In my mind's eye
Wir reden nicht viel.
Okay, es ist eine Untertreibung. Wir reden eigentlich gar nicht.
Seit einer gefühlten Ewigkeit gehen wir einfach den Glasweg entlang. Nicholas ist immer ein paar Schritte vor mir, geht stur geradeaus, auf die Dunkelheit zu, die in der Ferne den Weg verschluckt. Er dreht sich nicht zu mir um, es scheint ihn nicht zu interessieren, ob ich mithalte oder nicht.
Nichts um ihn herum lenkt ihn ab.
Mich dagegen schon. Mit jedem Schritt tauchen neue Sterne im Abendhimmel auf, leuchten bunt und hell. Zwischendurch tauchen Sternschnuppen auf, die wie Pfeile durch das dunkle Blau streifen und dann verschwinden.
Am liebsten würde ich Nicholas fragen, warum der Korridor aussieht, wie er aussieht. Aber ich gewöhne mir gerade an die Stille und ich habe keine Lust, das fragwürdige Interesse, das er an mir hat, noch neu zu entfachen.
Eigentlich bin ich ganz froh, dass er vor geht. So sieht er nicht, wie angestrengt ich bin. Seit diesem Erdbeben merke ich, wie alle Kraft aus meinem Körper weicht. Ich fühle mich, als würde man mir das Blut aus den Adern saugen, es schmerzt nicht wirklich, es ist eher wie ein… Ziehen. Ein Ziehen an jedem Zentimeter meiner Haut. Als würde die Luft mich auseinanderreißen wollen.
Der Gedanke ist grässlich. Ich verschränke meine Arme vor der Brust und gehe ein paar Schritte schneller, bis ich nur noch einen halben Meter von Nicholas entfernt bin.
Ich blende meinen eigenen, rasselnden Atem aus, der stoßweise und schon fast hektisch ist. Ich zittere als würde ich frieren, aber eigentlich spüre ich gar nichts, weder Kälte noch Hitze. Kein Wind, keine Geräusche, die Gegend ist schlichtweg leer. Je mehr ich darauf achte, desto unheimlicher wird der Korridor mir.
Ein Ort, wo nichts ist, der dir aber nach und nach die Energie raubt… Hört sich vermutlich nicht schön an. Ist es auch nicht.
Irgendwann merke ich, dass dieser Korridor nicht nur mir etwas ausmacht. Es dauert eine ganze Weile- oder vielleicht auch nur ein paar Sekunden, hier wird einem das Zeitgefühl regelreicht eingestampft- bis ich merke, dass Nicholas genauso schwer atmet wie ich. Ich starre seinen Hinterkopf an und konzentriere mich auf die schweren Atemzüge, die seinen ganzen Körper zum Beben bringen.
„Ist das normal?“, keuche ich und erschrecke mich dabei vor mir selbst. Meine Stimme ist krächzig und trocken, als hätte ich schon seit Jahren nicht mehr gesprochen. Ich greife mir an die Kehle und räuspere mich, aber die Trockenheit bringt sie zum Brennen.
Nicholas nickt.
„Zu zweit“, meint er und holt einmal tief Luft. „Ist es besonders schwer. Aber auch, wenn man alleine ist, wird man schnell müde. Wir nutzen vielleicht mehr von unserem Gehirn… Aber unsere Energiereserven sind genauso beschränkt wie die der anderen Menschen.“
„Und ihr macht das jede Nacht mit?“
Langsam aber sicher frage ich mich, ob es mir das wirklich wert ist. Klar, die Albträume sind keine schöne Sache, aber es ist ja auch nicht so, als ob ich dauernd nur die schrecklichen Ausflüge erleben darf. Zwischendurch sind auch ein paar schöne dabei, nicht so häufig wie man sich so vorstellt, aber schon mit einer gewissen Regelmäßigkeit.
„Normalerwiese bleiben wir nicht so lange im Korridor“, schnauft Nicholas und streicht sich durch die Haare. Er dreht sich kurz zu mir herum und ich sehe, dass ihm Schweiß auf der Stirn steht.
„Aber der Raum, in dem wir liegen, blockiert unsere Fähigkeiten.“
„Wie jetzt?“, frage ich etwas verwirrt. Meine Beine sind so unglaublich schwer. Ich würde am liebsten einfach stehen bleiben und mich hinsetzen, aber ich weiß, dass er das nicht zulassen wird. Also zwinge ich meinen schmerzenden Körper dazu, sich weiter zu quälen.
„Der weiße Raum“, setzt Nicholas an. Weiter kommt er aber nicht. Als wäre er ein kleines Kind, das gerade erst Laufen lernt, setzt er seine Füße völlig falsch vor sich, schwankt hin und her. Ich sehe genau, wie er mit den Augen rollt und wie seine Finger zittern.
Aus einem Reflex heraus packe ich ihn an den Schultern und stemme ihn irgendwie wieder auf die Beine. Wie ich das schaffe? Keine Ahnung. Plötzlicher Adrenalinkick vielleicht?
Ob ihr es mir glaubt oder nicht, ich war nicht scharf darauf, dass er den Glasweg herunterfällt. Er war nämlich mit einer beachtlichen Zielstrebigkeit genau auf den Rand zugetorkelt.
„Alles okay?“, pruste ich und versuche mit zitternden Knien mein Gewicht so zu verlagern, dass Nicholas nicht wieder umkippt. Er nickt etwas zittrig, schüttelt dann den Kopf als könnte er damit die Müdigkeit einfach abschütteln und stellt sich wieder gerade hin.
