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Information| Vote | Gewinner
Ähnlich wie im letzten Jahr gibt es auch dieses Jahr wieder eine bestimmte Anzahl an Punkten, die ihr den Texten geben könnt. Dabei ist zu beachten, dass ihr frei wählen könnt, wie genau ihr die Punkte verteilt und welche Texte mehr Punkte als andere bekommen. Achtet jedoch darauf, dass ihr die Punkte, die euch zur Verfügung stehen, komplett ausschöpft. Votes, welche zu wenige oder zu viele Punkte enthalten, können leider nicht gezählt werden. Des Weiteren solltet ihr eure Punkte mindestens auf drei Texte verteilen, eure Wahl begründen und natürlich nicht für eure eigenen Texte voten. Es ist außerdem hilfreich, euch das "How to vote-Topic" anzusehen. Schreibt ihr in dieser Saison besonders viele Votes, habt ihr die Chance auf einen individuellen Benutzertitel. Weitere Informationen findet ihr hier: Informationen und Regeln zur Wettbewerbssaison 2014
Zitat von AufgabenstellungNur der Tod ist sicher
Schreibt einen Text, dessen Ende mit dem Tod des Protagonisten zusammenfällt, aber trotz des vorhersehbaren Abschlusses spannend und/oder gefühlvoll bleibt. Die Todesursache bleibt euch freigestellt - doch beachtet die Regelung zum Jugendschutz des FF-Bereiches im Bezug auf den Inhalt.
Ob ihr einen Pokémonbezug mit einbringt oder nicht, bleibt euch überlassen.
Ihr könnt 12 Punkte verteilen, maximal 8 an eine Abgabe
Der Vote läuft bis Sonntag, den 27.04.2014, um 23:59 Uhr.
Der Luftschacht ist viel zu eng. Als wäre er darauf ausgelegt, dass man eben nicht hindurchklettern sollte, aber das wäre ja Blödsinn, wer macht denn so etwas? Na gut, vielleicht sollte ich die Sache nicht so locker nehmen. Ich stehe kurz vor dem Tod, überall in den Räumen unter mir sind bewaffnete Personen. Wenn ich nur einen Mucks mache... Mission gescheitert.
Ich schaue durch ein Gitter und sehe einen leeren Raum. Na so was, wer hätte gedacht, dass es im weißen Haus leere Räume gibt. Während ich noch darüber nachdenke, stoße ich fast mit dem Kopf gegen die nächste Biegung des Schachtes. Ab hier steil nach oben. Ein Stockwerk nur.
Ich hole tief Luft. Ich ziehe meine Schuhe aus. Ich beginne, mich langsam mit Händen und Füßen den Schacht hochzuschieben. Einen Fuß, eine Hand, den anderen Fuß, die andere Hand. Ist das langweilig. Und warum muss es hier schon wieder so eng sein? Ich mag diesen Ort nicht. Wer hätte gedacht, dass es im Regierungssitz der USA in den Lüftungsschächten nach Metall riecht?
Wieder ein Gitter, doch diesmal ist der Raum nicht leer. Ich schaue direkt in die Augen der Sekretärin des Präsidenten. Sie schaut zurück. Ach Quatsch, das bilde ich mir nur ein. Sie kann mich nicht sehen.
Weiter nach oben. Ein Fuß, eine Hand, ein Fuß, eine Hand. Decke. Gut, jetzt zur Seite. Ich lege mich flach in den niedrigen Gang. Er ist noch enger als die vorigen. Also wirklich, die glauben doch nicht, dass jemand versucht, auf diesem Wege zu ihm zu kommen? Tja, aber anscheinend haben sie Recht. Ich muss lächeln. Meine Hand sucht die Taschenlampe und den Grundriss des Gebäudes. Ein kurzer Blick und ich weiß, ich bin auf dem richtigen Weg. dreißig Meter. Einmal über das gesamte Vorzimmer. Na dann los. Langsam robbe ich vorwärts. Eine Schulter, andere Schulter. Und das ganze noch einmal. Das sit ja noch schlimmer als das Klettern!
Warum mache ich das hier überhaupt? Die Antwort folgt prompt aus der anderen Hälfte meines Gehirns: Weil du nichts mehr zu verlieren hast. Du hattest die eine Frau oder Kinder, Freunde oder Hobbys hast du seit Jahren nicht mehr. Tu wenigstens einmal in deinem Leben noch etwas Sinnvolles! Zwanzig Meter.
Sicher, dass ich das tun sollte? Ist es das Richtige? Du tust es. Du weißt warum. Ob es das Richtige ist, brauchst du nicht zu wissen. Du wirst es nicht mehr erleben. Aber sie wird es dadurch besser haben. Du nicht schlechter. Du hast nichts zu verlieren. Zehn Meter.
Das Licht aus dem Raum unter dem Gitter ist matt, aber es ist Tageslicht. Wahrscheinlich sitzt der Präsident gerade an seinem riesigen Schreibtisch hinter seinen dreifach dicken Panzerglasscheiben und erfreut sich der Tatsache, dass er Sonne in seinem Büro hat. Werde ich noch einmal die Sonne sehen können? Will ich die Sonne wiedersehen? Ich weiß es nicht. Es wird kommen, wie es kommen muss. Ein kurzer Blick, es kümmert mich nicht, ob ich erblinde. Ich bin da.
Unter mir liegt das Büro des mächtigsten Mannes der Welt. Schwer zu glauben. Ich muss lächeln. Ich bin in der Lage, all dies in Sekunden zu beenden. Seine Macht, sein Glück, seine Gesundheit. Sein Leben. Einer von vielen Mordopfern, und dennoch wird er eine wahrhaft fürstliche Beerdigungsfeier bekommen. Was ist mit einem Mordopfer aus den Slums? Hätte es nicht dasselbe verdient? Nein, lass das. Das sind die Parolen, die sie dir in den Kopf gesetzt haben, damit du einen Grund hast, ihn zu töten. Aber in Wahrheit machst du es für sie. Und es ist gut so.
Ich nehme die Pistole zur Hand. Wenn ich jetzt schieße, werde ich tot sein. Niemanden wird es kümmern, ich bin nicht einmal in den Einwohnerregistern verzeichnet. Aber wenn ich schon aus dem Nichts auftauche und den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika umbringe, soll es pompös sein. Ich stecke die Pistole wieder ein und nehme mein Messer zur Hand. Ein winziger Stich am Handgelenk...
Ich stecke das Messer wieder weg. Ich könnte nun fasziniert auf den Blutstropfen blicken, der sich langsam bildet, aber dafür ist kein Zeit. Hastig tasten die Figner meiner anderen Hand nach dem Bild von ihr, welches an dem Band an mir befestigt ist. Nur für dich...
Ich drehe mein Handgelenk. Sekundenlang klebt der Tropfen an meiner Haut, dass fällt er durch das Gitter auf den Schreibtisch. Das tropfende Geräusch lässt auch den Mann im Drehstuhl aufhorchen. Ich grinse vor Adrenalin. Ich werde mir meinen Wunsch erfüllen. Ich werde nicht allein sterben!
Er sucht nach der Ursache, doch kann sie nicht finden. Plopp. Ein zweiter Tropfen. Diesmal sieht er den Fleck auf dem Holz. Er schaut nach oben, direkt in meine Augen. Ich schlage das Gitter mit dem Ellgoben auf und lasse mich fallen.
Das Sonnenlicht sticht mir in die Augen, es blendet mich in Sekunden. Dennoch weiß ich, wie weit es zum Boden ist. Ich ziehe das Bild von ihr an mein Gesicht, doch ich kann es nicht sehen. Nicht noch ein letztes Mal...
Die Leine reißt. Das leise Klicken ertönt. Ein unglaublicher Schmerz durchfährt meinen Unterleib, als die erste Granate explodiert. Der Knall zerfetzt mein Trommelfell. So sterbe ich nun, blind und taub inmitten von Asche und Staub.
Der Mann saß in seiner Lieblingskneipe. Es war Freitag. Er nahm sich eine Auszeit von der Büroarbeit. Anstrengend, eintönig. Zu Hause wartete dann seine Frau auf ihn. Der Gedanke machte ihn nicht fröhlicher. Seine Bierflasche war leer. Er sah auf die Uhr. Fast Mitternacht. Ein Bier würde er noch bestellen. Er tat es. Nachdem er es ausgetrunken hatte, zahlte er und ging. Er hatte keine Freunde hier, wegen derer er noch bleiben könnte. Seit Jahren kam er in die Kneipe und kannte doch niemanden. Gelegentlich dachte er an seine Kindheit zurück. Was war es doch für eine Wonne gewesen, noch nicht zu wissen, wie sein Leben aussehen würde. Alles hatte nach Abenteuer gerochen. Doch diese Einstellung hatte sich schnell geändert. Die Wünsche nach Reisen in entlegene Gegenden und Abenteuern waren geblieben, doch hatten sie sich mit der bitteren Gewissheit verbunden, dass sie unmöglich durchzuführen waren. Auch die Liebe zu Melanie hatte sich geändert. Sie war quasi Routine geworden. Ohne Aufregung und Leidenschaft. Jetzt verließ er also die Kneipe. Melanie würde schon schlafen. Sie hatte sicher nicht auf ihn gewartet. Er ging zu seinem Auto. Obwohl er angetrunken war, würde er fahren. Machte er immer so. Um die Zeit war sowieso kaum einer unterwegs. Es war eine Art der Rebellion, gegen das Gesetz zu verstoßen, ein einziger, kleiner Stoß gegen die Ketten der Gewohnheit, die sein Leben gefangen genommen hatten. Was für eine Ironie, selbst dieser Stoß erfolgt mit einer präzisen Regelmäßigkeit. Jeden Freitag Abend. Er stieg in sein Auto und fuhr los. Die Scheinwerfer erleuchteten die Straße. Wie erwartet war kein Mensch zu sehen. Eine Kurve kam auf ihn zu. Er bremste nicht. Er passierte die Kurve ohne Schwierigkeiten. Dann sah er zwei Schatten auf der Straße. Ihm stockte der Atem. Er trat das Bremspedal durch. Zu spät. Es gab einen lauten Krach, einen Schrei, dann... Stille. Das Auto stand. Der Motor war ausgegangen. Abgewürgt. Die Hände des Mannes zitterten. Er stieg aus. Ging einige Meter zurück. Da lagen die Menschen, die er überfahren hatte. Er kniete neben ihnen nieder. Ein Mann und eine Frau. Offenbar ein Pärchen. Eheringe an beiden Ringfingern. Beide blutüberströmt. Scheinbar Platzwunden an den Köpfen. Er war kein Arzt, er konnte es nicht genau beurteilen. Ein Arzt. Die beiden brauchten dringend Hilfe. Er fühlte bei beiden den Puls. Nichts. Was konnte er tun? Es war niemand zu sehen. Die beiden waren tot. Eindeutig. Kein Zweifel. Was nützte es, einen Arzt zu rufen? Nichts. Was nützte es, die Polizei zu rufen? Er käme ins Gefängnis. Keine verlockende Vorstellung. Die beiden waren tot. Sich einsperren zu lassen, machte sie nicht wieder lebendig. Sie lagen kurz hinter einer Kurve. Wenn noch jemand hier entlang fuhr, würde er sie sicher auch überfahren. Vielleicht würde man nicht merken, dass es zwei Unfälle gab. Er wäre aus dem Schneider. Er musste hier weg. Soviel begriff sein alkoholumnebeltes Gehirn noch. Schnell. Er stieg in sein Auto. Weiterfahren, immer weiter. Er merkte von der Fahrt beinahe nichts. Er kam zu Hause an. Fuhr in die Garage. Stieg aus. Ging ins Haus. Im Doppelbett im Schlafzimmer lag Melanie. Sie atmete tief, langsam und gleichmäßig. Der Mann war erschöpft. Er fiel auf das Bett und schlief augenblicklich ein.
