste nicht im Wohnzimmer sein würden – und brachte ihn dann auf die Idee mit der CD.“
    „Aber hätte ihm denn nicht auffallen müssen, dass die Blaue Orchidee nicht auf ihrem Podest stand?“, konkretisierte Megure und deutete auf den angesprochenen Gegenstand.
    „Nicht zwangsläufig, da die Blaue Orchidee nicht immer dort stand“, erklärte Conan. „Normalerweise hatte sie ihren Platz zwischen all den anderen Orchideen hinter mir. Nur, wenn Besuch da war, stellte Herr Shiraho sie auf dem Podest aus. Wenn er es also gewöhnt war, sie nicht dort vorzufinden, wäre es ihm nicht weiter aufgefallen.“
    Der Inspektor schlussfolgerte: „Also musste sie nur noch das Fenster öffnen, sodass die unter Spannung stehende Schnur die Orchidee freiließ. Der Topf schwang dadurch, dass der Haken an der Decke einen Angelpunkt darstellte, auf das Regal zu und traf Herrn Shirahos Kopf.“ Er hielt inne und verengte die Augen zu Schlitzen. „Moment! Der Topf wiegt doch viel zu viel, als dass der Stein ein geeignetes Gegengewicht darstellen könnte. Da würde doch eher der Stein ins Zimmer hereingezogen werden, wenn der Topf nach unten schwingt!“
    „Auch das hat Frau Shiraho bedacht“, erklärte Conan. „Der Stein hing nämlich nicht einfach nur aus dem Fenster – er war unter dem äußeren Fensterbrett verkantet und konnte somit nicht hereingezogen werden. Nachdem der Blumentopf zerbrochen war, hatte er kein Gegengewicht mehr, das ihn gegen das Brett zwang, und fiel hinunter, wodurch er die Schnur mit sich nahm. Zwischen all den Steinen im Fluss fiel er auch nicht weiter auf. Was an Schnur noch im Zimmer hing, wurde nach und nach von der Strömung eingezogen. Wahrscheinlich auch noch, als wir Herrn Shiraho fanden – doch wir waren alle viel zu abgelenkt, um die fast unsichtbare Drachenschnur zu bemerken.“
    „Das klingt alles ganz schön abenteuerlich“, kommentierte Megure skeptisch. „Wie kommen Sie darauf, dass es genau so passiert ist?“
    „Zum Einen befindet sich ein Beweis dafür zwischen den Blättern der Monstera. Gehen Sie hin, Herr Inspektor, und sagen uns, was Sie dort vorfinden“, bat Conan.
    Der Polizist gehorchte und starrte angestrengt in die Fensterblattpflanze hoch. „Da… da ist etwas Blaues“, murmelte er unverständlich. Als er das Objekt erkannte, hellte sich sein Gesicht auf. „Das ist ja eine Orchideenblüte!“
    In seinem Versteck erklärte Conan auch sofort, was es damit auf sich hatte: „Es machte mich stutzig, dass der Blütenstand der Blauen Orchidee, den die Spurensicherung gefunden hat, nur neun Blüten aufwies – wo Herr Shiraho sich doch damit rühmte, sie habe zehn Blüten. Diese eine muss abgebrochen sein, als der Blumentopf aus der Monstera hervorschoss.“ Der Inspektor holte die Blüte herunter und drehte sie in den Fingern. „Des Weiteren“, fuhr Conan fort, „klebt oben an der Decke knapp vor dem Souvenirregal etwas, das da nicht sein sollte.“
    Sofort warfen die Anwesenden Blicke nach oben und suchten nach dem dunklen Fleck, den Conan schon lange vorher gefunden hatte. Kommissar Takagi entdeckte ihn als Erster und trat etwas näher, um genauer sehen zu können. „Und was ist das?“, fragte der Beamte.
    „Blumenerde“, antwortete Conan. „Sie ist dorthin gelangt, als die Drachenschnur, nachdem der Blumentopf zerbrochen war, nach oben schnellte. Am Tesastreifen klebte wahrscheinlich Erde oder sogar eine ganze Scherbe, die über die Decke strich und den Fleck hinterließ. Später hat das Flusswasser diese Verunreinigung von dem Klebeband abgewaschen.“
    „Hören Sie auf damit!“, verlangte Emi plötzlich im harschen Tonfall ihres Vaters. „Wie soll meine Mutter das alles vorbereitet haben? Sie war die ganze Zeit über bei uns im Wohnzimmer! Und davor haben wir zusammen gekocht – das kann ich bezeugen.“ Sie wandte sich an Ran und Sayuri. „Ich wart ja auch da. Sie hat die Küche nur kurz verlassen, um an die Tür zu gehen, richtig?“ Die beiden Frauen nickten synchron. „Sehen Sie?“, richtete sie wieder an den Schlafenden Kogoro. „Wann hätte sie schon Zeit gehabt, diesen Seiltrick vorzubereiten?“
    „Wenn ich das anmerken darf, haben Sie einen wichtigen Punkt vergessen“, erwiderte Conan. Emis Blick verdüsterte sich. „Aber zunächst, um das genauer erläutern zu können: Ran, bitte nimm einen Schluck von dem Tee, den Kommissar Takagi gerade gebracht hat. Er dürfte mittlerweile nicht mehr allzu heiß sein.“
    Die Tochter des Detektivs nickte, ging zum Tisch und nahm die Tasse auf. Vorsichtig nippte sie daran. „Das ist Taruhamatsu“, erkannte sie sofort.
    „Taruhamatsu…“ Der Inspektor klang nachdenklich. „Ist das nicht dieser Herbsttee, der aus vielen verschiedenen Teesorten gemacht wird?“ Er wandte sich sehr überrascht an Takagi: „Dieser Tee ist sehr kompliziert zuzubereiten. Ich hätte nicht gedacht, dass Sie sich darauf verstehen.“
    „Außerdem muss man die ganze Zeit dabeistehen“, ergänzte Ran. „Man muss immer ein bisschen Wasser durch die Teekräuter gießen und neues auffüllen, sobald es durchgelaufen ist. Das dauert bestimmt eine viertel Stunde.“
    Megure warf dem Kommissar daraufhin einen misstrauischen Blick zu. „Ich habe Sie die letzte Viertelstunde gar nicht in der Küche gesehen.“
    Der Angeklagte wimmelte hastig ab: „Ich war auch nicht in der Küche. Herr Mori bat mich darum, den Tee aus der Kanne noch einmal aufzukochen.“
    „Das tat ich durchaus“, tönte es vonseiten des schlafenden Detektivs. „Nämlich um genauer darzustellen, wie Frau Shiraho Zeit fand, die Konstruktion vorzubereiten. Ist dir irgendetwas aufgefallen, als du gerade vom Taruhamatsu probiert hast, Ran?“
    Conans Kindheitsfreundin dachte kurz nach. „Ja, er schmeckt ein bisschen bitter. Noch bitterer als der nach dem Mittagessen.“
    „Und darin liegt der Schlüssel“, brachte Conan es auf den Punkt. „Taruhamatsu ist ein besonderer Tee. Viele Tees verlieren beim Abkühlen und nochmaligen Aufwärmen völlig ihren Geschmack – Taruhamatsu hingegen wird nur leicht bitter. Ein Umstand, der nur wenigen Kennern auffällt. Deswegen hat Frau Shiraho auch Herrn Karagawa vertrieben. Nicht, weil er diese sehr pikanten Berichte geschrieben hat, sondern weil sie wusste, dass er sich mit Tee auskennt. Das hat sie nämlich in dem Wissenschaftsmagazin gelesen, für das Herr Karagawa einen Bericht über Teesorten geschrieben hat. Sie wollte nicht, dass er bemerkte, dass der Taruhamatsu aufgewärmt war.“
    Der Journalist zog verwundert die Augenbrauen hoch. „Daran soll das gelegen haben?“
    Ungeachtet der Unterbrechung fuhr Conan fort: „Frau Shiraho hatte im Vorfeld bereits Taruhamatsu zubereitet und ihn in den Wasserkocher gegeben, welchen sie an eine Zeitschaltuhr anschloss. Kurz nach dem Mittagessen fing der Kocher an, den Tee wieder aufzuwärmen – und diese Zeit nutzte sie voll aus, um den eben demonstrierten Trick vorzubereiten, genauso wie der Kommissar. Mir fiel auf, dass sie schon nach zehn Minuten mit dem fertigen Taruhamatsu im Wohnzimmer erschien, und das, obwohl seine Zubereitung fünfzehn Minuten dauert.“
    Jetzt war es wieder Emi, die ihm dazwischenkam: „Das wäre doch viel zu riskant gewesen, Herr Mori! Jeder von uns hätte jederzeit das Wohnzimmer verlassen und bemerken können, dass sie nicht in der Küche war!“
    „Erinnern Sie sich noch, was Ihre Mutter sagte, als sie für den Tee in die Küche ging?“, fragte Conan. „Ran und Sayuri boten ihre Hilfe an, doch Frau Shiraho lehnte ab, angeblich, weil wir als Gäste alles ihr überlassen sollten. Doch als man ihr beim Kochen des Mittagessens behilflich war, hatte sie nichts einzuwenden. Sie wollte natürlich allein sein, als sie den Trick vorbereitete. Dadurch, dass sie sagte, alle sollten im Wohnzimmer bleiben, stand auch niemand auf. Aber sie wollte trotzdem kein Risiko eingehen und beeilte sich daher, bevor noch jemand herauskam. Sie goss den Tee aus dem Wasserkocher in die Teekanne, damit nichts von ihm in der Küche zurückblieb. In ihrer Hast hat sie aber eine Kleinigkeit vergessen.“
    „Die da wäre?“, drängte Megure ihn weiter.
    „Die Zeitschaltuhr!“, verkündete der versteckte Schrumpfdetektiv. „Der Wasserkocher war noch immer angeschlossen. Das bemerkte aber eine bestimmte Person, als sie selbst Tee für Herrn Karagawa machte, und die seitdem weiß, was passiert ist, und versucht, Frau Shiraho zu decken. Ebenjene Person ist es auch, der der bittere Geschmack des Taruhamatsu aufgefallen ist, und die daraufhin misstrauisch wurde.“ Es herrschte angespannte Stille, die Conan schließlich durchbrach: „Es ist Emi Shiraho. Sie kennt den wahren Geschmack des Taruhamatsu sehr genau, da es jener Tee war, den sie vor fünf Jahren in dem Café servierte, in dem sie damals arbeitete.“
    Endlich zeigte Frau Shiraho eine Reaktion, und sie sah ihre Tochter überrascht, ja fast geschockt an. „Du kannst Taruhamatsu zubereiten?“, fragte sie mit belegter Stimme, und Emi wich ihrem Blick aus. „Aber… du fandst das doch immer zu langweilig.“
    „Ich wollte dir eine Überraschung bereiten“, meinte Emi kleinlaut, „und habe im Tarumi geübt. Ich hoffe ja schon eine Weile, dass ihr mich mal in meinem Café besuchen kommt, damit ich dir meinen Taruhamatsu servieren kann.“
    Ihre Mutter sah sie lange und traurig an, bevor sie Kogoro unwirsch anfuhr: „Welche Anschuldigungen Sie auch immer gegen mich aufbringen mögen – ziehen Sie meine Tochter da nicht mit rein!“
    „Natürlich sagen Sie das, als liebende Mutter und als Mörderin, für die Emi ein wichtiges Beweisstück entfernt hat“, kommentierte Conan erbarmungslos. „Doch die Spurensicherung hat eindeutig Ihre Fingerabdrücke und die Ihrer Tochter an der Zeitschaltuhr gefunden. Das wird Ihnen einer der Beamten sicher bestätigen.“
    „Das ist absurd!“, wehrte Frau Shiraho weiter ab. „Ich wohne hier, natürlich kommt es da hin und wieder vor, dass ich eine Zeitschaltuhr brauche. Und Emi kommt manchmal zu Besuch. Vielleicht hatte sie sie zufällig mal in der Hand.“
    Auch dagegen hatte Conan den passenden Beweis parat: „Vielleicht habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt. Es finden sich auf der Zeitschaltuhr nur Ihre Fingerabdrücke und die Ihrer Tochter – es war Sayuri, die die Uhr gesäubert hat, nachdem Ran ein Saftglas umgefallen ist und der auslaufende Inhalt die Zeitschaltuhr bekleckert hat. Sie konnten davon nichts wissen, denn zu dem Zeitpunkt waren Sie noch an der Haustür.“
    „Das reicht!“, platzte Frau Shiraho gereizt. „Sie picken sich hier irgendwelche Dinge aus meinem Haus und reimen sich irgendetwas zusammen! Ja, ich habe den Wasserkocher an die Zeitschaltuhr angeschlossen, aber nur, damit das Wasser schon fertig sein würde, wenn ich in die Küche gehe, um Tee zu machen. Wenn Sie keine eindeutigen Beweise haben für ihre irrwitzigen Theorien haben, sollten Sie wohl besser gehen.“ In ihrer Stimme schwang ein drohender Unterton mit – aber auch einer, der deutlich machte, wie sehr sie sich in die Ecke gedrängt fühlte.
    „Sie wollen Beweise? Ich zeige ihnen nur einen…“, meinte Conan gelassen und ließ den Stimmentransposer los. Er kletterte über die Sofalehne und gab sich den Anwesenden zu erkennen. „Hier, Herr Inspektor!“, sagte er zu Megure und hielt ihm den grauen Faden hoch, den er hinter der Monstera gefunden hatte. Während der Polizist damit beschäftigt war, aus dem Garn schlau zu werden, wandte sich der falsche Grundschüler an Frau Shiraho: „Könnten Sie mir bitte sagen, wie spät es ist? Meine Armbanduhr ist leider stehen geblieben.“
    „Aber, Conan“, meldete sich Takagi zu Wort, „Frau Shiraho hat gesagt, dass im ganzen Haus Uhren zu finden sind. Du warst doch dabei, als ich nach der Uhrzeit fragte.“
    „Ja, schon“, flötete Conan im naiven Tonfall eines Kindes. „Aber ich will es genau wissen, und die Uhr von der Tante muss echt genau gehen. Beim Mittagessen hat sie immer wieder draufgeschaut!“
    Der Inspektor horchte überrascht auf. „So, hat sie das? Doch nicht etwa, weil sie nicht verpassen wollte, wann die Zeitschaltuhr anspringt?“
    Frau Shirahos Gesichtsausdruck verriet nicht, was sie dachte, doch um nicht noch mehr Misstrauen auf sich zu lenken, hob sie die Hand und schlug den Blusenärmel zurück, um auf ihre Armbanduhr zu schauen. „Es ist jetzt genau…“ Plötzlich brach sie ab, Entsetzen schlich sich in ihren Blick und über ihre Augen legte sich ein Schatten.
    „Nanu?“, machte Conan und zeigte auf die Naht des Ärmels. „Warum ist denn da kein Faden mehr?“ Tatsächlich war dort eine Stelle, an der das Garn herausgerissen war. Während Megure den abgerissenen Faden zum Vergleich neben den Ärmel hielt und auch die anderen Anwesenden abgelenkt waren, verkroch sich Conan wieder hinter der Couch und nahm seinen Faden wieder auf: „Hier ist der Beweis, den Sie wollten. Das Stück Faden, das Sie in der Hand halten, Herr Inspektor, habe ich hinter der Monstera gefunden. Es hing an dem Metallgestell, an dem sich die Pflanze hochrankt. Dort hat nicht einmal ein Kind wirklich Platz, zudem ist die Bluse, die Frau Shiraho trägt, erst heute gekauft worden. Wie also kommt der Faden einer so neuen Bluse ausgerechnet an das Gestell einer Pflanze, die seit zwanzig Jahren unverrückbar an ihrem Platz steht, noch dazu an eine so schwer erreichbare Stelle?“ Während sich auf den meisten Gesichtern Verstehen, auf anderen immer mehr Entsetzen breitmachte, vollendete Conan seine Beweisführung: „Frau Shiraho ist an der Naht hängen geblieben, als Sie die Blaue Orchidee in der Monstera versteckt hat! Sie sind eindeutig als Mörderin Ihres Mannes überführt, Frau Shiraho. Gestehen Sie endlich!“
    Die Hausherrin sagte zunächst nichts, sondern starrte nur gelähmt ins Leere. Schließlich gab sie allen nutzlosen Widerstand auf und lächelte bitter. „Emi tat wohl richtig daran, Sie zu engagieren…“
    „Was?“, fragte Toshiaki ungläubig und sah seine Mutter entsetzt an. „Willst du damit sagen, dass er Recht hat?“ Als Frau Shiraho nickte, fragte ihr Sohn verzweifelt: „Warum, Mutter? Warum hast du Vater getötet? Ich dachte, ihr hättet euch geliebt…“
    „Genau das ist es ja!“, polterte Frau Shiraho wütend, wurde aber sogleich wieder ruhig. „Er hat nicht mich geliebt, sondern seine verfluchten Orchideen!“ Sie seufzte. „Wir haben uns nie ein Dienstmädchen oder eine Putzfrau geleistet, weil mir die Hausarbeit Spaß macht, so unwahrscheinlich das auch klingt. Ich habe gern geputzt. Das Orchideenzimmer jedoch war für mich absolut tabu – das wollte Akira immer alleine machen. Einmal kam er nach einem anstrengenden Tag im Büro nach Hause und hatte keine Gelegenheit mehr, sich um seine Orchideen zu kümmern. Ich wollte ihm eine Freude machen und die Blätter abstauben. Dabei ist mir ein Trieb abgebrochen.“ Sie presste die Augen und Lippen zusammen. „Er war so wütend, dass er mir sogar ins Gesicht schlug. Davor hat er mich noch nie geschlagen…“
    „Hast du ihn deswegen umgebracht?“, wollte Herr Ito wissen.
    Sie schüttelte langsam den Kopf. „Nein, auch wenn ich sehr enttäuscht von ihm war. Ich habe zuerst das Gerücht unserer Eheprobleme in die Welt gesetzt. Es sollte so aussehen, als hätte Akira eine Affäre mit Frau Yamano, da er sich oft geschäftlich mit ihr traf.“ Sie hob den Blick und sah zu Herrn Karagawa rüber. „Aber dieser Schreiberling hat das mit Frau Yamano nicht publik gemacht.“
    „Ich lerne auch aus Fehlern anderer“, meinte der Journalist schulterzuckend. „Es sind schon viele meiner Kollegen untergegangen, weil sie Gerüchte zu sehr ausgereizt haben.“
    Frau Shiraho fuhr fort: „Ich dachte mir, wenn er von diesen Geschichten hört, würde er sich unserer glücklichen Ehe rückbesinnen. Aber das tat er nicht! Ihm war egal, was die Zeitungen schrieben und die Leser über uns dachten, ganz einfach, weil ihm eben diese Ehe bereits egal war! Als er auch noch irgendwoher Wind bekam, dass ich die Gerüchte erfunden hatte, drohte er mir mit Scheidung.“ In stiller Verzweiflung ballte sie die Hände zu Fäusten. „Was hätte ich denn machen sollen? Bei einer Scheidung hätte ich so gut wie nichts bekommen, das meiste Geld gehört schließlich seiner Firma.“
    „Also kommen die Drohbriefe von Ihnen?“, fragte der Inspektor.
    Die selbstverschuldete Witwe nickte schwach. „Ich wollte ihm eine letzte Chance geben, noch einmal über uns nachzudenken und daran, was er an mir hat, wenn er sich diesen Drohungen gegenübersieht. Aber es brachte nichts. Ich hatte Existenzangst! Was hätte ich nach einer Scheidung schon gehabt? Ich habe damals alles liegenlassen, als er mir das Blaue vom Himmel versprach.“ Ihre Stimme war bitter vor Ironie, als sie hinzufügte: „Doch alles, was blieb, war eine Blaue Orchidee.“ Sie wandte sich an Kogoro: „Sagen Sie, Herr Mori, was hat Sie darauf gebracht, dass ich es gewesen sein könnte?“
    Conan antwortete: „Es war offensichtlich. Aufmerksam wurde ich, als Sie das Fenster öffneten. Obwohl sie doch so neu sind, haben Sie sich nicht darüber gewundert, dass es kurz klemmte, bevor die Schlaufe riss. Aber was mich schon kurz vorher stutzig machte, war, dass Sie Ihrer Tochter zwar zuerst sagten, das Fenster zu öffnen, es dann jedoch selbst taten, obwohl Emi viel näher daran saß als Sie. Sie entschieden sich im letzten Moment noch dagegen, Ihre Tochter als Mordinstrument zu missbrauchen.“
    Tochter und Mutter tauschten traurige, dankbare, bedauernde Blicke, während Kommissar Takagi an Frau Shiraho herantrat, um sie abzuführen.


    So konnte dieser verzwickte Fall doch noch aufgelöst werden. Auch wenn es Kogoro gewesen war, wegen dem Frau Shiraho überführt werden konnte, verabschiedete uns Emi in allen Würden. Ihr strahlendes Lächeln konnte jedoch den Schmerz in ihren Augen darüber, dass ihre Mutter die Mörderin ihres Vaters war, nicht überblenden.

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    „Wer hätte das gedacht“, verkündete Kogoro mit der Sonntagszeitschrift vor der Nase. „Erdreistet sich dieser Karagawa doch tatsächlich, brühwarm über den Mordfall Shiraho zu berichten!“ Nichtsdestotrotz stolz las er die Schlagzeile vor: „Ehestreit fand tragisches Ende – Meisterdetektiv Kogoro Mori schlägt wieder zu. Wäre doch witziger gewesen, es als ‚schläft wieder zu‘ zu betiteln!“ Der Detektiv gab seine Lache zum Besten, wunderte sich jedoch in Gedanken darüber, dass er erneut keine Erinnerung an die Auflösung des Falls hatte.
    Conan nahm einen Schluck von seinem Morgenkakao und gab seinen Senf dazu: Ja, das hätte sehr viel besser gepasst!
    Während ihr Vater über den Artikel gebeugt seine Gedächtnislücke aufzufüllen versuchte, kam Ran herein, beladen mit einem Tablett und drei Tassen dampfenden Tees. Sie gab beiden Detektiven eine davon und behielt die letzte für sich. „Damit ihr den echten Taruhamatsu auch einmal schmecken könnt!“, begründete sie auf zwei fragende Blicke und nahm einen Schluck, nachdem sie sich gesetzt hatte.
    Kogoro schnupperte misstrauisch an dem Tee. Auch er trank davon und rollte die Flüssigkeit prüfend im Mund herum. „Also, ich schmecke keinen Unterschied“, meinte er stutzig.
    Auch Conan nippte an dem heißen Gebräu, erkannte jedoch sofort, dass er es hier mit frischem Taruhamatsu zu tun hatte. Die herbe Note, die bei dem Tee mitgeschwungen hatte, der ihnen im Hause der Shirahos vorgesetzt worden war, fehlte hier. Trotzdem schmeckte er leicht anders als jener Tee, den Shinichi und Ran vor fünf Jahren von Emi bekommen hatten. Was wahrscheinlich daran lag, dass Ran ihn etwas anders komponierte als die Medizinstudentin damals.
    „Trotzdem“, meinte Kogoro nach ein paar Schlucken, „schmeckt der richtig gut. Wo hast du gelernt, einen so komplizierten Tee zu kochen?“
    Seine Tochter kicherte und zwinkerte verschmitzt. „Na, von der weißen Dame mit dem strahlenden Lächeln!“
    Während Kogoro mit diesem Rätselspruch am frühen Sonntagmorgen noch überfordert war, durchschaute Conan das Wortspiel sofort: ‚Weiß‘ heißt auf Japanisch ‚shira‘, und ‚Lächeln‘ bedeutet ‚hoemi‘. In Hiragana kann man ‚shira hoemi‘, also ‚weißes Lächeln‘, auch so lesen: ‚Shiraho Emi‘.[/tabmenu]

  • Wie ich auch schon dort geschrieben habe, war mein Ziel, nicht einfach nur eine DC-Fanfic zu schreiben, sondern, dass sich der Leser fühlt, als würde er eine Animefolge DC schauen, und trotzdem der Text als solcher erkennbar bleibt.