„Der weiße Raum“, beginnt er wieder, als wäre nichts geschehen. „Der ist eine Spezialanfertigung. Das Material in den Wänden blockiert unsere Gehirnströme. Wir können also nur in die Träume schlüpfen, die innerhalb dieses Raumes sind. Deswegen gibt es auch keine Türen“ Er nickte zum Glasweg. „Weil es keine Träume gibt. Normalerweise dauert es nicht so lange, vielleicht gibt es ein Problem mit dem BOIA.“
„BOIA?“ Was war das denn bitte? Der… Buchsbaum-ohne-Igel-Abteil?
Fragt nicht. Ich habe keine Ahnung, wie ich da jetzt drauf komme, glaubt mir.
„Die Maschine, an die wir angeschlossen wurden“, murmelt Nicholas und stampf einmal auf dem Glasweg auf, als könnte er damit die Tür auftauchen lassen. Klappt natürlich ganz wunderbar… gar nicht.
„Die soll uns also in einen Traum schicken?“
„Nein, sie simuliert einen Traum“, erklärt er weiter. „Und er unterstützt deine Gehirnströme. Alleine kannst du noch nicht in den Korridor.“
„Schon klar“, grummele ich und sehe mich etwas um. „Habe gerade auch kein wirkliches Bedürfnis, das zu können. Ich bin auch so schon ganz gut zurecht gekommen.“
Nicholas öffnet den Mund um etwas zu sagen, aber bevor er etwas sagt, entscheidet er sich offenbar dagegen.
Ich hole einmal tief Luft und lasse mich auf den Weg plumpsen. Irgendwie schaffe ich es, meine Arme dazu zu bewegen, meine Waden zu massieren, die unangenehm prickeln, sobald sie in den Ruhemodus verfallen.
„Wir können also nur hier warten“, fasse ich zusammen. Nicholas ächzt ein wenig, als er sich neben mich setzt. Er legt sich sogar gleich hin und verschränkt die Arme hinter dem Kopf. Als er die Augen schließt blinzele ich verwirrt.
„Willst du hier etwa schlafen?“
„Ausruhen“, murmelte er. „Viel mehr können wir wirklich nicht machen. Und wir werden es schon merken, wenn etwas passiert.“
„Ja, aber“, beginne ich, klappe aber meinen Mund sofort wieder zu. Im Grunde hat er Recht. Ich meine, er muss Recht haben. Nicholas macht das schon sein ganzes Leben. Und so sehr es mir auch widerstrebt ihm die Führung zu überlassen… Es bleibt mir nichts anderes übrig. Und mein Körper zeigt mir mehr als deutlich, dass er mir da zustimmt.
Also strenge ich meine Bauchmuskeln etwas an und lasse meinen Oberkörper so sanft wie möglich auf den Boden gleiten.
Wir schweigen eine ganze Weile. Das einzige, was ich höre, ist ein regelmäßiges Klopfen meiner Finger auf dem Glasweg. Nicholas scheint es nicht weiter zu stören, sein Fuß bewegt sich im gleichen Takt.
Jetzt, wo er die Augen geschlossen hat, kommt er mir gar nicht mehr so bedrohlich vor. Eher wie ein relativ normaler Junge. Seine Haare sind etwas heller als die von Benjamin, ein schönes Goldbraun, das ihm in leicht wirren Strähnen im Gesicht hängt. Er macht sich scheinbar kaum etwas daraus, sie zu stylen. Das Gleiche zeigt mir seine Kleidung. Er trägt ein einfaches, graues Shirt mit einem Logo auf der Brust, das ich nicht kenne, und Jeans, die etwas ausgewaschen aussehen. Ob gewollt oder nicht weiß ich nicht.
Eigentlich ist er ein völlig normaler Junge. Einer, den man nicht einmal beachten würde. Er ist vollkommen unauffällig. Aber warum genau sticht er dann trotzdem jedes Mal aus der Menge hervor? Merkt man ihm seine Fähigkeiten etwa doch irgendwie an?
Und wenn ja, ist das bei mir genauso?
Damals, als ich klein war, bin ich mit dieser ganzen Sache nicht gut zurecht gekommen. Es hat mich fertig gemacht, dauernd müde zu sein. Und diese ständigen Therapien haben auch nicht angeschlagen. Ich war ein ruhiges Kind, und trotzdem haben die Lehrer mich ständig angeschaut. Als würde ich ein riesiges, leuchtendes Schild über mir halten, auf dem steht, dass ich jeden Augenblick Ärger mache.
Irgendwann habe ich tatsächlich angefangen Ärger zu machen, weil sie mich ja ohnehin immer so merkwürdig angestarrt haben. Warum dann also nicht auch ihren Erwartungen entsprechen? Es war einfacher, es zu akzeptieren, wenn man wirklich Blödsinn machte. Weil ich dann das Gefühl hatte, dass ihre Blicke nur daher rührten, dass ich eine kleine Göre war. Auch wenn ich es eigentlich besser wusste.
Ist das vielleicht auch der Grund, warum Nicholas mir so unheimlich ist? Weil ich von Anfang an gemerkt habe, dass er etwas an sich hat, etwas, das nicht normal ist? Bin ich plötzlich wie einer meiner Lehrer geworden?
Ich starre weiter in den Himmel und versuche krampfhaft den Gedanken loszuwerden. Niemals bin ich das, immerhin habe ich meine Lehrer nicht angestarrte, als würde ich sie sezieren wollen. Da ist etwas Vorsicht und vielleicht auch ein Funke… Angst durchaus gerechtfertigt. Denke ich.