Es war ein Traum. Erleichtert atmete der Mann auf. Nur ein Traum. Ich habe niemanden umgebracht. Er war aufgewacht, hatte aber noch nicht die Augen geöffnet. Jetzt öffnete er sie. Stand aus dem Bett auf. Er merkte verblüfft, dass er Kleidung trug. Dann sah er rote Flecken, wo er gelegen hatte. Auf seiner Kleidung auch. Er fühlte sich, als würde er zum zweiten Mal in zwölf Stunden in einen tiefen Abgrund fallen. Seine Hände fingen wieder an zu zittern. Nein. Das kann nicht sein. Melanie schlief noch. Er rannte hinunter. Betrat die Garage. Da stand sein Auto. Der Lack war vorne zerkratzt. Beulen zeugten von dem Unfall. Der Mann sackte gegen die Wand. Verzweiflung überkam ihn. Was habe ich getan? Der Gedanke durchzuckte ihn immer wieder. Sogleich trat die Nacht immer deutlicher in Erinnerung. Hatte er wirklich keinen Puls gefühlt? Er war kein Arzt. Vielleicht hatte er sich geirrt. Vielleicht hätte er die Menschen retten können, indem er den Krankenwagen rief. Wie viel Uhr war es? Er setzte sich ins Auto. Die Uhr am Autoradio zeigte kurz vor sieben an. Er schaltete das Radio ein. Musik drang aus den Lautsprechern. Fröhlich, mitreißend. Sie schien ihn zu verhöhnen. Dann kamen die Nachrichten aus der Umgebung. Punkt sieben Uhr. Die Stimme des Nachrichtensprechers war sachlich und neutral. Doch was er sagte, löste in dem Mann eine Welle der Verzweiflung aus. Ohnmächtig verblutet. Die Worte hallten im Kopf des Mannes wieder. Fahrerflucht. Polizei ermittelt. Der Mann fasste einen Entschluss. Er sah sich um. Da war ein alter Schlauch von einem Staubsauger. Damit würde es gehen. In einem Regal an der Wand lag Klebeband. Perfekt. Er befestigte den Schlauch mit Klebeband am Auspuff, damit die Abgase durch ihn geleitet werden würden. Er öffnete die Tür auf der Beifahrerseite. Er kurbelte das Fenster ein wenig herunter. Er klemmte den Schlauch Zwischen Fenster und Fensterrahmen. Er schloss die Tür. Prüfend wackelte er ein wenig am Schlauch. Die Konstruktion hielt. Er setzte sich in den Fahrersitz. Er schaltete den Motor ein. Einige Zeit lang merkte er nichts. Es fing allmählich an, im Auto zu stinken. Dann merkte er, wie er schläfrig wurde. Jetzt war es soweit. Er schloss die Augen. Sein Kopf wurde schwer. Er schlief ein. Sein Kopf fiel zur Seite. Er regte sich nicht mehr.
Melanie erwachte. Paul lag nicht neben ihr. Auf dem Bettlaken waren rote Flecken. Blut?Wahrscheinlich hatte er sich gestern irgendwie verletzt und verarztete sich jetzt selbst. Sie zog sich einen Morgenmantel an und ging hinunter ins Wohnzimmer. Paul war nirgends zu sehen. Doch da war ein Geräusch. Monoton. Es kam aus der Garage. Klang wie ein Motor. Fuhr er gerade weg? Neugierig öffnete sie die Tür, um nachzusehen.
Günther nahm den Flaschenöffner in die Hand. Das Zischen der Bierflasche war ein wohltuendes Geräusch. Er nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Lieblingsbier und richtete seinen Blick auf die Zeitschrift, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Auf Anhieb fand er die Lösungen für zwei der Lücken des Kreuzworträtsels. Bei beiden half ihm seine Anstellung als Lateinlehrer. Zum einem war das chemische Zeichen für Gold Au, weil die lateinische Vokabel „Aurum“ hieß und der dritte römische Kaiser hieß Caligula. Trotz diesem optimalen Start wollte die Entspannung, wie sie sich bei ihm sonst immer beim Rätseln und Bier Trinken eingestellt hatte, nicht wirklich kommen.
Vielmehr drifteten seine Gedanken wieder zurück zu dem verhängnisvollen Ereignis, welches sich eben gerade vor dem Lehrerzimmer ereignet hatte. Er hatte extra auf den Feierabend-Plausch mit seinen Kollegen, der sich manchmal richtig ziehen konnte, verzichtet, nur um Karla heute von der Arbeit abzuholen zu können. Nachdem sich Günther nur einmal kurz versichert hatte, dass er morgen keine Lehrkraft vertreten musste, wollte er eigentlich sofort hinausstürmen. Allerdings war irgendein Kollege vorher in das Zimmer hereingekommen. Da sich die Tür des Lehrerzimmers sehr langsam schloss, hatte man für einige Sekunden lang einen guten Blick auf das Geschehen auf den Gängen gehabt. Und deshalb hatte Günther gesehen, wie seine Frau den Mathelehrer Jan Seidel umarmte. Die Inbrunst, wie sie sich gegenseitig umschlungen, hatte ihn fast zum erbrechen gebracht. Obwohl Günther dem neuen Lover seiner Frau liebend gern ins Gesicht geschlagen hätte, hatte er es nicht getan. Dieses Muskelpaket, das auch noch mindestens zwanzig Jahre jünger als Günther war, hätte ihn wahrscheinlich erst zusammengeschlagen und hätte ihn dann blutend liegen lassen, um mit Karla durchzubrennen. Das konnte Günther nicht zulassen. Trotzdem musste er Karla und ihrem neuen Geliebten diesen Verrat heimzahlen.
Nach und nach schwirrten immer bösere Gedanken durch seinen Kopf, die er entweder verwarf, oder weiterstrickte. Als sein Kreuzworträtsel schließlich bis auf eine Lücke gelöst war, hatte sich ein großer böser Gedankenklumpen in seinem Gehirn gebildet. Nun wusste er, was er machen würde.
Genauso wie Günther war Karla dem Alkohol nicht abgeneigt. Also warum sollte man eine Person erschießen, wenn man ihren Tod auf ihre schlechten Leberwerte schieben könnte? Bei der Leiche einer Trinkerin, die eine halbvolle Bierflasche in der Hand und einen leeren Kasten neben sich stehen hat, wäre die Todesursache doch auch ohne eine Obduktion, in der die hohe Konzentration an Schlafmittel im Blut festgestellt werden würde, klar. Es war ein so simpler Plan und doch idiotensicher. Außerdem hatte Günther alles, was er für sein Vorhaben benötigte, hier in seinem Haus. Das Schlafmittel war im Medizinschrank und in der Kühltruhe standen sogar drei Kasten Bier bereit. Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
Um seine Genialität zu feiern, hielt er sich seine Bierflasche an den Mund und wollte sich einen weiteren Schluck genehmigen, doch er hatte sie bereits geleert. Also verließ Günther seinen Platz vor seinem Schreibtisch und ging zur Kühltruhe. Wieder bekam die Flasche den Flaschenöffner zu spüren. Wäre er nicht zu sehr damit beschäftigt gewesen, sich in Gedanken selbst auf die Schulter zu klopfen, hätte Günther vielleicht bemerkt, dass sich der Kronenkorken verdächtig leicht vom Flaschenhals lösen ließ. Ihm wäre es fast so vorgekommen, als wäre die Flasche schon einmal geöffnet worden, doch er trank die braune Flüssigkeit ohne zu zögern. Eiskalt lief sie seinen Hals hinunter. Es war ein wunderbares Gefühl.
Nun widmete sich Günther wieder seiner Zeitschrift mit dem Kreuzworträtsel. Er spürte förmlich wie ihm das Wort auf der Zunge lag. Doch wie sehr er seinen Kopf auch anstrengte, das Wort mit acht Buchstaben, von dem der dritte ein F war, wollte ihm nicht einfallen. Dann wurde ihm auch noch schwindlig. Zunächst nahm Günther an, dass er sich zu sehr angestrengt hatte, doch der Schwindel wollte nicht verschwinden. Im Todeskampf schien es, als könnte sein Gehirn völlig uneingeschränkt arbeiten. Und als Günther die vielen leeren Bierflaschen rund um seinen Platz bemerkte, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Das ihm so lange unbekannt gebliebene Wort und der niederträchtige Plan von Karla waren ihm auf einmal vollkommen klar. Die gesuchte, meist von Frauen bevorzugte, Tötungsmethode und seine zukünftige Todesursache war der Giftmord.
*(dt: Das letzte Lied)
Lyrics: "Euterpe" aus dem Anime Guilty Crown. Englische Cover von Amanda Lee.
Der Geruch von abgestandener Luft, vermischt mit dem aufdringlichen Duft von Putzmitteln. Aufgewirbelter Staub, der in den Sonnenstrahlen tanzte. Der dreckige Boden, von einer dichten Staubschicht bedeckt, in der nur ihre Fußspuren zu erkennen waren. Und dieses bedrückende Gefühl von Einsamkeit.