    Ich muss dir sagen - das ist dir wirklich herausragend gut gelungen o____o
    Ich habe mich durchweg während des Lesens immer wieder total wie im Anime gefühlt und sehr viele Wendungen, die du genannt hast, automatisch mit standardelementen der Darstellung aus diesem verknüpft, sodass es mir wirklich ganz genauso vorkam, als würde ich einen Canon-DC-Geschichte lesen und keine FF. Zudem fand ich es amüsant, dass du eben auch genau die Dinge übernommen hast, die ich an einer typischen DC-Folge kritisieren würde, sodass ich das ja überhaupt nicht als Kritik an deinem Text werten kann, tlmao
    Der Fall an sich startete schon ziemlich interessant. Ich muss ja ganz ehrlich zugeben, dass ich gar nicht so der Krimi/Mystery-Mensch bin, sondern mir an den Conan-Geschichten immer die rahmengebenden Handlungsbögen am meisten zusagen, in denen man mehr über die Vergangenheit der Charaktere erfährt und sich die Beziehungen weiterentwickeln. Der Teil der Investigation ist für mich deswegen teilweise relativ ermüdend, weil ich meistens ohnehin nicht hinter die Rätsel komme und mir aber von der Storytheorie her meistens eh klar ist, wer der Täter ist. Das Interessante an solchen Geschichten ist nämlich, dass man einmal durch die storyinterne Logik auf den Täter kommen kann, andererseits aber auch durch die Art, wie der Plot gestaltet ist und sich aufbaut.
    Oftmals wird aber auch vom Autoren bewusst verhindert, dass man das Rätsel als Leser selber lösen kann, oftmals dadurch, dass der entscheidende Beweis, der den Detektiv auf die Lösung bringt, dem Publikum gar nicht benannt wird. Das finde ich dann immer etwas schwach, weil es ja automatisch die Großartigkeit des Detektivs einschrumpft, wenn man sich denken kann, man wäre ja selber auch auf die Lösung gekommen, wenn man alles gewusst hätte. Leider wird auf dieses bewusste Zurückhalten von Informationen in DC sehr oft zurückgegriffen, und daran hast du dich ja in deiner Story auch bedient. Ist an sich nichts schlimmes, vor allem, weil es ja auch die DC-Atmosphäre wiedergibt ^^
    Ich kann nicht für andere sprechen, aber eben weil es diese zwei Arten der Täterfindung in Geschichten gibt - interne Logik und externe Plotanalyse - fand ich recht offensichtlich, wer der Täter ist. Schon in dem Moment, wo sie das Fenster geöffnet hat und es klemmte, wusste ich, dass das der Moment ist, in dem der Mord passiert. Dass der Mord dann passiert ist, hat es noch klarer gemacht, so wie die Tatsache, dass sie zuerst die Tochter vorlassen wollte. Jetzt weiß ich nicht, ob du es absichtlich so gemacht hast, dass man den Täter schon von kennt, das glaube ich jedoch weniger, da der weitere Verlauf nahelegt, dass der Täter dem Leser unbekannt sein soll.
    Jedenfalls schossen mir in dem Fenstermoment folgende Gedanken durch den Kopf - Ist sie die Täterin? - Wurde sie als Mordinstrument von jemand anderem benutzt? - Ist diese Stelle nur da, um den Leser zu verwirren und auf eine falsche Fährte zu locken?
    Nun bin ich als DC-Leser natürlich schon stark voreingenommen, sodass ich eine derartige Konstruktion, wie sie hier verwendet wurde, schon irgendwie erwartete. Deswegen kam für mich der Überraschungsmoment auch nicht so heraus, aber da sich die FF ja an DC-Vielleser richtet, gibt es keinen Grund, anzunehmen, dass es bei anderen anders ist. Schlecht ist, wenn man das ganze in Textform macht, natürlich auch, dass man nichts einfach mal nebenbei erwähnen kann, ohne dass es gleich auffällt - im Anime oder Manga wäre das schon einfacher gewesen.
    Jetzt ist natürlich die Frage, wie man sowas vermeiden kann, und ich sagte ja schon meine Gedanken im ersten Moment. Was man hätte tun können, wäre Indizien dafür zu verteilen, dass sie entweder nur als Mordinstrument benutzt wurde oder dass man denkt, es wäre zu offensichtlich. Kann jetzt aber spontan nicht direkt einen Weg finden, das in die Story zu implementieren, jedenfalls ist das eine große Schwierigkeit, nämlich eine Mystery-Story genre-savvy-sicher zu machen.
    Aber ansonsten wirklich Respekt. Der Trick war sehr gut durchdacht und man konnte auch erst während der Auflösung wirklich zusammenfügen, wie es wohl abgelaufen ist, so soll es ja auch sein. Durch die verschiedensten Aspekte und kleinen Details hat man sich nicht überrumpelt gefühlt, man wusste aber doch nichts damit anzufangen, doch gegen Ende hat es sich gut zusammengefügt und ich hatte bisher kein "WhatHappenedToTheMouse"-Effekt (ja, ich verlinke dreist auf TV-Tropes weil ich es selber so schlecht erklären kann =/).
    Jedenfalls sind Mysteries auch für sowas recht anfällig. hielt ich doch für übertrieben. Conan ist der Typ, der erst dann misstrauisch wird, wenn er einen echten Grund hat, misstrauisch zu sein, und nur weil eine Person vor der Detektei steht, die er sogar noch von früher kannte, würde ich bezweifeln, dass er gleich misstrauisch ist. Das ändert sich dann eben erst, wenn ein Mord ins Spiel kommt, und auch dann hat er oftmals begründete Vermutungen, die er an den Tag legt. Also ich schätze mal, du hast die Organisation mit reingebracht, um Spannung aufzubauen, aber das lässt den Conan deiner Geschichte irgendwie echt misstrauisch vorkommen (wenn er das im Manga an manchen Stellen auch so gemacht hat, ist mir das zumindest nicht bekannt, würde mich zumindest interessieren, ob es wirklich häufiger so ist, dass er sowas tut)
    Ähnliches gilt später auch, als Conan bei Ito schon vermutet, dass diese Kabale von 40 Jahren zuvor ein Mordmotiv wäre. Fand ich etwas übertrieben :x Und es ist eig nicht typisch Conan, jemanden unter Pauschalverdacht zu stellen, nur weil sie Essen macht. Klar könnte sie es vergiften, aber ich denke mal, Conan würde sie deswegen nicht als verdächtiger ansehen, auch wenn er, wie er es in der Story auch tut, wohl etwas genauer hinsehen würde. Ist aber nur mein persönlicher Eindruck.
    Achja, das hätte ich fast schon vergessen, weil es schon länger her ist, dass ich diesen Teil gelesen hatte - dass Conan gleich annimmt, Emi wäre von der Schwarzen Organisation,
    Okay, das wars auch schon mit der in-depth-Kritik ^^


    Zu ein paar Sätzen noch Anmerkungen:

    Zitat

    Ran schleppte ihn jetzt schon eine halbe Stunde auf einem Umweg durch Beika, und er hatte immer noch keine Ahnung, was genau sie vorhatte. Alles hatte ganz harmlos angefangen, als Ran festgestellt hatte, dass ihr die Zutaten für das Mittagessen ausgegangen waren.


    Generell empfehle ich, am Ende wenn man den ganzen Text fertig hat, ne Volltextsuche nach "hatte" und "war" zu machen und die alle irgendwie zu ersetzen. Oder ne Stilanalyse, gibt ja heute mehrere Programme, die das können :>
    An einer Stelle später fragt Megure "Ein Streit? Wessen Inhalts?" - es sollte wohl "Welchen Inhalts?" heißen, schätze ich mal :D

    Zitat

    „Herr Shiraho hat mich eingeladen“, meinte der Journalist, den rebellischen Verhörten nun ganz abgelegt. Wahrscheinlich ahnte er, dass er den Verdacht der Polizei auf sich nur vertiefen würde, wenn er die Wahrheit abstritt. „Er wollte die Angelegenheit mit seinen Eheproblemen in den Medien ein für alle Mal klären.“


    Das würde ich als Fehler in der Perspektive bezeichnen. Die ganze Zeit über tritt der Erzähler der Geschichte in den Hintergrund, ab und zu versetzt sich der Erzähler in Conan hinein und gibt dann eine Wertung aus Conans Sicht ab. Hier wird eine Wertung aus der Sicht des Erzählers abgegeben, was dann ein Bruch im Erzählstil ist. Vllt einfach sowas wie "Conan vermutete, dass der Journalist durch sein einlenken verhindern wollte, dass sich der Verdacht gegen ihn erhärtet." oder so, jedenfalls passt es dann besser hinein.
    So, gut, das müsste es dann mit meinen Anmerkungen gewesen sein.
    Oh, achja stimmt - in der ganzen Story hast du übrigens die Auslassungspunkte falsch verwendet :B Hatte das ja im letzten Kommentar schonmal erwähnt, glaube ich, *hust*, jedenfalls gehört vor Auslassungspunkte ein Leerzeichen ... außer die Punkte kennzeichnen den Abbruch mitten ein einem Wort (was aber sehr selten der Fall ist).


    Okay ich bin dann durch!! Die Geschichte war toll, der Conan-Flair super getroffen, hat mir voll gefallen ^^
    Liebe Grüße,
    Aprikose.

  • [tabmenu][tab=Vorgebla]


    Also dann, mal wieder Zeit für ein Update ^^


    Das erste Werk ist ein ziemlich altes Drabble für einen WB, das ich iwie völlig vergessen hab, obwohls so gut ist o0 Die Aufgabe war, ein Drabble zu verfassen, in dem der Titel genau dreimal auch im Text vorkommt. Ich glaub, es sollte auch noch ein Naturthema sein, bin mir aber nich sicher =/


    Der zweite Text war ebenfalls für einen WB; dabei ging es um ein Bild, bzw eine Bildfolge, die zur Geschichte inspirieren sollte. Ich habe mich sehr an jene Bildfolge gehalten, sodass mein Text diese praktisch nacherzählt .,. Wollte eig auch das Bild hier nochmal reinstellen, bin jetz aber doch zu faul xD Aber naja, man braucht es schließlich nicht, um die KG zu lesen ^^ Ich wollte in einer ungewöhnlichen Perspektive schreiben, etwas, das man eig nich gewohnt ist. Der Baum tuts ganz gut als PoV :3


    Numero drei, ebenfalls ein WB-Text, war für die erste Runde des Saisonfinales. Hat leider nicht so gut abgeschnitten, wie ich mir das erhofft hatte, aber ich habe nix zu meckern (immerhin habe ich das Finale dann ja auch gewonnen, höhö). Ich habe mir für den kurzen Text ziemlich viel gedacht, mehr, als man aus dem Text selbst herauslesen kann. So ist der Familienname des Priesters "Takeda" zwar tatsächlich ein japanischer Familienname, darüber hinaus bedeutet "take" auf japanisch Bambus. Die Akashiro werden wegen ihrer Augen so genannt: "aka" bedeutet rot, "shiro" weiß - also Rotweiß. Ob es den Votern aufgefallen ist, geht aus den Comments leider nicht hervor - jedoch ist das Design der Akashiro-Augen und des Bannkreises, mit dem Pokés gefangen werden, dem Design des Pokéballs entnommen. Was sich hier abspielt, ist also die Vorform des Fangens von Pokémon, bevor es Bälle gab ;3 Auch spielt das weiße und rote Glühen der Essenzen darauf an: Wenn ein Poki im Anime aus seinem Ball entlassen wird, leuchtet es weiß; wenn es gefangen oder zurückgerufen wird, rot. Die Stadt Sonoto ist auch nicht aus der Luft gegriffen, denn Floris originaler japanischer Name ist "Sono To".


    Zum Schluss noch die zweite Runde des Finales, bei dem die Aufgabe ein Gedicht aus der Pokémonwelt war. Da ich zurzeit Platin spiele, es noch lange nicht durchhab und mir vor ein paar Jahren unvernünftigerweise auf YouTube das Ereignis mit Giratina und der Zerrwelt angeschaut habe und dadurch also davon bescheid wusste, ließ ich mich zu diesem Gedicht inspirieren. Die drei Strophen über die Feen sind alle ähnlich aufgebaut; sie beschreiben den Standort und den Namen des Sees, die Hauptfarbe der darin lebenden Fee und wofür sie steht, also ihre Kraft, die daraus resultierenden Vor- und Nachteile. Um da eine gute Reihenfolge der Verse zusammen zu kriegen, auch bei den folgenden Strophen, habe ich kein eindeutiges Reimschema angewandt. Es hat mir viel Spaß gemacht, dieses Gedicht zu schreiben, und bin damit sehr zufrieden - nicht zuletzt auch deswegen, weil es mir viele Votes und damit auch den Saison-Sieg eingebracht hat <3



    Nichtsdestotrotz sind Lob und Kritik natürlich nach wie vor herzlich willkommen. Auch als Saisonsiegerin kann man sich noch immer steigern ~
    :pika:


    [tab=Drabble]Herbstzeitlose
    Wie ein später Kuss, ein Gruß des Frühlings an den geliebten Bruder, so blühst du Herbstzeitlose inmitten sterbender Natur. Trotzend der wachsenden Kälte, widerstrebend dem drohenden Tod, schenkst du, Krokus des Autumnus, deinen Geschwistern leuchtend Hoffnungsfeuer. Herbstzeitlose, allein dein Name ist die unumstößliche Verheißung: Das Leben gibt auch in größter Not den Mut zu gedeihen nie auf! Wenn nur Eisblumen blühen, im frostigen Odem des Winters, bereitest du, kleiner Rubin, in deinem Herzen die Saat deiner Nachkommen – aber stirbst im Frühling für neues Leben, während jene wieder erwachen, denen du als die Herbstzeitlose gebietest, die Hoffnung niemals zu verlieren.
    [tab=Bildgeschichte]Ewig Einsam


    Wenn man die meiste Zeit einsam ist, fängt man langsam an, sich Dinge zu fragen. Warum man einsam ist, zum Beispiel. Welche Umstände es waren, wegen denen man jetzt genau hier steht, abseits der anderen und mit keiner sonstigen Gesellschaft als den eigenen Gedanken.
    Nun, zumindest das stimmt nicht ganz. Ich hatte immer irgendwelche Gesellschaft. Da waren die Vögel, die tagtäglich in meinen Ästen ihre Lieder sangen oder darin nisteten. Ständig hat es mich irgendwo gekitzelt, wenn ein Insekt an meiner Borke hochkrabbelte oder sich in sie hineinbohrte. Nicht zu vergessen der Wind, mit dem ich spielte, wenn er mich besuchte.
    Aber ich spürte, dass das nicht alles sein konnte. Von meinem erhöhten Posten aus war es mir möglich, kleine Wälder zu sehen. Bäume sind dafür geschaffen, in Gruppen beieinanderzustehen und über ihre Wurzeln mit ihren Artgenossen zu schwatzen und ihre Seelen untereinander auszutauschen. Doch in meiner Wurzelnähe gab es nur Gras und ein paar Blumen. Nichts, mit dem ich über den Sinn eines einsamen Lebens philosophieren konnte.
    Bis eines Tages ein Wesen auf meinem Hügel auftauchte, das ich noch nie gesehen hatte. Es war kein Vogel, dafür war es zu groß, hatte keine Federn und konnte nicht fliegen. Auch kein Eichhörnchen, dafür fehlten ihm das rote Fell und der buschige Schwanz. Aber durch meine Wurzeln konnte ich seine Körperwärme spüren, die sonst nur wenige Vertreter meiner Gäste an sich haben. Das sonderbare Wesen ließ etwas in den Himmel aufsteigen, das jedoch ebenfalls kein Vogel war: Es schien nicht selbstständig zu fliegen, sondern wurde von meinem Freund, dem Wind, in der Schwebe gehalten; eine Schnur hinderte es daran, in unbekannte Gefilde zu entkommen.
    Das kam mir bekannt vor, und ich verstand, dass das neue Wesen mit den Böen spielte, so wie ich es immer mit Ästen und Blättern tat.
    Nicht lange, nachdem mein erster Besucher den Hügel erklommen hatte, kam noch ein zweiter dazu. Erst jetzt erkannte ich, dass sie beide unterschiedlichen Geschlechts waren, so wie viele der Tiere, die ich in meiner Krone beherbergte. Demnach waren sie vielleicht ein Paar oder gehörten zumindest zusammen. Sie wechselten sich ab, das blütenbunte Blatt, das der Wind in der Luft hielt, steigen zu lassen, oder jagten sich gegenseitig, wie es die Eichhörnchen manchmal taten.
    Und obwohl ich ihre Spezies noch nie gesehen hatte, ihre Emotionen nicht lesen konnte, drangen sie über meine Wurzeln in meine Blätter ein. Ich nahm ihre Freude wahr, ihre Zuneigung zueinander, die schon beinahe so alt war wie sie selbst. Manchmal stritten sie sich, und auch dann vernahm ich ihren Ärger, aber das erste Wesen sammelte in diesem Fall ein paar Blumen zusammen und gab sie dem anderen. Dann war meist aller Ärger schnell vergessen.
    Bald erkannte ich, dass meine beiden Gäste nicht, wie ich zuerst angenommen hatte, schon ausgewachsen waren. Ich weiß nicht, wie viele Sternenaufgänge an mir vorübergingen, während ich ihnen dabei zusah, wie sie heranwuchsen. Auch wenn es mir zunächst nicht auffiel – ich war es gewöhnt, dass Jungtiere innerhalb weniger Wochen heranreiften. Eine seltsame Gattung war das, die dafür so lange brauchte.
    Stumm beschenkte ich sie mit meinen Gaben, durch die Jahreszeiten hindurch: Im Frühling brachte ich nur die zartesten Blüten hervor und erfüllte die Luft mit einem süßlichen Honigaroma, das emsig summende Bienen und leuchtend bunte Schmetterlinge anlockte. In der Sommerzeit kleidete ich mich in ein Blättergewand, das ihnen die ideale Mischung aus Schatten und auch Sonne spendete. Dieses Laub warf ich sodann im Herbst in den schönsten Farben ab, sodass es den Boden um mich herum damit einfärbte. Und im Winter fing ich jede Schneeflocke auf, die an meinen Ästen vorbeirieselte, damit sie darunter trocken blieben und sich dennoch am Anblick der weißen Pracht erfreuen konnten.
    Was ich ihnen schenkte, nahmen sie an: Sie genossen den Blütenduft, dösten in den Blätterschatten, tollten im Laub und kauerten, sich gegenseitig Wärme spendend, neben meinem Stamm. Nie sprachen sie Dank dafür aus, doch in ihrer Freude pulsierte aller Dank, den ich mir wünschte.
    Kaum ein Tag blieb aus, da sie sich nicht auf dem Hügel trafen, und die freundschaftliche Zuneigung ihrer Kindheit wuchs zu Liebe heran, wie sich eine Knospe zur wunderschönen Blüte öffnet. Das eine oder andere Erste Mal zelebrierten sie unter meinen Ästen, die ich schützend über sie breitete und selbst dem Wind gebot, sie sich selbst zu überlassen.
    Ich beobachtete, wie aus zwei Herzen eins wurde, wie sie langsam verschmolzen. Es war eine wundersame Erfahrung, eine Seele in zwei Körpern zu spüren, und doch hatte jeder für sich seine Individualität behalten. Manchmal fragte ich mich, ab das das Prinzip ist, mit dem auch Baumseelen in Wäldern miteinander verwachsen – ich werde es wohl nie erfahren.
    Aber ich erkannte auch, was der Sinn meines einsamen Lebens war: Für sie da zu sein.


    So verging die Zeit. Auch wenn die beiden fast jeden Tag zu mir kamen, kam es vor, dass sie sich nicht blicken ließen. Doch es war nicht so, dass mich das traurig stimmte. Mir war die Gewissheit Trost, dass sie am nächsten Tag gewiss kommen würden.
    Doch irgendwann begannen diese Tage, immer häufiger zu kommen, ja sogar in immer länger werdenden Ketten. Es war nicht ihre Abwesenheit, die mir dabei Sorge bereitete, sondern ihre Häufigkeit. Wenn sie endlich kamen, erklommen sie meinen Hügel nur sehr langsam. Über meine Wurzeln konnte ich spüren, dass das weibliche Wese immer schwächer und kränker wurde. Sie so zu sehen, erfüllte mich mit Trauer. Aber ihr Gefährte, wenn auch selbst nicht mehr erfüllt mit der Kraft der Jugend, spendete ihr Hoffnung. Ich wusste, wenn die beiden sich nicht hätten, wäre sie schon lange aus dem Leben geschieden.
    Wenn sie dann also die große Anstrengung auf sich nahmen, mich auf meinem Hügel zu besuchen, ließen sie sich an meinen Stamm gelehnt nieder. Und wenn sie dann in meine Äste heraufsahen und in ihren Augen Freude und Erinnerungen leuchteten, konnte ich gewiss sein, dass ich für sie alles richtig gemacht hatte.
    Doch auch das konnte leider nicht ewig weitergehen. Eines Tages kamen viele Mitglieder der mir noch immer unbekannten Art auf den Hügel, allesamt in schwarzes Tuch gekleidet. Den Mann meiner beiden Gäste jedoch erkannte ich unter allen anderen sofort – aber ich fragte mich, wo seine Gefährtin war. Wenn sie zu mir gekommen waren, hatten sie das immer gemeinsam getan.
    Was ich bereits ahnte, aber nicht wahrhaben wollte, stellte sich nun doch als bittere Realität heraus: Ein Holzsarg wurde auf meinen Hügel geschafft, und kaum, dass er den Boden berührte, wusste ich, wer sich darin befand. Sie hoben ein Loch aus unter meinen Ästen, zwischen meinen Wurzeln, und ließen sie darin ins Grab hinab. Ein Kreuz markierte wie ein kleiner, kahler Baum die Stelle, an der die Erde sie aufgenommen hatte.
    Ich legte die Wurzeln schützend um den Sarg und tastete vorsichtig nach ihrem Geist. Ich spürte Erinnerungen, die sich mit meinen deckten, aber auch so viele glückliche wie auch traurige, die an anderen Orten geschaffen wurden. Vor allem spürte ich ihre Seele, die jetzt nicht mehr mit der ihres Gefährten Eins war. Was niemals hatte getrennt werden dürfen, hatte der Tod kaltblütig auseinandergerissen.
    Mein zurückgebliebener Gast war der Einzige, der das Grab besuchte. Er kam auf den Hügel, wie er es immer getan hatte, nur jetzt wartete seine Gefährtin hier schon auf ihn. Du wirst Dich gewiss daran erinnern, an seine tiefe Trauer ob des Verlusts, denn zu dieser Zeit hast auch Du hier zu keimen begonnen. Seine tristen Gedanken sickerten durch meine Wurzeln wie Regenwasser, und so, wie ihre Freude mich hatte gedeihen lassen, machten diese mich krank. Ihre ganze Lebensspanne hatte ich sie begleitet und war nun auch nicht mehr der frischeste Sprössling.
    Aber ich setzte mir ein Ziel, eine Aufgabe, die ich noch zu erfüllen hatte, bevor auch ich aus dem Leben schied: Ich musste diese beiden Seelen wieder miteinander vereinen!
    So wartete ich. Wie die Jahre zuvor gab ich mir auch jetzt noch Mühe, dem Zurückgebliebenen die Gaben der Jahreszeiten zu schenken. Doch mit fortschreitender Krankheit ließ meine Kraft nach, und Blüten und Laub verloren an Pracht.
    Auch unsere Seelen waren so eng miteinander verbunden, dass wir uns gegenseitig beeinflussten. So kam es, dass er und ich zur selben Zeit starben – doch ich weigerte mich, meinen letzten Lebensfunken herzugeben, den ich noch so dringend für meine Mission benötigte.
    Wie ich es gehofft hatte, wurde er neben seiner Gefährtin zwischen meinen Wurzeln beigesetzt. Auch um seinen Sarg legte ich mit allerletzter Kraft meine Wurzeln, um seine Seele in mich aufzunehmen, wo ihre bereits so lange gewartet hatte. Die Freude über ihre Vereinigung im Tod war so groß, dass sie mir neue Lebensenergie verlieh – und so kommt es, dass ich trotz allem noch einmal zu keimen in der Lage gewesen bin.
    Ich habe nicht mehr damit gerechnet, dass ich je mit einem anderen Baum in Kontakt treten könnte. Ich fürchtete nicht mehr, vergessen zu werden. Aber jetzt, da sich unsere Wurzeln endlich berühren, junger Baum, wollte ich Dir, damit sie nie verloren geht und vielleicht sogar Verbreitung findet, meine Geschichte erzählen. Die Geschichte vom ewig einsamen Baum.[tab=Finale 1]Die Bambuslilie


