54. Kapitel: Brainstorming
Der nächste Morgen kam viel zu schnell, wenngleich ich überrascht war, wie gut ich trotz des harten Untergrunds geschlafen hatte – kaum, dass ich meine Augen geöffnet hatte, fühlte ich mich hellwach. Meinen Schlafsack hatte ich dabei nicht einmal verwendet, so warm war die Nacht nämlich tatsächlich gewesen.
Als ich erkannte, wie das Sonnenlicht durch das Blätterdach fiel und dem Laub so eine goldene Farbe verlieh, zuckte meine Hand wie automatisch zum Gürtel, um auf dem PokéCom nach der Uhrzeit zu sehen. Kurz vor sieben war es – ich war also wieder einmal, egal, was ich machte, recht früh wach.
Seufzend setzte ich mich auf, streckte mich, noch bevor ich mich umblickte. Meinen Bruder konnte ich nicht sehen, denn er hatte sich, so weit ich wusste, einen versteckteren Schlafplatz gesucht – was mir unverständlich war, insbesondere, da er doch die Idee mit dem Einschleichen gehabt hatte. Als ob er dabei irgendwann einmal sicher sein konnte! Bei einer solchen Idee musste er doch ständig damit rechnen, aufzufliegen. Und der Wald schützte überall gleich gut, egal, ob irgendwo unter einem einfachen Baum oder im dichtesten Gestrüpp.
Gedankenverloren wühlte ich in meiner Tasche nach Lebensmitteln, die ich zum Frühstück verzehren konnte – und entschied mich für zwei Müsliriegel, die ich mit einigen frischen Amrenabeeren, die auf einem Strauch in der Nähe wuchsen, abstimmte. Von dem geschmacklichen Unterschied der beiden Teile der Mahlzeit war ich überrascht – zwar war mir immer schon bewusst gewesen, wie viel Zucker in den Müsliriegeln stecken musste, doch nun, da ich die natürliche Geschmackskomponente in ihrer vollen Schärfe zum direkten Vergleich hatte, fiel mir nur auf, wie viel Süßstoff doch in dem Riegel stecken musste. Aus Neugier suchte ich auf der Verpackung nach einer Auflistung der Menge der Inhaltsstoffe – fand aber nur die gewöhnliche Liste der Zutaten, in der der Zucker an dritter Stelle, gleich nach zwei verschiedenen Arten von Körnern, stand. Nachdenklich drehte ich daraufhin den noch verpackten, zweiten Müsliriegel in den Händen – sollte ich mich nicht mit dem Konsum dieser Zuckerbomben zurückhalten?
Schließlich, nach einigen Sekunden des stillen Verharrens, verstaute ich den Müsliriegel wieder in meiner Tasche. Eine Frechheit war dies doch sondergleichen! Wurden solche Dinge nicht als gar gesund und kalorienarm angepriesen? Vielleicht, wenn man die geschmacklosen ohne Zuckerzusatz kaufte – die noch dazu um ein Vielfaches teurer waren und denen dafür eben eine Unmenge an Pirsifbeeren zugesetzt war, um die nötige Süße so durch Fruchtzucker zu erreichen. Dennoch war ich verwundert, dass ich mir früher noch nie darüber Gedanken gemacht hatte, sondern ohne nachzudenken im Überfluss eingekauft hatte. Wohl sollte ich mich lieber auf getrocknete Beeren beschränken, wenngleich diesen sicherlich Unmengen an Schwefeldioxid zugesetzt waren – als Konservierungsmittel.
Nun endlich feststellend, dass ich Durst hatte, fuhr ich mir über die Lippen, suchte nach der Wasserflasche, die irgendwo in den Tiefen der Tasche versteckt war – und wurde fündig, wobei ich entsetzt feststellen musste, dass von den ehemals anderthalb Litern nicht einmal mehr ein halber geblieben war. Hatte ich noch am Vortag gehofft, die Flasche am See, der wohl Trinkwasserqualität besitzen sollte, aufzufüllen, war ich aufgrund des entdeckten Lagers nicht mehr dazu gekommen – und nun konnte ich, in solcher Nähe zu dem Gebäude, nicht mehr zum Ufer gehen, abgesehen von dem Schiff, das mir durchaus suspekt war. Wie viel Treibstoff es wohl in den See leitete? Abgesehen von dem Müll, der sicherlich einfach ins Wasser geworfen wurde.
Wenige kleine Schlucke trank ich, gerade einmal so viel, dass der schlimmste Durst gestillt wurde. Irgendetwas würde ich mir einfallen lassen, denn zu lange würde dieser Wasservorrat nicht anhalten. Traurig packte ich die Flasche wieder in meine Tasche, während sich meine Gedanken auf die Suche nach Solniza machten – und sie zwar in der Nähe erkannten, jedoch keine Verbindung zu ihr aufnehmen konnten. Wohl schlief auch sie noch, und ich konnte es ihr nicht einmal verdenken – nur, weil ich niemals lange schlafen konnte, bedeutete dies nicht, dass es die anderen nicht durften.
Langsam stand ich auf, um mich weiterhin zu strecken und anschließend einige Schritte auf den schwarzen Kunststoffsack zuzugehen. Gedankenverloren leckte ich mir über die Lippen, als ich hineinspähte, den dunklen Stoff betrachtete und schließlich ein Kleidungsstück herausnahm – den Rock, der zur Uniform der weiblichen Mitglieder der Verbrecherorganisation gehörte. Probehalber schätzte ich seine Länge, um festzustellen, dass er länger war, als ich gedacht hatte. Als Kind von vielleicht acht Jahren hatte ich, zumindest im Sommer, schon weitaus kürzere Kleider und Röcke getragen. Weshalb also sollte ich ihn nicht probieren? Sollte es uns gelingen, in das Lager zu kommen, wäre zumindest das Versorgungsproblem die Getränke betreffend gelöst. Selbst, wenn wir entdeckt werden würden – wohl würde es kaum passieren, dass die Verbrecher ihre Gefangenen verdursten ließen. Oder … schaudernd dachte ich an das, was im Wald bei Azalea passiert war.