„Was ist eigentlich“, murmele ich irgendwann. „Wenn dieses BOIA Ding niemals anspringt?“
Nicholas antwortet nicht. Ich richte mich auf- Himmel, wenn ich gewusst hätte, das meine Bauchmuskulatur mich dafür ziemlich bestraft, hätte ich das wohl nicht getan- und versuche irgendwie einen Blick auf sein Gesicht zu erhaschen. Er hat die Augen immer noch geschlossen und sein Atem geht jetzt etwas regelmäßiger. Ist er etwa tatsächlich eingeschlafen?
Ich meine, geht das? Einschlafen in einem Traum?
Obwohl, ist das hier überhaupt ein Traum? Ich meine, vom Korridor aus kommen Traumschläfer doch erst in die Träume hinein. Das heißt, eigentlich müsste es also eine Art Zwischenstufe sein. Und die ist offenbar noch so nah an der Realität dran, dass man her schlafen kann. Ich runzele die Stirn und reibe mir die Schläfen. Gott, kann ich nicht einfach wieder… aufwachen? Ist das überhaupt der richtige Ausdruck?
Wenn das so weitergeht verknotet sich mein Gehirn noch mit sich selbst. Da nützen mir auch meine besser ausgeprägten Gehirnwindungen nichts…
„Ich weiß es nicht“
Ich zucke etwas zusammen, als Nicholas sich dann doch entscheidet zu antworten. Er schaut mich aus dem Augenwinkel an und blinzelt nicht mal.
„Sowas ist bisher nicht passiert.“
„Na wundervoll“, stöhne ich. Ich schaffe es nicht, mich von seinem Blick loszueisen. Seine Augen sind ziemlich hübsch… Und ich hasse mich dafür, dass ich das gerade wirklich gedacht habe. Es gibt anderes, worüber ich mir Gedanken machen sollte. Und ich denke daran, dass seine Augen.. hübsch sind. Ja, Lana. Du bist wirklich tief gesunken.
Ich schiebe es einfach auf die Müdigkeit. Ja, alles dieser Korridor schuld, ganz bestimmt.
„Ich bin also das erste Mal in diesem Korridor und komme vermutlich niemals wieder heraus“, fasse ich einigermaßen nüchtern zusammen. „Ein wundervolles Erlebnis. Ihr bekommt fünf Sterne in Sachen Verlässlichkeit.“
Nicholas hebt nur eine Augenbraue. Ich weiß nicht, ob er den Sarkasmus einfach nur nicht hört oder nicht darauf eingehen möchte. Ich tippe eher auf Letzteres und öffne gerade meinen Mund für einen patzigen und möglichst provozierenden Kommentar, da wackelt mit einem Male schon wieder der gesamte Boden.
Die Glasstraße klirrt, als würde eine ganze Hochzeitsgemeinschaft gleichzeitig einen Toast aussprechen wollen, und die Sterne am Himmel verschwimmen zu undeutlichen, hellen Schemen. Ich versuche, meine Finger irgendwo festzukrallen, aber stattdessen schlittere ich über das Glas, als der Weg anfängt zu schwanken. Ich stoße einen leichten Schrei aus, als ich immer weiter Richtung Abhang rutsche.
Meine Füße baumeln schon im Leeren, als mich etwas an Arm greift und zurückzieht. Ich schlittere zurück auf den Weg, bis ich in etwas hinein knalle.
„Festhalten“, befiehlt Nicholas mir und ohne zu zögern kralle ich mich an seinem Shirt fest. Er hat sich auf dem Glasweg breit gemacht und irgendwie scheint das zu funktionieren, denn er rührt sich keinen Zentimeter, obwohl mit mir jetzt zusätzliches Gewicht an ihm hängt.
„Was ist das?“, kreische ich etwas perplex, doch bevor er antworten kann, stöhnt er und verdreht sie Augen als stände er kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren. Ich will fragen, was los ist, aber da erfasst die Dunkelheit mich schon. Für einen Moment höre ich nur Rauschen und alles bewegt sich in Zeitlupe. Ich spüre nur noch ein Kribbeln, das meinen ganzen Körper durchfährt, die Umgebung wird seltsam verschwommen. Schmerz pocht durch meine Adern.
Und dann ist es wieder vorbei.
Heftig atmend liegen wir am Boden.
„Was zum“, stoße ich hervor, werde aber von einem Keuchen unterbrochen. Ich merke, wir mir etwas die Kehle hochkriecht und presse verzweifelt den Mund zusammen. Meine Sicht ist immer noch etwas eingeschränkt und mein ganzer Körper bebt nach.
„Der BOIA ist aktiviert“, informiert Nicholas mich. Er sieht allerdings auch nicht gerade topfit aus. Sein Gesicht ist leicht grünlich- ich zweifele nicht daran, dass ich genauso schlimm aussehen- und seine Arme zittern, als er versuchte sich aufzurichten, den Blick auf einen Punkt in der Ferne gerichtet. Als ich in die gleiche Richtung blicke, sehe ich einen weißen Umriss, der direkt neben dem Glasweg in der Luft schwebt. Als meine Sicht wieder etwas schärfer wird, erkenne ich, dass es eine Tür ist.
„Komm schon“, richtet er sich an mich, die Blick weiter auf die Türe geheftet. „Je schneller wir hier wegkommen…“
„Desto besser?“, rate ich. Erst, als er sein Gesicht wieder zu mir wendet merke ich, dass ich mich immer noch in seinem Shirt verkralle. Für einen Moment starren wir uns einfach nur an.
Und, oh Gott, ich gebe es zu. Seine Augen sind hübsch. Das meine ich nicht einmal als Scherz. Sie sind einfach außergewöhnlich. Rund um die Pupille haselnuss brauch und außen mossgrün. Einfach… Hübsch.