    Misako folgte schweigend dem Priester, der sie durch den ausgestorbenen Bambuswald führte. Für gewöhnlich wurde dieser Ort, der, eingekesselt von verschneiten Bergen, nur durch einen Pass mit der Außenwelt verbunden, ein nahezu kreisrundes Tal bildete, Frühlingstal oder auch Immergrüner Hain genannt. Diese farbenfrohen Beschreibungen spotteten der tatsächlichen Schönheit, die den Wald normalerweise erfüllte.
    Doch jetzt war er tot, erstickt von einer Macht, die ihm alles Leben entzogen hatte. Die Bambusrohre waren grau und spröde wie sonnengebleichte Knochen, knarzten leise und Unheil verkündend in der milden Brise, die von den Bergen herabkam. Nur eine etwas stärkere Böe, und sie würden stürzen wie von einer scharfen Axt gefällt. Blätter und zarte Äste waren zu Asche zerfallen, die nie ein Feuer gesehen hatte und den Boden mit einem grauen Schleier bedeckte, wo sonst junge Sprosse dem Sonnenlicht lechzten.
    „Wann hat das Waldsterben begonnen, Takeda?“, fragte Misako. Sie sprach den alten Mann mit seinem Familiennamen an, wie es der natürliche Respekt jedem Menschen gegenüber verlangte.
    „Es ist nicht ganz ein Mond her“, antwortete der Tempelherr, der sich beim Gehen auf einen abgegriffenen Bambusstab stützte, den schon viele seiner Vorgänger besessen hatten. Seit sie sich in dem behelfsmäßigen Dorf am Pass zum Frühlingstal getroffen hatten, stierte Takeda immer wieder verstohlen zu Misako herüber. Ganz offensichtlich behagte ihm ihre Gesellschaft nicht, wie den meisten Menschen, wusste aber, wie unentbehrlich sie für ihn war. „Zuerst hielten wir es für eine Krankheit, die den Bambus befiel; als dann aber auch die Pokémon, die untrennbar mit der Energie der Welt verbunden sind, Schwächen zeigten, suchten wir die Wahrheit tiefer.“ Er zog die Augenbrauen zusammen, sein Blick verfinsterte sich. „Der Wald starb immer weiter ab, sodass ich mich gezwungen sah, die Pokémon, Tiere und Tempeldiener zu evakuieren.“ Plötzlich füllte sich sein Gesicht mit erwartungsvoller Hoffnung, als er zu Misako aufsah. „Ihr werdet es doch schaffen, unseren Schutzpatron zu heilen?“
    Sie sah ihn lange an, bis er den Blick abwandte. Dem Starren ihrer Augen, deren Iris am oberen Teil rot, zum unteren hin weiß gefärbt war, widerstanden nur wenige Menschen. „Ich bin nicht umsonst ausgebildete Akashiro“, betonte sie ihren hochgestellten Rang innerhalb des Militärs, zu dem nur mit ihrer ungewöhnlichen Augenfarbe Geborene zugelassen waren.
    „Verzeiht, Misako“, stammelte der alte Mann und schickte sich an, weiterzuhinken. Dass er sie nicht mit ihrem Familiennamen anreden durfte, schien ihm zu missfallen. Als Akashiro hatte Misako ihre Eltern nie kennengelernt, sondern war in Gesellschaft dieses vom Schicksal auserkorenen Menschenschlages aufgewachsen. Familiäre Bande hatten für sie nie bestanden.
    Sie und Takeda erreichten den Schrein, in dem der Schutzpatron des Frühlingstals residierte. Der Schrein war, anders als der Rest des umliegenden, zur Zeit unbewohnten Tempelbezirks, kein Gebäude, sondern ein uraltes Bambusrohr von enormem Durchmesser, das jedoch kaum höher war als der Wald ringsum. Die ursprüngliche Pflanze stand seit Menschengedenken nicht mehr, doch aus den Wänden des Rohres waren jüngere, frische Triebe gesprossen. Jetzt war der einst lebende Kultplatz, wie auch der Hain, grau und tot.
    Takeda führte Misako durch einen eingeschnittenen Eingang ins Innere des Schreins. Hier bot sich ihr ein schreckliches Bild: Die dem Eingang gegenüberliegende Wand des sakralen Bambusrohrs war zerstört, wie von einer mächtigen Faust niedergeschlagen. Misako trat näher heran und erkannte, dass das jedoch nicht ganz stimmte: Es waren viel weniger splittrige Bruchkanten zu sehen als solche, die vom schärfsten Katana des Kaiserreiches geschnitten schienen.
    „Hier hat Shaymin gelebt und bis vor einem Mond über das Tal Wache gehalten“, flüsterte der Priester, wie um die vernichtete Heiligkeit des Ortes nicht zu stören. „Von hier aus hat es dann dem Wald seine Lebensenergie abgezogen. Als sein kleiner Körper all diese Macht nicht mehr halten konnte, hat es sich verwandelt. Wir vermuten, dass es als Legende, die bereits zwei verschiedene Formen hat, besonders anfällig für eine weitere Gestalt war.“
    Die Akashiro nickte und brach ein Stück toten Bambus, sehr zum Missfallen des Alten, aus der Wand. Es zerfaserte trocken in ihren Fingern.
    Ohne ein Wort ließ Misako den Tempelherren im Schrein stehen und folgte der Schneise der Verwüstung, die von der eingerissenen Wand in den Wald führte. Wo sie vorbeikam, zeigte sich ihr dasselbe Bild: Spröde, eingestürzte Bambusrohre zu beiden Seiten des Weges, viele von ihnen in verschiedener Höhe zerschnitten. Das tote Holz knirschte unter ihren Schritten, die sie so vorsichtig wie möglich setzte. Es war so still, wie es nur an einem Ort sein konnte, der alles Leben verloren hatte.
    Misako gelangte auf eine kleine Lichtung, die nicht natürlichen Ursprungs war: Überall ragten die Stümpfe umgestürzten Bambus aus den Trümmern, der sich hier einst dem unendlichen Azur des Himmels entgegengestreckt hatte. In der Mitte dieses Kreises kauerte eine Gestalt, deren genaue Umrisse sich Misakos Blick unter all dem skelettartigen Holzschutt entzogen.
    Als sie näher trat, erwachte das Wesen zu plötzlich bewegtem Leben und entrollte seinen schlangenhaften Körper. Geschmeidig wie ein Kranich hob es das schmale Drachenhaupt, von dessen Schnauze zwei sich wie Würmer windende Barteln herabhingen. Aus den dunkelgrünen Augen blickten die Kriegerin senkrecht stehende Reptilienpupillen an, doch in ihnen war die Seele zu sehen, die sich hinter der riesenhaften Erscheinung verbarg: Der Schutzpatron des Immergrünen Hains. Shaymin.
    Das Drachenwesen brüllte, als es Misako gewahr wurde, drückte sich zu Boden, um sich gleich darauf davon abzustoßen. Von einer Kraft getragen, die keine Flügel brauchte, erhob sich Shaymin elegant kreisend in den Himmel und entschwand Misakos Blicken.
    Die Akashiro fluchte. Der Dämon kam mit dem neuen Körper bereits besser zurecht, als sie befürchtet hatte.
    Sie hob den linken Arm, atmete tief ein und rief: „Tauboss, erscheine!“ Von dem magischen Ruf gelockt, erglühte eine der Tätowierungen an ihrem Arm, die das stolze Vogelpokémon darstellte. Ein weißes, stoffliches Licht löste sich davon und materialisierte sich vor Misako. Tauboss breitete befreit die Flügel aus und begrüßte seine Herrin mit einem kurzen Zwitschern. Schnell sprang Misako auf seinen Rücken. Mit dem mentalen Band zwischen ihnen, das weder Worte noch Gedanken bedurfte, befahl sie ihrem Pokémon, sich in die Lüfte zu erheben und Shaymins Verfolgung aufzunehmen.
    Tauboss war schnell, und der Dämon in der vorausfliegenden Legende doch noch nicht ausreichend Meister über den ungewohnten Drachenkörper. Er taumelte immer wieder, drehte Spiralen anstatt der anmutigen Schlängelbewegung, die seinem schlanken Leib würdig gewesen wäre. Weiße und zartrosa Blütenblätter umwehten Misako und Tauboss. Es waren Schuppen, die sich aus dem dichten Kleid des Drachen lösten und hinter ihm einen Schleier bildeten.
    Was Takeda über Shaymins neue Gestalt gesagt hatte, war nicht ganz richtig, enthielt aber einen Teil der Wirklichkeit, die mit der sonst so sanftmütigen Legende geschehen war. Viele alte, weise Akashiro, die nicht mehr für die Reise durch das Kaiserreich taugten und sich den Studien des Wissens widmeten, vermuteten, dass alle Legenden einst Drachen gewesen waren, so wie die mächtigsten unter ihnen noch immer. Als sie zur Erde herabgestiegen waren, hatten sie einen Teil ihrer ursprünglichen Macht an den Weltenschöpfer Arceus abgegeben, damit dieses sie verwalte, und das daraufhin eine noch höhere Existenz erreicht hatte. Die in die sterblichere Gestalt verwandelten Legenden trugen noch alle das alte Drachenerbe in sich, das geweckt wurde, wenn ihre einstige Macht zurückkehrte. Und das schien sich der Dämon, der Shaymin wie ein Pilz einen Baum befallen hatte, zunutze zu machen.
    Die Jagd führte über die Berge hinweg, die das Frühlingstal umgaben. Misako merkte schnell, dass das besessene Shaymin auf Sonoto zuhielt, die Stadt, die seit ihrer Errichtung mit dem Hain und seinem Schutzpatron in enger Verbindung stand. Wenn der Dämon sie erreichte, das erkannte Misako, würde es viele Opfer unter ihren Einwohnern geben. Das zu verhindern und Menschen vor wildgewordenen Pokémon zu beschützen, war ihre Aufgabe als Akashiro.
    Sie bedeutete Tauboss, Shaymin sofort aus dem Himmel zu holen, bevor Sonoto für es in Reichweite kam. Der große Vogel legte die Schwingen an und begann, sich um seine eigene Achse drehend, auf den weißen Drachen zuzuschießen. Misako klammerte sich an das Nackengefieder und drückte sich an den breiten Rücken ihres Gefährten, um nicht von ihm geschleudert zu werden. Himmel und Erde tanzten um sie einen wilden Reigen, der abrupt endete, als Tauboss mit einem mächtigen Stoß gegen den mit Blütenblättern geschuppten Schlangenleib krachte. Derart aus der Bahn gebracht, schaffte es der Dämon nicht mehr, seinen Flug stabil zu halten, und stürzte ab, während der Wiesenadler mit den Flügeln schlagend sein Gleichgewicht wiederfand.
    Sofort stieß er hinab, dem drachenhaften Shaymin hinterher. Der mehrere Shaku lange Körper landete in einem verschneiten Wald und riss etliche Birken, Maulbeerbäume und Ulmen um. Misako ließ Tauboss auf diesem freigeräumten Gebiet landen, in sicherer Entfernung zu dem weißen Ungetüm. Das riesige Wesen schüttelte benommen den Kopf. Seine Mähne, die den Hals hinter dem Schädel zierte und aus weichen, lebendig grünen Bambuspflanzen mit goldgelben Lanzettblättern bestand, klapperte hölzern. Drei violette Ziegenhornpaare, die vorderen kürzer als die hinteren, ragten davor auf.
    Die Kriegerin nutzte die kurze Paralyse und rief aus einer weiteren Tätowierung ihr Arkani herbei. Auch wenn der Dämon nicht Herr über den Körper war und keine Kontrolle über seine Kraft hatte, war Tauboss allein gegen ihn doch im Nachteil. Sich selbst umgab sie mit einem Bannkreis, der sie vor den Angriffen der Pokémon schützen sollte.
    Shaymin hatte die Verwirrung abgeschüttelt und fixierte wütend seine Widersacher. Es zischte in blindem Zorn, riss das reißzahnbewährte Maul auf und schoss einen Strahl gebündelten Sonnenlichts auf seine Kontrahenten ab. Tauboss schwang sich sogleich in die Luft und entging somit der schlecht gezielten Attacke, Arkani sprang pfeilschnell aus dem Weg. Frustriert grollte der weiße Drache und wollte sich ebenfalls in den Himmel erheben, doch der braune Vogel schoss auf ihn zu und schnitt ihn mit dem Flügel. Das war Misakos Taktik: Solange Shaymin am Boden blieb, wäre es leichter, es zu besiegen und von seinem Dämon zu befreien.
    Jetzt knurrten der Bambusdrache und der Tigerwolf um die Wette, welche Arkani durch Lautstärke und Tiefe seiner Stimme klar gewann. Die Flugechse schwang den kräftigen Schweif und schlug mit der von einem messerscharfen Blatt bestückten Spitze nach Arkani. Dieses wich jedem Hieb gewandt wie eine Libelle aus; wo die Klinge stattdessen auftrat, spaltete sie Holz wie ein Beil. Das besessene Shaymin beendete diesen fruchtlosen Angriff und setzte stattdessen wieder dazu an, in die Lüfte zu steigen, doch das Feuerpokémon lenkte es mit einem Schwall heißer Flammen davon ab.
    Die Bestie stürzte sich schlängelnd auf Misakos Partner, die goldenen Klauen der vorderen Gliedmaßen voranstreckend. Arkani duckte sich, dem Gedankenbefehl seiner Herrin folgend, und spannte die mächtigen Hinterläufe. Als Shaymin ganz nahe war, sprang der Tigerwolf ihm entgegen und warf es mit der schieren Kraft seines massigen Körpers zurück. Die spitzen Fänge tief in der weichen Reptilienhaut vergraben, verhinderte Arkani, von seinem Gegner abgeworfen zu werden. Dieser schrie vor Schmerz und traktierte seinen Widersacher mit den blitzenden Krallen, riss das dichte Raubkatzenfell bis aufs Fleisch auf.
    Misako erkannte, dass eine direkte, körperliche Konfrontation mit der verwandelten Legende zu riskant für Arkanis eigenes Leben war. Doch bevor sie ihm den Befehl zum Rückzug geben konnte, schwang eine der wurmgleichen Barteln vor und traf den Tigerwolf mit ungeheurer Gewalt. Arkani wurde zurückgeschleudert und prallte gegen einen Buchsbaumstumpf. Seine Herrin knirschte mit den Zähnen. Der Dämon gewann immer mehr Kontrolle über den Körper. Sie musste handeln, bevor er ihr hoffnungslos entwischte.
    Über das Gedankenband befahl sie Arkani, das sich wieder aufgerichtet hatte, Shaymin Flammen entgegenzuschicken, was der Tigerwolf sogleich ausführte. Zu ihrer Überraschung traf auf jenen Feuerstrahl eine Wand violetten Infernos, das aus dem Maul der Bestie quoll. In kürzester Zeit heizte sich die Luft ringsum auf, es roch nach Kiefernholzrauch und Blütennektar. Misako, froh, von dem Bannkreis beschützt zu sein, blinzelte gegen Ruß an, der ihr in die Augen trieb, und erkannte, dass Arkani Shaymins urzeitlichem Drachenfeuer deutlich unterlegen war.
    Plötzlich stürzte sich von oben Tauboss herab und verkrallte sich in den dunkelgrünen Schlangenaugen. Pflanzensaftähnliches Drachenblut spritzte auf, als beide Feuer verloschen, und Shaymin brüllte vor Schmerz. Als Tauboss seine Augen ausreichend zerschlitzt hatte, flatterte es zu Misako und Arkani herüber.
    „Wir müssen das beenden!“, befand die Kriegerin und deutete mit jeweils einer Hand auf Tauboss und Arkani. Die beiden lösten sich in ihre weiß leuchtende Essenz auf. So wie Misako die Handflächen zueinanderführte, bewegten sich auch die Lichterscheinungen aufeinander zu, verbanden sich. „Fusion: Jäger der Flammen!“, sprach Misako den Bannspruch.
    Das weiße Licht erlosch, und ein Mischwesen wurde sichtbar, das den Körper und die Kraft des Tigerwolfes mit den Schwingen und der Eleganz des Wiesenadlers in sich vereinte. Aufgrund der Unbeständigkeit der Fusion war der Greif ganz Feuer und Wind. Er duckte sich, breitete die lodernden Schwingen aus und schoss wie ein Brandpfeil auf den blinden Drachen zu. Es folgte eine nahezu lautlose Explosion, die heiß und brennend über den winterlichen Wald hinwegfegte, Schnee und Eis schmelzen ließ. Misako beschirmte die Augen vor der Glut.
    Als sie den Blick wieder heben konnte, war sie umgeben von Bambus mit goldgelben Blättern und kleinen, rosafarbenen Lilienblüten. All die Energie des Frühlingstals, die Shaymin in sich aufgenommen hatte, war ihm entwichen und hatte sich dergestalt manifestiert. Rasch rief Misako ihre Pokémon zurück, die sich in rot leuchtende Essenz wandelten und in den Tätowierungen verschwanden. Nach der Fusion waren sie zu rasend und konnten Shaymin oder gar ihre Herrin unwillentlich verletzen.
    Die Akashiro ging auf einen der Klumpen zu, die an die Stelle des weißen Bambusdrachen getreten waren. Das unstete Wabern bereitete ihr Übelkeit, doch sie verstand sich darauf, es zu unterdrücken. Die Dämonen, die Pokémon immer wieder befielen und noch schlimmer unter den Menschen wüteten als zornige Pokémon allein, waren eigentlich eine Unterart der Ditto. Aus irgendeinem Grund konnten sie ihre wandelbare Struktur nutzen, lückenlos mit ihren Opfern zu verschmelzen und Kontrolle über sie zu erlangen.
    Misako zog das Katana, mit dessen Hilfe sie bislang jedes ihrer Pokémon gefangen hatte – eine Fertigkeit, die nur Akashiro beherrschten. Sie stieß es vor dem Dämon in die lehmige Erde. Ein leuchtender Kreis bildete sich, über zwei Speichen mit einem kleineren in seiner Mitte verbunden, der das Ditto umschloss. Die eine Hälfte des so entstehenden Ringes irisierte rot, die andere weiß – ganz so wie die Augen der Akashiro. Unter Misakos Willen zog sich der Bannkreis zusammen und löste die jammernde Kreatur in Essenz auf, die vor ihr auf Augenhöhe schwebte. Aus einer Tasche holte sie eine kleine, bauchige Glasflasche hervor und hielt sie darunter. Wie durchsichtiges, leuchtendes Blut floss die Essenz in den kristallenen Tiegel. Als auch der letzte Tropfen sich der Hauptmasse angeschlossen hatte, Misako den Deckel aufsetzte und das Katana zurücksteckte, verschwand der Bannkreis.
    Diese Essenz konnte sie sich nun, mit Farbe vermischt, unter die Haut spritzen lassen, wie zuvor bei ihren anderen Pokémon. Doch bei dieser Ausgeburt böser Mächte würde sie das ganz sicher nicht tun.
    Die Kriegerin ging zu Shaymin, das nun seine Igelgestalt zurückgewonnen hatte. Es zitterte, die Augen vor Entsetzen aufgerissen über das, was es unter der Schreckensherrschaft des Dämons dem geliebten Frühlingstal angetan hatte. Misako hob den Schutzpatron vom Boden auf und streichelte sanft das moosweiche Fell, das im Schatten des umstehenden Bambus gelblich lumineszierte. Als Akashiro war ihre Aufgabe nicht nur das Kämpfen, sondern auch, verzweifelten Seelen Trost zu spenden.
    Und so tröstete sie Shaymin auf dem Rückweg in seinen Immergrünen Hain.[tab=Finale 2]Vom Gleichgewicht der Welt


    Erschaffen war also die Welt,
    wie‘s der Schöpfer wollt‘, und er befand:
    Damit sie nicht zusammenfällt,
    braucht’s Gleichgewicht in diesem Land.
    Vier Seen sollen’s sein,
    der Eine als Stütze allein.
    Als Angeln der Balance Drei,
    setzen mächt’ge Kräfte frei:
    Wissen, Gefühl und Wille,
    verkörpert durch die Blauen Feen,
    die schlafen in der feuchten Stille
    unter jenen, den Drei Seen.


    Die Erste, Rose ist ihre Farbe,
    trägt die Kraft des Herzens, Emotion.
    Erfüllt gewissenhaft jene Aufgabe,
    die sie erhalten hat; obschon
    sie nie erfährt, die Wahrheit,
    über Wiesen spielend lachen.
    Denn seit Anbeginn der Zeit,
    sollte sie niemals erwachen.


    Die Kraft des Geistes ist nur
    eigen der Fee, der Zweiten,
    deren Haupte trägt Azur.
    Wo Sonne scheint über alle Weiten,
    träumt sie Schlafesreigen.
    Ohne die Kühnheit, zu tun,
    aus den Tiefen aufzusteigen:
    Hier soll sie immer ruh’n.


    Die Dritte, Kraft des Verstands,
    schläft inmitten verschneiten Lands.
    Mit ihrem Schild in Gelb beschützt,
    was zu wissen schadet, nützt,
    oder nicht mit Sinn erfüllt.
    Doch in der einz’gen Erkenntnis,
    die sie kennt, sich verhüllt,
    liegt keine Stärke, kein Verständnis.


    Mit den Gemmen ihrer Stirn
    – die des Blutes Farbe sind: Rot –,
    aufgetan auf starkem Zwirn,
    ergibt sich, was Leiden lehrt:
    Das Gleichgewicht wird umgekehrt.
    Dies bedeutet den Tod
    der Welt, wie sie gerade lebt.
    Wenn von Grau und Gold der Drache, Meister
    der Zerrwelt und ihrer Geister
    sich aus der Quelle selbst erhebt.
    Wenn er den Ruf der Kette hört,
    der ihn mächtig zwingt,
    den zu bekämpfen nicht gelingt,
    wird alles, wie es ist, zerstört.


    Doch beschreibt die alte Sage:
    Bleiben sie den Seen unentrissen
    – Gefühl, Wille und Wissen –,
    halten sie der Welt die Waage.
    Und die Stütze, ganz allein,
    wird für immer standhaft sein.[/tabmenu]

  • [tabmenu][tab=Seite 1]
    Wird echt mal Zeit für ein neues Update. Obwohl hier ja scheinbar niemand was tut... Leute, ihr müsst echt nicht kommentieren, wenn ihr nicht wollt, aber wenn ihr was lest - falls ihr was lest - gebt mir doch per GB bescheid. Würde mich total freuen, auch nur zu wissen, dass sich jemand für das interessiert, was ich schreibe ;___;


    Das Update enthält das altbekannte Kaze no Kaito, meine erste Kurzgeschichte, die bislang im Startpost zu finden gewesen ist. Ich verpflanze sie jetzt mal, weil das stilistisch besser ist. Die anderen sind drei WB-Texte, zu denen ich jetzt auch nicht viel schreiben will, und ein WB-"Gedicht".
    "Des Frühlings letzter Tag" ist von einigen Kurgeschichten von Pearl S. Buck inspiriert, die ich zu der Zeit gelesen habe; die Namen Eleanor und Robert sind an Charaktere dieser Werke angelehnt.
    "Pokésushi" ist ein Parodietitel auf das Genre Poképasta, das das Thema des WBs war. Darüber hinaus ists aber ein ganz klischeehaftes Pasta. Kam mir sehr spontan und erst gegen Ende der Abgabefrist, die ganze Geschichte, und ich hatte daher nur wenig Zeit, sie zu schreiben. Trotzdem mag ich sie. Wie auch "Die Bambuslilie" muss man hier mit Köpfchen lesen, um alles zu verstehen ^^ Tamamushi ist übrigens der japanische Name von Prismania City, das in der Pokémon-Welt an der Stelle Tokyos liegt.
    "Nymphaea" ist kein gereimtes Gedicht, weil ich nicht auf gute Reime kam und außerdem auch keine Zeit hatte, da viel herumzubasteln, aber unbedingt am WB teilnehmen wollte. Entsprechend bin ich auch nicht besonders stolz darauf =/


    Beim nächsten Mal poste ich dann mal Eigenkreationen, die nicht (direkt) auf WB-Aufgaben beruhen ^^[tab=Kaze no Kaito]Hupend fuhr ein Laster durch die von künstlichem Neonlicht beleuchtete Hauptstraße von Kurogane City. Das Hupen brach ab, als er an einer roten Ampel zum stehen kommen musste. Ungeduldig trommelte der Fahrer, der Ringe unter den rot angelaufenen Augen hatte, mit den ungepflegten Fingernägeln auf das Lenkrad und wartete auf grünes Licht. Neben ihm stand ein alter Peugeot, eine mindestens doppelt so alte Frau mit silbrigem, in der Ampel rötlich glänzendem Haar auf dem Fahrersitz, hinten ein aufgepökeltes Snubull, das, die Forderpfoten an die Scheibe gepresst, den anderen Fahrzeugen zukläffte. „Dolly, jetzt sei doch nicht so ungezogen!“, klagte die Omi im Auto, bevor die Ampel zuerst auf gelb, dann auf grün umschaltete und der Fluss endlich wieder seinen Lauf nehmen konnte. Während der Laster weiter die Hauptstraße entlangfuhr, bog der Peugeot in eine Seitenstraße, wo er vor einem schmucken Haus zum stehen kam. Die alte Frau stieg aus ihrem Wagen und nahm ihr Snubull, das jetzt endlich still war, fest in die Arme. „Wenn mein Schätzchen so ungezogen ist, gebe ich ihm aber kein Fressi mehr!“, drohte sie witzelnd und kraulte dem kleinen rosafarbenen Pokémon den Kopf. Auf ihren hochhackigen Lackstiefeln trippelte sie zu ihrem Haus, bevor sie die Tür aufschloss und in der Villa verschwand.