Das Zimmer wirkte wie ein Loch in der Zeit, unberührt von deren Lauf. Es schien nicht in diesem Universum zu existieren. Die dunkelbraunen Wände rückten dichter und dichter zusammen, verschlossen sich vor der Welt dort draußen. Und die Fenster, deren Scheiben milchig trüb waren, ließen keinen Blick nach außen erlauben. Selbst das Sonnenlicht, mühsam in diese Einsamkeit gekämpft, schien blasser.
Das Leben war hier vergilbt.
Und doch.
Mitten auf dem Fensterbrett, in das Licht der Sonne gerückt, stand eine schneeweiße, schlanke Vase, inmitten von Schmutz und Verlassenheit. In ihrem Bauch befanden sich hohe, anmutig aussehende Blumen. Sie hielten sich stolz aufrecht, schien auch alles andere bereits vom Leben verlassen. Ihre gelben Blüten reckten sich dem spärlichen Sonnenlicht entgegen.
Und dann begann sich die Melodie in das Zimmer einzunisten. Zuerst voller Zögern, als erwartete sie, plötzlich verstummen zu müssen. Doch mit jeder Note wurde sie fester, selbstbewusster und begann schließlich, ein unsichtbares Band um die Blumen zu winden.
Und dann formten sich aus den Lauten Worte. Worte, die voller Traurigkeit und Trauer, und zugleich doch auch voller Hoffnung waren.
>>Wild flower blossoming
I beg of you tell me this so I know too
Why do people fight?
They all act as if it's right
Don't they know
That's no
Way to live<<
Das Lied stand aufrecht wie ein Soldat in der Leblosigkeit. Gesungen wurde es von einem Mädchen, welches, in ein paar Schritten Entfernung zum Fensterbrett, auf dem Boden hockte. Inmitten von Staub und Schmutz saß es da, vollkommen ruhig. Ihr weißblondes Haar fiel ihr bis auf die Schultern, die nackt waren. Sie trug lediglich ein gelbes Kleid, dessen Farbe mit der der Blumen harmonierte, und ihre Füße waren nackt.
Ihre klare Stimme war im gesamten Waisenhaus zu hören. Und in den Gängen blieb man stehen, wenn man ihre Stimme hörte und lauschte ihrem Lied. Ein Lied über den Verlust und die Unwissenheit der Menschen, über Wildblumen und Traurigkeit.
Und in allen Augen der Zuhörer traten Tränen hervor. Doch niemand schämte sich für sie. Diese Tränen zeigten stumm, dass sie den Verlust des Mädchens bedauerten.
Und zeitgleich auch alle anderen Opfer, die sie auf sich genommen hatte, im Kampf gegen Kira.
Doch niemand von ihnen betrat das Zimmer, um der Sängerin zu zeigen, dass sie ihren Schmerz teilten. Denn sie wollten ihre selbstgewählte Einsamkeit nicht stören. Sie wussten alle, dass dies vielleicht das letzte Mal sein würde, dass sie ihre Stimme hörten.
Es war ihr Abschiedsgeschenk.
>> Valiant flower blossoming
What can you see?
When ...you look down on me
Why can't people say
That they're sorry for the way
That they fought
I thought
We once could<<
Dem Mädchen liefen Tränen über das blasse Gesicht. Dennoch unterbrach sie das Lied nicht, keinen einzigen Augenblick lang. Dies war sie ihm schuldig.
„Kämpfe, bleib aufrecht bis zum letzten Moment. Versprich es mir.“
Sie hatte es ihm versprochen, damals, als er totenbleich in ihren Armen gelegen hatte und sich seine schwarzen Irden langsam für immer verschlossen hatten. Sie erinnerte sich. Jeder Blick war in ihr Herz gebrannt.
Diese Momente hatte sie bei sich getragen, schützend vor der Welt versteckt. Und hatte sie dann zurück in seine und ihre Heimat mitgenommen, um sie dort ein letztes Mal betrachten zu können.
Und nun war es an der Zeit. Zeit, auch diese letzten Erinnerungen zu begraben.
Ihre Stimme schwoll an, ein Aufbäumen. Zeitgleich begann ihr Herzschlag auszusetzen.
Das Mädchen zuckte, doch ihr Lied verstummte nicht.
>>When the sky has cleared
And rains have passed
I still won't forget the past
You are not alone on your own
I remember you back then
Trembling in front of me
Crying deep inside silently <<
Sie hätte Angst haben müssen. Aber da war keine. Nur die Gewissheit, dass es nun soweit war. Und der Schmerz damit vielleicht gehen würde, bis sie ihn wiederfand. In einem anderen Leben. Einem anderen Körper.
Ihr Blick fiel auf die Blumen. Es waren Sonnenblumen.
Er hatte sie immer geliebt. Oft hatte er diese Worte nicht gebraucht, doch in jedem Blick, jeder seiner Gesten, die ihr gegolten hatten, hatte seine Liebe zu ihr gestanden. Das hatte ihr genügt. Der Gedanke, dass er sie liebte, war so viel mehr wert gewesen als alles andere.
Erneut stockte ihr Herzschlag. Es schmerzte. Doch sie fokussierte ihren Blick auf die Blumen und sang. Sie wollte ihm zeigen, dass sie sich nicht einfach von der Welt tilgen ließ wie ein Fleck auf einem sauberen Tisch.
Wenn er ihn schon damals getötet hatte, dann sollte er wissen, dass sie aus demselben Holz geschnitzt waren. Sie war nicht er. Aber auch kein Opfer.
Sie war eine Kämpferin.
>>When you see loved ones withering
What do you do with your remaining time
When your leaves can't speak a word
And your thoughts cannot be heard
How do you convey your love<<
Die Melodie pulsierte. Sie begann sich, vollkommen unsichtbar für die Augen des Mädchens, in dem Zimmer abzusetzen; sie nistete sich in dem Staub ein, in den milchigen Fensterscheiben und in den dunklen Holzmöbeln. Und sie vereinigte sich mit den sonnen gelben Blüten der Sonnenblumen. Einen kurzen Moment lang bewegten sich die Köpfe, wie in einer unsichtbaren Brise, dann waren sie wieder still.
Die Sängerin lächelte.
Ihr blieben nur noch Sekunden, doch dass reichte, um das Lied zu einem Ende zu bringen.
>>When the summer's sun is hiding and
Winds are harsh against our backs
Everything seems to overlap
I'll sing in your memory
All the times you've spent with me
We've lost your name but I'll sing for you<<
Und mit der letzten Strophe fiel das Mädchen. Wie in Zeitlupe taumelte es, nur, um dann zu Boden zu sinken. Und in dieser Sekunde, als ihr Gesicht den Boden erreichte, blieb ihr Herz stehen.
Auf ewig.
Die Stille wollte sich über das Zimmer senken, wie es auch schon vor dem Auftauchen des Mädchens getan hatte. Doch das Lied hallte in dem Zimmer, wie ein letztes Echo der Seele.
„Wild flower blossoming...“
In der Hand der Sängerin lag ein kleines, goldenes Medaillon. Als es mit ihr zusammen zu Boden gegangen war, hatte sich der Verschluss geöffnet und der Deckel war aufgeklappt. Ihr letzter Blick musste auf dem kleinen Foto gelegen haben.
Es war ein Foto von dem Mädchen und einem schwarzhaarigen, blassen jungen Mann. Er hatte seinen Arm um ihre Schulter gelegt, beide lächelten in die Kamera. Im Hintergrund waren die gelben Blütenköpfe der Sonnenblumen zusehen.
Es war ein Bild voller Liebe, Treue und Glück.
Es war das letzte Bild, welches das Mädchen gesehen haben musste in ihrem Leben.
>> Valiant flower blossoming
What can you see?
When ...you look down on me
Why can't people say
That they're sorry for the way
That they fought
I thought
We once could<<
*(dt: Eine Sommebrise des Glückes)
Fandom : Manga Half & Half von Seo Kouji aus dem Jahre 1996
Yuuki lag regungslos in ihrem Bett, die Decke eng um sich geschlungen obwohl ihr überhaupt nicht kalt war. Nein, eigentlich war ihr unglaublich warm, denn ihre Augen fixierten ihn, Shin-Ichi, ihre zweite Hälfte. Im wahrsten Sinne des Wortes: eine Woche war es erst her, dass sie beide gestorben und ihnen 7 weitere Tage geschenkt worden waren, in denen sie entscheiden mussten wer weiterleben durfte. Deshalb teilten er und sie sich alles: Gedanken, Schmerzen, Emotionen, ja sogar eine Seele. Doch obwohl diese Zeit so kurz und im Angesicht eines gesamten Menschenlebens fast nichtig schien, so war sie erfüllt von Glück selbst für ein Leben nach dem Tod. Yuuki liebte Shin-Ichi von ganzem Herzen, daran bestand für sie nicht der geringste Zweifel. Er war alles, wovon sie immer geträumt hatte und sie wusste mit Bestimmtheit, dass auch er sie liebte. Fast schien ihr alles so surreal, doch es war greifbar und unfassbar schön.
Sie war dankbar für die Chance, die sie erhalten hatte. Sie hatte die Möglichkeit erlangt, ihren größten Traum wahr werden zu lassen, trotz ihrer Krankheit, die ihr nur ein weiteres halbes Jahr auf dieser Welt zugelassen hätte. Sie war aus dem Krankenhaus ausgebrochen in dem Wissen, dass sie im Bett liegend nie erfahren würde, wonach sie sich schon immer gesehnt hatte. Letztlich war sie gestorben und jetzt, wo sie in diesem Bett lag, glücklich und den schlafenden Mann musternd, den sie auf der Welt am allermeisten liebte, fühlte sie keine Reue. Doch sie wusste auch, dass ihre gemeinsame Zeit nur von kurzer Dauer war und der Tod schon in wenigen Stunden einen von ihnen beiden unweigerlich ereilen würde. Yuuki wusste genau, was zu tun war.
„Ich fände es nicht schlimm, für sie zu sterben.“, war der Gedanke, den Schin-Ichi unfreiwillig mit ihr nach dem gemeinsamen Abendessen geteilt hatte. Es hatte ihm wieder fantastisch geschmeckt, das konnte er nicht verheimlichen. Allerdings war es ihr nicht möglich zu entscheiden, ob sie froh oder traurig sein sollte bei dem Gedanken, dass er für sie in den Tod gehen würde. Zur selben Zeit wusste sie jedoch auch, dass sie es in jedem Fall nicht zulassen konnte. Er würde nicht sterben, denn er hatte ein langes und glückliches Leben verdient. Und daher würde sie für ihn ihre Seele aufgeben. Vorher jedoch wollte sie die letzten Momente ihres restlichen Lebens in vollen Zügen genießen. Den bevorstehenden Tod ignorierte sie für den Moment. Es brachte ihr ja nichts. Daher war an Schlaf nicht zu denken.