Und andererseits … meine Hand fuhr eine Naht des Kleidungsstückes nach. Andererseits konnten wir die Uniformen auch nur nutzen, um unbemerkt hineinkommen zu können und anschließend schlicht und einfach Untersuchungen anstellen. Dies war schließlich, gesetzt den Fall, die Aktivitäten ungesehen durchführen zu können, beinahe risikofrei!
Neugierig blickte ich ein weiteres Mal auf den Haufen von Kleidung, bis ich eine Baskenmütze erspähte und sie herausnahm, um sie aufzusetzen. War dies nicht auch gleich einmal eine gute Möglichkeit, wieder eine solche Kopfbedeckung zu tragen? Ich musste ehrlich zugeben, dass ich von den Mützen angetan war, ohne mir wirklich den Grund erklären zu können.
„Also doch diese Variante?“ Erschreckt zuckte ich zusammen, als hinter mir Siegfrieds Stimme ertönte.
Wütend fuhr ich herum. „Ich wollte nur sehen, was du da überhaupt so mitgehen hast lassen!“, zischte ich gespielt wütend, mein unsinniges schlechtes Gewissen, in fremdem Eigentum gewühlt zu haben, ignorierend. Weshalb nur fühlte ich mich in diesem Moment schuldig?
Mein Bruder, dessen Frisur bereits im Auflösen – beinahe hatte sein gut schulterlanges Haar wieder seine natürliche rote Farbe angenommen – aber lachte nur amüsiert. „Morgen“, grinste er, bevor er fortfuhr: „Ich hab' dir ja schon gestern gesagt, was ich mitgebracht habe. Wieso sollte ich also etwas anderes denken?“
Einen kurzen Moment drückte ich die Lippen zusammen, starrte auf den schwarzen Sack. „Wie wäre es, wenn wir nicht die Organisation infiltrieren, sondern einfach nur hineingehen, uns umsehen und wieder verschwinden? Ich denke, schon alleine so können wir genug Informationen sammeln, und mehr brauchen wir ja nicht zu tun.“ Einen kurzen, prüfenden Blick warf ich ihm zu, bevor ich die Baskenmütze in meinem Griff fester packte und ihm zuwarf. „Deine Haare“, erklärte ich auf seinen verdutzten Blick hin, nachdem er die Mütze mit einem schnellen Reflex aufgefangen hatte. „Sie hängen zu einem Großteil hinunter, wie es sich für Haare gebührt. Abgesehen davon sind sie rot und ich habe keine Lust, mir deinen Jammer darüber, wie schrecklich deine Frisur doch aussieht, anzuhören, um ehrlich zu sein. Setz dir die deshalb auf, und versteck deine Haare darunter. Dann fällt es zumindest nicht auf und du hast keinen Grund zum Jammern.“ Mit diesen Worten machte ich mich ein weiteres Mal daran, in dem Sack zu wühlen, um die zweite Mütze aufzutreiben – ich wollte schließlich ebenfalls eine tragen, weil sie mir gefiel.
„Dabei ist die Wahrscheinlichkeit, von Überwachungskameras gefilmt zu werden, viel zu groß“, meinte Siegfried nur, während er meinem Rat folgte und die Mütze aufsetzte, seine Haare sorgfältig darunter verbergend – kaum eine Spur von Rot war mehr zu sehen. „Deshalb macht es mehr Sinn, so vorzugehen, wie ich es vorgeschlagen habe. So kann man nämlich langsam ‚Kollegen‘ befragen – und kommt so zu noch mehr Wissen.“
Seufzend erhob ich mich, meinerseits die Mütze aufsetzend. „So kommen wir nicht weiter“, murmelte ich, eine lange feststehende Tatsache erneut aussprechend. „Warum stürmen wir die ganze Sache nicht einfach? Solniza und Dragoran sollten reichen.“ Nervös fuhr ich mir bei diesen Worten mit der Zunge über die Lippen, denn erneut dachte ich daran, dass ich Smeja nicht bei mir hatte. Wenn Siegfried dies mitbekam!
„Natürlich sollte die Macht der Drachen ausreichen“, stimmte mir mein Bruder zu, „aber so kommen wir an nichts Nützliches, abgesehen davon, dass wir so Menschenleben gefährden, was uns schließlich mehr oder weniger offiziell untersagt ist, egal, um was für Menschen es sich handelt.“ Direkt starrte er mich dann aber an. „Dein Dragonir könnte sich aber im See umsehen! Und dein Aquana genauso!“, rief er plötzlich aus.
Ich stöhnte nur, presste erneut die Lippen zusammen. „Wohl kaum“, murmelte ich. „Denn ich habe nur Solniza bei mir, die anderen Pokémon habe ich in Mahagonia gelassen, Sara mitgegeben und ihr aufgetragen, sie im Center abzugeben. Nach dem Arenakampf hab' ich es einfach nicht mehr in dieser verdammten Stadt ausgehalten, und Smeja – ja, auch den Namen meines Dragonirs weiß ich inzwischen – ist im Arenakampf besiegt worden.“ Ich schloss die Augen, ließ meine Worte im Kopf nochmals erklingen. Wie dumm sie doch klangen, welche billigen Entschuldigungen sie enthielten! Gar nicht wahrhaben wollte ich es, solche Worte in den Mund genommen zu haben. Und all das nur, um mich zu entschuldigen, die Tradition gebrochen zu haben, also etwas, das eigentlich unentschuldbar war.