Trotzdem ist dieser Gedanke so unglaublich klischeehaft, dass er schrecklich peinlich ist und ich dachte, so eine Peinlichkeit würde mir nur in Benjamins Gegenwart passieren- was übrigens auch unglaublich klischeehaft ist, aber egal- und genau deswegen hasse ich mich dafür, dass ich das hier denke.
Aber er hat auch etwas Gutes an sich, denn dieser Gedanke bringt mich dazu, ihn endlich loszulassen und unter Stöhnen irgendwie wieder hochzukommen. Ein Kunststück, wenn man bedenkt, dass mein Gleichgewicht noch immer im Eimer ist. Schwankend stehe ich auf der Glasstraße und schaue mich unsicher um, das Gewicht so verteilt, dass ich nicht sofort wieder umkippe, selbst wenn es plötzlich wieder zu beben anfängt.
Als Nicholas an mir vorbeirauscht, folge ich ihm eilig. Er hält zielstrebig auf die Türe zu und mit einem Male scheint seine Müdigkeit wie weggeblasen. Als hätte ihm dieses Beben wieder mehr Kraft verliehen. Vielleicht ist er aber auch einfach nur froh darüber, dass irgendetwas passiert. So geht es mir nämlich. Dass diese Tür aufgetaucht ist, ist für mich ein schönerer Moment als der von letzten Mittwoch, wo uns mitgeteilt wurde, dass unser Coach den Sportunterricht ausfallen lassen muss. Und das heißt wirklich viel.
Vor der Tür bleibt Nicholas stehen und wartet auf mich. Er starrt das weiße Holz an, das mitten in der Luft schwebt, genau vor der Glasstraße.
„Und… wie funktioniert das jetzt?“, frage ich ihn etwas unsicher.
„Du öffnest die Türe.“
„Das ist mir bewusst.“
„Und dann gehst du hindurch.“
„Ja, so funktionieren Türen im Normalfall.“
„Warum fragst du dann?“ Er schaut mich mit hochgezogener Augenbraue an. Aber wieder sehe ich weniger Spott darin als pure Neugierde. Vielleicht hat Loreen ja recht und er macht mich zu seinem Forschungsprojekt. „Ich bringe einer dummen Nuss bei, wie man eine Türe benutzt“ hört sich doch sehr vielversprechend an. Und ein gutes Sozialprojekt ist es wohl auch.
„Schon okay“, murmele ich und strecke meine Hand nach dem großen Messingknauf aus. Er fühlt sich kalt an, als ich ihn berühre, eine Gänsehaut schleicht sich über meine Arme herauf und breitet sich auf meinem gesamten Körper aus. Ich habe schon fast wieder vergessen, wie seltsam temperaturlos es hier ist.
Ich schaue aus dem Augenwinkel zu Nicholas herüber, der mir mit einem Nicken bedeutet, endlich die Tür zu öffnen. Er hat die Arme vor der Brust verschränkt und klopft mit seinen Fingern auf ihnen herum.
Als ich das weiß gestrichene Holz der Türe betrachte habe ich das Gefühl, dass mir jemand einen Stein in den Bauch gelegt hat. Wie bei „Der Wolf und die sieben Geißlein“. Als hätte man mir meinen Körper aufgeschlitzt und die Zwischenräume mit Steinen gefüllt. Es schmerzt und es zieht mich herunter, meine Finger fangen an zu zittern. Und ich beiße mir schon wieder auf der Unterlippe herum.
Das geht so einfach nicht. Ich habe regelrechte Panik, weil ich nicht weiß, was mich erwartet. Ich habe einfach keine Kontrolle darüber, was gleich passiert und ich habe Angst, dass-
„Ganz ruhig.“ Nicholas legt seine Finger über meine. Ich spüre, wie warm sie sind, aber auch wie sehr sie zittern. Aber bei ihm ist es nur die Anstrengung. Bei mir ist es die schiere Panik. Ich fühle mich wieder wie ein kleines Kind, das einfach nicht begreifen kann, warum es diese Fähigkeit hat und das denkt, dass es sie loswird, indem es weint. Das klappt nicht. Das hat nie geklappt und das wird nie klappen.
Ich muss kämpfen. Jeder muss kämpfen. Aber ich würde lieber laufen.
„Es ist okay. Am Anfang ist es immer schwer.“
Ich weiß nicht genau, warum mich das motivieren sollte. Es ist ein Standartsatz unter Lehrern, Trainern, Eltern. Jeder sagt dir so etwas, um dich zu beruhigen.
Aber bei Nicholas merke ich, dass er es ernst meint.
Nein, ich weiß einfach, dass er so etwas nicht sagen würde, wenn es nicht wahr wäre. Ich mag ihn nicht gut kennen, aber… So ein Mensch ist er einfach nicht. Er hat die Sozialkompetenz eines Toastbrotes und deswegen würde er vermutlich niemals so weit gehen, für jemand anderen zu lügen, um ihm ein besseres Gefühl zu geben.
Er spüre seine Hand auf meiner Schulter, und die andere, die auf meiner liegt und den Knauf umfasst.
„Bereit?“, fragt er mich.
Ich zwinge mich irgendwie dazu, möglichst tapfer zu nicken. Und in einer kleinen Pause meiner Panik schaffe ich es auch, den Türknauf zu drehen. Die Scharniere quietschen, als die Holztür aufschwingt und gleißendes Licht mich blendet.
Eine Tür zu durchschreiten ist nicht viel anders, als ein in einem normalen Traum aufzuwachen. Man ist für eine Weile bewegungslos und spürt nichts. Schritt für Schritt kommt das alles dann zurück.
Dieser Traum ist allerdings etwas anderes.
Hier spürt man absolut nichts.
„Mach die Augen auf“, meint Nicholas.