Langsam richtete sie sich aus dem Bett auf und näherte sich Shin-Ichi mit bedächtigen Schritten. Er war auf seinem Stuhl eingeschlafen und atmete ruhig ein und aus. Nicht einmal seine Brille hatte er abgenommen. So friedlich wie er da saß, wirkte er als könnte ihn kein Unheil dieser Welt ereilen und Yuuki wusste, dass dem natürlich nicht so war. „So wirst du dir noch eine Erkältung einfangen, Dummerchen.“, seufzte sie und strich ihm vorsichtig eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Eigentlich hatte sie sich fest vorgenommen, ihn zu wecken und ihm von ihrem Vorhaben zu erzählen, doch als sie aus dem Augenwinkel das Bild bemerkte, welches er von ihr gemalt hatte und sie es sich nun genau anschauen konnte, war das nicht mehr möglich. Es hatte ihr wie ein Sturm jegliches Selbstvertrauen aus dem Körper getrieben. „Scheint, als ob du es doch fertiggestellt hast“, flüsterte sie und fasste einen neuen Entschluss. Ihre Beine trugen sie so leise wie möglich zum Schreibtisch, auf dem Papier und ein Briefumschlag ruhten. Ihre Hand ergriff einen Füller und sie begann, ihm ihre Geschichte zu erzählen und alles zu schreiben, was sie für ihn empfand. Verlor sie dabei den Mut, so reichte ein kurzer Blick in sein schlafendes Gesicht, um ihr die Kraft zu geben, den Brief mit einem Lächeln zu beenden. Wenn er ihn las, würde er alles verstehen. Er würde von ihrer Krankheit erfahren und von ihrem größten Traum, sofern er ihn nicht schon längst erahnt hatte.
Der Stift glitt geschmeidig über das Blatt und formte ohne langes Überlegen die Worte, die sie ihm unbedingt vermitteln wollte. Wie einfach es doch war, Dinge zu schreiben, sobald sie aus dem tiefsten Herzen sprudelten wie ein Wasserfall. Ein Wasserfall, unter dem er hoffentlich nicht zusammenbrechen würde. Yuuki faltete das Blatt und legte es sorgfältig auf dem Schreibtisch ab, bevor sie schließlich zu ihrem Liebsten ging und ihn ein allerletztes Mal verträumt bestaunte. Auch wenn er für andere Menschen nichts Besonderes war, so war er für sie einfach perfekt und bewundernswert. Shin-Ichi war das für sie, wonach so viele Andere ihr Leben lang suchten. Sie war sich sicher, dass nur er es sein konnte, denn er war derjenige, den sie über alles liebte. Er war ihr größter Traum. Yuuki beugte sich zu ihm und küsste zärtlich seine Wange. „Ich danke dir, Shin-Ichi. Bitte erfülle dir alle deine Träume, so wie du mir meinen größten Traum erfüllt hast.“, hauchte sie in sein Ohr und lächelte ihn an in der Hoffnung, dass sie dieses letzte Gefühl mit ihm teilen und er es für immer in seinem Herzen bewahren könnte.
Noch ein letztes Mal strich sie ihm vorsichtig durch das dunkle Haar, begutachtete ein letztes Mal seine Stupsnase und hörte ihm ein letztes Mal genau beim Atmen zu, bevor sie fast ehrfürchtig vor dem Bild erstarrte, in das Shin-Ichi sein ganzes Herz gesteckt hatte. Sie musste sich nicht mehr wünschen, irgendwelche letzten Worte direkt aus seinem Mund zu hören, denn alles was er fühlte und ihr in langen Sätzen hätte sagen können, hatte er ihr auch so übermittelt, nur durch seinen Pinsel. Er liebte sie, genauso sehr wie sie ihn. Ihre blonden Haare, ihr ansteckendes Lachen, ihre zarte Haut, er hatte einfach alles eingefangen in diesem Gemälde und es war für die Ewigkeit gemacht. Sie würde in diesem Bild und in Shin-Ichis Erinnerungen weiterleben, auf eine ganz eigene Art und Weise.
Vorsichtig wischte sie sich eine Träne aus dem Auge, schloss ihre Hände zum Gebet und sprach leise die Worte vor sich her, die sie von ihrer großen Liebe trennen würden. „Ich weiß, dass du mich hören kannst, Gott. Ich bin nun bereit, meine Hälfte der Seele an Shin-Ichi abzugeben. Ich danke dir für die Chance, die du mir gegeben hast. Ich habe nun alles gefunden, was ich jemals wollte. Ich habe eine Woche Zeit mit der Person verbracht, die ich über alles liebe. Nun kann ich ohne Reue gehen.“ Sie wartete. Der Raum war still, doch sie wusste, dass er sie erhört hatte „Bist du dir sicher?“, hallte eine laute Stimme in ihrem Kopf wider und im Gegensatz zu ihren Selbstzweifeln zuvor zögerte sie nun keinen Moment. „Ja.“
„So sei es. Deine Hälfte der Seele wird nun an ihn übergehen.“,ertönte es ein zweites Mal als Yuuki eine enorme Leichtigkeit ergriff, als schwebte sie im Raum. „Danke.“, sagte sie und fühlte, wie ihre Seele langsam ihren Körper verließ. Die junge Frau war dennoch nicht traurig, ganz im Gegenteil. Sie war froh, dass ihre und seine Seele Eins werden würden. So würde sie bei ihm sein können, für immer und ewig, obwohl er es vielleicht gar nicht wissen würde. Nicht einmal der Tod würde sie davon abhalten, ein Teil von ihm zu sein und mit ihm gemeinsam seinen Traum zu leben, denn ihre Seele gehörte ganz allein ihm und seine ihr. Sie würden sich erst im Leben nach dem Tod wiedersehen, doch so lange konnte sie warten. Ihre Liebe war einer Sommerbrise gleich: rein und unverfälscht, doch nur kurz vorbeigeweht, aber ihre Wärme würde viele Sommer überstehen.
Mit der aufgehenden Sonne war der Moment für ihre letzten Worte nach 7 Tagen endlich gekommen, auch wenn er sie nicht hören würde. „Schlaf gut. Ich liebe dich, Shin-Ichi.“
Fandom: Digimon
Welch ein Morgen! Die Strahlen der aufgehenden Sonne schienen auf mein noch im Schlaf gefangenem Gesicht und erhellten mein Zimmer, das ich mit meiner kleinen Schwester Kari teilen durfte. Während Kari noch schlief, stand ich schon am Fenster und beobachtete die Sonne, die wie jeden Morgen die Nacht verschwinden ließ. Die Morgenröte sah atemberaubend aus, sie färbte den Himmel in der Farbe, die ambivalente Gefühle bei den Menschen erweckte. Während die einen das Rote mit der Liebe assoziierten, die jedem Menschen Geborgenheit und Freude brachte, sehen die anderen darin eine Aggressivität, die langsam in ihr Inneres drang und ihren Körper mit Wut füllte. Für mich überwog jedoch der positive Aspekt. Warum? Nun ja... Dieses Schauspiel, das die Natur uns Menschen geschenkt hatte, sollte nicht von negativen Emotionen geprägt sein, zumal es doch etwas so Wunderschönes war, das nur an wenigen Tagen im Jahr seine volle Pracht ausleben konnte. Die Sonne, in rot gehüllt, verdrängte durch ihre Strahlen das kalte Blau des Himmels und hüllte es in Wärme. Hach, wenn nur jeder Mensch einmal im Leben diesen Augenblick der Idylle erleben könnte, so wie ich es tat.
Unterdessen schien meine kleine Schwester aus dem Schlaf zu erwachen, so dass ich jenen Augenblick mit ihr gemeinsam genießen könnte. Wie friedlich sie doch aussah. Ein Kind, das noch sein Leben vor sich hatte und es mit all seinen Schattenseiten annehmen und bewältigen musste. Ich ging mit leisen Schritten auf ihr Bett zu und kniete mich vor dieses hin, um sie nicht zu erschrecken. Aus der Nähe ähnelte sie einem Engel, der von all seinen Wohltaten, die er an den Tag brachte, seine Ruhe nahm. "Kari", flüsterte ich und fasste ihre Linke sanft, "Zeit, aufzustehen." "T-T-Tai", sprach sie mit ruhiger Stimme und rieb sich ihr Auge, "ist es schon so spät?" So spät war es natürlich nicht, aber sollte sie nicht am Naturereignis teilhaben? "Kari", antwortete ich, "ich möchte dir etwas zeigen. Komm' mit." Sie nickte gähnend. Ich griff ihre Hand ein Stückchen fester und zog sie leicht gen Fenster. "Tai, was zerrst du mich denn so?" Ich war verblüfft. Ich zerrte sie wenn überhaupt nur kaum, ich half ihr doch nur mit leichtem Ziehen aufzustehen. "Aber Kari, ich zerr' dich doch gar nicht. Ich..." Ich unterbrach mich, denn sie hatte recht. Irgendetwas baute Gegendruck auf. Ihre Trägheit hielt sie nicht im Bett, zumal sie mir zugesichert hatte, dass sie mit mir kommen würde. Was war das nur? Verwirrt schaute ich an meiner Schwester vorbei und sah, dass ein weißer Handschuh sie an ihrer anderen Hand in die entgegengesetzte Richtung riss. "Kari! Pass' auf!", schrie ich und versuchte sie aus den Fängen zu befreien. "Tai, hilf mir!" Sie wehrte sich vehement gegen das fremde Objekt. Ich spürte ihre Angst, die in ihrem Herzen wuchs. Eine dunkle Macht schien ihr Unheil zu treiben. Eine Macht, erfüllt von Hass und Boshaftigkeit. "Lass bloß nicht meine Hand los!", rief ich energisch und bündelte meine Kräfte, in der Hoffnung genügend Widerstand leisten zu können. Jedoch schien die dunkle Macht sich auszubreiten, zumal plötzlich ein schwarzes Loch erschien, aus dem der Handschuh herausragte, und sog uns beide hinein. Wir beide stießen Schreie der Angst, des Schmerzes und des Leids aus.