Wie ich es erwartet hatte, reagierte mein Bruder mehr als nur entsetzt. „Du hast keinen Drachen dabei?“, echote er geschockt, nur mit Mühe gelang es ihm, seine Stimme leise zu halten. „Maj, bist du von allen guten Geistern verlassen? Ich meine, nicht, dass ich die Traditionen so eng sehen würde, an sich zumindest – aber das? Gerade, wo du auch schon Dragonir – oder Smeja, wie auch immer – freilassen wolltest? Verdammt noch mal, wenn du so weitermachst, bezweifle ich wirklich, dass dich die Drachen noch als würdig, ihnen zu gebieten, ansehen. Was treibst du nur? Das ist mehr als verrückt!“
Mit hängenden Schultern blickte ich ihn an, erkannte den unterschwelligen Zorn, der in seinen rotbraunen Augen funkelte. „Ich weiß“, flüsterte ich. „In Teak hätte ich Smeja immerhin beinahe freigelassen, wäre Sombra nicht aufgetaucht und hätte mich davon abgehalten – mit Gewalt, mit der Drohung, mich zu töten. Ansonsten wäre ich ihren Worten, die von Rayquaza kamen, nie gefolgt, hätte Smeja tatsächlich freigelassen. Immerhin – Siegfried, ich fühlte mich zu diesem Zeitpunkt wirklich nicht als würdig, und in der Arena habe ich extra auf Smeja zurückgegriffen, um die Bindung zu den Drachen wieder zu stärken. Im Endeffekt hat aber Poshara den Sieg geholt, da ein verdammtes“, tief musste ich Luft holen, bevor ich fortfahren konnte, „Sniebel der zweite Gegner im Kampf war. Und … ich weiß auch, wie schwer der Bruch mit der Tradition ist. Aber, und das kannst du als überzeugter Drachentrainer, der ihnen auch zweifelsohne würdig ist, nicht verstehen, ich habe nur einen Drachen – eben, weil ich unsicher bin, als würdig zu gelten. Ich tue mein Möglichstes, und unter anderen Umständen hätte ich es nicht getan – aber Smeja musste ins Center gebracht werden, während ich es einfach nicht länger in dieser verdammten Stadt ausgehalten habe. Eis überall! Und dabei ist die Arena nur ein Container, nicht mehr.“ Mit einem Seufzen, das weitaus theatralischer ausfiel, als ich geplant hatte, schloss ich diese Rechtfertigung, blickte Siegfried, in dessen Gesicht sich nichts anderes als Entsetzen spiegelte, an. Erneut fühlte ich mich unwürdig, und hätte ich in diesem Moment Smejas Pokéball habhaft werden können, so hätte ich in diesem Moment das, was ich in der Turmruine vorgehabt hatte, wirklich getan.
„Schwesterherz.“ Mehr war es nicht, was Siegfried sagte, und dies ließ mich schon zusammenfahren, sprach er es doch in einem sarkastisch wirkenden Tonfall voller Geschwisterliebe aus. „Ja, ich verstehe dich nicht, da hast du recht. Aber so, wie du es erklärst, kann ich das doch vollkommen nachvollziehen. Abgesehen davon liegt es mir überhaupt fern, über dich richten zu wollen – du bist nicht nur die Älteste, sondern auch die, die die Traditionen im Allgemeinen aufrecht erhalten soll. Von daher werde ich dich so oder so niemals wirklich verstehen können, musst du doch auch immer diese vollkommen übertriebenen Reden während des Festes der heiligen Drachen halten – und vor allem wirst du in ein paar Jahrzehnten aus Ebenholz weggehen müssen, so, wie es unsere Mutter getan hat. Und was du dann machst, kann ohnehin niemand mehr überprüfen. Aber – versteh mich nicht falsch, ich sage das nicht, weil ich dich irgendwie von falschen Tatsachen überzeugen will oder versuche, die Realität zu verdrehen – du bist es mehr als wert, eine Drachentrainerin zu sein. Eben, weil du dir solche Gedanken machst. Maj, ich verstehe wirklich nicht, wie du damit umgehst, alles, was du tust, als falsch zu interpretieren, jeden noch so kleinen Fehler als unglaubliche Schwäche, als nie wieder gutmachbar, zu interpretieren. Du magst dich als Realistin sehen, in Wirklichkeit bist du aber eine schreckliche Pessimistin.“
Ich senkte nur den Kopf, lachte spitz auf. „Umgehen“, rief ich aus, genoss den Klang dieses irren Wortes. „Das glaubst du wohl nicht im Ernst, dass ich das kann. Bruderherz, warum, glaubst du, bin ich immer so, wie ich bin? Warum fühle ich mich so oft nicht als Drachentrainerin wert? Eben, weil ich damit nicht umgehen kann, Fehler zu machen! Viel zu oft mache ich etwas falsch, mache Fehler, die derart weit wirkende Auswirkungen haben. Es ist nicht so, wie du es dir vorstellst, sondern – ich weiß nicht, wie ich sagen soll.“ Einfach ließ ich mich zu Boden fallen, ignorierte den Schmerz, als mein Gesäß auf der harten Erde aufkam. Ich hatte einfach nicht mehr die Kraft zu stehen, war mir über das, was ich in diesem Moment fühlte, nicht einmal im Klaren – war es ein Gefühl wie so oft, für nichts geeignet zu sein? Nein – es war eher, als ob ich in diesem Augenblick gar nichts fühlte. Ich wollte einfach nur dasitzen – und Tränen vergießen, die jedoch nicht fließen wollten. Was nur war los mit mir? Derart seltsam benahm ich mich doch nicht einmal, wenn ich vollkommen von meiner Schuld an einer Sache überzeugt war.
Siegfried stieß nur ein Seufzen aus, und am Rascheln des spärlichen Grases zwischen den Bäumen erkannte ich, wie er näher kam. „Schwesterherz, wenn ich ehrlich bin, bist du mir wirklich vollkommen unbegreiflich. Früher, vor“, er stockte, „dem Fluch warst du vollkommen anders, viel ausgeglichener. Und vor allem nicht immer davon überzeugt, keine Fehler machen zu dürfen. Es ist mir, als ob dich der Fluch auch anderwärtig verändert hätte. Auch, wenn ich nicht beschreiben kann, was es ist. Du bist einfach … verdammt anders geworden.“
Wenig amüsiert brach ich in einen Kicheranfall aus, konnte mich kaum wieder fangen, um meinem Bruder zu antworten. „Ich weiß ja nicht, wie du das siehst“, murmelte ich, „aber mir zumindest ging es sehr nahe, dass wir kein normales — oder besser gesagt, überhaupt kein — Gespräch führen konnten, und das über drei Jahre lang. Siegfried, willst du etwa behaupten, dass dich das nicht verändert hat?“ Direkt sprach ich diese Frage aus, konnte ihn aber nicht ansehen, denn die Fragestellung schien mir lachhaft, wirkte auf mich eher wie eine rhetorische Frage als eine ernsthaft zu stellende.