    Michiru stand vor dem Spiegel und sah an sich herunter. Nur in Unterwäsche bekleidet wirkte ihr schlanker Körper noch viel dünner, fast wie ein Zaunpfahl. Sie griff in ihre dünnen, hellblau gefärbten Haare – sonst waren sie platinblond, fast weiß – und schnappte sich die Bürste vom Waschbecken, bevor sie begann, sie zu kämmen.
    „Michi, bist du bald so weit?“
    Das Haar aufgekämmt nahm sie einen Gummi und band es zu einem Zopf, bevor sie daraus einen festen Dutt machte. Gleich darauf zog sie eine Bluse und einen Rock an, bevor sie die Tür zum Badezimmer öffnete. Masaharu stand an die gegenüberliegende Wand gelehnt, die Hände in den Hosentaschen. Als sie auf den Flur trat, sah er auf. „Du siehst gut aus“, lobte er und beäugte sie.
    „Stier nicht so“, tadelte Michiru und trat zur Seite, damit auch er sich fertig machen konnte. „Schließlich ist heute ja auch ein besonderer Abend.“ Ihr ihrer Stimme schwang ein Ton der Verführung mit.
    Masaharu grinste dämlich, dann zog auch er die Tür hinter sich zu.
    Die junge Frau stand noch kurz im Flur, bevor sie in die Küche ging und noch einmal ihre Liste abarbeitete. Nein, sie hatte nichts vergessen. Sie setzte sich und trank noch ein glas Wasser, während sie auf ihren Partner wartete. Dieser brauchte auch nicht lange im Badezimmer – eine Tatsache, die er ihr immer unter die Nase rieb – und kam schließlich auch in die Küche. Er hatte sich keine besondere Mühe bei der Auswahl seines Outfits gegeben; eine schlichte Jeans und irgendein altes, unmöglich graukariertes Hemd.
    „Fertig?“, fragte Michiru.
    „Wenn du es bist.“
    Damit nahm sie ihre Tasche und er seinen Rucksack. Sorgfältig prüften sie, dass nichts in der kleinen Wohnung darauf hinwies, wann sie sie verlassen hatten, und schlossen sie hinter sich ab. Der Wagen – ein gebrauchter VW – stand schon bereit in der Auffahrt. Michiru warf ihre Tasche auf den Rücksitz, Masaharu bevorzugte den Kofferraum. Schließlich saßen sie dann beide in dem Auto und warteten. „Hast du alles?“, fragte er.
    Michiru prüfte erneut ihre Liste – sicher ist sicher, war ihr Motto – und nickte dann. Endlich läutete die alte Turmglocke zur vollen Stunde; Mitternacht. Masaharu schmunzelte: „Warum müssen wir das eigentlich immer um diese Uhrzeit machen?“
    „Ich war es nicht“, entgegnete seine Partnerin. „Die vor drei Jahren noch an Geister geglaubt und um den Nervenkitzel gebettelt hat. Fahr jetzt los!“
    Der junge Mann gab sich geschlagen und startete den Motor. Er wendete und fuhr dann endlich auf die Straße, nachdem er mehr als einmal den Bordstein gestreift hatte. Schnell gelangten sie über die Hauptstraße in den allgemeinen Verkehr, der jetzt – zur Stunde der Nachtmenschen – einen besonderen Fluss angenommen hatte, eine Mischung aus Rasern und Rauschsüchtigen mit dem Hauch der ermüdenden Menschheit. Kurogane war nun mal schon lange nicht mehr das, was es einmal gewesen sein mochte. Doch für Michiru und Masaharu sollte es heute eine ganz besondere Nacht werden.
    Ihr VW fuhr noch viele Schleifen und Umwege, bevor er in der Alten Straße zum stehen kam. Die Alte Straße war ein historischer Ort, denn nur hier standen noch ein paar wenige der früher vielen alten Gebäude, so auch das Museum. Und somit hatten die beiden ihr Ziel erreicht. Da die Stadtverwaltung es nicht genehmigt hatte, hier den urzeitlichen Asphalt aufzureißen um Stromleitungen zu legen, war sie unbeleuchtet, und das war ihr Vorteil.
    Sie stiegen aus dem schrottfälligen Wagen und betraten zunächst eines der Bauten aus dem vorigen Jahrhundert. Sie hatten alles genau geplant, so waren sie auch über ihre vielen Verbindungen an einen Schlüssel zu diesem Haus gekommen. Michiru trennte sich von Masaharu und ging in einen abgeschiedenen Raum, der vielleicht einmal ein belebtes Wohnzimmer gewesen sein mochte. Sie öffnete ihre Tasche und holte zu allererst ihre Gummihandschuhe raus. Es musste alles glatt laufen, ohne jegliche Genspuren zu hinterlassen. So durfte sie ihren Anzug außen nur nicht mit der Haut berühren. Sie zog ihn aus der Tasche, nachdem sie ihre jetzigen Klamotten ausgezogen hatte, und streifte ihn sich schließlich über. Der seltsame schwarze Stoff, dessen Namen sie sich partout nicht merken konnte, fühlte sich wie immer unangenehm an, aber das musste nun mal so sein. Ihre wenigen, vom Dutt abstehenden Haare hielt sie mit einem Haarnetz in Schach und trat dann wieder aus dem Zimmer heraus.
    Masaharu war bereits fertig. Durch den Stoff seines Anzuges konnte man seine schmächtige Hühnerbrust erkennen, die er am liebsten mit zu weiten Hemden und Shirts verbarg. Auch sein erdbraunes Haar war von einem Netz gebändigt und er hatte seinen Gürtel mit Werkzeug bereits umgeschnallt, wobei eines davon ein Pokéball war. Michiru hatte ihren ganz vergessen – was sie sich nun wirklich nicht leisten konnte – und warf ihn sich schnell um die Hüften. „Los geht´s!“, sagte sie eifrig und die beiden verließen das Haus.
    Wie zwei Mauzi schlichen sie zu ihrem Auto zurück und entledigten sich dort aller überflüssigen Taschen und Rücksäcken. Anschließend huschten sie leise und unbemerkt zum Hintereingang („Michiru, das ist kein Schuhgeschäft, in das wir hineinspazieren. Hier geht es um den Clou des Jahrhunderts, da muss so etwas schon durch den Personaleingang gehen!“) des Museums. Die Türen – oder eher die Tore, weil hier auch Lieferanten einen Eintritt fanden – waren aus steinhartem Stahl und ließen sich von Hand wohl nur von Maschock öffnen.
    „Und wie hast du dir das vorgestellt?“, flüsterte Michiru ihrem Partner zu. „Ich will mal sehen, wie du die Türen hier aus ihren Angeln reißt, Superman.“
    Masaharu grinste schief. Solche Sachen liebte er – ihr wichtige Passagen im Plan nicht zu verraten (was wohl daran lag, dass er sich dafür rächen wollte, dass er nichts zu ihrem Teamnamen hatte sagen dürfen) und dann nur im letzten Moment damit herauszurücken. Er zückte von seinem Gürtel ein kleines Gerät – Eipott oder so hatte er es genannt, sie kannte sich mit dem ganzen Elektronikkram nicht so aus – und verband es über ein Kabel mit der Sicherheitszelle, in die die Angestellten ihren Code eingaben und die Iris einscannten, um sich auch als angestellte ausweisen zu können. Durch einen Knopfdruck von Masaharu an seinen Pottdingsbums schaltete sich das System ein. Mit einigen komplizierten Tricks, die Michiru auch bei mehrmaligem Zusehen immer noch nicht kannte, hatte er das Sicherheitsprogramm abgestellt, die Uhrzeit um einige Stunden umgestellt – für spätere Untersuchungen der Polizei war das sehr wichtig, denn dann konnten die Ermittler nicht mehr genau rekonstruieren, wann und wie lange sich die Einbrecher im Museum aufgehalten hatten, denn er würde hinterher die Uhr wieder richtig einstellen – und schließlich auch das Tor entriegelt, das sich jetzt leise zischend öffnete.
    Während sich Michiru umsah, dass auch ja keiner sie bemerkt hatte, stöpselte ihr Partner sein Gerät wieder aus. „Wozu braucht man schon Muskeln, wenn man Hirn hat?“, lächelte er stolz über sein Werk.
    „Du hast weder das eine noch das andere“, entgegnete sie pampig.
    „Michi, ist giftig sein eigentlich dein Hobby?“
    Sie schmunzelte. „Nein, meine Leidenschaft.“ Ohne ein weiteres Wort winkte sie ihn in das Gebäude, das sich ihnen jetzt wider Willen geöffnet hatte. Die Eingangshalle lag völlig im Dunkeln, aber am Hall ihrer Schritte ließ sich ihre Größe in etwa erahnen. Masaharu hatte seine Nachtsichtbrille gezückt. „Dort!“ Er zog an ihrem Ärmel und führte sie schließlich zu einer der Wände, bevor er auch seinen Pokéball hervorholte und das darin gefangene Pokémon entließ. Es war extra ein besonderer Ball – ein Finsterball, aber Masaharu fand ihn ja so unglaublich toll und war stolz drauf, ihn zu besitzen – weil er kein helles Licht aussandte, wenn das Pokémon erschien. „Ok, Magnetilo“, raunte der junge Mann seinem Pokémon zu. „Du weißt, was du zu tun hast.“
    Die kleine schwarze Pupille wanderte kurz suchend durch das große Weiß, dann fand es das Objekt seiner Aufgabe. Es schwebte vor das Gitter, dann begannen seine beiden Magneten, sich zu drehen, der eine nach vorne, der andere nach hinten. Während sie immer schneller wurden, spürte Michiru, wie sich die Luft veränderte: sie wurde statisch aufgeladen. Das war ausnahmsweise eine der brauchbaren Fähigkeiten, die eines von Masaharus Pokémon aufweisen konnte. Endlich reagierten die Schrauben, mit denen das Gitter angebracht war, und drehten sich nun ebenfalls, bis sie sich lösten und gegen die Magnete knallten. Schnell fing Masaharu das Gitter auf, bevor es polternd zu Boden stürzen konnte.
    Michiru und ihr Partner halfen sich, in den Lüftungsschacht zu kommen. Er teilte sein Pokémon ein, hier Schmiere zu stehen und gegen die Wände des Schachtes zu klopfen, sollte die Polizei kommen oder ähnliches passieren. Dann drehten sie sich um und folgten dem Lauf, bis sie an eine Abzweigung kamen.
    „Jetzt bin ich an der Reihe.“ Michiru holte auch einen der ihren Pokébälle hervor, aus dem ein Wadribie kam. „So, mein Süßer“, sagte sie betont zu dem Bienenpokémon. „Folge deiner Nase. Was riechst du?“ Die drei Gesichter schlossen kurz die Augen und lauschten auf die Finsternis, dann öffneten sie sie wieder und grinsten. „Wadribie!“, erschallte ein dreistimmiger Ruf, voller Euphorie und Vorfreude. Das kleine Pokémon flog leise brummend den Schacht entlang und wartete dabei nur unwillig den beiden Menschen, die jetzt ihre Taschenlampen anknipsten, um ihm zu folgen.
    Michiru hatte Tags zuvor Wadribie-Honig in den Raum geschmiert, in den sie jetzt mussten, wohlwissend, dass ihr dreigegliedeter Freund völlig darauf abfahren und sie dorthin führen würde.
    Nach einiger Zeit erreichten sie ihn schließlich. Wadribie war weit voraus geflogen und umschwirrte jetzt das Gitter, durch das der Honigduft kam. Michiru rief ihr Pokémon zurück – sie würde ihm zur Belohnung zuhause noch Honig geben, so viel es essen konnte, wenn dies alles getan war.
    „Wahnsinn!“, flüsterte Masaharu begeistert. „Wir sind tatsächlich hier!“
    Die junge Frau lächelte. „Und du sagst immer, niedliche kleine Pokémon seien zu nichts zu gebrauchen.“ Sie wartete, bis er mit seinem Laserstift das Gitter abgetrennt hatte und schnallte sich das Seil um. Jetzt kam ihr zweites Pokémon ins Spiel. Sie holte den Ball hervor und befreite es. „Wingull, Weißnebel!“, befahl sie, worauf der Wasservogel aus seinem Gefieder milchigen Dunst in den Raum unter ihnen schickte. „Das reicht.“ Der Fluss erstarb, sodass der Nebel sich im Raum verteilen konnte und nicht zu dicht wurde, damit Michiru nicht ganz im Nichts tappte. Die Attacke hatte ihre Wirkung: überall wurden rote Strahlen sichtbar, die sich am Boden als dichtes Karo-Netz und in der Luft jeden Meter als parallele Bänder erstreckten. „Jetzt lass mich runter“, sagte sie zu Masaharu und rief Wingull zurück. Ihr Partner ergriff das Seil und ließ sie hinab. Vorsichtig glitt sie zwischen den Infrarotstrahlen hindurch, bevor sie mit jedem Fuß in einem Laserquadrat zum Stehen kam. Sie schnallte sich den Gürtel wieder ab und machte ein paar sachte Schritte vorwärts. Aus dem lichten Nebel zeichnete sich ein schwarzer Kasten ab, und bald erstrahlte im Licht ihrer Taschenlampe das Objekt ihrer Begierde: geheimnisvoll glitzerten die vielen Facetten in allen Farben die sie kannte und Farben, die sie noch nicht gesehen hatte, und schien beinahe ihren Namen zu rufen. Doch etwas war hinderlich: der Glaskasten, mit dem es geschützt werden sollte. Michiru fingerte an ihrem Werkzeuggürtel und verwendete nun ihrerseits ihren Laserstift. Vorsichtig hob sie den Glaskasten hoch und beäugte den weißen, jedoch farbenfrohen Gegenstand. Mit der einen Hand hielt sie den Kasten fest, mit der anderen fummelte sie erneut am Gürtel und zog aus einer kleinen Tasche eine noch kleinere Kugel, die für ihre Größe aber sehr schwer war. Den Kasten stellte sie in ein Quadrat am Boden, und tauschte dann geschickt das Ausstellungsstück gegen die Kugel aus, bevor die mit dem Alarmsystem verbundene Waage unter dem Juwel den Unterschied merken konnte. Sie stellte den Kasten wieder auf seinen Platz und kehrte zum von der Decke baumelnden Seil zurück.
    „Got it!“, freute sie sich und schnallte sich ungeschickt, weil sie nur eine Hand frei hatte, den Gürtel um, bevor Masaharu sie wieder hochzog. Der Rest war nicht mehr allzu schwer. Gitter wieder drauf und den Lüftungsschacht zurück.
    Während sie dort, wo Magnetilo immer noch wachsam schwebte, wieder ausstiegen, sagte Masaharu: „Ich kann es echt nicht fassen. Wir haben es wirklich getan. Wir haben den Adamant-Orb geklaut! Und das ohne den Alarm auszulösen…“
    „Da siehst du´s mal“, bemerkte Michiru. „Der Name war doch passend gewählt! Schnell und leise wie der Wind, aber dennoch so zerstörerisch wie ein Sturm.“
    „Ich find ihn dennoch öde.“ Er rief Magnetilo zurück und machte sich wieder an seinen Eipott. Nachdem er die Uhrzeit wieder richtig eingestellt und das Tor wieder geschlossen hatte, kehrten sie zu ihrem Wagen zurück. Gerade, als sie die Straße überqueren wollten, sprangen ihnen blaue Lichter ins Gesicht zusammen mit einer durch einen Lautsprecher verstärkten Stimme, die sagte: „Hier spricht die Polizei von Kurogane City. Sie sind umstellt, ergeben Sie sich freiwillig.“
    Michiru und Masaharu hoben die Hände. Der Coup des Jahrhunderts war aufgeflogen.[tab=Göttliche Liebe]Göttliche Liebe


    „Ich muss zugeben, ich war schockiert, als ich erfuhr, mit Euch verheiratet zu werden. Nehmt es mir nicht übel, meine Dame, aber bei unserer letzten Begegnung wart Ihr… anders anzusehen.“
    „Das kann ich verstehen. Damals waren wir beide noch Kinder und sahen uns mit anderen Augen. So wie ich Euch als nervenaufreibenden Wildfang betrachtete, habt Ihr in mir sicher ein Mauerblümchen erblickt.“
    „Das heute zu einer wahren Rose herangewachsen ist!“
    Prinz Sebryl und seine Verlobte Valira schritten durch den Garten der Liebenden, der, anlässlich des hohen Besuchs, für Gäste niederen Standes gesperrt war. Ihr Weg führte sie unter blühenden Arkaden hindurch, deren florale Juwelen die feurige Abendsonne in ein Farbenspiel aus Licht und Schatten verwandelten. Einige letzte Schmetterlinge schwebten, lebendigen Blütenblättern gleich, durch die süßlich duftende Luft. Der weitläufige Tempelgarten war der Inbegriff eines romantischen Ortes, den die beiden frisch Verliebten nur mit sich selbst teilen konnten.
    Oder zumindest fast, denn stets in ihrer Nähe hielt sich eine stille Beobachterin auf. Sie war nie zu weit von ihnen entfernt, um das glockenhelle Lachen Valiras zu überhören, oder die in tiefer Zuneigung gesprochenen Liebesworte des Prinzen. Die Verfolgerin brauchte sich nicht zu verbergen, auch dann nicht, wenn einer der beiden sich zufällig nach ihr umdrehte. Sie konnten sie weder sehen noch hören.
    Ilydie schlich ihnen bereits hinterher, seit sie ihren Garten betreten hatten. Als Göttin der Liebe konnte sie die Gefühle spüren, die die beiden füreinander hegten. Obwohl sie einander von ihren Eltern zugesprochen worden waren, hatten sie sich über diese vereinbarte Verbindung hinaus wahrhaft ineinander verliebt. Doch Valira war nicht die Einzige, die ihr Herz an den zweitgeborenen Sohn des Königs verloren hatte.
    Sondern auch Ilydie selbst.
    Während sie also dem in seinem Glück berauschten Paar folgte, wurde sie fast von der Eifersucht auf die schöne Sterbliche zerrissen. Wie viele Jahre liebte Ilydie Prinz Sebryl schon und hatte insgeheim gehofft, er werde, da er nicht der Kronprinz war, nie verheiratet werden? Sicher, auch in diesem Fall hätte er sich noch in eine andere verlieben können und wäre somit für sie verloren gewesen. Doch eine Heirat machte alles so… endgültig.
    Die Verliebten traten aus den spiralförmig zu einem Innenhof führenden Arkaden hinaus und auf einen Springbrunnen in dessen Mitte zu. Über der Wasserfläche, auf der Seerosen schwammen, thronte eine Statue Ilydies aus Rosenmarmor. Am Brunnenrand ließen Sebryl und Valira sich nieder, hielten sich bei den Händen und ignorierten die Göttin und die ganze Welt vollständig.
    Während Ilydie ihnen mit brennendem Herzen lauschte, tauchte neben ihr eine andere göttliche Präsenz auf. Sogleich erkannte sie ihren Bruder Measor. Er stellte sich neben sie und hüllte sie in eine Wolke sinnlicher Wärme, die ihn als Gott der fleischlichen Lust stets begleitete. „Verdrehst du deine Augen noch immer nach diesem Sterblichen?“, fragte er mit nur Göttern vorbehaltener Stimme, die jetzt sowohl belustigt als auch verärgert klang. „Du bist eine unsterbliche Göttin! Das Universum persönlich hat festgelegt, dass diese Verbindungen unmöglich sind.“
    „Ich weiß“, gestand Ilydie ein, auch wenn ihr dabei das Herz zersprang.
    „Überhaupt, er ist nur ein niederer Mensch“, meinte Measor verächtlich. „In der Rangordnung der Natur steht er unter dir wie ihm ein gemeines Hausschwein. Noch mehr, während er mit seiner Angetrauten altern und sterben wird, wirst du auch weiterhin deine Jugend behalten, solange es die Liebe gibt.“
    „Das ist es nicht.“
    Ilydie ging auf die Liebenden zu, die sich in den Armen hielten und verträumt in den Sonnenuntergang blickten. Die Göttin stand genau vor ihnen, doch das Abendfeuer drang durch sie wie durch bloße Luft. Wie sehr es sie schmerzte, die Freude in Sebryls Augen leuchten zu sehen! „Die Menschen beten mich an, ich solle ihnen die Liebe derer versichern, in die sie sich verliebt haben“, erklärte sie bitter. „Eine solche Verbindung, die ich selbst geschaffen habe, kann ich auch wieder lösen. Aber diese beiden hier haben ohne meine Hilfe zueinandergefunden. Aus natürlicher Liebe wie der ihren wurde ich geboren – sie ist mächtiger als ich.“ Sie seufzte. „Und überhaupt könnte ich ihm nicht viel mehr bieten, als meine Gefühle hergeben.“ Traurig blickte Ilydie zu ihrem Bruder auf. „Ich bin nur die Göttin der Liebe. Mir fehlt, was Menschenfrauen haben und Menschenmänner begehren. Attraktivität, Sinnlichkeit …“
    Measor zog die Augenbrauen hoch und nickte. „So leid es mir tut, liebste Schwester, aber das stimmt. Ich muss es schließlich wissen.“
    Prinz Sebryl pflückte eine Teichlilie und flocht sie seiner Verlobten ins Haar. Ilydie zuckte zusammen, denn dieser Kopfschmuck war auch jener, mit dem die Menschen sie darzustellen pflegten. „Ihr seid die schönste Frau dieser Erde“, sagte der Prinz leise, woraufhin Valira sich zu einem Kuss hinriss.
    Angewidert verzog Measor das Gesicht und wandte sich ab. „Wie kannst du dir dieses Schnulzentheater nur tagtäglich antun?“, fragte er brüsk. „Wenn du willst, kann ich ein bisschen mit ihrem Eros spielen, um ihre Gefühle füreinander aufzuwirbeln.“
    Ilydie war ihrem Bruder für seine eigene Art der Aufmunterung dankbar, doch sie schüttelte den Kopf. „Ich will nur, dass er glücklich ist.“
    „Zumindest stehen sie auf gleicher Stufe“
    , sinnierte Measor und wollte wohl fortfahren, doch seine Schwester unterbrach ihn: „Das ist es!“, rief sie aus und wandte sich ihm zu. „Wenn Sebryl ein Gott werden würde, bliebe ihm nichts anderes übrig, als sich in mich zu verlieben!“ Ihre Augen glänzten bei diesem Gedanken wie der Sonnenuntergang. Sie, Measor und viele andere Götter waren so alt wie die Menschheit selbst, als diese begonnen hatte, sie als solche zu verehren und an sie zu glauben. Doch viele Dinge hatten zuerst keinen Gott gebraucht. Erst später waren einzelne Menschen nach ihrem Tod durch den Glauben der Sterblichen aufgestiegen.
    Measor, der ihre Gedanken zu erraten schien, tadelte sie: „Sterbliche werden nur Götter, wenn sie sich zu Lebzeiten durch besondere Leistungen auszeichnen. Chebaste ist Göttin der Schrift, weil sie durch ihre Rebellion das Lesen und Schreiben Frauen und Bauern zugänglich gemacht hat. Lodeg ist Gott des Reichtums, weil er mit dem seinen weise und gerecht umzugehen wusste. Worin hat sich dieser Sebryl hervorgetan, dass er es verdienen könnte, unsterblich zu sein?“
    Er hat einer Göttin das Herz gestohlen
    , dachte Ilydie, sagte aber: „Es muss noch eine andere Möglichkeit geben! Ich werde Alfenorega aufsuchen, gewiss geben mir ihre Bilder Antwort.“ Die Schicksalsgöttin lebte in einer unendlichen Höhle ohne Ausgang und malte an deren Wände immerwährend die Weltgeschichte.
    „Bis du diese findest, mögen Jahrhunderte vergehen“, meinte Measor. „Dein Prinzchen wird nicht so lange leben.“ Soeben stand das verliebte Paar Hand in Hand auf und entfernte sich vom Brunnen. Measor, der etwas gespürt zu haben schien, verabschiedete sich schnell. „Ich werde in meinem Tempel gebraucht.“ Mit diesen Worten verschwand er und ließ seine Schwester allein zurück. Wie eng Liebe und Lust, obwohl sie so unterschiedlich waren, zusammengehörten, wurde dadurch deutlich, dass die Menschen an Ilydie und Measor als Geschwister glaubten.
    Ilydie sah sich in ihrem nunmehr verlassenen Garten um, in dem die Schatten der Nacht Einzug hielten. Sie setzte sich an den Brunnenrand und zerging fast vor Liebeskummer, als sie sich vorstellte, Sebryl sei bei ihr und flechte ihr Teichlilien ins Haar. Zugleich freute sie sich für ihn, wie ihr zu Weinen kam, wenn sie sich sein glückliches Lächeln in Erinnerung rief. Warum nur war das Schicksal so grausam mit ihr?
    So saß sie da, während um sie herum die Nacht hereinbrach, als sie ein leises Zischen vernahm. Ilydie blickte sich um und entdeckte nicht weit von ihr eine Schlange in einem Rosenstrauch. Wahrscheinlich war das beinlose Reptil auf Beutejagd, denn im Garten der Liebenden lebten viele Singvögel. Doch Schlangen waren auch die Symboltiere Klegos, des Gottes der Niedertracht. Ilydie dachte an das, was man sich über ihn erzählte. Vor Klego hatte Nufeter sein Amt inne gehabt, und vor diesem noch viele weitere. Es hieß, wenn ein Sterblicher es schaffte, den hinterhältigen Gott dazu zu überlisten, könne er seine Sterblichkeit gegen die Göttlichkeit eintauschen. Bei diesem Gedanken sprang Ilydie auf.
    Es war so einfach. Nicht Sebryl musste zum Gott, sondern Ilydie zur Sterblichen werden!
    An Klegos Beispiel war zu sehen, dass sowohl Göttlichkeit als auch Sterblichkeit Güter waren, die einfach zum Tausch hergegeben werden konnten, wenn beide Seiten damit einverstanden waren. Es brauchte dazu nur ein bisschen Überredungskunst.
    Entschlossen, für Sebryl und ein gemeinsames Leben mit ihm alles zu tun, wartete Ilydie beim Tempel ihres Bruders am Fraueneingang. Männer und Frauen betraten das Gebäude durch verschiedene Eingänge, was die Vereinigung betonte, die sie in seinem Innern eingingen. Um das Tor herum blühten farbenfrohe Orchideen, die symbolisch für die weibliche Hingabe standen. Nur als Sterbliche würde Ilydie Sebryl diesen Aspekt menschlicher Begierde bieten können.
    Als sich die Tore öffneten und Valira hinaustrat, materialisierte sich Ilydie und löste sich aus dem Dunkel der Nacht. Zuerst erschrak die Adlige aus Angst vor einem Angreifer, doch als sie die Unsterbliche erkannte, verneigte sie sich. „Göttin Ilydie“, grüßte sie demütig, „was verschafft mir die Ehre einer Begegnung mit Euch?“
    Ilydie genoss die unterwürfige Haltung ihrer unfreiwilligen Rivalin. Mit klangvoll nachhallender Stimme, die nun auch für sterbliche Ohren hörbar war, sagte sie: „Hast du schon einmal überlegt, wie es sein könnte, eine Göttin zu sein?“[tab=Des Frühlings letzter Tag]Des Frühling letzter Tag


