*Pflicht und Ehre*

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  • Part 4: Die Dornen einer Rose


    „Luscinia Blakewaters menschliche Gestalt starb an diesem Tag. Ihre niederträchige Seele aber überlebte und nahm in einem jahrhundertelang andauernden Prozess schließlich eine neue Form an.“
    „Darkrai“, hauchten Stan und ich simultan.
    Shaymin nickte. „So wie der Fluch meinen Vorfahren zum Pokémon hatte werden lassen, geschah etwas Ähnliches auch mit der Gräfin von Blakewater. Fortan streifte das verfluchte Wesen aus Bosheit und Schatten, zu dem sie geworden war, rastlos durch die Welt und befriedigte seine mörderischen Gelüste, indem es sich an den Träumen der Menschen und Pokémon verging.“
    Die Erzählerin stoppte kurz und taxierte Darkrai. Nachdem sie festgestellt hatte, dass dieser keine Anstalten machte, erzählte sie weiter: „Darkrais Wanderung führte ihn eines Tages zufällig in das Land meiner Ahnen, wo meine Sippe lebte, seitdem der Erste von uns seinen Fuß auf den heiligen Boden gesetzt hatte. Wir hatten das Land kultiviert und es für die nachfolgenden Generationen fruchtbar gemacht, sogar einige Menschen erlaubten wir in unserer Mitte, denen wir Generation über Generation unsere Geschichte lehrten. Darkrai aber erkannte das Blut, das in unseren Adern floss, wieder. Sein Hass löschte an diesem Tag beinahe unseren gesamten Clan aus.“ Shaymins Stimme wurde brüchiger, ihre Augen feuchter. „Die, die wie durch ein Wunder von seinem Feldzug verschont blieben, verließen das Land unserer Ahnen aus Angst, Darkrai könnte eines Tages den Rest von uns auslöschen. Und es geschah tatsächlich so: Darkrai kehrte eines Tages wieder. Er löschte die letzten meines Clans aus und auch die verbliebenen Menschen, die das Land bevölkerten, müden Reisenden ein Obdach gaben und unsere Geschichte lehrten.“
    „Miriam und ihre Oma“, murmelte ich leise. Ich brauchte keine weitere Zustimmung, ich wusste, wer gemeint war.
    „Im Laufe der Zeit verfiel das Land. Stück für Stück nahm sich die Wüste wieder, was einst ihr gehörte. Ich, die einzige Überlebende, hatte Darkrais Angriffen getrotzt. Mehr sogar: Aus Dankbarkeit gegenüber den Menschen, die niemals aufgehört hatten, den heiligen Boden zu ehren und Darkrai Widerstand zu leisten, tat ich es ihnen gleich. Ich schuf Illusionen und schenkte den Reisenden ein Obdach über Nacht. Nicht ganz uneigennützig, wie ihr wisst, denn auch die Legende von der Rose der Wüste und meinem Vorfahren hielt ich so am Leben. Doch alles änderte sich, als eines Tages eine Gruppe Reisende das Land meiner Ahnen durchquerte. Denn diese Gruppe war allen vorherigen völlig unähnlich.“
    „Sheinux und ich hatten die Körper getauscht“, schlussfolgerte Stan.
    „Das war nur eine Ungereimtheit, die ich an jedem Tag wahrnahm“, entgegnete Shaymin. „Aber es gab noch etwas. Auf den ersten Blick sah es so aus, als wärt ihr drei Reisende. Bei genauerem Hinsehen stellte ich aber fest: In Wirklichkeit wart ihr zu viert.“


    Es dauerte eine Weile, bis ich erkannte, dass Shaymin eine Pause gemacht hatte, denn die Dinge in meinem Kopf waren außer Kontrolle geraten. „Was? Nein, wir waren ... wir waren zu dritt. Stan, Colin und ich.“
    „Das glaubte ich erst auch. Aber mein Gespür täuschte mich nicht. Dich Stan“, sie schielte in die Richtung des Angesprochenen, „oder sollte ich vielmehr sagen, dein Körper umgab eine dunkle Präsenz. Und ich, ich erkannte die Signatur wieder. Darkrai. Er begleitete euch auf eurem Weg - die ganze Zeit“, fütterte Shaymin unsere halb offenen Münder weiter. „Wie lange, weiß ich jedoch nicht. Darkrai war wie ein Schatten, der seinen eisigen Umhang über eure Gruppe legte, denn er war nie darüber hinweggekommen, dass Stan sich seinem Einfluss widersetzte.“
    „Völliger Unsinn!“
    Wir schreckten auf. Darkrais wütender Einwurf hatte selbst Shaymin kurzzeitig einen Dolchstoß zwischen die Rippen versetzt. Er verengte sein sichtbares Auge zu einem Schlitz.