Einige Zeit, die mir unsagbar lange schien, schwieg mein Bruder, bevor er sich zu einer Antwort durchringen konnte: „Ich kann es nicht wirklich beurteilen“, murmelte er nachdenklich. „Immerhin kann ich das nicht von damals zu heute vergleichen, was ich natürlich bei dir problemlos kann, hat zwischen uns in den vergangenen drei Jahren doch eigentlich gar keine Kommunikation stattgefunden. Aber ich versuche, diese Zeit in dieser Hinsicht zu vergessen.“ Er seufzte. „Und, wenn ich ehrlich bin, fällt mir das nicht einmal schwer. Denn immerhin habe ich in dieser Zeit den Titel des Champs errungen, während du … einfach im Labor gearbeitet hast, ohne großartige Änderungen in deinem Leben.“
Bei diesen Worten fuhr meine Hand automatisch zur Grünen Kugel. „Bis ich Rayquazas Dienerin wurde“, murmelte ich nachdenklich.
„Wie dem auch sei.“ Mein Bruder seufzte, während er nach dem Sack mit den Uniformen griff. „Es mag ein seltsamer Zeitpunkt sein, aber wir haben nicht den Luxus, Zeit damit verplempern zu können, in der Vergangenheit zu schwelgen oder irgendwelche Traditionen zu erörtern. Wir haben zu arbeiten. Ich lege die hier mal an, sofern du nicht eine bessere Idee bekommen hast, wie wir vorgehen können.“ Er zog die Kleidungsstücke, die zur männlichen Tracht der Verbrecher gehörten, aus der Tüte, drückte mir das Behältnis mit dessen restlichem Inhalt in die Hand und verdrückte sich in die Büsche.
Ich starrte ihm nur hinterher. „Nein“, murmelte ich, ohne zu wissen, worauf ich dieses Wort überhaupt bezog — darauf, dass ich keine Idee hatte oder darauf, dass ich nicht gewillt war, diese Uniform anzulegen? Die doch nicht gar so kurze Länge des Rockes hin oder her — trug man keine Hose, war die Bewegungsfreiheit deutlich eingeschränkt; abgesehen davon hatte ich nicht die geringste Ahnung, wie ich meine lahme Hand erklären sollte, sobald sie in einem Handschuh steckte. Da mochte ich mit meiner linken Hand noch so viele Tätigkeiten durchführen können, ohne dass auffallen würde, dass ich tatsächlich Rechtshänderin war — ich konnte weder ordentlich schreiben noch würde es unbemerkt bleiben, wenn ich nicht einmal Kontrolle über mein Handgelenk besaß.
Nachdem ich mich erneut umgesehen und in Gedanken vergeblich nach Solniza gesucht hatte, nahm ich mit finsterem Blick die Baskenmütze ab und stopfte sie in die Tüte, die ich mit einem gezielten Wurf zu meinen restlichen Habseligkeiten, die ich am Stamm eines Baumes platziert hatte, beförderte — doch die Wucht der Bewegung war zu groß, sodass der Sack am Baumstamm abprallte und ich mich erst recht dorthin in Bewegung setzen musste, um das Oberteil und die Mütze, die herausgefallen waren, wieder zurückzugeben. Einschleichen! Was denn noch alles? Zunehmens verfinsterte sich mein Blick immer mehr. Wenn mir doch nur etwas anderes, Sinnvolleres einfallen würde, mit dem sich auch Siegfried überzeugen lassen würde. Aber es schien tatsächlich keine bessere Alternative zu geben. Zögerlich starrte ich wieder auf den Sack, den schwarzen Stoff der Uniform, die das helle Material von Handschuhen und Stiefeln völlig verdeckte — sollte ich …?
Doch noch bevor ich dazu kam, irgendeine Aktion zu setzen, fuhr ich herum, als ich etwas im Unterholz rascheln hörte. Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, fuhr ich herum, meine Hand griff in die Leere an meinem Gürtel — bis mir schmerzlich bewusst wurde, dass ich meine Pokémon nicht bei mir trug. Solniza!, rief ich mit derartiger Dringlichkeit aus, dass ich annahm, die Sonnenkatze würde mich selbst am anderen Ende der Welt hören müssen — doch erhielt ich nicht die geringste Gefühlsregung als Antwort, geschweige denn, dass ich Worte vernehmen konnte. Wo trieb sie sich nur herum? Derart weit konnte sie sich doch nicht fortbewegt haben!
„Schwesterherz, mir scheint, du bist ein wenig nervös.“ Mit Erleichterung konnte ich feststellen, dass es nur mein Bruder war, der — nun völlig in die Tracht der Verbrecher gekleidet — erschienen war. Obschon ich wusste, dass es sich um ihn handelte, musste ich zugeben, dass ihn eine in gewisser Weise unheimliche Aura umgab — sein Haar war völlig unter der Mütze, die einen dunklen Schatten über seine Augen warf, versteckt, zudem zog das deutlich erkennbare rote „R“ auf seiner Brust die meisten meiner Blicke zuerst an. Wie viel doch alleine Kleidung ausmachen konnte — nicht umsonst behauptete der Volksmund, dass sehr viel vom Äußeren abhinge.
Ich versuchte, wieder in eine entspanntere Haltung zu fallen. „Sag das dem, was ich aus den Augenwinkeln wahrnehme, Siegfried“, knurrte ich scherzhalber. „Weißt du, dass dir diese Uniform aus einem unerfindlichen Grund steht?“, fügte ich schließlich noch hinzu, ihn noch einmal von oben bis unten musternd. Er brauchte nur mehr an seinem Gesichtsausdruck feilen — und vor mir stand ein vollkommen durchschnittlicher Angehöriger Team Rockets. Bei diesem Gedanken lief mir ein Schauer über den Rücken. Ich sollte lieber aufhören, an Derartiges zu denken! Mochte es wahr sein, dass ich nicht wusste, welche Geschichte hinter jedem einzelnen Mitglied der Verbrecherbande steckte — zumindest wusste ich, was in meinem Bruder steckte — und das waren keine Gedanken, die sich mit Dingen auseinandersetzten, auf die empfindliche Gefängnisstrafen standen. Zumindest, welche Werte sein Leben vor dem Zwischenfall mit Darkrai geprägt hatten, war mir klarer als die Frage nach den Werten, die mich im Moment prägten — denn ich hatte nicht die geringste Ahnung, was ich tun würde, wenn mir Rayquaza etwas befahl, das gegen meine eigenen Prinzipien verstieß — würde ich gehorchen oder mich auflehnen?