Kann ich das etwa schon? Normalerweise zeigt mir ein Kribbeln doch ganz deutlich, dass ich jetzt wieder einsatzfähig bin. Aber gerade merke ich nichts. Probeweise wackele ich mit den Fingern. Ich spüre an ihnen selbst nichts, aber ich merke, dass ich sie bewege. Es ist komisch zu beschreiben, aber es funktioniert. Also wage ich mich etwas weiter. Ich hebe einen Arm, dann ein Bein.
Und als ich einmal tief durchatme, wage ich es auch, meine Augen zu öffnen.
Für einen Augenblick habe ich das Gefühl, dass ich einfach wieder aufgewacht bin. Dass ich wieder in diesem weißen Raum bin, denn etwas anderes sehe ich nicht. Nur Weiß, überall Weiß. Der Boden ist weiß, die Umgebung ist weiß, Ich kann nicht einmal genau sehen, wo Boden aufhört und Decke beginnt. Wenn es überhaupt eine Decke gibt. Ich kann nur einen leichten Schimmer über dem Weiß unter mir erkennen, an dem ich sehe, dass es doch so etwas wie eine Abgrenzung gibt.
Nicholas läuft plötzlich an mir vorbei. Er sieht wieder etwas besser aus, auch wenn seine Augenringe durch die weiße Umgebung noch sehr viel mehr hervorstechen, aber ich bin von mir daran gewöhnt, so etwas zu sehen, von daher fällt es mir kaum mehr auf.
„Willkommen im BOIA“, raunt er mir zu, die Hände in den Hosentaschen, mit dem Blick durch den gesamten Raum schweifend.
„Das hier ist also… Ein Traum?“, frage ich etwas fassungslos.
„Eine Simulation“, antwortet er. „Jeder Mensch träumt von einer Sache, die er erlebt hat. So einen Traum wird es niemals geben. Weil er von einer Maschine produziert ist.“
„Okaaay“, murmele ich. „Und was genau bringt mir das dann?“
„Damit kannst du deine Fähigkeiten trainieren.“
„Indem ich hier… was genau tue?“
Nicholas antwortet nicht. Nein, stattdessen dreht er sich um und geht ein paar Schritte weiter. Ich will ihm gerade folgen, da sehe ich erst, dass etwas anders ist.
Überall dort, wo er seine Füße hinsetzt, färbt sich der Untergrund schwarz. Nein, nicht ganz schwarz. Es ist mehr so, als würde sich der Boden in Stein verwandeln. Ich kann die feinen Risse daran sehen, als wäre dort plötzlich Marmor. Er glänzt und hat diese typische Maserung.
Nicholas dreht sich zu mir um und ich bin mir sicher, einen Funken Selbstzufriedenheit in seinen Augen zu sehen.
„Du lernst, wie du Träume nach deinem Willen verändern kannst“, sagt er irgendwann. Der Marmor wird langsam von dem weißen Untergrund verschluckt. Es sieht aus wie eines dieser Zeitraffervideos, das zeigt, wie die Natur sich über die Städte hermacht und sie wieder einnimmt.
„Bei echten Träumen ist das schwieriger, weil die Träumenden sich dagegen sträuben, einem die Kontrolle zu überlassen. Da braucht es Übung.“ Nicholas schlendert auf mich zu und stellt sich neben mich, beobachtet mich aus dem Augenwinkel. „Hier gibt es aber niemanden, der den Traum steuert.“
Ich stemme die Arme in die Hüfte und schaue auf den Boden. Klar, es wäre schon cool, wenn ich ab sofort nicht mehr vor den Schauergestalten oder wild gewordenen NPCs wegrennen müsste, aber… Irgendwie habe ich das Gefühl, dass das längst nicht so einfach ist, wie es bei Nicholas aussieht.
„Mach für den Anfang die Augen zu“, weist er mich an.
Ich bin froh, dass ich nach so vielem Weiß endlich mal wieder etwas Dunkelheit für mich habe. Blöd nur, dass mir die dazu gehörige Entspannung und Stille nicht gegeben ist.
„Stell dir einfach etwas vor. Etwas Kleines für den Anfang.“
„Gib mir doch etwas vor. Ich weiß gerade wirklich nicht, was ich nehmen könnte“, entgegne ich und beiße mir auf die Unterlippe.
„Es muss aber von dir selbst kommen.“
Ich stöhne frustriert und ich höre Nicholas seufzen. Schritte kommen näher und als er mir eine Hand auf die Schulter legt, zucke ich zurück.
„Ich kann das nicht“, grummele ich.
„Du hast es noch gar nicht richtig versucht“, behauptet er, was aber eine glatte Lüge ist. Ich habe es versucht, wirklich. Ich habe meine Ansprüche sogar auf einen kleinen Schraubschlüssel heruntergeschraubt, was beachtlich ist, wenn man bedenkt, dass ich mit einem Baum angefangen habe. Aber egal was ich mache, es passiert einfach nichts. Ich könnte mich vermutlich auf den Kopf stellen- nein, das habe ich nicht ausprobiert, ich gehe einfach davon aus- und es würde nicht funktionieren. Nicholas wird auch schon ungeduldig und das macht die Sache auch nicht besser, denn man merkt ihm einfach an, wie genervt er langsam ist. Und wenn ich genervt sage, dann meine ich auch genervt. Ich bin bisher davon ausgegangen, dass er nicht genervter sein kann als an dem Tag, an dem er an unsere Schule gekommen ist, um Holly und mich abzuholen, aber nein, da habe ich mich kräftig geschnitten. Ich merke, dass er um mich herum geht und dass er immer mal wieder seufzt, auch wenn er sich dazu zwingt, es nicht so offensichtlich zu machen.