    „Im Gegenteil!“, entgegnete Shaymin. „Warum sonst hast du dem Jungen aufgelauert wie keinem anderen? Warum sonst hast du so viel Zeit in dein dreckiges Spiel investiert?“
    „Du bist vermessen, zu glauben, dieser Mensch wäre etwas Besonderes. Von Anfang an war er nur eine weitere Mahlzeit.“
    „Ich kenne dich, Darkrai, besser sogar, als du dich selbst kennst“, parierte Shaymin spitz. „Schon zu deiner Zeit als Mensch warst du ein verbittertes, rachsüchtiges Wesen. Du kamst niemals darüber hinweg, dass der Herrscher damals deinen Antrag abgelehnt hatte, also versuchtest du zu zerstören, was ihm am liebsten war. Du kamst zweimal in das Reich meiner Ahnen und ließt sie, ohne mit der Wimper zu zucken deine Rachegelüste, spüren; nicht einmal die Menschen verschontest du, obwohl sie dir kein Leid zugetragen haben. Und schließlich: Stans Geist leistete dir Widerstand, also unternahmst du Versuche, ihn ununterbrochen von innen und außen zu zerstören.“
    „Zerstören? Wie?“, fragte Stan mit zitternder Stimme.
    „Der Grund, warum Darkrai sich nicht an deinen Albträumen nähren konnte, Stan, war die knospende Beziehung zwischen dir, Sheinux und eurem Freund Colin. Seit langer, langer Zeit fühltest du dich endlich wohl in deiner Haut. Du warst glücklich, Stan, glücklich. In diesen Momenten schirmte das Glück dich von Darkrais Einfluss ab, denn seine Waffen sind Angst, Schmerz und Kummer. Mit Sheinux und Colin jedoch an deiner Seite konnte Darkrai dich nicht erreichen. Alles schien überstanden. Doch dann geschah etwas Unvorhergesehenes.
    Darkrai reagierte auf Shaymins herausfordernden Blick. „Ich weiß, auf was du hinaus willst, Shaymin, aber ich muss dich leider enttäuschen: Mit den vertauschten Seelen hatte ich nichts zu tun.“
    „Aber du hast die Situation schamlos ausgenutzt!“, stellte Shaymin mit ernster Stimme klar.
    Ich war mir sicher: Wenn ihr Gegenüber ein Gesicht gehabt hätte, es hätte in diesem Moment wohl hässlich gegrinst und Shaymin recht gegeben.
    „Eure Seelen steckten im anderen Körper. Endlich fand Darkrai fruchtbaren Boden für seine Intrigen, denn es machte dich verwundbarer denn je, Stan, und auch dich, Sheinux. Darkrai hatte mittlerweile erkannt, dass insbesondere du, Sheinux, maßgebend daran beteiligt warst, den Charakter deines Freundes Stan zu festigen. Also begann er, Zwietracht zu säen und einen Keil zwischen euch beiden zu treiben. Er nutzte seinen unsichtbaren Einfluss, torpedierte dich mit negativen Gefühlen und vergiftete deine Gedanken. Darkrai ist ein Katalysator negativer Emotionen. Wenn er erst seinen Mantel über ein Opfer legt, fördert seine bloße Präsenz die tiefsten und dunkelsten Gefühle. Stan reagierte in solchen Phasen schreckhafter und ängstlicher denn je, hingegen du, Sheinux, besonders egozentrisch und aggressiv gegen dein Umfeld wurdest. Je länger die Depression anhielt, desto stärker kamen jene Gefühle zum Ausdruck. Als ich euch begegnete, besaß Darkrais Einfluss beinahe vollständig über Sheinux Besitz.