Mit einem Kopfschütteln versuchte ich, diese Gedanken loszuwerden. Nein, es machte keinen Sinn, sich nun den Kopf darüber zu zermartern, was in irgendeiner Situation, die vielleicht nicht einmal eintreten würde, sein würde — es zählte momentan nur, wie wir vorzugehen hatten, nicht mehr und nicht weniger.
Und ein Einschleichen kam nicht infrage — zumindest nicht für mich.
„Maj?“ Die Stimme meines Bruders durchschnitt die Stille, die eben bis auf das Zwitschern der Vogel-Pokémon geherrscht hatte, in einem vorsichtigen, fragenden Ton.
Dennoch zuckte ich zusammen. „Nein“, murmelte ich. „Einschleichen ist ein unkalkulierbares Risiko. Wir hatten schon zu viel mit ihnen zu tun, dass sie inzwischen sicher vorsichtiger geworden sind — vor allem, da du ja liebend gerne so vorgehst. Und ich habe einfach nicht die geringste Lust, wieder in einem Kerker zu landen. Und dann vielleicht wirklich nicht herauszukommen.“
Obschon ich ihn nicht anblickte, hörte ich deutlich, wie mein Bruder, jetzt wohl langsam die Nerven verlierend, laut Luft ausstieß. „Wenn du eine bessere Idee hast, dann verrat’ sie mir doch endlich!“, zischte er ungehalten.
Ich blickte auf, sah zu ihm hin, ohne den Ausdruck seiner Augen erkennen zu können — die Schatten, die die Baskenmütze warf, waren zu dicht. „Habe ich behauptet, eine Idee zu haben?“, fauchte ich nur, ihn anfunkelnd. „Ich meinte nur, dass deine Idee zu vergessen ist.“ Trotzig stemmte ich meine Hände in die Seiten. „Mal abgesehen davon, dass es unsinnig ist, dass ich Handschuhe tragen soll. Du kennst das Problem meiner rechten Hand. Und …“ Mein Blick fiel kurz in Richtung See. „Die Sache mit dem Wasser ist dir ebenso ein Begriff. Für diese Aufgabe bin ich einfach nur verdammt ungeeignet.“
„Soll das heißen, wir sollen gar nichts machen?“
Kopfschüttelnd schloss ich die Augen und ließ mich im Schneidersitz zu Boden sinken, stützte die Ellenbogen auf die Knie und den Kopf auf meine Hände. „Glaub mir, wenn ich wüsste, was wir machen könnten, wärst du der Erste, dem ich das verraten würde …“
Das Gras dämpfte seine Schritte, sodass ich Siegfried erst sah, als ich die Augen aufschlug und seine Stiefel direkt vor mir erblickte. „Mir ist selbst klar, was das alles für Folgen haben kann. Aber irgendetwas müssen wir machen — vor allem-“ Er setzte an, weiterzusprechen, brach aber ab.
Da ich meinen Bruder gut genug kannte, um zu wissen, wie sein Satz hätte lauten sollen, warf ich den Kopf in den Nacken und blickte empor zum leise im Wind rauschenden Blätterdach des Waldes, durch das sanft vereinzelte Sonnenstrahlen drangen. „Mir ist klar, dass ich einen Fehler begangen habe, als ich meine Pokémon in Mahagonia gelassen habe“, flüsterte ich. „Aber …“, meine Kehle wurde trocken, ich musste mich überwinden, weiterzusprechen, „… ich fühle mich aus irgendeinem Grunde nicht einmal schuldig, höchstens aufgrund der Tatsache, meine Pokémon, und vor allem Smeja, eben dort zurückgelassen zu haben. Ich habe es in dieser verfluchten Stadt einfach nicht ausgehalten. Mahagonia war … beängstigend.“ Beim letzten Wort wurde meine Stimme unsicher, da der Ausdruck nicht vollkommen korrekt war — ein besserer fiel mir für dieses Gefühl, das mich dort befallen hatte, jedoch nicht ein. „Ich wollte nur noch weg. Weg und meine Ruhe haben.“
Es entstand Schweigen, durchdrungen von unausgesprochener Ratlosigkeit. Siegfried schien nicht zu wissen, wie er auf meine Worte reagieren sollte, ich hatte alles gesagt, was zu sagen war — und eine glorreiche Idee war mir trotz der Tatsache, dass inzwischen gut mehr als eine Stunde vergangen sein musste, immer noch nicht gekommen. Warum konnten wir nicht einfach hier im Wald sitzen, warten, dass dieser und der nächste Tag verging und tun, als ob nichts gewesen wäre? Alles würde auf diese Art und Weise viel einfacher sein … Ich seufzte, als mich ein erneutes Rascheln des Unterholzes erstarren ließ. Es klang nicht danach, als ob sich nur ein Pokémon anschleichen würde — dafür schienen es zu viele der Schritte sein, die sich durch den Wald bewegten. Zudem meinte ich, menschliche Stimmen zu vernehmen.
Eine Idee durchzuckte mich wie ein Blitz. Hastig sprang ich auf, so schnell, dass ich beinahe über Siegfried gestolpert wäre und ihn zu Fall gebracht hätte, legte meine Hand auf seine Schulter. „Ab sofort bist du ein echtes Mitglied Team Rockets und ich deine Gefangene, weil du mich gerade hier gefunden hast. Lass dir was einfallen, warum dich die noch nie gesehen haben und pack' deine Schauspielkünste aus, ich tu’s auch“, flüsterte ich ihm ins Ohr, während ich gleichzeitig versuchte, meinem Gesicht einen ungläubig-einfältigen Ausdruck zu verleihen, wie ihn ein zufälliger Passant, der noch nicht realisiert hatte, dass er in ein Verbrechen verwickelt worden war, möglicherweise aufsetzen würde.