    Tomoko unterbrach ihre Bemühungen, Pflaumenblätter und Fichtennadeln zusammenzukehren, und stützte sich auf den Besenstiel. Wie alle Priesterdienerinnen war sie mit der Aufgabe betreut, den mitten im Wald gelegenen Zeremonienplatz für das in wenigen Stunden stattfindende Abendritual vorzubereiten. Kein noch so winziger Zweig durfte die dafür benötigte Perfektion zunichtemachen. Der Wind rauschte sanft durch die Baumwipfel, die gesprenkelt waren vom mangofarbenen Licht des anbrechenden Sonnenuntergangs, und brachte das Gezeter liebestoller Zikaden mit, vermischt mit dem melancholischen Gesang einer Nachtigall.
    Beiläufig deutete Tomoko zum rot lackierten Torbogen, durch den die Abendsonne hereinschien. „Das ist das Torii“, erklärte sie Eleanor, die gelangweilt bei ihr stand und bei der Arbeit zusah. „Durch dieses betritt man den Platz, über den man zum Omiya gelangt.“ Jetzt zeigte sie zu dem kleinen Holzhäuschen. „Das bedeutet Schrein.“
    „Das übersetzt man doch mit Tempel“, warf Eleanor bestimmt ein.
    Auch wenn es sie ärgerte, dass die Amerikanerin diesen wichtigen Unterschied nicht kannte, aber trotzdem so von ihrem unzureichenden Wissen überzeugt war, winkte Tomoko höflich ab und berichtigte: „Tempel sind immer einem Buddha geweiht. Schreine hingegen gehören zum Shinto.“
    Darauf zuckte Eleanor nur desinteressiert die Schultern.
    Tomoko nahm ihre Aufgabe wieder auf und fuhr mit dem Besen über den Boden. „Unser Oberpriester wird Shinshoku genannt; ich bin eine Miko, eine Schreinjungfrau.“
    Hier horchte die Amerikanerin plötzlich auf. „Ihr müsst wirklich alle Jungfrauen sein?“, wollte sie genauer wissen. Als ihr Gegenüber bejahte, fuhr sie fort: „Wie alt bist du? Neunzehn? Ich könnte mir kaum vorstellen, mit neunzehn noch Jungfrau zu sein – und ich bin siebzehn!“ Sie lachte fröhlich, streifte ihre Langeweile ab und vollführte ein heiteres Tänzchen. Tomokos sorgfältig zusammengekehrtes Häufchen Pflanzenreste wirbelte auf. Das Aroma von Vanille kitzelte ihre Nase – ein Geruch, den die Amerikaner mitgebracht hatten.
    Mit ihrer Keuschheit hatte Tomoko kein Problem. Sie lebte von und für ihren Dienst am Schrein. Das hätten auch die anderen kehrenden Miko so gedacht, wenn sie Eleanor verstanden hätten. Außerdem erreichte Tomoko bald ihren zweiten Zehner und war dann für eine Schreinjungfrau zu alt.
    „Da bin ich mit meinem Robert viel besser dran“, schwärmte Eleanor verliebt wie eine Zikade. In letzter Zeit sprach sie nur noch von ihm. Irgendwie schienen bei den Amerikanern die Eltern nicht zu entscheiden, wen ihre Kinder heirateten; doch als Tochter des amerikanischen Kolonialbotschafters passte der Offizier Robert wie bestellt zu Eleanor.
    Tomoko, die dienstälteste Miko des örtlichen Schreins, hatte vor Jahren Englisch erlernen müssen und war jetzt damit gebeutelt, der sturen jungen Frau ihre Kultur zu lehren. Es war keine gewollte Freundschaft zwischen ihnen, sondern eine rein pflichtorientierte. Wie alle Ausländer mochte Tomoko Eleanor nicht, sondern akzeptierte ihre Anwesenheit. Nachdem sie sie lange Zeit mit dem Familiennamen angesprochen, hatte sie ihr das vertraute Eri-chan angeboten. Doch Eleanor hatte sie dreist mit Ellie korrigiert. Jetzt rief Tomoko sie bei keinem Namen, wenn sie den Kosenamen nicht zu schätzen wusste. Der unsensiblen Amerikanerin war das bis heute nicht aufgefallen.
    „Robert macht mich wirklich glücklich!“, flötete Eleanor. „Ich fühle mich wie auf Wolke Sieben!“
    Bei dieser Aussage stutzte Tomoko und fragte nun ihrerseits: „Was denn für eine Wolke?“ Sie schaute hinauf zum Himmel – da schwebte keine einzige.
    Ob der Ratlosigkeit ihrer Privatlehrerin lachte Eleanor, dass es im Wald widerhallte. Seine Sänger und Musikanten verstummten augenblicklich. Nur die Zikaden nahmen zögerlich ihr schmetterndes Lied wieder auf, die Nachtigall hingegen hinterließ eine drückende, hörbare Stille. „Das sagt man doch nur so! Das bedeutet, ich fühle mich, als könnte ich fliegen.“
    Auch damit konnte die Miko nichts anfangen. Doch anstatt nachzuhaken, ging sie weiter ihrer aufklärerischen Pflicht nach: „Zu jeder Jahreszeit, also alle drei Monate – nach dem Mondkalender – bringen wir dem Fuji Opfergaben dar.“ Jetzt zeigte sie auf den wichtigsten Berg ihres Heimatlandes, dessen schneebedeckter Gipfel hinter den Bäumen aufragte, im Abendlicht wie aus Gold gegossen leuchtend. „Eine für jeden kommenden Tag. Damit er nicht ausbricht und uns das Glück gewogen bleibt.“
    Eleanor nickte abwesend und rauschte an Tomoko vorbei zu den drei hohen, halbkreisförmigen Steinstufen hinter dem Omiya, auf denen die Opfergaben aufgereiht lagen. Wieder umströmte die Miko Vanillegeruch, der den würzig-rußigen Duft der Räucherstäbchen vor dem Schrein überdeckte.
    Ihr ging durch den Kopf, wie die Amerikaner genauso ihre Kultur zu verdrängen versuchten: Sie brachten neue Gedanken und Elektrizität, Schusswaffen, Eisenbahnen – Geräte und Maschinen, die mit ihrem Krach die friedliche Ruhe des Landes der Aufgehenden Sonne störten. Auch ihre Sprache war laut. Tomoko sprach so leise Englisch, wie sie zu sprechen gewohnt war. Vielleicht jedoch musste Englisch laut gesprochen werden, und sie damit etwas an ihrem Ausdruck verändern.
    „Für den diesjährigen Sommer werden einundneunzig Mangos geopfert“, fuhr sie fort. „Heute Morgen hat der Shinshoku in jede eines der kommenden Daten eingeritzt. Heute Abend werden sie zeremoniell verbrannt.“
    Sie hatte Eleanor beim Putzen den Rücken zugewandt und hörte sie daher nur fragen: „Diese siebte von rechts ganz unten ... Hier in Japan habt ihr doch für jeden Tag ein Fest. Für welches steht diese Mango?“
    „Es heißt Nihon“, flüsterte Tomoko zutiefst beleidigt. Japan war die Übersetzung einer chinesischen Verballhornung des Namens ihres schönen Landes. Kein Wunder, dass die Amerikaner sie benutzten. Amerikaner sprachen aus, was sie dachten, ohne darüber nachzudenken. Darüber hinaus fand sie es unerhört, dass Eleanor nicht einmal die einfachsten Kanji lesen konnte, in einem Land, in dem ihr Vater Botschafter war – während Leute wie Tomoko dazu genötigt wurden, in ihrer Heimat die Sprache von Ausländern zu erlernen.
    „Das ist der siebte Tag des siebten Monats“, erklärte sie widerwillig, „Tanabata, das Fest der Liebenden.“
    „Wahnsinn!“, kommentierte Eleanor begeistert. „Drei Siebener, zusammen mit meiner Wolke Sieben und dem Fest der Liebenden. Da kann ja nichts schiefgehen!“
    Tomoko überlegte, ob die junge Frau vorhatte, an Tanabata mit Robert auszugehen, obwohl es ihr seltsam anmutete, dass sie sich etwas aus diesen Omen bildete. Wieder pausierte ihr Besen, und sie drehte sich zu Eleanor um. Diese hockte auf der unteren Steintreppe und kaute genüsslich auf beiden Backen. In der Hand hielt sie die Mango des Siebten Sommertages, ein großes Stück aus dem sonnenuntergangsfarbenen Fruchtfleisch gebissen.
    Tomoko erschrak derart, dass sie den Besen fallen ließ, der hölzern klappernd auf dem Fliesenboden aufkam. Das Geräusch machte die anderen kehrenden Miko auf die beiden aufmerksam. Als sie die Fremdländerin bei ihrem frevlerischen Mahl erblickten, schlugen sie wie eine Person die Hand vor den Mund.
    Eleanor biss ein zweites – vielleicht drittes – Mal von der geopferten Frucht ab und bemerkte erst dann die stumme Empörung der Mädchen. „Was ist?“, fragte sie sorglos.
    „Das ... das ...“, stammelte Tomoko ungläubig und hob hilflos die Hand in ihre Richtung. „Das ist eine geheiligte Opfergabe. Du kannst sie doch nicht einfach essen!“
    Verwundert hob die Amerikanerin die Augenbrauen. „Ist das denn so schlimm? Da sind doch noch neunzig andere. Gerade genug. Die sollen doch sowieso alle verbrannt werden.“
    Diese absolute Ignoranz ließ Tomoko sprachlos zurück. Hinter ihr fingen die jüngeren Miko in zischendem Nihongo zu flüstern an:
    „Wenn der Fuji diese Mango nicht bekommt, wird er in sieben Tagen ausbrechen. Das bedeutet unser aller Tod!“
    „Einen Ersatz können wir nicht bringen. Es sei denn, sie wird geopfert.“
    „Niemals! Der Shinshoku erlaubt keine Menschenopfer. Aber um dem Fuji zu beweisen, dass wir auf seiner Seite sind …“
    Eleanor lenkte Tomoko von ihnen ab: „Was tuscheln die da?“
    Tomoko, die noch nie so erleichtert gewesen war, dass die anderen Miko und die Amerikanerin über keine gemeinsame Sprache verfügten, schwieg verbissen. So etwas durfte man über die Tochter des Botschafters nicht sagen. Eines der Mädchen löste sich von der Gruppe und lief durch das Torii den Hügel hinab zur Stadt. „Sie sagt dem Shinshoku, was geschehen ist“, redete sie sich heraus. „Wahrscheinlich müssen die Bewohner evakuiert werden.“
    „Was, wegen dieser einen Mango?“, blaffte Eleanor, sprang auf und warf den Rest der Frucht unbedarft von sich. Durch die Priesterdienerinnern lief ein geschocktes Raunen.
    „Diese Opfergaben sind für uns von unschätzbarer Bedeutung“, konterte Tomoko verzweifelt. Diese Frau wollte einfach nichts begreifen! „Ohne sie wird der Fuji ausbrechen und uns alle verbrennen.“
    Eleanor stieß ein abfälliges Lachen aus und fuchtelte zum Fuji hinüber. „Dieser Berg schläft! Seit Jahrtausenden hat es keinen Vulkanausbruch mehr gegeben, und das liegt bestimmt nicht an euren heidnischen Ritualen!“
    Tomoko zitterte vor mühsam zurückgehaltener Wut. Sie durfte ihrem Zorn nicht schreiend Luft machen – das war allein Art der Amerikaner. „Geh“, sagte sie dunkel. Noch nie hatte sie jemanden weggeschickt, die Gastfreundlichkeit verbot es ihr. Selbst Ausländern war es erlaubt, den Schrein zu besuchen. Aber diese Beleidigung war zu viel.
    Die hellblauen Augen der Amerikanerin blitzten wie Eis. „Elendes, abergläubisches Pack!“, spuckte sie, und auch wenn die Miko kein Englisch verstanden, so reichte Eleanors verächtlicher Tonfall über alle Sprachbarrieren hinweg. Sie wirbelte herum, stolzierte davon, eine Spur ätzender Vanille zurücklassend.
    Tomoko sah ihr auf ihrem Weg zur Stadt runter nach, während die Mädchen die angebissene Mango vorsichtig aufhoben und zu diskutieren begannen, was sie damit tun sollten. Die Nachricht von Eleanors Frevel würde sich schneller in der Stadt ausbreiten als ein Gebäudebrand. Gewiss kamen auch noch andere auf die Idee, die Sünderin anstelle der Mango zu opfern.
    Ihre verhasste Freundin hatte nicht mehr lange zu leben ...[tab=Pokésushi]Pokésushi - Friedhof der Puppen


    Das World’s Finest, mehr ein Café denn ein ausgewachsenes Restaurant, war ein kleines, ruhiges Lokal in der sonst geschäftigen und vor allem lärmbelasteten Großstadt Tamamushi. Sein Name war Programm, denn es bot kulinarische Spezialitäten aus der ganzen Welt an – die, selbstverständlich, qualitativ nicht an das Original heranreichten. Doch es diente als Anlaufstelle für alle, die ein preisgünstiges Bisschen internationale Kultur schmecken wollten.
    So auch für Kenji, der soeben, dem herbstlichen Abend entkommend, das World’s Finest betrat, gefolgt von seinem treuen Begleiter, seinem Fukano Gadi. Schlotternd zog er die Jeansjacke aus und gab sie in die Obhut des Kleiderständers neben der Tür. Müde ließ er sich auf einen Barhocker nieder und grüßte den Barkeeper knapp.
    „Pasta wie immer?“, fragte dieser sogleich geschäftig.
    Kenji schüttelte den Kopf und erwiderte: „Heute mal Sushi. Und eine Tasse Grüntee – ich will es langsamer anfangen.“ Erschöpft rieb er sich die schmerzende Nasenwurzel. „Und, Okuda … setz es bitte auf meine Rechnung.“
    „Die übrigens bald fällig wird!“, informierte Okuda mit Nachdruck und verschwand in der Küche.
    Während Kenji wartete, überlegte er, warum er nicht ein einheimisches Lokal besucht hatte, wenn er ohnehin nur Sushi essen wollte. Abends hierherzukommen war ihm wohl so sehr zur Gewohnheit geworden, dass er unbewusst das World’s Finest angesteuert hatte. Grüblerisch nahm er die wenigen anderen Gäste in Augenschein, die leise Konversationen führten, – was er sonst nie tat – und blieb schließlich an einer jungen Frau hängen, die abseits der anderen an einem Tisch auf einer halbrunden Bank saß. Sie lächelte schüchtern, wich seinem Blick aus und nippte an ihrem Kaffee.
    Okuda kam wieder und stellte Kenji einen Teller mit Sushi-Röllchen, eine kleine Schale Sojasauce und eine Tasse Grüntee hin. Kenji bedankte sich und deutete zu dem Mädchen hinüber. „Die Kleine dort, ist die öfter hier? Sie ist mir noch nie aufgefallen“, sagte er leise.
    Der Barkeeper zog skeptisch die Augenbrauen hoch, meinte: „Ja, sicher!“, und widmete sich dem Abwischen seiner Theke.
    Kenji rümpfte grimmig die Nase. Okuda kannte Kenjis kaum vorhandene Frauengeschichten in- und auswendig, aber diese Reaktion war eine Gemeinheit. Er stellte die Sojasauce auf den Teller und bugsierte sein ganzes Gericht zu dem Tischchen hinüber. Die junge Frau sah ihn kommen und rückte auf der Bank zur Seite, um ihm Platz zu machen. Gadi trottete hinterher und ließ sich zu Füßen seines Herrchens nieder.
    Das Mädchen nahm einen Schluck Kaffee und sagte geradeheraus: „Ich bin zum ersten Mal hier.“ Ihre Stimme war weich und leise, freundlich zwar, aber schüchtern und zurückhaltend wie der Blick ihrer braunen, etwas verträumten Augen; jedoch im Widerspruch zu der Direktheit, mit der sie die Antwort gab.
    Kenji war überrascht, dass sie seine Frage an Okuda wohl gehört hatte. „Ich komme immer nach Dienstschluss her. Bist du aus der Gegend?“ Ein Stück Sushi fand den Weg in seinen Mund. Als sie nur nickte, stellte er sich vor. Ihre Mundwinkel zuckten leicht, und sie erwiderte:
    „Ich heiße Jupeta.“
    Zuerst verwundert, warum ihre Eltern sie nach einem Planeten benannt hatten, wollte er wissen: „Wie alt bist du, Jupeta?“
    Die Kleine antwortete nicht, sondern legte den Kopf leicht schief, unterstrich dadurch ihre kindliche Erscheinung, die es Kenji unmöglich machte, ihr Alter einzuschätzen. Sie hatte kohlschwarzes, glänzendes Haar, das zu einem hoch ansetzenden Zopf geknotet war. Das Gummiband zierten zwei blutrote, durchsichtige Oktaeder mit abgerundeten Kanten. Der Zopf reichte, sich verjüngend, bis hinunter zum Sitzpolster und kringelte sich darauf. Jupeta trug eine Strickjacke aus dunkelgrauem Wollstoff, deren überlange Ärmel ihre Hände verdeckten. Der sonnenblumengelbe Reißverschluss war hochgezogen bis zu einem tiefen, sehr tiefen Ausschnitt.
    Als Kenji gewahr wurde, wohin sein Blick gewandert war, wandte er sich wieder seinem Abendessen zu. Lugia, Drache des Ostens, betete er in stummer Verzweiflung, lass sie volljährig sein!
    „Bist du Polizist?“, fragte Jupeta.
    Kenji war gerade dabei gewesen, einen Schluck von seinem Grüntee zu nehmen, und verschluckte sich an ihrer Frage. Er hustete und verschüttete einen Teil der grasgrünen Flüssigkeit auf die Brusttasche seines Hemdes. „Wieso, sieht man es mir an?“, wollte er grummelnd wissen und versuchte, den Tee mit einer Serviette abzuwischen, doch dieser hatte bereits in dem schneeweißen Stoff Quartier bezogen. Jupeta sah ihn fragend an, und er erklärte: „Man sagt uns doch nach, wir seien tollpatschig …“
    Die Schönheit schüttelte kaum merklich den Kopf und legte dar: „Du hast zu deiner Arbeit Dienst gesagt – das machen für gewöhnlich nur Polizisten. Und du hast mich nach meinem Alter gefragt. Die Männer, denen ich sonst begegne, interessiert das nicht.“
    Kenji schluckte unbehaglich. Wo und – viel wichtiger – wodurch verdiente sie ihr Geld? Er musste vorsichtig sein, sonst kostete ihn diese Bekanntschaft, wäre sie auch noch so kurz, Kopf, Kragen und Karriere. „Und was ist mit meinem Fukano?“ Er zeigte runter zu Gadi, der zwar zu schlafen schien, aber die Ohren aufmerksam gespitzt ließ.
    Jupeta hob die schmalen Schultern. „Kann sich jeder fangen“, meinte sie und blies in ihren Kaffee, bevor sie davon trank. Kenji fiel auf, dass das Gebräu nicht dampfte.
    „Ja, ich bin Polizist“, bestätigte er schließlich überflüssigerweise. Noch dazu ein hart arbeitender: Er ermittelte in den kniffligen Vermisstenfällen, die zurzeit das Hauptrevier fluteten. Junge Männer aus ganz Tamamushi und deren Pokémon verschwanden einfach ohne jede Spur. Zwar hatte er ganz stark Team Rocket im Verdacht, doch die hatten sich bislang nur auf die Entführung von Pokémon beschränkt. Warum sie plötzlich auch auf deren Trainer übergegangen waren, blieb ein Rätsel.
    Jupeta stellte ihre leere Tasse ab und stand von der Bank auf. Sie verneigte sich höflich, die Hände übereinandergelegt, und sagte: „Ich muss jetzt gehen. Es war schön, dich kennengelernt zu haben, Kenji.“ Ohne einen Abschied ging sie auf den Ausgang zu.
    „Hey, jetzt warte doch mal!“, versuchte Kenji, sie zurückzurufen. Schnell stopfte er sich das restliche Sushi in den Mund, leerte die Sojasauce und spülte alles mit dem Grüntee runter. Jupeta hatte das World’s Finest bereits verlassen, als er endlich nach seiner Jeansjacke griff und ihr mit Gadi im Schlepp hinterherjagte. Draußen angekommen musste er jedoch feststellen, dass er sie nicht mehr entdecken konnte.
    Da stieß Gadi zu seinen Füßen ein leises Bellen aus, das Zeichen dafür, wenn er etwas entdeckt hatte. Kenji blickte in die Richtung, in die die empfindliche Nase des Fukano wies, und sah Jupeta gerade um die Ecke verschwinden. Sofort nahmen Polizist und Pokémon wieder die Verfolgung auf. Am Ende der Straße angekommen, sondierte er die nächste, die das Mädchen betreten hatte; doch Jupeta war auch hier bereits dabei, in eine weitere Seitengasse zu gehen. So lief das ein paar Male: Immer, wenn Kenji die mysteriöse Fremde zu Gesicht bekam, war diese im nächsten Moment schon ums Eck.
    Schließlich erreichten Kenji und Gadi einen Stadtteil Tamamushis, in dessen obskure Straßen sich Polizisten nur in Begleitung ihrer Dienstwaffe wagen sollten. Natürlich wusste er das; doch er konnte sich nicht dazu durchringen, die Verfolgung aufzugeben.
    Als die beiden Partner um die nächste Ecke bogen, gelangten sie in eine Sackgasse. Von Jupeta war keine Spur. Dafür häuften sich im Licht einer matten Glühbirne, die an einem Kabel zwischen den Gebäuden linker- und rechterseits der engen Gasse aufgehängt war, etliche Stoffpuppen zu Hügeln auf. Sie waren alle sehr einfach gearbeitet, ohne Gesichter, dafür mit erstaunlich realistisch gefertigten Klamotten. An jede war eine kleine Plüschfigur eines Pokémon mittels eines längs rot-weiß gestreiften Bandes geknüpft.
    Während Kenji sich staunend umsah, stromerte Gadi witternd zwischen den Haufen umher und kam bald darauf mit einem Exemplar der merkwürdigen Stoffpuppen zurück, die er seinem Trainer aushändigte. Dieser besah sie sich von allen Seiten. „Die kommt mir doch bekannt vor …“, murmelte er vor sich hin und kramte seinen Geldbeutel heraus. Auch wenn er nicht im Dienst war, hatte er sicherheitshalber stets einige Fotos von den Vermissten bei sich. Eines davon zeigte das neueste Entführungsopfer, einen Oberschüler namens Satoshi Ijirita, wie er zuletzt von seinen Freunden gesehen worden war. Die Puppe, die Gadi gebracht hatte, ähnelte ihm extrem: Sie trug einen blaukarierten Pullover und eine weiße Hose. Satoshis wasserstoffblondiertes Haar war fast so gelb wie das Pikachu auf seiner Schulter, und auch an der Puppe war ein Plüsch-Pikachu angebunden. Kenji sah genauer hin. Auf dem Bild war das natürliche schwarze Haar des jungen Mannes bereits nachgewachsen. Der aus Nähfäden bestehende Schopf der Stoffpuppe hatte ebenfalls einen schwarzen Ansatz.
    Als Kenji darüber grübelte, was es damit auf sich haben könnte, fing Gadi neben ihm jämmerlich zu winseln an. „Was ist denn los, Kumpel?“, fragte er verwundert und drehte sich um.
    Blutrote Augen mit senkrecht geschlitzten Pupillen glühten ihm aus einem dunkelgrauen Gesicht entgegen. Die sonnenblumengelben Lippen öffneten sich wie ein Reißverschluss und gaben den Blick frei auf einen finsteren Schlund, so tief, dass er der Welt Licht, Wärme und Freude zu entziehen und gierig zu verschlingen schien.
    Kenji schrie.


    In einem heruntergekommenen Stadtteil Tamamushis gibt es eine kurze, schmale Gasse, nur von einer einzelnen Glühbirne erhellt. In ihr liegen ungezählte Stoffpuppen unterschiedlichen Alters kreuz und quer herum.
    Die neueste Puppe in der Sammlung ist eine, an die ein Plüsch-Fukano gebunden ist. Sie trägt eine Jeansjacke, vorne offen, sodass ein schneeweißes Hemd darunter hervorlugt, auf dessen Brusttasche ein grasgrüner Fleck prangt.[tab=Nymphaea]Nymphaea


    Diese Nymphe, bunt und lebensfarbenfroh,
    die Brücken zwischen Welten baut.
    Die Elemente, grundmächtig, alt,
    Wasser und Erde;
    Lebensräume zu Lande
    und im See
    macht sie miteinander lieb.


    Wie in Luft die Bäume
    - Eichen, Kiefern, Birken –
    schafft sie Wälder unter eig’nem Himmel,
    Sonnenstrahlentänze dazwischen,
    winz’ge Leviathane silbern schimmernd.
    Von den dunklen Tiefen,
    wo sie felsenfest verankert,
    bis hinauf in lichte Höhen,
    in deren Strömen sie frei schwebt.


    Sonnenlechzend,
    die runden Schirmblätter,
    von gläsernen Lotosperlen besprenkelt.
    Kleine, schillernde Drachen
    landen darauf.


    Dazwischen, wie auf grünem Himmel,
    vielzackige Sterne.
    Um das gold’ne, duftende Herz
    die Flammenblütenblätter,
    die and‘re Farben leihen:


    Das strahlende Weiß der Lilien,
    wie der Narzissen leuchtend‘ Gelb.
    Weiches Violett, wie der Flieder,
    und das zarte Rosa der Kirschblüten.
    Rot, so fruchtig wie Oleander,
    ebenso der Hyazinthen kaltes Blau.


    Ein jede von ihnen in all dies
    gekleidet für ein Jahr.
    Seerose – lebensfarbenfrohe, bunte Nymphe.
    [/tabmenu]

  • Hey Pika.^^ Ich wolte dir um ehrlich zu sagen, schon lange einen Kommi schreiben, vor allem weil du an sich wenig bekommst und ich deine Texte auch mal als stille Leserin genieße, eben weil du einen guten Schreibstil hast, vor allem in den Wettbewerben bei denen ich gelegentlich mal reinschaue, aufgefallen bist. Ich hoffe es ist okay für dich, wenn ich jetzt nur einige Texte mir herausgesucht habe.