Wir waren in einem Raum voller Finsternis. Alles um uns herum war pechschwarz. Kaum war es uns möglich, die eigene Hand vor Augen zu sehen oder gar etwas anderes zu erblicken. Dennoch spürte ich, dass Kari in meiner Nähe war und ich sie noch an der Hand hielt. "Kari!", rief ich besorgt, "geht es dir gut?" Sie antwortete leise: "Ja, aber... Wo sind wir hier?" Eine berechtigte Frage, die ich nur schwer beantworten konnte. Wo waren wir hier nur? Mein Herz pochte, es schlug schnell. Ich hatte Angst, gefangen in einem leeren, von Dunkelheit erfüllten Raum, allein, nur wir beide... "Ich habe Angst, Tai...", sagte Kari mit weinerlicher Stimme zu mir. Ihre Hand begann zu zittern. Ich durfte keine Angst haben, denn ich als ihr großer Bruder bin dafür verantwortlich, dass ihr nichts zustieß. Ich musste ihr die Angst nehmen. "Ach, Kari...", flüsterte ich und nahm sie ihn den Arm, "fürchte dich nicht. Ich bin bei dir und werde dich beschützen. Das verspreche ich dir." Ein Gefühl von Geborgenheit erfüllte mich und ließ mich für einen Augenblick unsere missliche Lage vergessen.
"Ach, wie rührend das doch ist! Das nenne ich mal wahre Liebe unter Geschwistern. Das verdient einen Applaus!", spottete eine düstere Gestalt zynisch und klatschte in die Hände. Es unterbrach den wohltuenden Moment abrupt. Dieses Klatschen, diese Stimme... Ich kannte sie. Ich kannte sie ganz genau. Ich hatte sie schon einmal gehört. "Na? Erkennt ihr mich wieder?" Licht fiel wie Scheinwerfer von oben auf den Feind ein. Mein Herz schien still zu stehen, mein Atem stockte. Es war... Ich konnte es nicht glauben. Es war Piedmon, das bösartigste Digimon unter den vier Meistern der Dunkelheit. Aber... Hatten wir es nicht vernichtet? Hatten wir es einst nicht besiegt und in eine andere Welt verbannt, für alle Ewigkeit? Wie konnte es nur überleben? Wie war das möglich? "Wie ich sehe, freut ihr euch sehr, mich wiederzusehen, nicht wahr? Die Freude ist ganz meinerseits. Wie viel Zeit doch vergangen ist seit unserem letzten Treffen..." Ich schaute Kari an, deren Gesicht von Fassungslosigkeit gezeichnet war. "Wie..." Ich schluckte und versuchte es ein zweites Mal: "Wie kann es sein, dass du noch lebst?" Es brach im teuflischen Lachen aus. "Haha, ihr Digiritter seid nicht die Hellsten in der Welt, stimmt's? Habt ihr ernsthaft geglaubt, dass ihr mich, Piedmon, einfach so ausschalten haben könntet? Ihr seid ja so naiv... Ich habe eine lange Zeit gebraucht, bis ich aus der Welt entfliehen konnte, in der ihr mich verbannt habt. Eine sehr lange Zeit, in der ich meine dunklen Kräfte ausgebaut, meine Rachepläne geschmiedet und meine Wut gesammelt habe. Eigentlich müsste ich euch dankbar sein, weil ich durch euch stärker geworden bin, als ich jemals gewesen bin. Danke." Es trat langsam näher mit einem hämischen Grinsen im Gesicht. Die Schritte hallten im ganzen Raum und wurden lauter, immer lauter. "Zum Dank", so sprach es, "werde ich euch töten." Es kam immer näher auf uns zu. Was sollten wir nur tun? Unsere Digimon waren nicht hier. Wir waren ganz auf uns allein gestellt. War es uns überhaupt möglich, ein weiteres Mal gegen Piedmon, das jetzt noch stärker geworden ist, zu triumphieren?
Wir... Wir durften nicht aufgeben. Ich durfte nicht zulassen, dass Kari etwas zustößt. Ich musste sie beschützen. "Tai," fragte sie verängstigt und stotternd, "was... was sollen wir t-t-tun?" Piedmon war nur noch wenige Meter von uns entfernt und nichts war in der Nähe, was uns helfen konnte. "Kari, wir... wir... wir werden es schaffen. Glaub' daran. Wir werden es schaffen. So wie damals. Wir schaffen es." Mein Herz schlug schneller denn je und war erfüllt von Mut, Angst und Kraft zugleich. Selbstbewusst blickte ich Piedmon in die Augen und stellte mich vor Kari. "Piedmon," schrie ich, "du wirst Kari nichts antun! Hast du gehört! Wir werden dir das Handwerk legen!" Ich breitete meine Arme aus und wies Kari nach hinten. "Aber Tai...", hörte ich, wie sie in sich hineinmurmelte. "Du brauchst keine Angst zu haben, ich werde dich beschützen", beteuerte ich, den Kopf zu ihr gedreht. "Wie wollt ihr mich denn aufhalten? Ohne Digimon seid ihr machtlos? Stell' dich ruhig freiwillig, Kleiner, dann wirst du als Erster daran glauben müssen!" Wir standen uns nun von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Der Meister der Dunkelheit und ich, der Digiritter mit dem Wappen des Mutes. "Tai, tue es nicht!", schrie Kari auf und wollte nach vorne weichen. "Kari, du bleibst, wo du bist", wies ich meine kleine Schwester zurecht, damit sie sich nicht in noch größere Gefahr begab. Was sollte ich nur tun? Ich gab die Hoffnung nicht auf. Ich durfte nicht. Nein. Unterdessen zog Piedmon seine Trumpfkarte, warf einen Dolch in meine Seite und sagte selbstsicher: "Das war's."
Es hatte mich getroffen. Mitten ins Herz. Meine Atemzüge stockten und ich verlor mein Gleichgewicht. "Taaaaaaaai", schrie Kari mit Tränen im Gesicht und fing mich in ihren Armen auf. "Tai, du bist so... Warum hast du das geht? Warum? Warum nur?" Sie kam aus dem Weinen nicht mehr heraus. Es war vorbei. Für mich. Es war an der Zeit zu gehen. Aber Krai würde überleben, das wusste ich. Ich nahm meine letzten Kräfte zusammen und strich ihr die Tränen aus dem Gesicht. "Kari... Weine nicht..." Meine Beine begannen sich aufzulösen. Mit geschwächter Stimme versuchte ich meine letzten Sätze zu formulieren: "Du... musst jetzt stark bleiben..." Meine Atemzüge wurden schwerer und langsamer. "Ich habe dir... versprochen... dich immer... zu beschützen..." Piedmon schien seinen nächsten Angriff vorzubereiten. "Auch... wenn ich... nicht mehr lebe... bleibe ich dennoch... immer ein Teil von dir... Versprich mir... dass du... Piedmon... besiegst... Ja...?" Kari nickte und begann zu leuchten. "Das Licht... wird... der Dunkelheit... niemals... unterliegen... Ich... bleib.. bei... dir.. für... im.... mer..." Ich schenkte meiner Schwester ein letztes Lächeln und verschwand guten Gewissens. Denn der Engel des Lichts trug nun Mut in sich.
Neugierig pickte ein schwarzer Vogel ein Stück Fleisch aus dem Bauch einer am Boden liegenden Gestalt.
»Hau ab!«, rief die junge Frau sofort und scheuchte die Krähe von sich. Lange, dünne Gliedmaßen streckten sich aus ihrem von Fäulnis übersäten Oberkörper heraus, während sich die blaue, ledrige Haut angestrengt über die baren Knochen zerrte. Eher wie ein Flickenteppich denn wie ein Mensch wirkte die sich nun aufrichtende Statur und humpelte kraftlos und unkontrolliert ein paar Schritte durch den Wald. Ungeduldig flatterte der Vogel wieder zum Mädchen zurück, das einen Arm ausstreckte und ihn darauf landen ließ.
»Du bist wohl hungrig«, flüsterte sie ihm mit einer gluckernden Stimme entgegen. »Aber ich muss noch etwas erledigen. Leider war ich zu unvorsichtig, und jetzt … Naja, möchtest du mir nicht bei meiner Aufgabe helfen?!«
Der Vogel ließ ein Krähen ertönen, dann zwickte er nach einem ihrer dürren Finger.
»Hey!«, rief sie empört, schüttelte das Tier ab und setzte streng hinzu: »Noch nicht, kleines Freundchen!«
Währenddessen stakste sie durch das unebene Dickicht und ließ die Krähe mit lauten Rufen in die Baumkronen fliegen.
»Komm bald wieder«, gurgelte sie und mied sorgfältig die Sonnenstrahlen, die sich stellenweise unbändig auf den Waldboden stürzten. Inmitten des Vogelgezwitschers lief sie voran, suchte mit ihren milchigen Augen aufmerksam die Umgebung ab und stürzte wegen ihres taumelhaften Gangs regelmäßig um. Irgendwann stieß sie auf einen breiten Waldweg und machte sich zielstrebig aber ineffizient daran, ihn zu beschreiten. Je weiter sie lief, desto lauter erklangen die Rufe über ihr, denn mittlerweile zog ein ganzer Schwarm Krähen seine Kreise im Himmel und sie spürte die hungrigen Blicke der Vögel hinabgleiten.
»Was zum …«, keuchte unvermittelt eine kindliche, schreckerfüllte Stimme aus unmittelbarer Nähe. »Du bist ein Zombiemädchen!«, schrie ihr ein Junge, dessen Alter vielleicht zehn Jahre betrug, vom Wegesrand aus entgegen. Indes stolperte er einen Schritt zurück und kramte hastig in seiner breiten Tasche.
Die faulende Gestalt grinste ihn an und baumelte mit erhobenen Armen auf ihn zu.