Was kann ich denn bitte dafür? Gar nichts. Wenn ich etwas nicht kann, dann kann ich es nicht, Punkt!
„Das hat keinen Zweck“, maule ich deutlich lauter als ich eigentlich wollte. Ich öffne die Augen und verschränke die Arme vor der Brust, stolpere aber sofort ein paar Schritte rückwärts, als ich merke, dass Nicholas direkt vor mir steht und mir einen deutlich genervten Blick zuwirft. Ein Blick der Sorte „Reiß dich zusammen, verdammt, andere haben das auch geschafft“.
„Was denn?“, frage ich etwas erstickt, als er mich weiterhin mit seinen Blicken durchlöchert. Und genau da fängt es wieder an, unangenehm zu werden. Bis jetzt hatte ich keine Probleme, mit ihm zu sprechen. Weil er aufgehört hat, mich anzustarren. Aber jetzt geht es wieder von vorne los. Und diesmal ist es schlimmer als vorher.
Denn jetzt merke ich ganz genau, dass sein Interesse langsam einer zunehmenden Aggression weicht. Er starrt mich einfach in Grund und Boden und ich kann nicht anders, als die Schultern anzuziehen und zu versuchen, irgendwie seinem Blick auszuweichen.
„Vielleicht bin ich einfach nicht dazu gemacht“, murmele ich und kratze mich am Arm. Es tut nicht mal weh, also mache ich weiter, bis ich sehe, wie tiefe, rote Striemen darauf erscheinen. „Diese Gene sind bei mir nicht so ausgeprägt wie bei euch.“
„Du bist eine Traumfängerin“, sagt Nicholas. „Du hast die Veranlagung, also kannst du das hier auch. Du weigerst dich ganz einfach, es zu probieren.“
„Tu ich nicht!“, widerspreche ich und merke selbst, wie sehr ich einem kleinen, bockigen Kind ähnele. Ich verschränke aus Reflex sogar die Arme vor der Brust. Gott, Lana. Daran musst du wirklich arbeiten. So wird dich niemals jemand ernst nehmen…
„Dann versuch es noch einmal“, weist Nicholas mich an und ich merke, wie sehr er sich zurückhalten muss, nicht zu lauter zu werden.
Ich stöhne und werfe die Hände in die Höhe. Er schaut mich an, als wolle er mir am liebsten an die Kehle springen, da ich aber nicht vorhabe, seine Toleranzgrenze auszutesten, presse ich die Lieder zusammen.
„Versuch es mit etwas, was du gerne sehen würdest.“
Etwas, was ich gerne sehen würde? Mein Bett vermutlich, aber das kann ich schlecht herzaubern, könnte einen falschen Eindruck erwecken und das Letzte, was ich jetzt brauche, ich eine noch angespanntere Situation, als sie ohnehin ist.
Denk, Lana, denk. Etwas, was du magst. Meine Freunde, klar. Aber das dürfte für den Anfang vielleicht etwas zu viel sein.
Denk an dein Zimmer. An etwas Kleines, was dich jetzt glücklich machen würde.
Dads Bild. Das würde mich jetzt vielleicht etwas aufmuntern. Dad hat es immer irgendwie geschafft, mich zum Lachen zu bringen. Aber ich weiß nicht, ob mir das jetzt etwas nützen würde. Aber auf dem Schrank kann ich bleiben. Was liegt sonst noch darauf herum?
Eine Bürste- langweilig-, ein paar Haargummis… Die Vase mit den frischen Veilchen. Blumen. Ja, Blumen könnte ich jetzt gut gebrauchen. Dieser Ort ist viel zu weiß. Und Blumen fand ich schon immer schön.
Gut, eine einzelne. Eine kleine Pflanze. Das bekommen selbst meine verknoteten Gehirnwindungen noch hin. Hoffe ich zumindest.
„Okay“, murmele ich und hole einmal tief Luft.
„Stell dir vor, was passieren soll.“
Ich nicke und runzele die Stirn.
Wie soll die Blume hier erscheinen? Am besten wächst sie.
Ich lasse vor meinen Augen den weißen Boden erscheinen. Er bricht langsam auf, wie ein Spiegel ziehen sich Risse durch ihn hindurch. Splitter lösen sich ab und versinken in der saftigen, braunen Erde, die darunter erscheint. Ich stelle mir vor, wie ein kleiner Erdhaufen sich hochwölbt und wie sich die Pflanze darunter langsam ausbreitet, wie etwas Lebendiges, das seinen Weg zur Sonne sucht.
Grüne Wurzeln schlängeln sich aus der Erde heraus und graben sich wieder in sie herein, aus der Kuppel fräst sich ein Stängel, leicht gewunden. Er wächst in die Höhe, einen Meter, zwei Meter. Denk groß, Lana! Blätter lösen sich und wiegen in der Umgebung, werfen einen Schatten auf mein Gesicht. Hoch oben am Stängel wächst langsam eine Knospe, sie wird größer und größer, schwillt an als wolle sie bald explodieren. Das Grüne geht verloren, saftiges Rot dringt durch die dünne Schicht hindurch.
Und dann lasse ich sie aufspringen.
Die Blütenblätter klappen auseinander, leicht in Falten geworfen wie die Flügel eines frisch geschlüpften Schmetterlings. Langsam breitet sie sich aus, nur die innerste Knospe bleibt erhalten. Ich stelle mir vor, wie die Blütenblätter leicht im Wind treiben. Ja, so eine Blume würde ich jetzt gerne sehen.
Ich genieße noch etwas die Sicht meiner imaginären Blume. Wenn ich die Augen jetzt öffne, was wird dann wohl passieren? Sie wird nicht da sein. Es hat sich nicht anders angefühlt, als vorher. Es wäre aber schön, wenn es endlich klappt. Ich kann den Duft der Blumen schon fast in meinen Lungen spüren.