    Göttliche Liebe
    Die Geschichte habe ich mir herausgesucht, weil ich selber ein großer Fan von Mythologie bin, zudem auch noch die Göttlich-Trilogie gelesen habe (die im übrigen damals mein Interesse für die Götter wieder aufflammen ließ), weswegen ich gespannt war, wie diese Story von dir sein würde.
    Was ich besonders an deinen Texten (oder sehr von den bisherigen die ich gelesen habe) das du einen schönen, flüssigen Schreibstil hast, selber als Leser stockt man nicht und deine Beschreibungen haben einen wunderbaren Übergang zu den Gefühlen, so das im Prinzip kein Detail zu kurz kommt, aber auf der anderen Seite nicht in die Länge gezogen wird. Auch merkt man das du selber schon lange schreibst und viel an Erfahrung in diesem Bereich besitzt.
    Ein Merkmal was auch zu sehen war, das sich selbst in deiner Geschichte Götter gerne mal etwas unklug verhalten, im Vergleich dazu wenn man an die Mythologie denkt, das selbst dort Götter sehr impulsiv gehandelt haben, kaum besser als die Menschen. Wobei wenn es um die Liebe geht, vergisst man gerne mal die Vernunft... Wenn man aber bedenkt das es Götter sind – und wie du selbst beschreibst – diese den Anbeginn der Menschen mit angesehen habe, erwartet man da schon ein bisschen mehr Urteilsvermögen und mehr Abwägen, was die Taten eines einzelnen für Folgen haben können.
    Die Einleitung ist dir meiner Meinung nach auch gut gelungen, die Geschichte mit einer Konversation zu starten und ganz zu beginn man eher ahnungslos ist was sich als nächstes ereignet, war gut, lese ich persönlich wenig umso erfrischender war es, das du dich für diesen Anfang entschieden hast.^_^ Ebenfalls hast du die Götter auch gut dargestellt, interessant auch die Ideen mit an zu sehen, die die Göttin der Liebe entwickelt um an ihren Geliebten zu kommen. Das offene Ende finde ich dabei sehr passend und gelungen, das du abrupt an der Stelle es endet lässt, als jene ihrer Rivalin ein Angebot unterbreitet, lässt auch viele offene Fragen offen. Ob sie sich auch darauf einlässt und ihre Sterblichkeit und ihre Liebe für das Dasein einer Göttin aufgibt?


    Des Frühlings letzter Tag
    Hier prahlen wirklich zwei verschiedene Kulturen bzw. Menschen aufeinander, auf der einen Seite wirkte es zu beginn noch eher friedlich, eher so als würden nur einige Meinungsunterschiede herrschen, die aber von Tomokos Seite zwar nur gedanklich zum Vorschein kamen, dennoch sich spürbar auf die Handlung ausgeweitet haben. Vor allem weil jene auch leichte Vorurteile hat, aber Eleanor scheint auch nicht wenig davon zu betroffen zu sein, zumal sie wirklich unsensibel handelt und wenig Verständnis für die Tradition der anderen übrig hat, was aber auch wiederum auf Gegenseitigkeit herrührt. Jedoch muss ich gestehen das ich beide Parteien an sich nachvollziehen kann, manchmal kommt einem so eine streng gehaltene Tradition von einem dann doch etwas spießig vor, aber man selber will auch akzeptiert werden und daher andere annehmen soll, wie sie sind. Verändern kann man es nicht oder kaum. Auch hier hast du das aufeinander wirken der Charaktere gut dargestellt, vor allem so, als sei man selber hautnah als Zuschauer dabei, während sich die Unterhaltung mehr und mehr in einem Streit ausartet. Ebenso realistisch, das man – wie bereits erwähnt – die beiden Parteien für ihre eigene Art und Weise nachvollziehen kann.
    Ich muss aber auch gestehen das ich mit dem Ende etwas unzufrieden war, zwar ist es natürlich absehbar das eine KG auf ein offenes Ende heraus läuft, dennoch mich irgendwie neugierig gestimmt hat, wie man mit so einem Vergehen umgeht bzw. umgehen wird und ob man auch Verständnis für die Amerikanerin aufbringen kann oder gar bestrafen wird, wobei ich sogar in dieser Hinsicht denke, das dann Tomoko den meisten Ärger bekommt, da sie sozusagen für sie verantwortlich ist bzw. es auch verhindern könne, wenn sie ihrer „Freundin“ mehr Aufmerksamkeit auf ihre Taten geschenkt hätte. Aber ich finde du hast eine interessante und gute Thematik in dieser Geschichte behandelt, mit einigen wahren Aspekten, wie das die Amerikaner teilweise ihre Kultur verbergen wollen (wobei man das auch immer von anderen Seiten betrachten kann) bzw. wie du die beiden verschiedene Menschen realitätsnah dargestellt hast.


    ~Liebe Grüße

  • [tabmenu][tab=WTF?!?!]Nun ists bald ein Jahr her, da ich mir vorgenommen habe, hier endlich mal wieder was zu posten. Mittlerweile haben sich so viele Wettbewerbsabgaben und anderes angesammelt, dass ich immer weniger die Lust verspürte, es zu tun… aber irgendwann MUSS es einfach sein, und hiermit ist es endlich so weit! Da es so viele sind, wird das einige Posts in Anspruch nehmen. Uff x3


    Im ersten Tab findet ihr einen Text, den ich, inspiriert von einigen japanischen Märchen, als solches aufgesetzt habe. Das bedeutet, diesen märchencharakteristischen Schreibstil beizubehalten… zudem habe ich ein paar Motive japanischer Märchen eingebaut, wie zum Bleistift die nicht immer logische Geschichte, ein Wechsel der Erzählperspektive und in gewisser Hinsicht des Protagonisten, Tiere und Magie spielen eine Rolle, es erklärt, warum etwas so ist, wie es ist, ein 08/15-Typ bekommt ein wichtiges Amt und Ansehen… yoah, das dürfte es gewesen sein.
    Der Text ist so konzipiert, als sei die Ursprungssprache tatsächlich Japanisch gewesen. Deswegen wird auch so selbstverständlich vom Namen Yamazato gesprochen, was schlichtweg „Bergdorf“ bedeutet. „Wildkatze“ ist japanisch „Yamaneko“, also „Bergkatze“. Das unterstreicht nochmal die Verbindung des Dorfes, des Wildkaters und des Berges. Yoshiki ist ein Kunstname, gibt’s vielleicht aber tatsächlich, kP. Ichiro ist ein alter japanischer Name.


    Im zweiten Tab gibt es einen Text, den ich mal aus Langeweile geschrieben habe und weil mir die Idee gut gefiel. Ich habe ihn nur ein einziges Mal korrekturgelesen, und das ist fast ein Jahr her. Hoffentlich bereue ich das nicht irgendwann x3
    Was den Anfang betrifft habe ich da einige leidliche eigene Erfahrungen einfließen lassen… *hust* Man beachte, dass weder das Geschlecht des Protagonisten noch der Nebenperson bekannt sind und auch nicht sein sollen. Ob Weiblein oder Männlein, hetero oder homo möge in diesem Fall doch einfach jeder Leser selbst entscheiden <3
    WARNUNG: Es besteht die Gefahr, aufgrund der Kitschigkeit des Textes an Karies oder gar Augenkrebs zu erkranken. In einem solchen Fall übernehme ich keinerlei Haftung!


    Im dritten kommt dann auch endlich einer der gefühlten dreiphantastiollion Wettbewerbstexte, die sich angestaut haben. Aufgabe war, inspiriert von einem der gegebenen Lieder, einen Text zu verfassen. Ich habe die Titelmusik von Inception gewählt, weil ich ja sowieso finde, dass das einer der besten Filme unseres noch jungen Jahrtausends ist. Welchen Platz ich abstaubte, weiß ich bedauerlicherweise nicht mehr. Ich meine, so was sollte man sich wenigstens melden, bis man den Text in seinem Kurzgeschichtensammeltopic reinstellt xDD
    Leider war manchen Votern der Titel nicht selbsterklärend. Viele meinten, Oriam sei gar nicht der letzte Überlebende. Dazu sag ich nur: Ist der DOCH! :<


    In den vierten und für heute letzten Tab habe ich meine Abgabe für das Saisonfinale 2013 reingestellt. Die Saison 2013 war für mich keine gute, ich war nicht einmal für das Finale qualifiziert und kam nur deswegen rein, weil noch jemand absprang. Danke, User, dessen Nick mir entfallen ist und für das ich mich etwas schäme << Trotzdem habe ich im Finale nicht gerade abgesahnt, sodass ich meinen Titel von 2012 nicht verteidigen konnte…
    Ähm, ja. Der Text. Aufgabe war es, den Songtext eines beliebigen Liedes zu einer Geschichte umzufunktionieren, bzw sich zu einer solchen inspirieren lassen. Ich nahm „The Last Unicorn“, weil es mir gut gefällt <3 Ich habe versucht, so viel wie möglich von den Lyrics in den Text einzubauen, ja sogar ein bissl zu zitieren. Tataa, das kam bei raus


    Viel Spaß beim Lesen :pika:
    [tab=Erster Tab]Der Wildkater von Yamazato


    Einst lebte in der Präfektur Nagano ein junger Mann mit dem Namen Yoshiki in dem kleinen Dorf Yamazato. Dieses Dorf war, wie es sein Name schon erahnen ließ, zu Fuße eines Berges errichtet und umgeben von einem Wald, von dem es hieß, Füchse und Marderhunde trieben darin ihre Späße mit den Menschen. Auch Yoshiki wusste um diesen Schabernack, und obwohl er am Rande jenes Waldes lebte, vermied er es tunlichst, das unheilvolle Gehölz zu betreten. Da er aber, wie auch schon sein Vater vor ihm, Holzfäller vom Berufe war, ergab es sich, dass er schlecht an seinem Gewerbe verdiente und nur das Nötigste zum Leben hatte. Doch da das nunmal sein eigener Wille war, beklagte er sich nicht.
    In dem Wald, nicht weit von Yoshikis bescheidenem Heim entfernt, wohnte in einem Bau zwischen den Wurzeln eines Zypressenbaumes eine Wildkatzenfamilie. Ihr Oberhaupt war der große Wildkater Ichiro, der bei allen Waldbewohnern gefürchtet und als Fürst des Waldes bekannt war. Seine Frau Wildkatze hatte ihm drei gesunde Söhne geschenkt, die er nun zu verteidigen hatte. Denn es ist bekannt, dass Füchse und Marderhunde gerne kleine Katzenkinder von ihren Eltern stehlen, um sie in ihren eigenen Bauen heimlich zu verspeisen.
    Dagegen wusste der weise Ichiro jedoch einen Trick, der seit vielen Generationen bei den Wildkatzen weitergegeben wurde: Um die verhassten dämonischen Feinde von ihrem Bau fernzuhalten, fangen Wildkatzen seit jeher eine Maus, reißen ihr die Bauchdecke auf und tanzen dreimal im Kreise um sie herum. Dabei sagen sie diesen Zauberspruch:

    Nyan, nyan, kleines Mäuschen, kleiner Geist,
    halte Fuchs und Marderhund von meinem Hause fern!


    So legte auch Ichiro eine solch verzauberte Maus vor seinen Bau, und seine Kinder konnten, behütet vor Füchsen und Marderhunden, sicher aufwachsen.
    Seit es das Dorf Yamazato gab, war es immer weiter gewachsen, und seine Bewohner trugen den Wald des Berges immer weiter ab. So war der Wald zu klein für die Füchse, die in ihm hausten, und einer von ihnen beschloss, das Dorf heimzusuchen und den Menschen gleich in ihren Häusern seine Streiche zu spielen. Des Nachts kam er hervor und grub Löcher in die Straßen, und tagsüber, wenn keiner hinsah, stahl er Wäsche, die man zum Trocknen aufgehängt hatte. Wenn er damit seinen Unfug getrieben hatte, brachte der Fuchs die Sachen verdreckt und zerrissen zurück. Andere Male behexte er nach Art der Füchse die Menschen bei ihrer Tagesarbeit, sodass bald kein rechtes Werk mehr vollbracht werden konnte.
    „So kann das nicht weitergehen“, beschlossen die Bewohner Yamazatos, „die Beerensammler und Holzfäller müssen Fallen im Wald aufstellen, damit uns die Füchse endlich vom Leib bleiben!“ Denn sie dachten natürlich, die Füchse des Waldes würden ihre Streiche spielen, wie es immer dann geschah, wenn jemand den Wald betrat.
    Da auch Yoshiki zu den Holzfällern zählte, war auch er damit beauftragt, Fuchsfallen im Wald nahe des Dorfes aufzustellen. So auch in der Nähe des Zypressenbaumes, in dem der Wildkater Ichiro und seine Familie hausten. Dieser ging seinem eigenen täglichen Werke nach, indem er durch seinen Teil des Waldes streifte und Beute für seine Frau und seine Kinder schlug. Auf der Jagd jedoch bemerkte er die Fuchsfalle Yoshikis nicht und verfing sich den Hinterlauf arg in der Schlinge. In seiner Panik zerrte er so heftig an der Schnur, dass sie sich immer fester um das Bein wandte, bis dieses schlaff und leblos wurde.
    „Zu Hilfe!“, rief der unglückliche Wildkater, doch niemand kam herbei, dem Fürsten des Waldes zu helfen. Wer ihn hörte, der dachte sich: ‚Gut, dass der alte Jäger nun stirbt, denn dann wird er uns und unsere Kinder nicht mehr töten!‘ Auch seine Frau konnte ihm nicht zu Hilfe eilen, denn sie musste im Bau bei den drei Söhnen bleiben, um sie vor ihren Feinden zu beschützen. So war es ihr freilich auch unmöglich, auszugehen und eine Maus zu fangen, um diese mit dem Zauberbann zu belegen.
    Viele Stunden hing der arme Ichiro in der Schlinge fest, es wurde Abend, und er verlor die Hoffnung, je lebend aus der Falle errettet zu werden. Da kam Yoshiki vorbei, der seiner Aufgabe nachging, seine Fuchsfallen zu überprüfen und, falls nötig, wieder herzurichten, wenn sich ein Fuchs oder ein Dachshund darin verfangen hatte. Als er aber den geschwächten Wildkater da liegen sah, beschleunigte er seinen Schritt und befreite ihn geschwind von der Schlinge. Eigentlich haben Wildkatzen große Angst vor dem Menschen, doch Ichiro war so erschöpft, dass er nicht die Kraft fand, vor Yoshiki davonzulaufen.
    Der herzensgute Yoshiki jedoch, der Mitleid mit dem Wildkater hatte, hob ihn vom Boden auf und brachte ihn in sein Haus. Dort verarztete er Ichiros Bein – seine Mutter war Heilkundige gewesen, sodass er selbst auch ein wenig ihrer Kenntnisse erlernt hatte. Er pflegte seinen ungewöhnlichen Gast und war in dem kleinen Dorf bald als der Katzenmann verschrien. Denn die Menschen konnten sich nicht erklären, wie jemand ein solches Vieh bei sich aufnehmen konnte, um es gesund zu pflegen.
    Als Ichiros Bein verheilt und er wieder zu Kräften gekommen war, schlich er sich eines Nachts heimlich aus Yoshikis Haus, denn trotz aller Hilfe war ihm der Mensch noch immer nicht geheuer. Dabei beobachtete er den Fuchs, der weiterhin ungehindert seine derben Scherze trieb, wie er in einen Hühnerstall einbrach und das arme Federvieh aus seinem tiefen Schlaf riss. Ichiro machte sich nichts daraus, denn kaum eine Wildkatze war bekannt, die sich je mit einem Fuchs angelegt hätte – auch keine von solch stattlicher Statur wie Ichiro.
    Er kehrte zu dem Zypressenbaum zurück, unter dem er so lange Zeit gelebt, doch den Bau fand er verlassen vor. ‚Wahrscheinlich ist meine Frau mit den Kindern umgezogen‘, überlegte er, und das Gewissen überkam ihn. ‚So lange mussten sie auf Mann und Vater warten, und ich bin nicht mehr gekommen! Wenigstens sind sie fort aus diesem Wald, wo es von Füchsen und Marderhunden nur so wimmelt, die nichts anderes im Sinne hatten, als meine Kinder zu verspeisen.‘ Also lebte er fortan allein zwischen den Zypressenwurzeln, wie es die Art der Wildkatzen ist, wenn sie keine Kinder großzuziehen haben.
    Doch der Mensch, der ihn so liebevoll gepflegt hatte, und der hinterlistige Fuchs wollten Ichiro nicht aus dem Kopf. ‚Was ist, wenn der Fuchs nun auch Yoshiki zu behexen versucht?‘, fragte sich der Wildkater still. ‚Dieser gute Mensch hat das nicht verdient. Ich bin einfach gegangen, ohne mich bei ihm zu bedanken. Ich sollte zu ihm gehen und mich für seine Hilfe erkenntlich zeigen!‘ So kehrte er zu dem Haus des armen Yoshiki zurück, dem durch den Zauber des Fuchses fast täglich das Holz zerbrach, wenn er es schlug.
    Ichiro bediente sich des von seinen Vorfahren überlieferten Zaubers. Er fing eine Maus, riss ihr die Bauchdecke auf, tanzte dreimal im Kreise um sie herum und sprach:

    Nyan, nyan, kleines Mäuschen, kleiner Geist,
    halte Fuchs und Marderhund von diesem Hause fern!


    Das verzauberte Mäuschen legte er Yoshiki vor die Haustür, wo es sogleich seine Wirkung tat: Der Fuchs, der sich auf Yoshikis Grundstück herumgetrieben hatte, spürte den feindlichen Zauber und nahm Reißaus. Das freute Ichiro, und er war glücklich, seinem menschlichen Freund geholfen zu haben. Nun musste er nur noch alle paar Tage wiederkommen, um die Maus zu entfernen und eine neue zu platzieren.
    Doch als er das nächste Mal kam, war die verzauberte Maus zu seinem Erschrecken bereits verschwunden. Woher hätte der Wildkater auch wissen können, dass Menschen tote Tiere vor ihrem Hause nicht dulden? Yoshiki hatte, unwissend des Zaubers, die Maus schon bald, nachdem Ichiro sie hingelegt hatte, fortgeworfen. So war denn auch die Wirkung verflogen, und sein vom Fuchs hervorgerufenes Missgeschick kehrte wieder. Auch, als Ichiro die fehlende Maus ersetzte, nahm Yoshiki sie wieder weg. Das wiederholte sich einige Male, bis Yoshiki, der von wachem Geiste war, erkannte, dass ihm sein Tagewerk gelang, wenn die Maus an ihrem Platz blieb. So ließ er ab davon, den kleinen, stinkenden Körper entfernen zu wollen, und ertrug auch die Hänseleien der Bewohner Yamazatos, die ihn weiterhin Katzenmann schimpften. Auch wenn er nicht wusste, woher die Opfergaben kommen mochten, war er doch dankbar dafür. Denn bald verhalf ihm das ausbleibende Unglück zu Reichtum und einer hohen Stellung im Dorf. Was er zu viel hatte, gab er den Armen und Hungerleidenden des Dorfes. Er heiratete die Tochter des Dorfvorstehers und wurde dessen Nachfolger.
    Viele Jahre gingen ins Land, und Ichiro wurde es nicht müde, seinem Freund alle paar Tage eine verzauberte Maus vor die Haustür zu legen. Auch wenn er sehr alt war und seine Knochen steif und steifer wurden, fühlte er sich seinem Lebensretter Yoshiki weiterhin verpflichtet.
    Eines Tages kam er zu spät, die Zaubermaus zu erneuern. Hatte er es in früheren Zeiten stets nachts getan, kam er durch die Langsamkeit seines hohen Alters erst in den frühen Morgenstunden an Yoshikis Haus an. Bei seinem Werk, die Maus zu umtanzen und mit dem Zauberbann zu belegen, beobachtete ihn eine Katze, die zum ersten Male in ihrem jungen Leben Yamazato erkundete. Sie war zu weit entfernt, um die Worte des Wildkaters zu verstehen, doch war ihr unbedarftes Herz gleich begeistert von dem eigentümlichen Anblick.
    Als sich Ichiro von der Stelle entfernte, an dem er die Maus niedergelegt hatte, müde vom Laufen und Tanzen, folgte ihm die junge Katze heimlich. Auch wenn sie von Angst erfüllt war, den Wald zu betreten – denn sie hatte freilich die Schauergeschichten der Menschen gehört –, schlich sie hinter dem alten Wildkater her, so leise sie es vermochte. Da sie aber nunmal eine Dorfkatze war und sich nicht auf das lautlose Schleichen der Waldtiere verstand, hörte Ichiro sie alsbald und wandte sich ungehalten zu ihr um: „Warum folgst du mir mit solch ohrenbetäubendem Getöse, du dummes Ding?“ – trotz seines Alters vermochte er noch zu hören wie in jungen Jahren – „Weißt du denn nicht, wie gefährlich der Wald für Dorfkatzen ist?“ Denn sie war weiß, mit schwarzen und braunen Flecken wie ein zartes Blumenfeld, und nicht grau gestreift wie die Wildkatzen, die im Wald fast unsichtbar sind.
    Die junge Katze duckte sich unter dem Blick des Wildkaters und stammelte schüchtern: „Verzeih mir, Meister, aber ich habe gesehen, wie du die Maus vor Yoshikis Tür abgelegt hast, wie du getanzt und gemurmelt hast. Welche Bedeutung hat dieses seltsame Ritual?“
    Der alte Ichiro war zu müde, die heißblütige Katze von sich abzuwimmeln, und erklärte es ihr: „Ich belegte die Maus mit einem Zauberbann, sodass das Haus vor dem Schabernack des Fuchses, der im Dorf sein Unwesen treibt, beschützt ist.“
    „Ist das der Grund, aus dem er glücklicher lebt als die anderen Dorfbewohner?“, wollte die Katze wissen, die einen wachen Verstand hatte. „Bringe mir den Zauber bei, und ich will meinen Menschen auch helfen!“, verlangte sie von dem alten Wildkater.
    Doch Ichiro schalt sie nur: „Dummes, junges Ding! Dieser Zauber wird seit jeher von Wildkatzen ihren Kindern gelehrt, eine andere Art als die unsere hat ihn nie erlernt. Außerdem ist mir Yoshiki ein lieber Freund und hat mir das Leben gerettet – Katzen sollten sonst so selbstsüchtig bleiben, wie die Natur das wollte, auch Dorfkatzen wie du.“
    „Aber meine Menschen sind mir auch lieb geworden“, sagte die Dorfkatze. „Da will ich sie auch vor dem Umtrieb des Fuchses bewahren!“
    Als der alte Ichiro das hörte, wurde ihm das Herz warm. ‚Sie hat ein gutes Herz‘, überlegte er für sich. Also beschloss er: „Nun gut, junge Katze, ich will dir meine Kunstfertigkeit beibringen. Aber zuerst will ich, dass du dich als würdig erweist, meine Schülerin zu werden! Ich bin alt und meine Knochen sind steif, ich kann nicht mehr gut jagen, wie ich es einst vermochte. Wenn du mir hilfst, die Mäuse für den Zauber zu fangen, und mich auch mit Beute versorgst, so werde ich dir den Zauberspruch verraten!“
    Dieses Angebot erfreute die junge Dorfkatze, und sie willigte ein.
    So kam es also, dass sie Ichiro Vögel brachte, wenn der Hunger ihn plagte, und Mäuse erlegte, wenn er den Zauber vor Yoshikis Haustür zu erneuern hatte. Wenn er dies tat, hielt sie sich aus Höflichkeit weit abseits, um den geheimen Spruch nicht versehentlich zu hören.
    Die Monate vergingen, und der Winter hielt in Yamazato und dem Wald Einzug. Ichiro lag in seinem Bau unter dem Zypressenbaum und spürte, dass dieser Winter sein letzter sein würde. Als die Dorfkatze wiederkam, um ihn zu versorgen, sprach er zu ihr: „Meine Zeit in dieser Welt ist vorüber, ich werde nicht mehr lange hier verweilen. Liebes Töchterchen“ – so nannte er die Dorfkatze mittlerweile, weil ihm eine eigene Tochter stets verwehrt geblieben, und sie ihm zur solchen geworden war – „du hast dich so gut um mich gesorgt, du hast es dir verdient, den Zauberbann meiner Vorfahren zu erlernen. Doch vorher musst du mir ein Versprechen geben.“
    „Alles, was du willst, Meister“, sagte die junge Katze, die zu einer schönen Katzendame herangewachsen war.
    Den alten Ichiro verließen die Kräfte, doch er sprach weiter: „Wenn du die Zaubermaus vor deiner Menschen Haustür ablegst, gehe bitte jedes Mal auch zu Yoshiki und führe mein Werk fort. Ich könnte keine Ruhe finden, wenn ich wüsste, dass bei ihm der Schutz versagt.“
    „Das werde ich tun“, versprach die Schülerin ihrem Meister.
    „Also, Töchterchen“, sagte der alte Wildkater, „höre mir gut zu, denn dies werden meine letzten Worte sein. Erlege eine Maus, reiße ihr die Bauchdecke auf und tanze dreimal im Kreise um sie herum. Während du dies tust, sprich diesen Zauberbann:

    Nyan, nyan, kleines Mäuschen, kleiner Geist,
    halte Fuchs und Marderhund von diesem Hause fern!