Vorsichtig spähte ich in die Richtung, aus der ich das Knacken im Unterholz immer deutlicher vernehmen konnte — zwischen den Bäumen konnte ich einzelne, in schwarze Kleidung gewandte Gestalten ausnehmen, die sich zu uns hinzubewegen schienen. Blieb nur zu hoffen, dass wir entdeckt wurden. Bei diesem Gedanken musste ich mir ein Grinsen unterdrücken — da hoffte ich tatsächlich einmal, gefangen zu werden! Nicht, dass es eine angenehme Erfahrung werden würde — aber ich musste jetzt zweckorientiert denken, um die Aktion endlich ins Rollen bringen zu können.
Siegfried reagierte so geistesgegenwärtig, wie ich gehofft hatte — mit einer raschen Bewegung griff er nach meinen Handgelenken, wobei er versuchte, nicht allzu grob zu werden; dennoch spürte ich, wie ich das Gefühl in meiner rechten Hand verlor. „Ich hoffe nur, die werfen keinen genaueren Blick auf unsere Sachen“, murmelte er. „Sonst sind wir aufgeschmissen.“ Dann hob er seine Stimme: „He, Kollegen!“
Ich konnte ausnehmen, wie die Truppe, die bisher keine Notiz von uns genommen hatte, stehenblieb und sich umsah, was ich sogleich als Anstoß nahm, gespielte Fluchtversuche zu unternehmen, indem ich versuchte, meine Hände aus dem Griff meines Bruders zu ziehen — woraufhin er dazu überging, auch meine Unter- und Oberarme zu packen und nun deutlich fester zuzugreifen, um unser Schauspiel zum Erfolg werden zu lassen. „Lass mich los!“, fauchte ich laut genug, um sicher zu sein, dass auch der Trupp von tatsächlichen Verbrechern hörte, dass ich versucht war, zu entkommen. Um die Darbietung zu komplettieren, griff ich tief in die Kiste der Flüche, die ich ansonsten eher unausgesprochen ließ — man wusste schließlich, was sich gehörte, und da konnte das Repertoire der Verwünschungen noch so breit gefächert sein.
„Schwesterherz, übertreib’ es nicht“, vernahm ich die leise Stimme meines Bruders, bevor er erneut nach dem Trupp rief, der noch immer unentschlossen gute dreißig Meter von uns entfernt war.
Ich tarnte ein Grinsen als Zähneblecken. „Sicher ist sicher“, lächelte ich, wobei ich versucht war, die Lippen nicht zu bewegen. „Wenn ich mich entsprechend wehre, werden die eine bessere Ansicht von dir haben, wenn du schon unter so dubiosen Umständen auftauchst.“ Als ich erkannte, dass die Gruppe von Verbrechern nun tatsächlich direkt auf uns zuhielt, verstummte ich jedoch wieder.
Die Gruppe der Schwarzgekleideten wurde von einer Frau angeführt, die scheinbar versucht war, sich von anderen abzugrenzen: Zwar wirkten ihre Stiefel auf den ersten Blick wie jenes Paar, das Siegfried in seinem Sack mitgebracht hatte, doch besaßen sie relativ hohe Absätze — die ihr jedoch keine Probleme beim Staksen durch das Unterholz bereiten zu schienen. Zudem trug sie keine Mütze, sodass ihre wallende, platinblonde Mähne lockigen Haares, das ihr gut bis zu den Ellenbogen ging, vom Wind umhergewirbelt wurde. Aus ihrem gebräunten Gesicht — aus unerfindlichen Gründen tippte ich auf Solariumsbräune — leuchteten zwei strahlend blaue Augen, zu denen ihre Kette, silbrig und verziert mit einem Saphir oder einem entsprechenden Imitat, hervorragend passte. Sie schien sämtliche Grenzen, die ihr die Vorschriften in Bezug auf die Kleidung machten, bis aufs Äußerste ausgereizt zu haben. Aufgrund der scheinbar führenden Rolle, die die Frau, vielleicht um die Ende Zwanzig, einnahm, schätzte ich jedoch, dass diese Freiheiten nicht von ungefähr kamen: Vermutlich war sie auf der Karriereleiter, die ihr offenstand, bereits ein gutes Stück nach oben geklettert.
Ich spürte, wie mich ihre blitzenden Augen schon im Näherkommen musterten, sodass ich unwillkürlich aufhörte, mich gegen den Griff meines Bruders zu wehren. Dieser nutzte die Gelegenheit, um mich fest zu packen — ganz in der Rolle, die mein spontaner Plan ihm zugedacht hatte. „Was haben wir hier?“, flüsterte sie mit einer samtweichen, jedoch berechnenden Stimme, die mir eine Gänsehaut verursachte. Schon alleine an diesen vier Worten, am Unterton in ihrer Stimme, erkannte ich, dass sie es verstand, Menschen zu manipulieren — ich sah mich plötzlich einem Schatten Priscas gegenüber. „Eine Spionin? Oder nur jemand, der sich wichtig machen wollte im Versuch, auf Held zu machen und uns auszuheben?“ Ihre behandschuhte, schlanke Hand bewegte sich langsam auf mein Gesicht zu, während ich in einem ähnlichen Tempo den Kopf in den Nacken legte — bis ich an die Brust meines Bruders stieß und mir keine andere Möglichkeit blieb als abzuwarten, dass die Finger der Frau meine Haut berührten.
„Ich … ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen!“, schaffte ich es, in einem überraschend weinerlichen Ton auszusprechen. Weshalb ich plötzlich zur Höflichkeitsform übergegangen war, wo ich Siegfried eben noch aufs Wüsteste beschimpft hatte, konnte ich mir nicht erklären. „Ich wollte nur einen Abstecher zum See machen, ich bin auf der Durchreise! Immerhin ist der See so berühmt und ich wollte schauen, ob ich vielleicht ein Garados sehe … ich hatte keine Ahnung, dass das Gelände hier Privatgrund ist, ich habe keine Schilder gesehen! Sonst wäre ich sicherlich weggeblieben, das verspreche ich!“ Ich zuckte zusammen, als die Fingerspitzen der Blondine mein Kinn berührten. Ihre Nägel waren derart lang, dass sie selbst durch den Stoff der Handschuhe zu spüren waren. Als schließlich ihre Finger mein Kinn umschlossen und zu ihr drückten, blieb mir nichts anderes übrig, als zu schlucken, schweigen und möglichst erbärmlich dreinzuschauen.