    „Ich - ich war kurz davor, Stan zu verstoßen“, erinnerte ich mich mit dem unangenehmen Gefühl, als ob mir soeben gewaltsam die Augen geöffnet worden waren. „Und dann ... im Krankenhaus. Ich hörte immer wieder diese Stimme, diese eine hässliche Stimme in meinem Kopf. Und damals im Wald ... als ich mit Stan in Streit geriet und fortgelaufen bin ... da war sie auch. - Du warst es! Du! Die ganze Zeit!“
    Ich konnte mich kaum noch mehr beherrschen. Ich fühlte mich so dumm und gleichzeitig so erfüllt mit Hass. Ich hörte Igelavars Stimme mir etwas zuflüstern, verstand es aber nur als ein undeutliches Rauschen. Von den Krallen bis zur Schwanzspitze flutete das Verlangen, dieses Feindbild vor mir zu zerschmettern. Nur Shaymins tröstende Stimme hielt in diesem Moment noch meinen Verstand zusammen, bevor ein Unglück geschah.
    „Doch ihr fandet wieder zueinander. Mehr sogar noch: Die unsichtbare Bande eurer Freundschaft blühte stärker denn je. Erneut hattet ihr Darkrai aus euren Köpfen gesperrt und das Undenkbare geschafft: Ihr kehrtet wieder in eure eigenen Körper zurück, selbst ohne mein weiteres Eingreifen. Endlich schien alles auf ein glückliches Ende hinzulaufen. Doch was Stan betraf, war sein Geist nach der Seelenumkehr enorm angeschlagen. In den kommenden Tagen verwurzelte Darkrai seinen Einfluss tiefer in Stans Psyche als jemals zuvor. Tag für Tag welkte er ein Stück mehr. Vorsorglich schloss ich mich eurer Gruppe an, denn ich wusste, dass Darkrai nur noch genügend weitere angeschlagene Seelen brauchte, um den nächsten stabilen Limbus zu schaffen. Und jetzt, jetzt sind wir hier.“
    „Jetzt seid ihr hier“, wiederholte Darkrai mit tiefer, buttriger Stimme. „Ich muss zugeben, ich bin überrascht, Shaymin. Du hast viel für deine Nachforschungen riskiert, die sogar im Großen und Ganzen zutreffend sind. In diesem Punkt habe dich vielleicht unterschätzt. Aber am Ende sind es eben nur Nachforschungen. Du hast nichts unternommen, um all dies zu verhindern. Stattdessen hast du deine Tarnung grundlos aufgegeben und dich mir auf einem Silbertablett serviert. Jetzt seid ihr alle hier, gefangen in meinem Limbus. Am Ende hast du alles riskiert und alles verloren.“
    Zutiefst beunruhigt schweifte mein Blick zwischen den beiden unterschiedlichen Pokémon hin und her. Tatsächlich schien Darkrai sämtliche Trümpfe in der Hand zu haben, während wir nichts außer Shaymins angesammeltes Wissen besaßen. Sie hätte doch wissen müssen, worauf es am Ende hinsteuern würde. Warum also hatte sie nichts dagegen unternommen? Jetzt war es zu spät. Wie Darkrai richtig behauptete: Sie war ebenso gefangen wie wir. Warum machte sie nur so einen selbstsicheren Eindruck?
    „Das sehe ich anders. Nichts ist verloren, Darkrai. Du wirst uns gehen lassen - uns alle.“
    „Du stellst Forderungen? Du? Mit welchem Recht stellst du Forderungen?“, lachte Darkrai.
    Shaymin erwiderte mit einem süßsauren Lächeln: „Entweder du lässt uns freiwillig gehen, oder ich reiße ein Loch in deinen Limbus. So oder so kommen wir am Ende frei. Was ist dir lieber?“
    Jetzt schaute ich sogar ich wieder siegessicher. Shaymin hatte ihre Kraft bereits mehrere Male unter Beweis gestellt. Sie war gleichauf mit Darkrai, vielleicht sogar stärker. Vielleicht war es nicht nur der Hass einer verschmähten Liebesbeziehung, der Darkrai so hatte handeln lassen. Vielelicht fürchtete er sogar insgeheim die Stärke von Shaymins Clan und hatte diesen deshalb vorsorglich ausgelöscht. Es war nur eine Vermutung, aber der feste Glaube daran ließ mich endlich wieder hoffen.
    „Meinen Limbus zerstören? Du willst meinen Limbus zerstören? Mein liebes Mädchen, du steckst zu hohe Erwartungen in deine Worte. Mit welcher Kraft auf dieser Welt willst du meinen Limbus zerstören?“
    „Ich werde ihn nicht zerstören, denn das wäre unserer aller Untergang. Aber ich kann in ihm einen Spalt öffnen. Mit ein wenig Gewalt!“, antwortete Shaymin.