    Und alle paar Tage, wenn der Körper vermodert ist, musst du ihn erneuern – das weißt du, weil ich es immer so getan habe. In der ersten Zeit werden deine Menschen die Maus noch entfernen, aber sicher werden sie bald merken, dass ihnen das Unglück mit der Maus vor der Haustür fernbleiben wird. So war es bei Yoshiki.“
    Mit dem Namen seines Freundes auf den Lippen hauchte der Wildkater schließlich sein Leben aus. Die junge Dorfkatze blieb noch eine Weile und weinte stumme Tränen, dankte ihm und betete um das Seelenheil ihres Lehrmeisters. Sie fing eine Maus und sprach den Zauber über sie, um den Leichnam vor Aasfressern zu bewahren, bevor sie nach Yamazato zurückkehrte.
    Da es ein ungewöhnlich harter Winter war, kehrte Yoshiki, der nun Vorsteher des Dorfes war, bald zu seinem früheren Handwerk zurück, denn es brauchte nun mehr Holzfäller denn je. Bei einem seiner Streifzüge durch den Wald kam er an jenem Zypressenbaum vorbei, unter dem Ichiro sein Leben ausgehaucht hatte. Yoshiki entdeckte den toten Wildkater – sein Leichnam war durch die Kälte vor dem Zerfall geschützt – und erkannte in ihm jenes arme Wesen, das ihm vor Jahren in die Fuchsfalle gelaufen war, und das er daraufhin liebevoll gesund gepflegt hatte. Er entdeckte auch die Zaubermaus, die die Dorfkatze zum Schutze ihres Meisters zurückgelassen hatte, und sah, dass der Wildkater der gute Geist gewesen war, der so lange das Teufelswerk des Fuchses von ihm abgehalten hatte.
    Aus Dankbarkeit errichtete Yoshiki an der Stelle, an der sein Wohltäter verstorben war, einen kleinen Schrein, den er Itosugi-Schrein nannte, nach der Zypresse, zu deren Fuße er stand. Jeden Tag kam Yoshiki an den Schrein und betete für seinen Freund, brachte ihm Fisch als Opfergabe dar, weil das bekanntermaßen das Lieblingsessen aller Katzen ist.
    Die Dorfkatze aber führte ihre Pflicht aus, wie sie es Ichiro versprochen hatte: Wenn sie eine neue Zaubermaus vor die Haustür ihrer Menschen ablegte, brachte sie auch zu Yoshikis eine. So tat sie das lange Zeit, und als sie selbst Katzenkinder hatte, lehrte sie ihnen die Fertigkeit, die bis dahin nur den Wildkatzen bekannt gewesen war. So wurde es immer weiter geführt, bis alle Dorf- und Hauskatzen den Zauber kannten, mit dem sie die Streiche von Füchsen und Marderhunden abwenden konnten.
    Deswegen legen Katzen, wenn sie ihre Menschen sehr lieben, auch heute noch eine verzauberte Maus vor die Haustür, um das Unglück davon fernzuhalten.[tab=Zweiter Tab]Das Licht der Silberschlange


    Ich liege wach.
    Das ist sehr ärgerlich, denn was ich am Schlafen am liebsten habe, ist das Träumen. Einzutauchen in eine surreale Welt, die ihren eigenen Gesetzen folgt, von denen das oberste lautet, dass sie immer umgeschrieben werden dürfen. Ein bisschen wie in Büchern. Die Augenbewegung ist dabei doch auch ganz ähnlich: Wenn man in der REM-Phase des Schlafes ist, wischen die Augen hin und her, als würden sie über Zeilen gleiten. Manchmal träume ich davon, ein Buch weiterzulesen. Ich tauche also in eine Welt ein, in der ich in eine Welt eintauche.
    Ich hasse es, nachts wachzuliegen. Die fehlenden Sinneseindrücke lassen die Gedanken in Bahnen abkommen, die eindeutig nicht rational sind.
    Es ist stockfinster im Haus. Meine Familie schläft sicher schon. Außer mir hat niemand diese Schlafschwierigkeiten. Ich überlege ernsthaft, mir doch die harten Schlaftabletten zuzulegen. Dieser pflanzliche Schwachsinn hat einfach nicht genug Power. Die Tür meines Zimmers, das im Untergeschoss liegt, steht offen. Als Kind hätte ich sie aus Angst vor Monstern niemals offen gelassen. Vielleicht ist mein Unterbewusstsein noch immer in dieser Zeit gefangen, und ich kann deswegen nicht einschlafen? Dann sollte ich sie natürlich schließen.
    Aber wer weiß? Wenn der Schlaf auch so gleich kommt, verpasse ich ihn noch.
    Oder es kommt jemand anderes. Oben ist soeben ein Licht angeknipst worden. Wohl jemand aus meiner Familie, der mal Wasser lassen muss.
    Moment mal … Wenn oben jemand durch die Zimmer geht, höre ich das hier unten immer, als würde eine Horde Elefanten umherstampfen. Doch es ist alles still, wie auch schon zuvor. Nur das Licht stellt eine Veränderung dar.
    Alarmiert und von meinem kindgebliebenen Unterbewusstsein aufgeschreckt, setze ich mich auf. Das milchige Licht, das einen leichten Blaustich hat, erinnert an Mondschein – doch es ist Neumond. Es wird heller und flutet den Gang, der von den Treppen zu meinem Zimmer führt. Schatten erheben sich, als würden sie ihm fliehen.
    Irgendwie habe ich das Gefühl, dass dort etwas eben diese Treppen herabgeht. Und in dem Moment, in dem mir klar wird, dass das Licht genau dann nicht mehr heller werden wird, wenn seine Quelle unten angekommen ist – tritt genau das ein.
    Als die Intensität des Leuchtens ihren Höhepunkt erreicht, schwebt ein Lichtpunkt, scharf abgehoben von den erhellten Wänden wie eine Lampe, um die Ecke. Reflexartig kralle ich mich in die Decke, bereit, sie mir jeden Moment über den Kopf zu ziehen. Mich dadurch von der gruseligen Außenwelt abzuschirmen, hat früher ja auch geklappt. Noch bin ich geblendet, kann also nicht erkennen, was genau da auf mich zukommt. Ich schiele auf das Buch, das ich gerade lese und das einen kantigen Schatten auf mein Nachtschränkchen wirft. Der letzte Harry Potter. Ob der Wälzer schwer genug ist, ihn einem eventuellen Angreifer effektiv über den Schädel zu ziehen? Etwas Geeigneteres sehe ich zumindest nicht.
    Die Lichtquelle ist jetzt vor der Tür angekommen und gleitet völlig lautlos ins Zimmer. Entgegen meiner Vermutung ist es keine Lampe, die von irgendjemandem auf der Suche nach einem Opfer gehalten wird. Sie ist losgelöst vom Boden und zieht einen meterlangen Schweif hinter sich her.
    Anscheinend bin ich doch noch eingeschlafen. Ich träume.
    Hoffe ich zumindest.
    Die Lichtgestalt schwebt herein und beginnt, ihre glühende Länge im Luftraum meines Zimmers aufzurollen.
    Wenn ich weiß, dass ich träume, müsste ich mich dann nicht selbst aufwecken können? Oder was anderes, was ich neulich erst irgendwo gelesen habe: Wenn ich im Traum die Augen schließe und an was anderes denke, als das, was ich gerade sehe, ist es nicht mehr da, sobald ich die Augen wieder öffne. Aber irgendwie klappt beides nicht. Ich schaffe es weder, die Aufwachsequenz einzuleiten, noch, den Blick von diesem sonderbaren Ding abzuwenden. Als würde es mich zwingen, es genauer zu betrachten.
    Es ist eine Schlange. Natürlich hat noch kein Mensch was von schwebenden Schlangen gehört, weswegen dies hier ja auch ein Traum ist. Sie hängt in der Luft, als gäbe es keine Schwerkraft, und glüht in diesem bläulichen Licht wie eine lumineszierende Tiefseequalle. Doch sie scheint keine Masse zu haben, denn die matt erhellte Dunkelheit meines Zimmers schimmert durch ihren unirdischen Körper. Dessen Ende hat nun endlich den Eingang erreicht, und sie zieht ihn zu sich heran. Sie ist unordentlich zusammengerollt, ihr Kopf schmal und rund. Keine Giftschlange also, stellt der biologisch-wissenschaftliche Teil in mir fest. Mein Instinkt hingegen sagt mir, dass eine Würgeschlange von der Größe einer ausgewachsenen Boa auch nicht weniger gefährlich ist.
    Und er sagt mir, dass ich fliehen muss. Doch wohin denn schon? Das abnormale Wesen liegt genau zwischen meinem Bett und dem rettenden Ausgang in der Schwebe und füllt den ganzen Freiraum aus.
    Außerdem sind da noch diese Augen. Man weiß ja, wie Schlangenaugen aussehen mit ihrem gefühllosen Starren und den senkrecht geschlitzten Pupillen. Doch diese hier sind völlig anders. Sie sehen mich an, in mich hinein, mit einem Weltverständnis, mit dem sich das meine nicht messen kann. Ihr Blick ist nicht menschlich. Das wäre eine Beleidigung. Er ist göttlich.
    Ohne, dass ich es wirklich will, lasse ich die Beine zu Boden gleiten und stehe vom Bett auf. Die Schlange beobachtet meine Bewegungen aufmerksam, während ich die ihres Körpers mustere, der sich elegant und langsam windet wie Haare in Wasser. Ihr Kopf leuchtet etwas heller als der Rest ihrer massigen Schönheit. Jede einzelne Schuppe ist überdeutlich zu sehen, so scharf wie Messer. An den Schuppenspitzen sitzt jeweils ein winziger, leuchtender Punkt.
    Plötzlich setzt sich das überirdische Wesen in größere Bewegung als bisher. Sein Kopf schwingt herum, gefolgt von einem Meter leuchtender Schlange nach dem anderen. Sie schwebt wieder zur Tür hinaus. Ich blicke dem führenden Licht nach. Irgendwie weiß ich, dass sie von mir erwartet, ihr zu folgen. Da das hier ein Traum ist, spricht ja auch nichts dagegen. Ich warte, bis der Nachzügler Schwanzspitze aus meinem Zimmer hinaus ist, und gehe ihm nach. Den kurzen Flur entlang, die Treppen rauf, in den Eingangsbereich, den die Schlange vollständig ausfüllt und nur wenig Platz für mich lässt, zur Haustür zu gelangen. Das Tier sieht mich auffordernd an.
    Ich muss kichern. Eine leuchtende Traumgestalt, die keine Türen öffnen kann, ist doch wirklich urkomisch.
    Dennoch lege ich die Hand auf die Klinke und ziehe die Tür ins Haus. Augenblicklich schlägt mir die kühle Luft der Frühlingsnacht entgegen und zwingt mich dazu, kurz innezuhalten. Für einen Traum fühlt sich die Temperatur erstaunlich echt an. Würde hinter mir nicht eine schwebende Leuchtschlange ihr LED-artiges Licht verströmen, hielte ich das hier wohl für die Realität.
    Der dann doch sehr reale Gedanke, mir schnell ein Paar Schuhe anzuziehen, flitzt mir durch den Kopf, und ich linse zurück. Die Schlange versperrt den Weg zum Schuhschrank, und ich bin nicht gerade erpicht darauf, mich an ihr vorbeizudrücken, sie vielleicht sogar versehentlich zu berühren. Dann wird es auch ohne gehen.
    Ich trete hinaus in die kühlschrankfrische Luft und postiere mich neben der Eingangstür. Wenn dieses merkwürdige Reptil jetzt auf die Idee kommt, die Tür von innen wieder zu schließen, sitze ich ganz schön in der Tinte. Das kann sogar tatsächlich passieren. In Träumen, habe ich festgestellt, geschieht häufig genau das, was man einen Moment zuvor noch befürchtet hat. Wäre also gut möglich, dass dieser Traum meinen flüchtigen Gedanken sogar als Ansporn nimmt.
    Doch nichts dergleichen geschieht. Der helle Kopf der Schlange gleitet heraus, der grazile Körper hinterher. Auf unserer Einfahrt ist genug Platz, dass sie sich dort in ihrer Gänze sammeln kann. Es ist das erste Mal, dass ich ihre Länge so deutlich sehe. Sie ist wirklich unglaublich.
    Sobald sie das Haus verlassen hat, gehe ich zurück und nehme von einem Haken neben der Tür einen Schlüssel. Das Band, an dem er befestigt ist, hänge ich mir, in Ermangelung einer Hosen- oder Brusttasche an meinem Schlafanzug, um den Hals. Auch in einem Traum sollte man sich den Rückweg immer offen halten. Eigentlich könnte ich mir doch noch Schuhe und auch eine Jacke schnappen, um mich vor der Frühjahrskühle zu schützen. Aber irgendwie kommt mir das jetzt unnötig, ja trivial vor. Also gehe ich wieder aus dem Haus und schließe die Tür hinter mir.
    Die Schlange hat unterdessen seelenruhig auf mich gewartet. Sie schwebt nach wie vor über dem Boden, wie es keine normale Schlange können dürfte, und blickt tiefgründig zu mir herüber. Einen endlos scheinenden Moment sehen wir uns an. Dann wendet sie sich wieder von mir ab und treibt der Straße entgegen. Ich zögere kurz, unsicher, ob ich ihr weiter folgen sollte. Doch ich tue es. Irgendetwas bindet mich an dieses Tier wie eine unsichtbare Leine, das ich mir nicht erklären kann.
    Meine Familie wohnt am Ortsrand, wo die Straße unweit unseres Hauses in einen Feldweg übergeht. Auf eben diesen schwebt die Schlange zu. Vorsichtig setze ich einen Fuß über den Bordstein, der den gepflasterten Boden vom Kiesweg abtrennt. Augenblicklich zucke ich zusammen, weil die kleinen grauen Steinchen in meine ungeschützte Fußsohle stechen. Dennoch beiße ich die Zähne zusammen und hole auch den anderen Fuß hinterher. Die Schlange ist behäbig langsam, aber ich will nicht zu weit zurückbleiben. Also überbrücke ich schnellstmöglich die schmerzenden Kiesel und husche zum Grasstreifen, der ein paar Meter nach Anfang des Feldweges auf dessen Mitte wächst.
    Es ist unheimlich still. Meine Füße setzen fast wie von selbst einen Schritt nach dem anderen. Das kühle Gras unter mir knistert dabei leise. Die Nachtluft ist kalt, wie auch das Licht der Schlange vor mir, doch seltsamerweise ebenso wie dieses angenehm. Rechts des Weges schimmern verblühende Kirschbäume fahl im bleichen Schein. Alles außerhalb diesem ist schwarz.
    Die Schlange erinnert mich an einen Patronus aus Harry Potter. Diese leuchtenden Tiergeister, die dazu heraufbeschworen werden, das Böse fernzuhalten. Der Gedanke beruhigt mich. Doch auf der anderen Seite gibt es nur einen Zauberer in der ganzen Buchreihe, der eine Schlange als Patronus haben könnte. Ich glaube aber nicht, dass Voldemort in der Lage ist, einen zu erschaffen.
    Wieder muss ich kichern. Die seltsamsten Gedanken kommen einem im Traum.
    Wir sind lange unterwegs. Nicht nur, dass das schwebende Reptil geradezu nervenaufreibend langsam ist, entfernen wir uns auch immer weiter vom Ortsrand. Ich bin schon oft auf diesem Feldweg spazieren gegangen, daher weiß ich, dass es hier nichts gibt, was nachts von Interesse ist. An seinem anderen Ende fädelt sich lediglich die nächste Siedlung an. Will mich dieser glühende Abklatsch eines chinesischen Long etwa dorthin führen? Hoffentlich nicht, denn wir haben erst die Hälfte des Weges zurückgelegt, das hier kann also noch einmal so lange dauern. Wie würde ich mich ärgern, wenn ich aufwache, bevor wir hier unser Ziel erreicht haben! Ich bin schon oft aus Träumen aufgetaucht, deren Ende ich gerne erfahren hätte. Als würde man mir ein spannendes Buch wegnehmen, bevor ich das letzte Kapitel gelesen habe.
    Doch meine Befürchtungen zerstreuen sich, denn die Schlange fängt nun wieder an, ihren überlangen Körper einzuziehen und um ihren leuchtenden Kopf zu sammeln. Wieder sieht sie mir so tief in die Augen, dass ich das Gefühl habe, sie könne mir direkt in die Seele blicken. Es dauert eine Weile, bis sie sich wieder zu einem Knäuel formiert hat, während derer ich nichts weiter tun kann, als diese Augen zu fixieren. Dann sieht sie rauf, und mein Blick folgt dem ihren.
    Was ich sehe, verschlägt mir mehrere Herzschläge den Atem.
    Es ist Neumond, und ich bin auf dem Feldweg, fernab des Lichtsmogs der Straßen. Das sind die idealen Voraussetzungen, Sterne zu beobachten. Aber das dort oben ist dadurch trotzdem nicht zu erklären. Der Sternenhimmel ist so voller winziger Diamanten, dass kaum noch seine samtene Schwärze zwischen ihnen hindurchdringt. Hätte ich alle Zeit der Welt, würde ich sie sogar zählen können, so deutlich heben sie sich ab. Die meisten sammeln sich entlang dem Band der Milchstraße, die sich vom einen Horizont bis zum anderen über den ganzen Himmel erstreckt wie eine gigantische Schlange.
    Dieses Bildnis erinnert mich wieder an das irrlichternde Wesen, das mich hierher geführt hat. Ich lasse den Blick wieder sinken. Irgendwie sind die Schuppen der Schlange gar nicht mehr so scharf wie vorher, als habe jemand den Kontrast eines Bildes verringert. Ich reibe mir die Augen – hat der herrliche, erhabene Anblick des Sternenhimmels Tränen in sie getrieben? Doch auch, als ich wieder hinsehe, hat der Reptilienpanzer sich nicht wieder normalisiert. Ganz im Gegenteil scheint er nur noch verschwommener geworden zu sein. Unter meinem entsetzten Blick verwässert die Schlange immer weiter, bis sie schließlich nur noch eine Wolke bleichen Nebels ist. Und auch dieser letzte Rest ihrer einst strahlenden Existenz vergeht ganz in der Dunkelheit.
    Ich zittere. Zum Teil aus Angst, so plötzlich allein auf dem nächtlichen Feldweg zu sein, als gäbe es keine Zivilisation. Zum anderen Teil, weil mich das Verschwinden des Lichtwesens mehr trifft, als ich mir selbst eingestehen will. Als hätte ich etwas verloren, das mir viel bedeutet.
    Gras knistert. Erschrocken drehe ich mich um, aus Angst davor, nun doch dem Angreifer zu begegnen, der nicht ins Haus eingebrochen ist. Was mir als erstes auffällt, ist ein Fetzen bleichen Nebels, der Rest eines Sternenwesens, das sich nur in den letzten Sekunden aufgelöst hat. Und daneben – eine Gestalt.
    Eine menschliche Gestalt.
    Sie kommt auf mich zu. Obwohl meine Beine sich hohl anfühlen vor Panik, schaffe ich es nicht, herumzuwirbeln und davonzulaufen. So schnell will ich das Erbe der Schlange, die mich hierher geführt hat, nicht zerstören. Die Person bleibt vor mir stehen. Ihr Gesicht ist in Finsternis gehüllt. Das Einzige, was ich darin erkenne, ist das Licht der Sterne, das in den Augen glänzt. Sie mustern mich verwundert.
    „Hast du dir neulich etwas von einer Sternschnuppe gewünscht?“ Die Stimme dringt warm und sanft an meine Ohren, durchdringt die dunkle, kalte Stille der Nacht.
    Die Frage erstaunt mich, weil sie mir irgendwie deplatziert erscheint. Wie kommt man schon auf die Idee, so etwas zu fragen, wenn man mitten in der Nacht auf einem Feldweg jemand völlig Fremdes trifft? Ich erinnere mich tatsächlich daran, das getan zu haben. Aber da das hier ein Traum ist, muss es nicht sein, dass das jemals passiert ist. In Träumen kann plötzlich Vorgeschichte existieren, die sich nie ereignet hat.
    Da kommt mir ein anderer Gedanke: Sternschnuppen sehen doch aus wie leuchtende Schlangen …
    „Ich habe mir gewünscht, endlich meine große Liebe zu finden“, antworte ich und höre selbst, wie schnulzig das klingt. Normalerweise. Irgendwie hat sich hier und jetzt alles verdreht. Ich höre mein Herz überlaut schlagen.
    Mein Gegenüber kichert leise, ein belustigtes Lächeln umspielt den Mund. „Ich auch.“
    Vielleicht liegt es daran, dass das hier ein Traum ist. Es ist alles so unwirklich, und doch, weil ich träume, ist alles völlig normal. Alles, wenn gleich noch so irrational, in meiner Umgebung und jede Handlung.
    Unsere Lippen treffen sich zu einem Kuss unter dem Licht der Silberschlange.[tab=Dritter Tab]