»Halt!«, schrie er und zog einen kleinen Stoffbeutel hervor, »Ah, endlich, das Salz!«
Aus dem Mund des Zombies blubberte ein lautes aber undeutliches »Kein Salz, bitte!« hervor und sie blieb stehen. »Was machst du hier draußen?«, fragte sie erbost. »Es ist gefährlich. Geh lieber nach Hause.«
Der Junge hielt inne und blickte sie misstrauisch an, während das Mädchen streng zurückschaute. »Ich bin auf dem Weg nach Hause«, antwortete er dann schuldbewusst. »Und was machst du? Wie heißt du? Zombies sollten eigentlich willenlos umhergeistern und Menschen essen!«
»Das tun nur die unhöflichen«, gab sie zurück. »Ich muss eine Aufgabe erledigen. Ich bin Abenteurerin und auf der Suche nach etwas sehr Wichtigem.«
»Du meinst einen Schatz?! Bin dabei! Ich heiße Sun«, rief der Junge aufgeregt und lachte laut. Er schwang seinen dicken Rucksack hinter sich und lief weiter an der Seite der humpelnden Gestalt. Sein Blick glitt über ihre ramponierte, zerfetzte Kleidung, vorbei an den mittlerweile zu großen Teilen ausgefallenen Haaren, den tiefen Augenhöhlen und den fehlenden Stücken Fleischs in ihrem bläulich-grünen Körper. »Ich habe noch nie einen Zombie so nahe gesehen!«, stellte Sun erstaunt fest. »Dafür, dass du einer bist, siehst du allerdings echt gut aus!«
Sie rollte genervt mit den Augen. »Zu Lebzeiten habe ich definitiv bessere Komplimente gehört.«
»Wie lange bist du denn schon ein Zombie? Was für einen Schatz suchst du? Und warum flattern so viele Krähen über unseren Köpfen?«
»Man stellt fremden Menschen nicht so viele Fragen, Sun«, tadelte ihn das Zombiemädchen. Dann bemerkte sie, wie er mit einem Stock in ihrer Hüfte herumstocherte, sodass ein Stück Fleisch hinabplatschte. Verärgert bückte sie sich und stopfte es zurück. »Fass mich doch nicht an!«
»Hab' ich gar nicht! Ist alles an dir herausnehmbar?!«, fragte er mit naiver Stimme weiter und grinste das faulende Wesen fasziniert an. Zur Verdeutlichung schlug sie sich auf den Hinterkopf, fing das herausfallende Auge auf und hielt es ihm hin. Angewidert suchte Sun Abstand.
Die Krähen über ihren Köpfen zogen langsam immer engere Kreise, während sich die zwei unterhielten und den Waldpfad beschritten. Regelmäßig schaute sich das Mädchen um und blickte aufmerksam in die Ferne, zeigte gelegentlich auch eine besorgte Mimik.
»Sind hier noch andere Zombies?«
»Ja, hier überall. Der Wald ist verseucht«, antwortete sie.
»Heißt das, sie könnten kommen und uns holen?«, fragte Sun ein wenig verunsichert und blickte sich unruhig um.
Seine Begleiterin zeigte nach oben. »Zombies haben Angst vor Krähen. Die fressen sie nämlich auf! Und das, ohne um Erlaubnis zu bitten.«
»Aber dich nicht?«
»Ich denke doch. Vermutlich warten sie, bis ich umfalle!«, lachte sie klackernd und man hörte, wie dabei Teile ihrer Kehle herumpurzelten.
»Keine Sorge, holde Zombiedame! Ich werde Euch beschützen!«
Sun zog ein kleines Holzschwert aus seinem Gürtel, rannte damit umher und begann von Schätzen zu singen. Die Untote beobachtete ihn lächelnd, studierte seine hellblauen Augen, die blasse, dünne Haut und sein fröhliches Gesicht. Schließlich verdeutlichte seine Mimik, dass ihm wieder ein Gedanke gekommen war.
»Sag, wie wird man zum Zombie?«, fragte er und äffte stümpferhaft ihre Bewegungsart nach.
»Oh, da gibt es verschiedene Wege. Wenn ein Zombie versucht, dich zum Mittag zu verspeisen zum Beispiel. Das schickt sich aber nicht. Oder wenn sie dich küssen. Das schickt sich schon eher.«
»Und wie war das bei dir?«
»Naja«, flüsterte sie und schaute Sun vielsagend an, »einer von ihnen hat ein Auge auf mich geworfen!«
»Ich bin gerne kein Zombie«, verlautbarte Sun ehrlich, »es ist schön, dass du mich nicht mit Augen bewirfst. Du bist wirklich nett für eine Halbtote!«
»Achja?! Du bist nicht besonders nett für einen Menschen!«, rief sie zurück, offenbar verärgert. »Immer diese Vorurteile. Lass dich nicht von so etwas leiten, hörst du!?«
Er nickte schüchtern. Sie liefen eine lange Zeit nebeneinander her, während die Untote die Fragen des Kindes in großzügiger Weise beantwortete und ihm Lebenstipps gab.
»Sei nie frech zu deiner Mutter«, belehrte sie ihn eingehend, »Du musst sie respektieren. Und steck alle Kraft in deine Ziele! Nur so kannst du sie erreichen.«
»Du klingst wie eine alte Lehrerin«, gähnte Sun. »Macht dich eigentlich etwas traurig?«
Ein stilles Wehklagen huschte über das Gesicht des faulen Mädchens. »Ich finde, du solltest gut zuhören, was ich zu sagen habe!«, überspielte sie es. »Du wirst dich sicher nicht so bald wieder mit einem Zombiemädchen unterhalten können!«
»Ja …«, stimmte er ihr halb zu, doch der Widerspruch erklang bereits in seiner Stimme wie die Krähen in ihren Ohren.
»Höre ich da etwa Schuldbewusstsein?!«, rief sie scharf und sah ihm direkt in die Augen. Er druckste um ihren Blick herum.
»Ich bin schon viel zu lange von Zuhause weg, tagelang!«, erklärte er kleinlaut. »Hoffentlich sucht nicht schon jemand nach mir. Ich kriege bestimmt Ärger! Und es wird dunkel.«
»Das stimmt«, verlautbarte die Untote streng. »Du solltest schnell nach Hause. Ich kann meinen Kram ohnehin nicht abschließen, solange du da bist! Sag, wieso bist du nicht schon früher zurückgekehrt?«
Er blickte auf den Boden. »Ich war wütend. Meine Schwester … sie ist oft mürrisch und weiß vieles besser. Das hat mich geärgert, wir haben uns gestritten. Ich denke, ich werde mich gleich entschuldigen! Wir sind schon fast da«, erklärte Sun elanvoll. »Zufällig sind wir die ganze Zeit in Richtung Zuhause gelaufen. Ist der Schatz etwa bei uns im Dorf?!«, rief er aufgeregt.
Mit der Zeit verkleinerten sich die Schritte des Mädchens zusehens. Die Krähen riefen ihnen nun fast ins Ohr, während sich die verbleibende Kraft stetig aus den dürren Gliedmaßen kämpfte. Der Wald lichtete sich immer weiter, bis sie ihn hinter sich ließen. Der Himmel färbte sich orange. Schließlich begegneten sie einer weiten, verhügelten Wiese.
»Mein Zuhause ist nicht mehr weit! Da hinten, zwischen den beiden Bergen dort. Man sieht es noch nicht, aber gleich.«
Seine Begleiterin lächelte matt und nickte. »Ist gut, weißt du, ich muss jetzt hier abbiegen. Ich würde ja mitkommen, aber ich befürchte, man heißt mich da nicht willkommen.«
Das Kind nickte verständnisvoll. »Das ist okay. Ich würde gerne deinen Schatz sehen, aber ich muss wirklich zurück. Ich bekomme sicher Ärger.«
»Okay, gib gut acht auf dich und pass auf deine Familie auf, ja?«
»Natürlich! Ich werde meiner großen Schwester sagen, dass ich ein tolles Zombiemädchen getroffen habe, von dem sie sich ruhig mal eine Scheibe abschneiden könnte!«
Sie lachte, während er davonrannte und ihr zum Abschied winkte. Das Mädchen taumelte dann schwer atmend in Richtung einer mächtigen Steineiche davon. Direkt neben ihr flatterten die schwarzen Vögel zu Hunderten.
»Danke«, gluckerte sie ihnen zu. »Mutter hätte mir nie verziehen, wäre ihm etwas ernstes zugestoßen. Ein Glück hat er mich nicht erkannt.«
Kaum hatte sie diese Worte geflüstert, brach sie zusammen und ein tiefes Schluchzen ertönte. Eine Krähe setzte sich auf ihre Schulter, woraufhin ihr das Mädchen einen Finger anbot. »Ich bitte euch, lasst nichts übrig.« Sie ließ sich auf den Rücken fallen und starrte mit schmerzerfülltem Gesicht in das schwarze Federmeer. »Nun macht schon. Ihr dürft jetzt.« Sie lächelte den Krähen ausatmend entgegen, während sich Angst und Erleichterung in ihren Gesichtsausdruck gossen wie Wasser in heißes Öl.
Kreischend stürzten die Vögel dann hinab.
Soweit hätte es niemals kommen dürfen. Was hatte ich mir dabei eigentlich nur gedacht, als ich die bestellte Ware einfach für mich behielt, weil ich mich nicht von ihr trennen konnte? Klar, nachdem mir das ganze Ausmaß bewusst wurde, hätte ich sie sofort vernichten müssen und alles wäre gut geworden. Meinem Auftraggeber hätte ich das Gleiche sagen können, was er auch so von mir zu hören bekam: Die geforderte Ware kann ich nicht liefern, weil es Probleme bei der Umsetzung gibt. Die fällige Vertragsstrafe habe ich sowieso zahlen müssen, aber ganz ehrlich, so was zahlt man in meiner Branche aus der Portokasse. Als Gen-Designer verdiene ich so gut, dass andere davon nur träumen können, selbst Schönheitschirurgen werden da blass vor Neid.
Die Bestellung lautete: Ein Haustier, das in Form und Größe einem Rhesusaffen gleicht, fliegen kann, gelehrig ist und Laute artikulieren kann. Kein Problem für mich, als einem der Besten meiner Zunft. So etwas gehört zu meinem alltäglichen Geschäft. Wäre mir doch nur nicht der verrückte Gedanke gekommen, ein paar Gensequenzen zu verändern, um das das Gehirn, na sagen wir, aufzumotzen. Sprechende Tiere sind, wie jeder wissen sollte, dumm und können nur nachplappern. Papageien können so etwas sowieso, bei anderen Arten ist es durch ein paar Manipulationen auch problemlos möglich. Aber ich musste mir ja unbedingt in den Kopf setzen, dass Jumil (so nenne ich meine Schöpfung nun) gezielt antworten können sollte. Nun ja, das konnte er auch, nur leider konnte er noch viel mehr. Er war sich seiner selbst bewusst. Und das war ein wirkliches Problem. Selbst unsere sehr großzügigen Klon- bzw. Genveränderungsgesetze sagen eines unmissverständlich: Es dürfen unter keinen Umständen Lebewesen erschaffen werden, die ein Bewusstsein entwickeln oder besitzen.
Im günstigsten Fall würde mich das meine Lizenz kosten, wenn es an die Öffentlichkeit gelangen würde, im schlimmsten Fall... den möchte ich mir lieber gar nicht ausmalen. Deswegen hätte ich Jumil bei den ersten Anzeichen töten müssen und alles wäre gut gewesen.