    „Mit Gewalt!“, antwortete auch ich und tat einen Schritt an Shaymins Seite. Sie schenkte mir ein Lächeln.
    „Mit Gewalt!“, Igelavar schloss sich uns an. Das Feuer auf seinem Rücken flackerte hell und warm.
    Darkrai lachte. Er lachte laut und diabolisch. Obwohl es keine Wände gab, kein Boden, keine Decke, schien der infernalische Klang seiner Stimme uns von allen Seiten zu torpedieren. Es war eine Geste, die mir schlagartig den ganzen Mut nahm und ein unangenehmes Gefühl von Hilflosigkeit injizierte.
    „Ihr zittert und windet euch vor dem Unausweichlichen und überschätzt maßlos eure Fähigkeiten; insbesondere du, Sheinux.“ Er betonte meinen Namen scharf, was meine Aufmerksamkeit erregte.
    „Was meinst du damit?“
    „Ist dir eigentlich bewusst, Sheinux“, flüsterte Darkrai, „dass dir in letzter Zeit nichts mehr gelingt? Du fühlst dich, als wärst du nur noch ein Schatten deiner selbst, nicht wahr?“ Darkrais Worte waren ein Gift, das mich völlig lähmte. Ich konnte meine Ohren nicht vor seinen hässlichen Worten verschließen, meine Augen nicht den unabstreitbaren Tatsachen verschließen. Im Kampf gegen Sky war ich nicht mehr ich selbst gewesen. Kraft- und atemlos, keine Finesse, völlig unterlegen. Es reichte gerade so, um einigen Grillen das Leben schwer zu machen. Das aber war bereits alles. Ich war ...
    „Schwach?“
    Shaymin riss den Kopf abrupt zur Seite. „Hör nicht hin, Sheinux!“
    „Wo ist der Rebell in dir geblieben, Sheinux? Wo ist dein Wille? Dein Trotz? Deine Hartnäckigkeit? Verschwunden. Alles, was dich ausgemacht hat. Dein lieber Freund Stan domestizierte dich. Am Ende warst du ihm völlig gefügig. Stan spuckte auf deinen Stolz. Er ließ dich vergessen, wer du eigentlich bist, Sohn des Sechsten Hauses, er ließ dich deine Heimat vergessen und deine Ehre. Jetzt bist du nur noch sein Haustier. Unterwürfig! Schwach!“
    „Darkrai!“, schrie Shaymin mit furchtverzerrter Stimme.
    „Wer gab dir die Kraft, dich endlich gegen deinen sogenannten Freund aufzulehnen und dein altes Selbst wiederzufinden? Das war ich!
    Wer hat dir die Kraft gegeben, deine Feinde in der Feuersbrunst zu bezwingen? Das war ich! Ohne mich bist du ein Nichts, Sheinux! Ein Nichts!“
    „Sheinux ist mein Freund und viel stärker, als du ihm Glauben schenken willst!“ Ich erwachte wie aus einem langen Koma. Stan trat vor in unsere Reihen. Seine Stimme war an Darkrai gerichtet, sein Blick aber strahlte mich voller Stolz an. „Du fragst, wo Sheinux’ Trotz ist, sein Wille, seine Hartnäckigkeit. Solange ich ihn kenne, hat er nie aufgegeben. Er hat nie aufgegeben, egal wie schlecht es um uns stand. Er hat sich nie aufgegeben und auch mich nicht. Ich hätte nie geglaubt, dass mich irgendjemand mögen könnte. Sheinux aber hat mir aber gezeigt, was für ein Spinner ich eigentlich war. In Wahrheit war er so stark, dass auch ich irgendwann stark sein konnte. Seine unglaubliche Überzeugung gab ihm die Kraft, diese Reise anzutreten. Und diese Kraft steckt in ihm. Die Kraft, für seine Freunde da zu sein, die Kraft, stets für seine Überzeugung einzutreten, die Kraft, alles zu erreichen, was er sich vornimmt, und immer wieder seine Grenzen zu übertreffen. Sheinux hat mir zwei Mal das Leben gerettet, nicht du. Er hat Voltenso bezwungen. Er hat das Pokémon-Rudel in die Flucht geschlagen. Er hat Eagle immer wieder Paroli geboten. Und er hat dir erfolgreich getrotzt. Was sagt das über dich aus, Darkrai? Du kannst es drehen und wenden, wie du willst: Sheinux hat nicht nur seine Pflicht erfüllt, sondern auch sich und seiner Familie alle Ehre gemacht.“
    Mein Herz schlug Purzelbäume. Stan strahlte mich an und ich strahlte zurück. Shaymin nickte stumm, aber annerkennend. In diesem Moment fühlte ich mich, als könnte ich es gegen zehn Darkrais aufnehmen.