Doch schon ließ das Interesse ihrer Augen von mir ab, lieber wandte sie sich meinem Bruder zu, ohne jedoch ihre Finger von meinem Kinn zu lassen. „Wie hast du die hier gefunden?“, wollte sie nun von Siegfried wissen, inzwischen mit einem weitaus freundlicheren, aufrichtigeren Unterton in der Stimme.
Der Angesprochene hingegen schien nur mit den Schultern zu zucken — zumindest fühlte sich sein Griff danach an. „Glück, würd’ ich mal sagen“, murmelte er, „wollte nur ’nen kleinen Morgenspaziergang machen und da bin ich halt praktisch über die hier gestolpert.“ Als ich hörte, wie es ihm gelang, selbst in den Nuancen seiner Stimme völlig in seiner Rolle aufzugehen, jagte es mir erneut einen kalten Schauer über den Rücken. Welche Eigenschaften sich da doch offenbarten! Scheinbar waren seine zahlreichen Missionen, die er durch Einschleichen absolvierte, nicht ohne Folgen geblieben.
„Aber ich hab’ doch nichts gemacht!“, beschloss ich, die Trotzige zu geben — und wurde damit belohnt, Fingernägel in die Haut gedrückt zu bekommen.
„Ruhe“, zischte die Frau, bevor sie sich umwandte und aus dem Sammelsurium aus drahtigen Männern, Mädchen, die ihr Geld gut auch als Models hätten verdienen können, bulligen Typen und Weibern, die bereits in den Wechseljahren zu sein schienen, den wohl größten und muskulösesten Kerl zu sich winkte. Ich schätzte den Mann auf eine Größe von gut zwei Metern und traute ihm beinahe zu, fähig zu sein, mit bloßen Händen Telefonbücher zerreißen zu können, derart breit war er gebaut. Und all den Klischees starker Männer zum Trotz wirkte er nicht im Geringsten einfältig — im Gegenteil zeugte sein Gesichtsausdruck von einer deutlichen Intelligenz. „Kümmere dich um sie, du kannst es besser als er“, befahl sie dem Muskelprotz mit ruhiger Stimme, die davon zeugte, dass sie es gewohnt war, Befehle zu geben. „Stell sie bitte ruhig, ich brauche keine Zwischenrufe.“
Betont langsam kam der Muskelprotz auf mich zu, ergriff schließlich mit einer seiner Pranken — denn anders vermochte ich seine Hände nicht zu beschreiben — meine Schulter so stark, dass ich leise aufschrie. „Das kommt, wenn du mir zu zappelig wirst, Mädel“, lächelte der Riese, „aber nur deutlich fester.“ Er grinste. „Haben wir uns verstanden?“
Ich nickte nur schwach, denn langsam kamen mir Zweifel, ob mein Plan doch so gut gewesen war. Nun, für das, was wir zu erledigen hatten, war er sicherlich nicht unpraktisch — aber wenn ich ihn nur aus meiner subjektiven Sicht betrachtete, schien er nicht mehr so gut und risikofrei.
Zumindest aber brauchte ich den Weg durch den Wald nicht zu Fuß zurücklegen: Der Riese, der die Aufgabe bekommen hatte, mich dazu zu bringen, mich nicht zu wehren, warf sich mich einfach wie einen Sack über die Schulter, wohl, damit ich ihn beim Gehen weniger behinderte. Zwar empfand ich es weder als angenehm, seine Pranken auf meinem Gesäß zu spüren, noch, nur den Boden, den er bereits passiert hatte, zu sehen, doch konnte ich so nicht stolpern, was er vielleicht als einen Fluchtversuch auffassen würde — und ich hatte mich entschieden, die Eingeschüchterte zu geben, um jegliche Probleme, die möglicherweise in Schmerzen resultieren könnten, zu vermeiden. Nicht, dass es vollkommen schmerzfrei ablief — Es war überraschend, wie hart und knochig sich die Schulter eines derartigen Muskelprotzes anfühlen konnte, wenn man sie zwischen Rippen und Becken spürte. Schon nach wenigen Schritten über das unebene Terrain war ich mir sicher, einige blaue Flecken davontragen zu werden. Dennoch versuchte ich, mich nicht zu viel zu rühren — sicher war sicher.
Wie lange der Marsch bis zu dem Gebäude, das ich am vorherigen Tag ausgemacht hatte, andauerte, vermochte ich nicht zu sagen — ich erkannte nur, wie plötzlich das Unterholz in meinem Blickfeld deutlich weniger wurde, schließlich auch der Grasbewuchs nachließ und mehr oder weniger ein Weg erkennbar wurde. Zudem meinte ich, mehr Stimmen vernehmen zu können. Den Kopf zu heben und mich umzublicken wagte ich jedoch nicht, abgesehen davon, dass ich ihn ohnehin kaum hoch genug hätte heben können, um ein befriedigendes Blickfeld zu erhalten.
Bald nachdem ich den Weg ausgemacht hatte, kam Pause in die Bewegung und ich vernahm den barschen Befehl der Blondine an meinen Aufpasser, mich abzusetzen — was dieser gar zu wörtlich nahm, da er diese Aktion mit derartigem Schwung durchführte, dass ich mich, kaum, dass ich den Boden berührt hatte, auf selbigem sitzend wiederfand — und mit dem Hinterkopf gegen eine Wand schlug. Beides ließ mich mit Schmerz durchzuckt werden, sodass ich einige Sekunden stöhnend auf dem harten Untergrund verblieb, bevor ich mich dazu durchringen konnte, mich aufzuraffen, während ich mir noch den Kopf rieb. Nein, mein Tag war das heute eindeutig nicht …
„So nachdrücklich wäre das nicht nötig gewesen …“, murmelte ich, zu spät erkennend, dass ich diese Aussage lieber hätte unterlassen sollen, denn schon spürte ich die Finger des Riesen um mein Kinn gelegt, der mein Gesicht auf diese Art nach oben drückte, sodass er mir direkt in die Augen starren konnte — und ich von seinen Seelenspiegeln, die, wie mir nun auffiel, grau waren, nicht ablassen konnte. Ängstlich suchte ich Halt an der Wand hinter mir, die schon jetzt überraschend warm war, ohne direkt der Sonne ausgesetzt zu sein, soweit ich es beurteilen konnte.