    Der letzte Überlebende


    Atlantis ging unter.
    Es herrschte heilloses Chaos: Überall liefen Menschen in heller Panik durch die Straßen, alle einer instinktiven Richtung folgend. Nur Oriam taumelte ihnen im Sintflutregen entgegen. Er war taub für das todesängstliche Kreischen der Atlanter um sich herum, das Weinen der Kinder, die im Gedränge der fliehenden Massen ihre Eltern verloren hatten; war blind für die Leichen, die die Gehwege säumten, von Pferden, Ochsen oder anderen Menschen zu Tode getrampelt, erschlagen von herabfallenden Trümmern oder aus Verzweiflung aus blau brennenden Gebäuden gesprungen. Perlmuttfarbene Fliesen und kunstvolle Buntglasfenster bedeckten den Marmorboden mit ihren schimmernden Scherben. Manche Atlanter versuchten, Porzellangeschirr, Goldschmuck oder Edelsteinstatuetten mit sich zu nehmen und zu retten, doch letztlich behinderten die Wertgegenstände sie nur und gingen ohnehin verloren.
    Ein Beben ging durch die Straßen, stärker als bisher. In der Nähe stürzte eine über einen Kanal führende Brücke in sich zusammen. Eine blau leuchtende Kugel brach aus einer Straßenlaterne und fiel mitten in eine Gruppe Atlanter. Indigoblaues Feuer, das der Regen nicht löschen konnte, explodierte zwischen ihnen. Die Flammen des Ozeans, Atlantis‘ sagenumwobene Energiequelle, verzehrten ihre einstigen Nutzer, ohne Asche zu hinterlassen oder auch nur Rauch zu erzeugen.
    Wo die Menschen nicht weiterkamen, stießen sie sich gegenseitig zur Seite, sodass einige von ihnen in die Kanäle fielen. Atlanter lernten Schwimmen, noch bevor sie ihren ersten Schritt taten, was ihnen jetzt nicht länger von Nutzen war: Die Kanäle führten kein Wasser mehr. Eine Frau stellte sich Oriam auf seiner einsamen Wanderung durch die Hölle in den Weg, flehte ihn an, ihrem kleinen Sohn zu helfen, der bewusstlos in einem Kanal lag. Oriam versperrte sich erst kaltherzig ihrem Betteln; als sie ihn nicht weiterließ, schlug er ihr so heftig ins Gesicht, dass ihr Kopf herumruckte und sie zu Boden fiel. Fassungslos betastete sie ihre aufgeplatzte Lippe. Der Schock in ihren meerblauen Augen wich erst Vorwurf, dann Wut. Sie rappelte sich auf und rief nach einem anderen, den sie belästigen konnte.
    Oriam indes suchte eine Seitengasse, weil auf den Hauptstraßen kein Weiterkommen mehr war.
    Ob Lassia ihre Familie gefunden hatte?
    Seine Geliebte hätte sich vielleicht nicht so sehr über ihr Wiedersehen gefreut, hätte sie gewusst, mit wem Oriam die Zeit ihrer Trennung, während derer er als Botschafter durch den Mittelmeerraum gereist war, überbrückt hatte. Trotz seiner Affären mit Kontinentlerinnen aller Länder liebte er sie, sonst wäre er nicht zu ihr zurückgekehrt – nach Atlantis. Endlich hatten sie ihre Verlobung feiern können, waren dann jedoch mittendrin vom ersten Erdbeben unterbrochen worden. Lassia hatte sich überstürzt aufgemacht, ihre Eltern zu suchen, während Oriam wie alle anderen zum Hafen gegangen war. Vielleicht, so die allgemeine Hoffnung, könne man auf einem Schiff die Insel verlassen. Erdbeben, wenn auch nicht so starke, waren in Atlantis keine Seltenheit, und es gab entsprechende Notfallpläne. Doch die Schiffe lagen auf Grund – das Meer hatte sich zurückgezogen, sammelte Wasser für den alles vernichtenden letzten Schlag…
    Oriam war klar, dass er Lassia nie wiedersehen würde.
    Sein Unterbewusstsein, dem er die Leitung seiner Schritte überlassen hatte, führte ihn schließlich zu dem Ort, an dem er seiner Verlobten das erste Mal begegnet war: Der Park, in dem sonst Kinder fröhlich spielten, Lachen und Sonnenschein vorherrschten, war finster und erfüllt von alles durchdringenden Regenschleiern. Bis auf deren stetes Hintergrundrauschen war es hier erstaunlich ruhig im Vergleich zu den Hauptstraßen. Blumen aus allen bekannten Ländern wurden vom Sturm gnadenlos zerfetzt oder von blauen Flammen verbrannt. Zahme Gazellen und Rehe, die hier friedlich gegrast hatten, seit Oriam denken konnte, waren geflohen, noch vor dem ersten Beben. Doch selbst die Flamingos und Silberreiher, die fortgeflogen waren, hatten ungefähr dieselben Chancen, die Insel lebend zu verlassen, wie die Süßwasserfische im Parkteich. Auch die Fische spürten die Gefahr: Sie schwammen verzweifelte Bahnen, griffen in ihrer Panik sogar Artgenossen an. Oriam sah in ihnen eine Miniaturversion der Stadt und ihrer menschlichen Bewohner.
    Denn genauso stumpfsinnig wie Fische, wenn nicht sogar noch ignoranter, hatte sich der Senatorenzirkel des Inselreichs gegeben. Nachdem Oriam nach Atlantis zurückgekehrt war, hatte er die Herrscher der Stadt augenblicklich aufgesucht, um sie zu warnen.
    Man lehrte atlantische Kinder, ihr stolzer Staat bringe Wohlstand und Demokratie in die Länder des Mittelmeeres, treibe gerechten Handel, lehre sie technische und wissenschaftliche Errungenschaften. Doch das war nur ein geringer Teil der Wahrheit. Tatsächlich waren es nur die Atlanter selbst, die diesen Wohlstand genossen. Mit Waffengewalt wurde beschafft, was sich im gerechten Handel nicht erwerben ließ, neue Rechts- und Regierungssysteme erzwungen. Wer sich den hochkomplexen Gesetzen nicht beugte, wurde hart bestraft – während Atlanter für dieselben Verbrechen nicht belangt wurden. Immer wieder kam es zu Aufständen, die von den eigenen Landsleuten oft blutig niedergeschlagen wurden. Die atlantischen Besatzungstruppen waren zwar nicht groß, aber waffenstark, und konnten immer darauf zählen, dass die Heimat im Atlantik Verstärkung schicken würde, sollte es zum Äußersten kommen – zumindest bislang.
    Doch das schlimmste, was Atlanter den Kontinentlern antaten, war, ihre Götter töten zu wollen. Als bekennende Atheisten kannten sie keinerlei Götter. Die Erkenntnis, dass der Mensch für sein eigenes Handeln und Schicksal verantwortlich war, mochte sie technisch und wirtschaftlich weit gebracht haben, doch für Gläubige war es die schlimmstmögliche Vorstellung. Vehement wehrten sie sich gegen das giftige Gedankengut der Inselbewohner.
    Daher hassten die Bürger, wo auch immer Oriam hingekommen war, die Atlanter: Von der Hochkultur der Ägypter – die immer im Schatten des viel weiterentwickelten Atlantis stand und nie dahinter hervorkommen konnte –, über die Staaten der Griechen und Römer – die ihnen wie begeisterte Kleinkinder nacheiferten, sie aber doch verachteten –, bishin zu den barbarischen Stämmen der Germanen – die sich zwar nichts aus Zivilisation und Technik machten, aber dafür Eitelkeit verabscheuten. Sie alle und ihre Nachbarländer hatten begonnen, ihre zahlreichen Götter anzubeten, sie bei Atlantis zu rächen.
    Oriam hatte die Mitglieder des Senatorenzirkels dazu angehalten, die Stadt augenblicklich zu evakuieren, wusste er doch nicht genau, wann der göttliche Richtschlag sie ereilen sollte. Doch diese hatten ihn nur zurückgewiesen. Ihrer Ansicht nach hatte er zu viel Sympathie den unterentwickelten Kontinentlern gegenüber, was wohl daran läge, dass er in Rom geboren und aufgewachsen war. Böse Zungen behaupteten sogar, er sei gar kein reinblütiger Atlanter, weil seine Augen eine Nuance zu grün, das eigentlich tiefschwarze Haar der Inselbewohner eine Spur zu braun sei. Angeblich war auch sein Atlantisch nicht ganz akzentfrei, obwohl er seine Muttersprache noch vor Latein gelernt hatte. Außerdem, hatten die Senatoren hinzugefügt, seien die Götter der Kontinentler nichts weiter als Hirngespinste und könnten ihnen nicht gefährlich werden.
    Das zu behaupten, war jetzt das Verhängnis der Göttermörder, die nur an ihre eigene Macht glaubten. Unbezwingbare Gewalten, eigentlich selbst untereinander verfeindet, hatten sich zusammengeschlossen, der Atlanter Existenz vom Antlitz der Erde zu tilgen.
    Oriam sah auf. Über ihm strahlte der Stern von Atlantis, ein Leuchtturm, dessen Spitze, gleich einem blauen Stern über dem Horizont schwebend, den atlantischen Seefahrern die Richtung in die Heimat wies. Er war so hoch, dass man ihn bei klaren Nächten selbst bis zur Erdkrümmung sehen konnte. Aus den Gewitterwolken, die ihn im weiten Umfeld umkreisten wie eine Sonne, krachte ein Blitz in den Turm und teilte ihn in zwei ungleiche Hälften. Unendlich langsam fiel die abgebrochene Spitze um und zeugte somit von der aberwitzigen Höhe des Bauwerks. Wie ein Komet kam der saphirblaue Stern hernieder, schien direkt auf Oriam zuzuhalten. Doch anstatt ihn unter sich zu begraben, donnerte die Spitze, für Oriams allem verschlossene Ohren fast lautlos und eine leichte Erschütterung auslösend, in den Fischteich und einen nahen Hain. Bäume barsten unter der schieren Wucht des Aufschlags, der die filigranen, aber stabilen Metallstreben des Turms verbog wie Draht. Die Glaskugel, die etliche Generationen den Stern von Atlantis gestellt hatte, zerbrach und übergoss das Wäldchen mit unlöschbarem Feuer. Schlamm spritzte auf und sprenkelte Oriam wie dickflüssiges Blut.
    In Oriams von Todesgewissheit benebelten Geist mischte sich die Frage, warum der Schlamm sich so warm anfühlte, war der ewig gießende Regen doch eiskalt. Er sah an sich hinab. Das, was seine Tunika aus bester atlantischer Kelpseide dunkel färbte, war keine aufgeweichte Erde – es war Blut. Ein Holzsplitter hatte sich in seine Magengegend gebohrt; allein der Teil, der noch aus seiner Seite ragte, war so lang wie sein Unterarm. Beim Anblick seines eigenen Blutes erreichte endlich auch der Schmerz Oriams gedämpfte Wahrnehmung, und er brach zusammen.
    Und lachte, weil von den vielen Möglichkeiten, einen Atlanter heute umzubringen, die kontinentalen Götter ausgerechnet einen Holzsplitter für ihn gewählt hatten.
    Und er lachte, weil er letztendlich Recht gehabt hatte, und der Senatorenzirkel, der sich für allwissend hielt, nicht. Doch Oriam empfand kein Triumphgefühl – sondern Bitterkeit. Irgendwie hatte er gehofft, noch etwas mehr Zeit zu haben. Vielleicht wäre es ihm sogar gelungen, Lassia zu überreden, mit ihm Atlantis zu verlassen.
    Nur am Rande nahm er wahr, wie der Regen nachließ. Von Osten her erhob sich eine Wand, schwärzer noch als die Sturmnacht selbst. Sie rollte über die atlantischen Gebäude hinweg, zerquetschte sie wie ein gefräßiger Seestern ein Schwammskelett. Selbst die Flammen des Ozeans erstickten unter der schwarzen Masse.
    Der Blutverlust forderte seinen Tribut: Noch bevor die Riesenwelle Oriam erreichte, hatte er sich bereits der Schwärze des ewigen Vergessens hingegeben.
    Atlantis ging unter.[tab=Vierter Tab]


    Ich lebe


    Mit weit ausladenden Schritten stapfte Irina durch den winterlichen Wald. Zufrieden mit sich sog sie die belebend kalte Luft ein, die beim Ausatmen vor ihrem Gesicht kleine Wölkchen bildete. Zwei junge Kaninchen hatte sie erlegt – eine gute Bilanz der heutigen Jagd. Davon würden sie und ihre Familie für heute Abend satt werden. Und Irina dachte noch weiter: Aus dem Fell würde sie sich ein Paar wärmender Handschuhe fertigen und die Pfoten für andere Güter eintauschen. Manche Dorfbewohner glaubten, Hasenpfoten brächten Glück, doch Irina bezweifelte das. Ihren vorigen, naturgegebenen Besitzern hatten sie das Schicksal schließlich auch nicht gewogen gemacht.
    Über einem nahen Feld kreiste ein Adler mit weit ausgebreiteten Schwingen auf der Suche nach Beute. Irina dachte an die Geschichten der Ältesten über eine Zeit, in der die Menschen Maschinen gebaut hatten, mit denen sie hatten fliegen können wie Vögel – und die vollkommen ohne Flügelschlag ausgekommen waren. Oder Gebäude, die wie Bäume, ja wie Berge in den Himmel staken. Moderne nannten sie diese Epoche voller Wunder, die sich jedoch eben mit diesen in ihren eigenen Untergang getrieben hatte. Irina kannte von dieser früheren Zivilisation nur Geschichten, war sie doch erst lange nach der Zeitenwende geboren.
    Der Adler stieß ein frustriertes Kreischen aus und drehte gen Süden ab, folgte seinen Artgenossen, die schon vor Tagen fortgeflogen waren.
    Der Winter war in diesem Jahr viel zu früh gekommen, hatte Mensch wie Tier grausam überrascht und Herbstblumen mit seinem kalten Atem vereist. Schon lange planten die Dorfbewohner, ihr Tal zu verlassen. Jedes Jahr erwachten weniger Bäume aus ihrer Winterruhe, gingen weniger Fische ins Netz, wurde der Ernteertrag geringer. Das Tal selbst, das sie so lange kärglich, aber zuverlässig versorgt hatte, schien nach und nach zu sterben. Noch einen Winter, sagten die weisen Ältesten, würde das Heizgas ausreichen, das von der Moderne übrig geblieben war – dann mussten sie über den unwirtlichen, im Winter unüberwindlichen Südpass, hinter dem es noch weitere Siedlungen gab.
    Irina fühlte sich einsam auf ihrer Wanderung. Früher hatte sie ihr löwenfarbener Kater begleitet, die letzte Katze des Dorfes. Doch vor einigen Monaten war er neben dem stillgelegten, verstauben Springbrunnen der einstigen Stadt an seiner langen Krankheit gestorben. Jenseits des Südpasses sollten noch Katzen und sogar Hunde leben, die bei der Jagd sehr wertvolle Hilfe zu leisten vermochten. Einen solchen konnte sich Irina als tierischen Gefährten für sich gut vorstellen.
    Sie blickte rauf in den Himmel, erst zum Pass, dann gegenüber, auf der anderen Seite des langgestreckten Tals, zum Nordberg. Ein fahler Mond ging über ihm auf, während die sinkende Sonne die Tiefebene in abendliche Schatten hüllte. Die anderen Jäger waren jetzt gewiss bereits zuhause. Wenn Irina nicht von der Nacht überrumpelt werden wollte, musste sie sich beeilen.
    Irina wandte sich eben hangabwärts, als über ihr ein dumpfes Grollen ertönte. Zuerst überlegte sie, ob es sich dabei um ein Gewitter handeln könnte, doch am Himmel hing keine einzige Wolke. Dann konnte es nur noch eines sein …
    Entsetzt fuhr Irina herum zum nach oben führenden Hang, an den sich der Ostwald klammerte. Zwischen den komatösen Bäumen hindurch wurde eine Bewegung sichtbar, die sich wie eine gischtende Flutwelle den Abhang herab ergoss. Eine Lawine! Aber jetzt schon? Normalerweise dauerte es bis zum Tauwetter, ehe sich die Schneeschichten eines harten Winters voneinander lösten und zur weißen Gefahr wurden.
    Instinktiv hastete Irina los, auf den nächsten Baum zu. Vor einer Lawine gab es kein Entkommen, das wusste sie. Doch wenn sie Glück hatte, würde die Schneewalze unter der Krone vorbeirauschen, nachdem Irina diese rechtzeitig erreicht hatte, und den Baum nicht umreißen. Wenn sie verdammt viel Glück hatte. Eine gute Gelegenheit für die acht Hasenpfoten in ihrem Gepäck, ihre wundersame Kraft zu beweisen.
    Das Rumoren hinter ihr wurde lauter, als hungere der Berg ausgerechnet nach ihrem Leben. Endlich erreichte Irina den Baum und zog sich mühsam an seinen untersten Ästen rauf. Panik ließ ihre Griffe schneller werden, aber auch unvorsichtiger. In ihrer Nervosität verfehlte sie die nächste Haltemöglichkeit und stürzte schon einen Wimpernschlag später vom Baum. Hart donnerte sie auf den Boden, schlug sich an einem Stein den Kopf an. Schmerz jagte wie tausend Pfeile durch ihren ganzen Körper und ließ Sterne vor ihren Augen tanzen. Ohnmächtig sah sie die Lawine zwischen den Baumstämmen auf sich zurollen.
    Und verlor das Bewusstsein.


    Als Irina erwachte, wähnte sie sich erst wieder in ihrem Zimmer. Eine massive, graue Decke wölbte sich etwas mehr als mannshoch über ihr. Als sich ihr Blick klärte, stellte sie jedoch fest, dass es nicht der nackte Beton war, aus dem die alten Bauten, Relikte aus der Moderne, errichtet waren. Die Erinnerungen an ihren Jagdausflug und die Lawine kehrten zurück.
    Was war danach geschehen? War das Schnee, der um sie herum einen schützenden Hohlraum bildete? Aber war das überhaupt möglich? Eher hätte die Schneewalze sie überrollt und zermalmt. Irgendjemand musste sie schon vorher gerettet haben.
    Von Schwindel und Kopfschmerz begleitet, richtete Irina sich auf. Vorsichtig fasste sie sich an die Stirn, an der sich eine Beule gebildet hatte. Jetzt erkannte sie auch, dass die Wände und die Decke um sie herum aus dunklem, rauem Gestein bestanden. Eine Höhle im Berg? Sie wirkte nicht künstlich, auch wenn Irina nicht wusste, woran sie das festzumachen hatte. Der Boden jedoch schien geschmirgelt, fast poliert, als würde die Höhle oft benutzt. Das war gut: So käme wohl bald jemand und konnte ihr sagen, wie sie überhaupt hierhergekommen war.
    Offenbar hatte sie die ganze Nacht hier verbracht, denn von außen drang mattes Morgenlicht in die Höhle. Mit vor Kälte klammen Fingern ging Irina ihr Gepäck durch. Ihre selbstgeschnitzten Pfeile waren bei ihrem heftigen Sturz allesamt zerbrochen. Leider hatte sich auch der Aluminiumpfeil aus der Moderne, den sie als Muster für neue Pfeile stets bei sich trug, bis zur Unbenutzbarkeit verbogen. Ihr Langbogen hatte unzählige Kratzer und Schrammen davongetragen, war aber bis auf die zerrissene Sehne noch gut zu gebrauchen. Ihr Magen meldete die Stunden, die er nichts zum Verwerten erhalten hatte, doch Irinas beide Kaninchen waren nirgends zu sehen. Stattdessen fand sie in ihrem Beutel einen alten, trockenen Brotkanten, mit dem sie den gröbsten Hunger vertrieb. Lange würde das nicht vorhalten. Sie musste zurück ins Dorf.
    Ihre Haut spannte sich unter zahlreichen Blutergüssen und anderen Blessuren, als sie mit Mühe aufstand. Vielleicht hatten die ersten Ausläufer der Lawine sie doch noch erreicht, zusätzlich zu ihrem Sturz aus dem Baum. Ein Fuß schmerzte höllisch und gab unter ihrem Gewicht nach. Er fühlte sich zwar nicht gebrochen an, als sie ihn vorsichtig belastete, war aber definitiv verstaucht. Wie sollte sie mit so einem Gelenk den Weg zurück ins Tal meistern?
    Alarmiert fuhr sie herum, als plötzlich ein Geräusch vom Höhleneingang zu hören war, das wie zwei gegeneinanderschlagende Steine klang. In die Höhle trat ein Wesen, das Irina von den wenigen Büchern kannte, die aus der Moderne erhalten geblieben waren. Es lief anmutig auf vier langen Beinen, die einen aus Eleganz und Stärke erschaffenen Körper trugen. Der kräftige Hals stützte einen großen, schmalen Kopf, der sie mit runden Augen musterte.
    Ein Pferd, ein leibhaftiges Pferd!
    Wie viele andere Tiere waren die Huftiere bei der Zeitenwende ausgestorben – zumindest angeblich. Denn wie ließe sich erklären, dass nun eines vor Irina stand, wenn es doch eigentlich keine mehr geben durfte? Ihr kam nichts anderes in den Sinn, als die lebendige Legende ungläubig anzustarren.
    Die majestätische Kreatur kam näher heran. Eine Einbildung konnte sie unmöglich sein, entschied Irina, als sie warmer Atem und der Duft abgeernteten Getreides umwehten. Im bleichen Licht erkannte sie die Fellfarbe des Pferdes: Ein helles Grau, gesprenkelt mit silbergrauen Flecken. Schimmel nannte man diese Färbung, wie sie sich erinnerte. Mechanisch legte Irina eine Hand auf die weiche Schnauze, die sie neugierig beschnupperte. Auf der Stirn, von der sich das Fell sternförmig ausbreitete, prangte eine reinweiße Stelle, die wie die Wintersonne zu leuchten schien. „Hast du mich etwa gerettet?“, fragte Irina mit von der Kälte tonberaubter Stimme.
    Sie zuckte zusammen, als das Pferd plötzlich schnaubte, den Kopf hochwarf und drei klackende Hufschritte zurücktrat. Formvollendet wie ein modernes Zirkuspferd verbeugte es sich vor Irina. Zuerst fragte sie sich, was diese Privatvorstellung bedeuten sollte, als es ihr plötzlich wie ein Pfeil in den Kopf schoss: Das Pferd bot ihr seinen Rücken an, um aufzusetzen! Sie hatte zwar Bilder von Menschen vor der Zeitenwende gesehen, die auf Pferden sitzend in Rennen gegeneinander antraten oder Kunststücke vollführten. Aber sie selbst wusste nicht im Ansatz, wie man ein solch schönes Tier ritt. Andererseits war ihr Knöchel übel verstaucht, sodass sie runter ins Tal und auf seine andere Seite ins Dorf Stunden brauchen würde. Auf einem Pferd war diese Strecke bestimmt wesentlich schneller zurückzulegen. Nur, würde es sie überhaupt ins Dorf bringen? Woher sollte es schon wissen, was sie von ihm wollte?
    Irina kam zu dem Schluss, dass ihr mit ihrem schmerzenden Fuß keine andere Wahl blieb, als dem Schimmel zu vertrauen. Vorsichtig schwang sie das verletzte Bein über den breiten Rücken und ließ sich darauf nieder. Kaum, dass sie eine halbwegs bequeme Sitzposition eingenommen hatte, richtete sich das Pferd wieder auf. Irina wurde von einem prickelnden, angenehmen Gefühl erfüllt, fühlte sich leicht und beflügelt wie ein Adler. Der Ruck, mit dem das Wesen sich plötzlich vorwärtsbewegte, hätte Irina fast wieder runtergeworfen, doch sie schaffte es, sich in seiner Mähne festzuhalten. In gemächlichem Trab klackte das Pferd durch seine Höhle, bis es den verschneiten Boden im Schatten des Waldes erreichte, auf dem die Geräusche gedämpft wurden.
    Überrascht erkannte Irina den Teil des Waldes wieder. Nicht weit von hier waren die Gebiete, in denen sie und die anderen Jäger Beutetieren nachstellten. Wie kam es, dass die Dorfbewohner dem Pferd vorher noch nie begegnet oder auf Spuren seiner Existenz gestoßen waren, wenn es hier so lange lebte, wie der abgenutzte Höhlenboden vermuten ließ? Doch gewiss war es besser, wenn es unerkannt blieb. Viele Jäger erschlugen vor Gier alles, was sich bewegte, selbst wenn es sich um das letzte Exemplar einer aussterbenden Art handelte. Das allerdings würde sie bei diesem wunderbaren Wesen nicht zulassen.
    Irina streichelte über das weiche Halsfell. Ein echtes Pferd! Das würden ihre Freunde im Dorf nie glauben, wenn sie es nicht selbst zu Gesicht bekamen.
    Lichtflecke, geboren aus blasser Morgensonne und verschneiten Baumwipfeln, flossen über das elfenbeinfarbene Fell und ließen es funkeln. Überrascht blinzelte Irina, als ihr ein absurder Gedanke kam. Diese helle, silberne Färbung, der weiße Fleck auf der Stirn … Sie stierte an den kräftigen Schultern vorbei hinunter zu den Beinen. Keine gespaltenen Hufe …
    Kopfschüttelnd hob Irina wieder den Blick und schalt sich selbst einen Dummkopf. Für einen Moment hatte sie das irrationale Gefühl gehabt, auf einem getarnten Einhorn zu sitzen, doch das war ja wohl unmöglich. Die zauberhaften Märchenwesen hatte es schon in der Moderne und in den Zeitaltern davor nicht gegeben.
    Vor die Sonne hatte sich mittlerweile eine Wolkenbank geschoben, als sie das Areal erreichten, in dem die Lawine gewütet hatte. Manche Bäume waren von der schieren Macht der Schneewelle umgerissen und teilweise entwurzelt worden. Andere hatten, im Gegenteil dazu, standgehalten und die Naturgewalt abgebremst. Im Ostwald war es strengstens verboten, Holz zu schlagen, um diesen natürlichen Lawinenschutz zu erhalten. Nach dieser Barriere waren die rollenden Massen, wenn sie im Tal ankamen, nicht mehr stark genug, um das Dorf auf der Westseite zu bedrohen.
    Angestrengt spähte Irina ins Tal, das nur spärlich beleuchtet war. Letzte Nacht musste es wieder Neuschnee gegeben haben, denn es schien noch weißer als üblich. Im Dorf brannte seltsamerweise noch kein Licht, obwohl der Morgen schon fortgeschritten war. Und wo war überhaupt der Fluss?
    Da formte sich durch die Wolken ein Pfad für das Morgenlicht und ließ Irina erkennen, was es wirklich mit der ungewöhnlichen Weiße auf sich hatte: Das Bodenniveau war einige Meter angestiegen, als habe die Lawine doch noch das ganze Tal erfasst. „Schneller!“, befahl sie dem Pferd heiser, als sie begriff, was das bedeutete. Sofort beschleunigte der Schimmel seine Geschwindigkeit.
    Wie war das möglich? Man konnte doch an den Schneehügeln sehen, dass die Lawine kurz unterhalb des Ostwaldes zum Stillstand gekommen war. Hatte sich etwa vom Westhang eine weitere ergossen, ausgelöst durch die Erschütterungen der ersten? Aber am Westhang, der stets im Windschatten lag, sammelte sich nie genug Schnee, um zu einer solchen Katastrophe anzuwachsen. Deswegen lag ihm das Dorf schließlich zu Fuße.
    Genau dieses Vertrauen war ihm wohl zum Verhängnis geworden. Das verrückte Wetter in letzter Zeit musste die Grundlagen für eine westliche Lawine geschaffen haben. Ausgeschlossen, dass dort jemand rechtzeitig weit genug entkommen war, um sich in Sicherheit zu bringen.
    In wenigen Minuten, die sich für Irina zu einer Unendlichkeit dehnten, legte der Schimmel den Weg ins Tal zurück und durchquerte es. Kaum waren sie in der Nähe der Stelle, wo das Dorf hätte sein müssen, ließ sich Irina vom Rücken des Pferdes fallen. Der Schmerz beim Aufprall raubte ihr zwar den Atem, doch sie rappelte sich sofort auf und begann, wie eine Wahnsinnige im harten Schnee zu graben. Verzweifelt rief sie die Namen ihrer Familie und Freunde, die in ihrer vereisten Stimme verklangen.
    Es durfte nicht sein, dass die Lawine sie getötet hatte! Sie durften nicht ohne jede Vorwarnung gegangen sein!
    Irina grub so lange weiter, bis sich ihre verzweifelte Kraft in hoffnungslose Trauer umwandelte. Hier wie verrückt ein bisschen herumzuschaufeln, würde das Dorf auch nicht freilegen. Sie krallte die vor Kälte rotgewordenen Hände in den schartigen Schnee. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die herabfielen und heiß auf ihrer klammen Haut brannten. Sie sollte auch unter diesen weißen Massen begraben liegen – und würde das jetzt auch, wenn sie dieser einen Kaninchenspur nicht so lange gefolgt wäre, nachdem sie bereits das eine, ausreichende Nagetier erlegt hatte.
    Sie lebte, aber ihre Familie, ihre Freunde, einfach alle Dorfbewohner, die genau wie sie nur ihren Pflichten und Aufgaben nachgegangen waren, waren tot. Das war nicht gerecht!
    Etwas stieß sie sanft an der Schulter, und das Pferd blies ihr seinen warmen Atem entgegen. Abwesend streichelte Irina den langen Kopf. So saß sie eine Weile da, bis Hunger und Kälte in Gestalt ihres Überlebenswillens über die Trauer um ihre Mitmenschen siegten und sie zum Aufstehen zwangen. In Ermangelung schöner Blumen legte sie ihre zerbrochenen Pfeile auf den Schnee. Einfach nichts am Grab ihrer Verwandten und Bekannten zurückzulassen, kam ihr falsch vor.
    Wieder stieg sie auf den Schimmel, der ohne ein Wort von ihr nach Süden losgaloppierte. Hin zum Südpass, der einzige Weg raus aus dem Tal. Alleine, ohne transportables Gas und Werkzeug, hätte sie dort kaum eine Überlebenschance, doch bliebe sie im Tal, wäre diese noch geringer.
    Über dem Südpass, der wie ein zerbrochener Berg dalag, hing der Mond über dem glimmenden Morgenstern, den er bei seiner Wanderung hinab zum Horizont bald überholen würde. Zumindest, wenn die Sonne ihn nicht schon vorher ausbleichte.
    Irina glaubte, aus der Ferne das höhnische Gelächter des bösen Schicksals zu hören, das sie innerhalb weniger Stunden ereilt hatte. Alle Menschen, die sie ihr Leben lang gekannt und geliebt hatte, waren gestorben, ihre Zukunft gepflastert mit Ungewissheit. Um sich selbst diesen Umstand bewusst zu machen, wiederholte sie immer wieder die eine letzte Tatsache, die ihr noch geblieben war:
    „Ich lebe. Ich lebe …“