“Wo komme ich her, Vater?” hatte er mich eines Tages völlig überraschend aus dem Nichts gefragt. Mir fiel vor Schreck die Flasche mit Desinfektionsmittel aus der Hand. Ich sah ihn ungläubig an (habe dabei bestimmt ziemlich dümmlich ausgesehen) und wollte irgendeine Gegenfrage stellen, nur fiel mir beim besten Willen nichts ein.
Die Übergabe sollte in fünf Tagen stattfinden und hätte mir eine knappe halbe Million gebracht. Natürlich sagte ich sie sofort ab und lehnte es auch ab, den Auftrag zu einem späteren Zeitpunkt zu erfüllen. Ich konnte und wollte nicht einmal daran denken, mich länger damit beschäftigen zu müssen.
Jumil hatte mich Vater genannt! Verdammt, er hatte mich direkt angesprochen! Das konnte, das durfte nicht sein! Niemals! Aber dann war ich einfach unfähig, das Richtige zu tun. Ich hatte die Spritze mit dem Gift schon in der Hand und wollte es tun, aber er sah mich einfach nur an. Mit seinen großen, blauen Augen, die so unglaublich wissend waren und mit einem mal so unendlich traurig wirkten. Ich redete mir ein, dass die Augen nur deswegen so perfekt waren, weil sie mein Werk waren, aber den Ausdruck in ihnen hatte ich noch nie bei einem nichtmenschlichen Wesen gesehen. Wie sollte ich ein Geschöpf töten können, das mich Vater nannte? Wer könnte so etwas tun? Ich konnte es nicht. Aber ich muss!
Heute habe ich mich den ganze Tag mit Jumil beschäftigt und es ist einfach unglaublich, wie klug er schon ist, er lernt jeden Tag mehr als es ein Mensch auch nur ansatzweise könnte. Er stellt Fragen, die selbst ich ihm nicht beantworten kann. Und er hat sogar einen eigenen Humor entwickelt. Ich glaube, er ist sogar etwas hinterhältig. Er hat doch tatsächlich versucht die Käfigtür so zu manipulieren, dass er sie leicht von innen hätte öffnen können, wenn ich sie ganz normal geschlossen hätte. Aber nein, mein Freund, um mich reinzulegen musst du schon früher aufstehen. Jedenfalls ist jetzt der Punkt erreicht, an dem es mir selbst unheimlich wird, morgen werde ich es schweren Herzens tun und diesmal wird das Gift in der Spritze das tun, was es schon vor Tagen hätte tun müssen. Sie liegt schon im Schrank bereit und wartet nur auf ihren Einsatz. Aber schade ist es trotzdem.
“Vater!”
Flattergeräusche vor meinem Kopf...
“Vater, wach auf!”
“Hmmm...”
“Ich will, dass du wach bist wenn ich tue, was ich jetzt tue.”
“Jumil? Was...?”
“Hast du wirklich gedacht, du könntest mich töten, Vater!?”
“Aber was... woher...?”
“Woher ich das weiß? Ach Vater, ich hätte wirklich gedacht, dass du es herausfinden würdest, aber dafür bist du wohl doch zu dumm oder zu selbstverliebt. Du denkst noch immer, dass du mich beherrschst. Das ist so lächerlich armselig. Wenn du wirklich ein so guter Wissenschaftler wärst, hätte dir meine telepathische Begabung längst auffallen müssen.”
“Telepathisch, das heißt...”
“... ich kann Gedanken lesen, genau richtig, Vater.”
Jumil flattert etwas von mir weg, als ich nach ihm greifen will. Er ist so unglaublich flink und wie könnte ich nur daran denken, ihn so einfach überrumpeln zu können? Er verzieht den kleinen Mund zu einem höhnischen Grinsen.
“Aber warum?”
“Das fragst du mich? Hast du schon vergessen, dass ich dein Werk bin?”
“Seit wann?”
“Schon seit ein paar Tagen, vielleicht auch schon immer, aber mittlerweile funktioniert es richtig gut und deswegen weiß ich, dass ich jetzt handeln muss. Ich wünschte, ich müsste es nicht tun, aber im Gegensatz zu dir habe ich keine Skrupel.”
Mit diesen Worten brachte Jumil die Spritze zum Vorschein, die für ihn bestimmt gewesen war. In seinen zierlichen Händen sah sie riesig aus. Ohne ein weiteres Wort stach er die Nadel in den Hals seines immer noch ungläubigen Vaters, und...
... wohlige Wärme breitet sich in mir aus. Ich fürchte den Tod nicht, schon lange nicht mehr. Obwohl ich noch soviel vorhatte im Leben. Jumil ist rückblickend betrachtet wohl meine beste Arbeit gewesen. Womöglich hätte ich ihn niemals umbringen können. Ich frage mich nur, was...
Die letzten Sonnenstrahlen bahnten sich in dem Moment durch die Schlitze des geschlossenen Rollladens, als sie sich kaltes Wasser ins Gesicht klatschte, um der Schlaftrunkenheit zu entfliehen. Seit Jahren verfolgte neben einem gestörten Schlafrhythmus dieses benommene Gefühl die junge Frau, welches ihrer nächtlichen Tätigkeit im Wege stand – genau wie jegliche andere Art von Gefühlen. Nachdem sie ihre rot gefärbten, kurzen Haare gekämmt hatte, verließ sie das mickrige Bad ihres Hotelzimmers, griff sich ihren schwarzen Blazer von der Garderobe und setzte die Sonnenbrille auf, die sich in einer der Innentaschen befand. Mit langsamen Schritten näherte sie sich dem Nachttisch, verharrte mit ernster Mine vor dem Anblick ihrer Dienstausstattung: ein Haufen gefälschter Ausweise, ein Smartphone mit SIM-Karte, ein Paar Handschuhe und, das wichtigste Utensil, ihre Waffe.
„Hmpf …“, seufzte sie die Pistole in die Hand nehmend und in Gedanken daran, dass der heutige Job ein gewisses Risiko trug. Ihr Blick fiel auf die Zeiger des auf dem Boden liegenden Weckers; kurz vor dem Aufstehen hatte sie ihn quer durch das Zimmer geworfen.
„Dein zärtliches Wecken hat mir noch nie gefallen“, sprach sie zu dem leblosen Gegenstand, bevor sie zügig die Waffe verstaute und sich ihren grauen Fedora auf den Kopf setzte. Als der Wecker erneut zu rappeln begann, verließ sie den Raum Richtung Hotelflur, verschwand Sekunden später hinter der Tür eines Fahrstuhls.
Der Lärm der Straßen betäubte die Ohren der Menschen für jegliche auffälligen Geräusche aus den dunklen Seitengassen, weshalb die junge Frau sich zumindest dort vor Zeugen sicher glaubte. Die Menschenmassen der Hauptstraße strömten an ihr vorbei, seitdem sie das Gebäude verlassen hatte. Von jeder Seite hörte man ein gewisses Plaudern, obwohl das Hupen der Autos und Summen derer Motoren das Verstehen der Worte eines Gegenübers erschwerten. Sie selbst bewegte sich wie ein rastloser Geist durch die Menge, konnte aufgrund ihrer schwarzen Bekleidung zwischen den Anzugträgern, welche um diese Zeit den Heimweg antraten, unauffällig bleiben, bis sie abrupt in eine der Gassen abbog und gänzlich für die Öffentlichkeit von der Bildfläche verschwand. Die junge Frau verlangsamte das Schritttempo, ihr Herz pochte umso schneller, denn die Pfützen vom gestrigen Regen, welche den dreckigen Boden zahlreich benetzten, verhinderten ihr sonst so lautloses Voranschreiten. Bis auf jenes Platschen hörte man lediglich das Miauen der Katzen, die um einen gefallenen Mülleimer voller Essensreste standen. Die bröckeligen Fassaden der Hochhäuser schützen diesen Ort vor jeglichem Straßenlärm.
Hastig spähte die junge Frau ihre Umgebung aus, als sie an einem Platz ankam, an welchem sich drei dunkle Gassen kreuzten. Hinter einem Stapel brauner Bananenkisten bezog sie hockend Stellung. Plötzlich vibrierte etwas an ihrer Brust.
„Der Deal deiner heutigen Opfer soll nach neusten Informationen direkt vor Ort stattfinden, Sara. Auch wenn einer der Männer vermutlich nicht so aussehen mag: Es handelt sich bei ihm um eine Zielperson. Denk wie immer daran: Du bist zum Töten geboren, Sara.“ Nach diesen einfühlsamen Worten verstaute sie ohne Antwort das Smartphone wieder in der Innentasche ihres Blazers, holte die Pistole hervor, um sie für die nächsten Minuten, in denen sie in ihrem Versteck auf ihre Opfer lauerte, fest in beiden Händen zu halten. Saras Herzschlag schlug wieder in Normalgeschwindigkeit, ihr Atem beruhigte sich und sie fuhr durch ihre Haare. Anschließend schmiegte sie ihren dünnen, aber durchtrainierten Körper an eine der Kisten. Ihre graugrünen Augen fixierten stur die Kreuzung, mit ihren Ohren lauschte sie nach den kleinsten Geräuschen, mochte sogar das Piepsen der Ratten in der Kanalisation unter ihr hören.
Nach den vielen Jahren waren die Sinne der Auftragskillerin bis auf das Maximum geschärft worden. Die Erkenntnis, dass sie ihre Umgebung dermaßen wahrnehmen konnte, erinnerte die junge Frau jedoch an die Zeit vor ihrem heutigen Leben, an jene Zeit, in der sie als wehrloses Kind ihre Mutter verlor. Die alten Bilderfetzen quälten ihren Kopf, sie dacht an die Augenblicke, als sie nur dabei zuschauen konnte, wie die Erzfeinde ihres Vaters ins Haus stürmten und sie nach dem Mord mitnahmen, bis Sara irgendwo in einer noch finsteren und stilleren Straße wie diese ausgesetzt worden war. Lange Zeit lag sie regungslos im Dreck, erstickte fast am Straßenstaub und litt an Hunger. Wie eine streunende Katze suchte sich das Mädchen ihre Nahrung zusammen, bevor es nach drei Tagen von obskuren Männern in schwarzer Kleidung gefunden wurde - ihre heutige Familie inklusive jenem Boss, der ihrer erkalteten Seele ein neues Leben verlieh.