„Was haben wir vorher ausgemacht?“, flüsterte der Muskelprotz so sanft, dass ich schauderte und versuchte, meine Finger irgendwie in die Wand zu graben, um besseren Halt zu finden. Er schien ein ähnliches Kaliber zu sein wie die Blondine … nur deutlich fähiger, mit seinen Schlägen Schmerzen hervorzurufen. Ich spürte, wie meine Kehle erneut trocken wurde, sodass es mir nicht gelang, eine Antwort zu stammeln.
Doch bevor er zu grob werden konnte, schaltete sich die Anführerin der Truppe ein, die ich dank des Klammergriffes des Riesen nicht sehen konnte. „Sei nicht zu brutal, sie muss noch singen können“, erklärte sie herrisch. „Wobei sie mir aus irgendwelchen Gründen bekannt vorkommt, und das hat auch vorher Rebecca angemerkt. Ich werde noch die Datenbank absuchen, bevor ich meinen Bericht abgebe. Du bringst mal die Kleine hier in eine Zelle, es gibt schließlich ein paar ungenutzte Schlafzimmer, die man zweckentfremden kann. Komm’ dann zu mir in den Computerraum, damit du mir sagen kannst, wo du sie deponiert hast.“
Der Muskelprotz ließ von meinem Kinn ab, griff dabei blitzschnell mit der anderen Hand nach meinen Unterarmen und nahm mich so erneut in den Klammergriff, diesmal aber derart grob, dass ich nicht anders konnte als aufzuschreien, als meine Arme stechender Schmerz durchzuckte. Dies reichte dem Muskelprotz jedoch schon, um erneut zu regieren: Schon sah ich seine Faust direkt auf mein Gesicht zukommen, spürte einen noch viel eindringlicheren Schmerz direkt um mein linkes Auge. Entsetzt schrie ich auf, wollte reflexartig die Hände vor das Gesicht schlagen, mich irgendwie wehren — doch zu fest war der Griff um meine Unterarme, der mit meinen Versuchen nur noch fester wurde. Erst als ich nach wenigen Sekunden erkannte, dass meine reflexartigen Handlungen nur zur Folge haben würden, mehr Schmerzen zu erleiden, gelang es mir, die Impulse zu unterdrücken. „Ich habe alles im Griff, Chefin“, erklärte der Riese der Blondine, als er erkannt hatte, dass ich meine Versuche aufgegeben hatte.
Sie musterte mich nur mit einem abschätzigen Blick, als ich sie von unten, erbärmlich wie ein geschlagenes Fukano, ansah. Mein Atem ging inzwischen stoßweise, und während der Schmerz auf meinem Hinterkopf mittlerweile fast komplett nachgelassen hatte, war der um mein Auge doch wesentlich aufdringlicher. Wohl würde ein blaues Auge die Folge sein — und das, obwohl ich versuchen wollte, offensichtliche Verletzungen zu vermeiden. Wie Sara wohl reagieren würde, wenn sie mich so sah? Nur mit Mühe konnte ich mir ein trockenes Lachen unterdrücken. Warum dachte ich in dieser Situation nur an die blutjunge Koordinatorin? Ich hatte im Hier und Jetzt genug Probleme und konnte nur hoffen, dass Siegfried seine Nachforschungen so schnell als möglich durchführen würde. Wenn meine Anwesenheit hier auf eine ähnliche Tour weitergehen würde, würde ich kaum mehr lange durchhalten. Schon jetzt schwindelte mir, und ich fürchtete, bei einem erneuten Schlag wie dem vorhin das Bewusstsein zu verlieren. Worauf hatte ich mich nur eingelassen? Möglichst unauffällig versuchte ich, mich umzusehen, festzustellen, ob ich meinen Bruder irgendwo erkennen konnte. Doch tummelten sich zu viele schwarz gekleidete Gestalten beiderlei Geschlechts auf dem gerodeten Platz, dass ich ihn nicht ausmachen konnte — sofern er sich noch außerhalb des Gebäudes befand.
„Geh“, befahl da die Blondine barsch, just als ich versuchte, mich so weit zu sammeln, um nach Solniza rufen zu können.
Ja, schoss es mir da durch den Kopf, bringt mich irgendwo hin, wo ich meine Ruhe habe. Und wenn es ein Loch ist wie in Azalea, soll es mir auch recht sein. Lasst mich …
Als mich der Riese durch die Gänge lotste, bekam ich kaum etwas von der Umgebung mit, da ich meinen Blick hauptsächlich auf den Boden gerichtet hielt. Mit dunklem Teppichboden waren die Gänge versehen, dessen genauere Farbe zu bestimmen mir nicht möglich war. Licht drang keines nach innen, die künstliche Beleuchtung war nur schwach — ich tippte auf Glühbirnen mit wenigen Watt, hob jedoch nicht den Kopf, um mich umzusehen. Und inzwischen war diese Unterwürfigkeit, die Verzweiflung, die mich alles stoisch ertragen ließ, nicht mehr gespielt: Der Fausthieb ins Gesicht hatte mir gezeigt, dass nicht gespaßt wurde — und ich mich dementsprechend zu verhalten hatte.
Wie lange mich der Muskelprotz durch die Korridore führte, welche Abzweigungen er nahm, ob uns andere Mitglieder der Verbrecherorganisation begegneten — all das registrierte ich nicht im Geringsten, wachte aus meiner Trance erst auf, als mein Führer abrupt stehenblieb, eine seiner Hände von meinem Unterarm löste und eine Tür — grau in grau mit der Wand — aufstieß, mir mit einem nachdringlichen Druck in den Rücken zu verstehen gab, dass ich hineingehen sollte, woraufhin er mich auch ausließ und ich in den Raum taumelte.
Als er die Tür laut hörbar hinter mir zuschlug, erkannte ich ein nur mit Matratzen versehenes Stockbett, auf das ich mich hinbewegte, mich auf den unteren Schlafplatz fallen ließ und die Augen schloss. Alles andere würde sich ergeben, nun wollte ich einfach nur eines: Meine Ruhe.