Moment mal.
Ich nehme einen tieferen Atemzug, diesmal durch die Nase. Das kann nicht sein.
Als ich meine Augenlider wieder aufreiße stehe ich im Schatten. Ich brauche etwas um die Lichtblitze, die mir meine Sicht vernebeln, wegzublinzeln. Aber ich sehe den Schatten und ich weiß ganz genau, wer ihn wirft. Weil ich mir vorgestellt habe, dass sie es tut.
Vor mir ragt eine rosenähnliche Blume in die Luft, hoch in das Weiß hinein. Das leuchtende Rot hebt sich vom Hintergrund ab. Und es ist das schönste Rot, was ich bisher habe sehen dürften. Kann aber auch einfach sein, dass ich froh darüber bin, dass es endlich funktioniert hat.
„Na also“, kommentiert Nicholas. Er stellt sich neben mich und schaut ebenfalls zum Blumenkopf hoch, der leicht hin und her wiegt. „Und gleich so groß.“
„Wenn schon, denn schon“, murmele ich noch etwas durch den Wind. Dieses riesige Ding habe ich einfach so aus dem Nichts entstehen lassen? Vielleicht sind meine Gehirnwindungen doch noch nicht ganz so verdreht, wie ich dachte.
Ich muss etwas grinsen. Ha! Es klappt also doch! Da will noch einmal jemand behaupten, dass ich-
„Weiter“, reißt Nicholas mich aus meinen Gedanken. „Bring noch etwas hier her.“
Und da ist das Grinsen auch schon wieder verschwunden.
Dieser Kerl weiß echt, wie man einem die Stimmung verderben kann…
Drei Buchsbäume, vier Schraubenmuttern, ein Fernseher, zwei massive Backsteinmauern, ein schwarzer Kleinwagen und ein weißes Kaninchen mit regenbogenfarbenem Schwanz- fragt nicht. Er sagte, ich soll mal etwas versuchen, was es eigentlich nicht gibt und das erste, das mir einfiel, was eben ein Kaninchen- später bin ich vollkommen ausgelaugt.
Ich sinke auf die Mauer und beobachte meinen Nager, wie er an den Wurzeln meiner übergroßen Blume knabbert. Seine Ohren färben sich langsam bunt, als ich ihn lange genug mustere und mir in meinem Kopf ausmale, wie das wohl aussehen könnte.
„Sehr gut“, lobt Nicholas mich und setzt sich neben mir auf die Backsteine.
„Langsam krieg ich den Dreh raus“, lächele ich matt und massiere mir dabei die schmerzenden Schläfen. „Ist das immer so anstrengend?“
„Man gewöhnt sich daran“, antwortet er und gähnt. Er sieht auch ziemlich ausgelaugt aus, obwohl er nichts getan hat. „Aber du wirst auch außerhalb des BOIA trainieren müssen.“
„Warte mal… Du meinst… Fitnesstraining?“ Ich kann nicht ganz verhindern, dass ich das Gesicht geradezu angeekelt verziehe.
„Genau das.“
„Laufen und so etwas?“
„Ja.“
Ich stöhne und fahre mir durch die Haare. Das kann doch nicht wirklich sein Ernst sein. Ich schaffe es ja so schon kaum, genug Energie über den ganzen Tag verteilt zu haben, ohne zwischendurch ein Zwangsschläfchen einzulegen. Wie soll ich mich denn dann bitte auch noch sportlich betätigen?
Nicholas steht auf.
„Darüber wird Loreen dich aufklären“, meint er und bedeutet mir mit einer Geste, auch aufzustehen. Pause ist also zu Ende. Na wundervoll. Das bringt meine Laune noch einmal so richtig in Schwung.
Nicht.
„Jetzt versuchen wir, die natürlichen Gesetze außer Kraft zu setzen.“
„Du meinst die Schwerkraft aufheben?“
„Zum Beispiel. Oder Eis dazu zu bringen, sich warm anzufühlen.“
Ich nicke, eher weniger motiviert, aber ich weiß genau, dass er nicht eher Ruhe geben wird, bis ich es schaffe. Seit ich Fortschritte mache, ist Nicholas geradezu freundlich zu mir. Und Himmel, ich will ihn wirklich nicht noch einmal erleben, wenn er schlecht auf mich zu sprechen ist. Also beschließe ich, den Mund zu halten und es zu probieren. Immerhin nützt es mir auch etwas. Wenn ich mitten in einem Traum einfach wegschweben könnte, in den Himmel, wo ich geschützt bin vor explodierenden Geschenken oder grölenden Zuschauermengen, wäre ich schon zufrieden.
„Nehmen wir uns mal die Schwerkraft vor“, wendet sich Nicholas wieder an mich. „Du musst sie nicht ganz verschwinden lassen, nur so weit aufheben, dass du etwas sehr Schweres heben kannst. Das Auto zum Beispiel.“
Ich strecke mich und mustere den Kleinwagen dabei etwas argwöhnisch. Wie zur Hölle soll ich den denn hochbekommen? Ich meine, Vorstellungskraft und so ist ja schön und gut, aber wenn ich mir nicht vorstellen kann, dass ich mal eben ein Auto hochhebe bringt mir das alles nicht.
In dem kurzen Moment in dem ich meine Augen geschlossen habe, sind zwei Stelzen unter den Achsen des Autos aufgetaucht und haben es anderthalb Meter in die Höhe gehoben, sodass ich bequem darunter passe, ohne mich großartig beuge zu müssen.