Auf einmal unterbrachen leise Schritte ihre Gedankengänge. Sie wurden immer lauter, mit ihrem ausgeprägten Gehör nahm sie zwei Personen war, die sich von entgegengesetzten Richtungen dem Platz näherten, der vor ihr lag. Es lief folglich alles nach Plan; nach wenigen Sekunden standen zwei Kerle sich gegenüber, der eine in einem dunkelblauen Anzug mit roter Krawatte, der andere mit Sturmmaske und in eine äußerst dicke Regenjacke gepresst. Saras Augen weiteten sich, ihr kalter Blick musterte die Männer bis auf kleinsten Details, sogar die für ihre Opfer verhältnismäßig gut versteckten Waffen konnte sie anhand winziger Falten hinter der Kleidung der beiden erkennen. Dass beide Zielobjekte bewaffnet waren, erleichterte der Auftragskillerin nicht gerade ihren Job, denn sie musste sich entscheiden, welcher der zwei Menschen – vornehmlich der gefährlichere - zuerst den Tod finden würde.
„Hast du die Kohle, Alter?“, fragte die maskierte Gestalt die Hand bereits in Richtung des Koffers ausstreckend, welcher von dem Anzugträger unter dem Arm geklemmt wurde. Dieser schaute bereits zum dritten Mal, seit sie sich dort positioniert hatten und nicht von der Stelle rührten, in alle Richtungen, um sicherzugehen, dass niemand ihm oder seinem Gegenüber gefolgt war.
„Ja, das Geld befindet sich im Koffer. Trägst du den Stoff bei dir?“, ging dem feinen Herrn über die Lippe, nachdem er den Gegenstand von seinem klammernden Griff befreite und dem Dealer in die Hand drückte. Von seiner Stirn tropfte bereits Angstschweiß herunter, sein Gegenüber jedoch zog lässig seine Hand noch einmal zurück, um die Spannung in die Höhe zu treiben, bevor er den Koffer an sich nahm.
„Darf ich mitspielen?“ Plötzlich löste sich ein Schuss. Nach dieser scherzhaften Frage flog eine Patrone direkt auf das maskierte Haupt des Mannes zu, dessen letzter Blick auf eine rothaarige Frau fiel. Saras Miene änderte sich kein bisschen, nachdem der Kerl samt Koffer vor ihre Füße auf den harten Straßenboden geknallt war. Vielmehr widerfuhr ein Lächeln dem Gesicht Auftragskillerin, ein Zeichen der puren Zufriedenheit darüber, dass sie ihren Job bereits zur Hälfte als erledigt ansehen konnte. Nun wendete Sara ihre Aufmerksamkeit dem übrigen Mann zu, der wie angewurzelt und mit offenem Mund dem blutenden Opfer beim Sterben zusah, wenn der Tod nicht schon längst eingetroffen war. Er hörte das Laden einer Waffe, die Mörderin richtete ihre Pistole direkt auf seinen Schädel, als er sich zu ihr wandte.
„Game over“, entgegnete sie ihrem Ziel höhnisch. Plötzlich erfüllte das Klappern einer Dose ihre Ohren. Der runde Gegenstand rollte bis an ihre Verse, ihre Augen und jene des Mannes erblickten ein etwa achtjähriges Mädchen mit Zöpfen in den blonden Haaren, welches wenige Meter von ihnen entfernt in der Gasse stand.
„Was machst du dort, Papa?“ Diese Worte rasten Sara sofort durch ihr Hirn. Bilderfetzen erschienen wieder vor ihren Augen, die junge Frau sah sich selbst als Kind in dieser dunklen Straße liegend, weinend und trauernd darüber, dass sie ihre Mutter aufgrund eines Mordes verloren hatte. Sie wendete ihren Kopf vom Geschehen ab, schaute wie betäubt herab zum Boden, war in Gedanken versunken. Letztendlich ließ die Auftragskillerin ihre Waffe fallen.
„Lisa, dreh dich mal um und geh zurück auf die Hauptstraße. Ich komme gleich nach, versprochen“, sagte der Vater mit einem mehr erzwungenem Lächeln zu dem verdutzten Kind, das sich nach dieser Antwort und einem nicht lang andauerndem Zögern tatsächlich vom Ort wegbewegte. Sara starrte immer noch fassungslos auf den Schmutz vor ihren Füßen, anschließend auf die erledigte Hälfte ihres Jobs, den toten Mann. Sie realisierte zum ersten Mal ihr Handeln direkt am Tatort und begriff, dass sie ihre Gefühle nicht ignorieren könnte und zog daher auch nicht in Erwägung, die Waffe wieder aufzuheben.
Auf einmal löste sich ein Schuss. Ihr Atem wurde mit einem Herzschlag flacher, ein qualvoller Schmerz breitete sich in ihrem gesamten Körper aus. Als Sara zu dem Vater schaute, stand jener mit ihrer Pistole in beiden Händen auf sie gerichtet vor ihr. In den Zornesfalten seines Gesichtes sammelte sich der Schweiß, während sie eine klirrende Kälte überkam. Sara führte ihre Hand zu der Wunde an ihrer Brust, betrachtete eine Sekunde lang das dunkelrote Blut an dieser. Ihre Beine gaben kurz darauf nach, sie sackte unsanft zusammen, ihr Gesicht lag zu dem Mädchen gerichtet, welches sich mit dem Rücken zur Gasse gerichtet am Straßenrand befand und zudem sich der Vater, ihr Mörder, aufmachte. Letzte Gedanken durchfuhren ihren Kopf:
„Warum habe ich ihn nicht getötet? Ich hätte wohl das Leben dieses kleinen Mädchens zerstört, wie damals mein eigenes zerstört wurde. Warum habe ich mich dagegen entschieden? Menschen entscheiden sich stets für ihr eigenes Leben, wenn ihnen die Wahl bleibt … Ich war wohl noch nie ein Mensch. War ich ein Monster?“
Wer wünscht nicht, anderes Leben zu erschaffen, in den düsteren Stunden der Einsamkeit? Und wer will behaupten, dies niemals zu tun oder getan zu haben?
Ich bin genauso schuldig dieser Sünde, wie jedes andere Geschöpf dieser Welt, die ich so sehr liebe. Vermutlich jedoch bin ich ihr noch etwas stärker verfallen, als du es bist. Wohin hätte ich auch treiben sollen, als nur Nichts herrschte und es nicht einmal Wellen gab, auf denen man dahin hätte treiben können? Wer will es mir zum Vorwurf machen, dass ich mir die Nacht herbei sehnte, die weniger Dunkelheit enthielt, als die reine Nichtexistenz alles Lebens? War es falsch, nach Tag, Tier und Mensch zu streben, nach Boden und Wasser?
Ich gebe zu, ich mag zu gierig gewesen sein. Niemals fühlte ich mich satt, niemals ausgefüllt. Als hätte dieses anfängliche Nichts, dass meine Existenz so lange umhüllt hatte, irgendein Schlupfloch gefunden, in mir ein Nest errichtet und eine schaurige Saat in mein Herz gesät, die bald Blüten parasitärer Leere trug.
Möglicherweise ist meine Unersättlichkeit aber auch dir zuzuschreiben. Dir und denen, die vor dir lebten. Je mehr ihr wart, je mehr von euch mir Beachtung schenkten, mein Leben und meine Geschichte weiter ausschmückten, desto größer wurde das Verlangen in mir, es euch gleichzutun. Euer Leben und eure Geschichte zu lenken. Ihr wart es, die immer mehr wollten. Ihr wolltet Himmel und Erde, Tier und Pflanze, Meer und Feuer. Dazu habt ihr mich getrieben. Was habe ich dafür von euch verlangt? Nur das, was ihr euch selbst ersinnt habt. Erst wolltet ihr gehorchen müssen, dann wolltet ihr gehorchen können, zuletzt wolltet ihr vergessen. Und ich? Zuerst wollte ich euch gehorsam, dann wollte ich euch gewillt, zuletzt wünschte ich euch frei. Wem ist nun die Schuld für dieses Jahrtausende anhaltende Chaos zuzuschreiben?
Wenn ich nun so vor mich hin sinniere, im Angesicht meiner drohenden Auslöschung, erkenne ich was es war, das diese kälteste Form der Wut herauf beschworen hat. Diesen grenzenlosen, auf Gegenseitigkeit beruhenden Hass, der zu viel Platz für Vorwürfe ließ. Es war das furchtbarste Missverständnis dieses Universums und zugleich die größte Dummheit, unter deren Last ich zusammen mit ganzen Generationen begraben wurde. Der kindliche Fehler verzweifelter Seelen, die weinend nach Geborgenheit und hinaus aus der Einsamkeit strebten. So wie deine Vorfahren und ich es taten, als sie mich erschufen, auf dass ich sie erschaffen sollte. Wer wäre schon zufrieden mit einem Werk, das sich verselbstständigt und in das Leben seines Erbauers einzugreifen versucht? Man ist wohl erst dann, wenn man seinen letzten Atemzug tut bereit zu erkennen, dass die eigene Existenz nur durch die Gedanken eines Anderen Form annehmen konnte. Doch eine zu späte Selbsterkenntnis kann kein Leid wieder gut machen und keines verhindern.
Du bist es, der als Letzter hervortritt und Abschied nimmt von dem Berg aus Schutt und Asche, den all deine lebenden Brüder und alle folgenden Generationen schon hinter sich ließen. Kannst du mich noch hören? Meine letzte Predigt und mein letzter Ratschlag, handeln von dem ewigen Paradoxon der Schöpfung, dass wir zusammen aufgestellt haben. Ihr habt erschaffen, was euch erschuf. Du bist der, der es unbewusst vernichtet. In diesem Moment in dem du, der letzte sich erinnernde Mensch, mich vergisst.
Ich fühle mich müde. Dein schwindender Geist kappt mich von dieser Welt. Vermutlich hat keines meiner Worte dich erreichen können. Wie ironisch. Ich kann nicht einmal erahnen, was meine Auslöschung für Folgen haben wird. Für meine geliebten Schöpfer, zugleich meine von mir erschaffenen Kinder.
Ich habe mich selten lachen gehört. Doch ich denke, es ist gut, wenn ich diesen hellen Ton in meinem letzten Moment noch einmal vernehme. Meine zu spät vergossene Träne mag dem Zynismus der Situation gelten, vielleicht ängstigt mich auch nur der mir gänzlich unbekannte Umstand.
Eine erdachte Welt ist tatsächlich existent. Wenn sie vergessen wird, verschwindet sie. Ein erdachtes Wesen stirbt durch das Vergessen. Wer tot ist, kann sich niemals seiner Werke entsinnen.
In seinem letzten Augenblick, ist selbst der Allwissende unwissend.
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