Ich nähere mich dem Gerät und kratze mich am Kopf. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass das hier ganz und gar nicht gut gehen wird.
„Versuch es“, sagt Nicholas mir. Er steht nur zwei Meter von mir entfernt, gerade so viel Platz, dass ich ihn nicht versehentlich mit dem Auto eins über den Deckel geben kann.
„Wenn du meinst“, murmele ich leise und gehe etwas in die Knie.
Ich muss zugeben, ich war noch nie unter einem Auto. Das erklärt vermutlich auch, warum der Boden des Fahrzeuges komplett glatt ist und es auch keine richtigen Achsen gibt. Von hier unten aus betrachtet sieht es so aus, als wären sie Räder einfach an das Gestellt heran geklebt worden. Vielleicht sollte ich mein Wissen über Elektronik etwas ausbauen… Man weiß ja nie.
Ich drücke meine Schulter gegen die glatte Unterseite und lege die Handflächen darauf an. Meine Beine spreize ich etwas, damit in einen möglichst festen Stand habe. Etwas in die Knie gehen und es kann losgehen.
Ich drücke einmal, zweimal.
„Das klappt nicht!“, rufe ich unter dem Auto hervor.
„Stell dir vor, du hättest eine Feder auf die liegen. Nur das Gewicht, nicht die Erscheinungsform.“
„Was meinst du denn, was ich hier versuche?“, knurre ich kaum hörbar.
Ich atme also tief ein, so tief, dass ich das Gefühl habe, dass mein Brustkorb gleich platzt, spanne alle meine Muskeln an.
Leicht wie eine Feder. Ein Fliegengewicht. Dieses Auto besteht aus Pappkarton, es ist nicht schwer. Ein Windhauch könnte es davon tragen.
Ich drücke ein wenig.
Und es fühlt sich tatsächlich etwas leichter an. Aber noch längst nicht genug.
Einige, wenige Kilos nur. Nichts, was ich nicht anheben könnte. Ich bin stark. Wenn ich die großen Kisten aus dem Keller hochschleppen kann, dann wird das hier ja wohl auch klappen!
Schaumstoff. Der ganze Wagen ist aus Schaumstoff. Locker, flockigem Schaumstoff.
Diesmal drücke ich komplett. Ich strecke meine Beine durch und glaube fest daran, dass der Wagen sich hochheben lässt.
Und es klappt.
Gegen alle verdammten Naturgesetze hebe ich den Wagen ganz einfach von den Stützen. Verdammt, ich kann sogar meine Arme ausstrecken und ich merke das Gewicht nicht einmal!
„Ich hebe ein Auto!“, stoße ich halb verblüfft, halb triumphierend aus. „Heilige Scheiße!“
Nicholas versucht, sein Grinsen zu unterdrücken, aber letztlich gibt er sich geschlagen.
„Freu dich nicht zu früh.“
„Zu früh freuen?“ Mit dem Auto über meinem Kopf marschiere ich einmal um ihn herum. „Das ist unglaublich! Schau es dir doch an!“
Ich muss etwas lachen, so sehr freue ich mich darüber. Niemals im Leben hätte ich gedacht, dass ich meine Hirnwindungen mal so benutzen könnte. Ich meine, ganz ehrlich, sonst sagt man Leuten mit großen Gehirnen doch eher nach, dass sie schwach auf der Brust sind. Aber ich hebe ein Auto!
Ein Klacken lässt mich herumfahren. Mitten aus der weißen Umgebung erscheint plötzlich ein dunkler Umriss. Es sieht aus, als hätte jemand ein Stück der Wand herausgeschnitten. Ich kann die Sterne des Korridors sehen, den Glanz der Glasstraße. Und dann sehe ich, dass jemand herein kommt.
Es ist nur ein Schatten, eine Silhouette. Erst erkenne ich ihn nicht. Aber als die Tür zufällt, verschwindet die Schwärze als hätte man ihr einen Umhang von den Schultern gerissen.
„Holly!“, stoße ich verwirrt aus.
Holly schaut mich leicht verwirrt an. Und dann fällt ihr Blick auf das Auto. Sie runzelt die Stirn.
„Scheiße“, höre ich Nicholas fluchen. Er schaut zwischen mir und Holly hin und her. Aber ich habe keine Zeit mehr, mich darüber zu wundern, wie Holly hier her kommt.
„Du musst gehen!“, schreit Nicholas ihr entgegen. Das arme Mädchen zuckt zusammen und starrt ihn perplex an. Sie will etwas stottern, aber er drückt sie nur zurück zu dem Platz, an dem die Tür aufgetaucht war. Nur die ist schon längst wieder verschwunden.
Holly schaut noch zu mir. Nein, eigentlich schaut sie nicht direkt mich an. Eher das Auto auf meinen Handflächen.
Ich merke es nicht sofort, aber ich habe ein ungutes Gefühl. Nicholas schaut beinahe hektisch zwischen mir und ihr hin und her.
„Lana!“, ruft er mich zu. „Lass das Auto fallen!“
„Hä?“, frage ich selten geistreich.
Aber da ist es schon zu spät.
Die Schwerkraft kommt zurück und mit ihr das Gewicht eines Kleinwagens, alles auf meine mickrigen Arme. Sie knicken ein und das Auto saust auf mich herunter.
Ich höre Holly schreien, höre Nicholas nach mir rufen.
Aber ich kann nur wie versteinert stehen bleiben. Kein Ton dringt aus meinem Mund, ich schaue nach oben und sehe, was der Boden des Wagens auf mich hinunterfällt. Ich werde zerquetscht werden von einem Kleinwagen. Und alles, was mir dazu einfällt ist Folgendes:
Wenigstens hat der Wagen Stil.