    „Rührend ... Entschuldigt, dass ich mich nicht auf der Stelle übergebe“, spottete Darkrai angewidert. „Doch, Stan, du scheinst etwas völlig vergessen zu haben, etwas Wichtiges.“
    Neben mir wurde fühlte ich Stans gewaltige Präsenz abnehmen. Was wusste Darkrai?
    „Du lobst Sheinux so sehr in den Himmel, sagst, was für ein guter Freund er doch wäre, aber die Wahrheit sieht doch wieder ganz anders aus, nicht wahr? Ich weiß, welche Motive Sheinux überhaupt gezwungen haben, diese Reise anzutreten. Ich weiß, wohin euch euer weiterer Weg führt. Und ich weiß, wie es um deine Ängste bestellt ist!“
    Nicht!“, schrie Shaymin. Eine Blase öffnete sich um Shaymin, doch es war bereits zu spät. Diesmal schaffte sie es nicht, Darkrais Einfluss zu stoppen.


    Wir fielen in ein buntes Farbenmeer, das die tiefe, dunkle Leere des Albtraums mit hellen, frohen Farben übertünchte. Ein grünes Idyll erstreckte sich vor unseren Augen. Von dem wolkenlosen Himmel lachte eine angenehme Flürlingsonne auf das Land herab. In dem landeinwärts gerichteten, warmen Luftzug schaukelten die Blumen und Grashalme gleichermaßen taktvoll. Er wisperte von Freiheit und Glück, während er sanft über die die Gesichter eines Renterpaares streichelte, die auf einer Bank gedankenverloren in die Ferne schweiften. Er trug den Duft der Bäume, die in voller Blüte standen, zu einem Mädchen, das am geschotterten Wegesrand fröhlich Blumen pflückte. Wasser plätscherte melodisch von einem zweistöckigen Springbrunnen und benetzte zwei badende Vogel-Pokémon auf der ersten Ebene mit kühlem Nass. Im schrillen Kontrast zu all der Unbeschwertheit und Heiterkeit stand ein schlaksiger Junge, auf dessen schwermütigen Gesicht das ganze Frohlocken um ihn herum wie blanker Hohn klang. Anders das Pokémon an seiner Seite, das begierig in die satte, grüne Weite stierte. Stan und ich.
    Fassungslos schaute der echte Stan sein Ebenbild an.
    „Stan, du darfst dich nicht auf Darkrais Lügen einlassen! Schau weg! Schließe Augen und Ohren! Bitte!“, flehte Shaymin.
    „Stan! Das bist nicht du! Das bin nicht ich! Schau weg!“, bettelte auch ich.
    „Sheinux würde das nie tun, Stan!“, schwörte Igelavar.
    Doch unsere Stimmen schienen ganz weit weg zu sein.
    Die von Darkrai geschaffene Illusion meines Freundes atmete die warme Frühlingsluft ein. Niedergeschlagen schaute er zu seinem Pokémon herab, doch dieses besaß überhaupt kein Interesse mehr für ihn ... oder seine Tränen, die ihm in den Augen glitzerten.
    „Geh schon ...“, flüsterte Stan.
    Und Sheinux rannte los. Er rannte, ohne ein Wort des Abschieds, ohne einen Blick zurückzuwerfen.
    „Du musst ihn gehen lassen, Junge. Es ist besser für euch beide“, bekräftigte der männliche Rentner Stans Handeln.
    „Was man liebt, lässt man los“, meinte das Mädchen im verträumten Singsang.
    „Ihr seid viel zu verschieden, nicht so wie wir“, zwitscherte eines der beiden Vogel-Pokémon.
    Der Last seines Kummers drückte Stan, den echten Stan, auf den Boden, wo sein bitteres Wehklagen die Harmonie der Umgebung zerriss.
    Machtlos schaute ich auf Stan herab. Was sollte ich tun? Was konnte ich tun? Ich spürte Igelavars Blick und Shaymins Eindringlichkeit. Ich durfte und wollte meinen besten Freund nicht verlieren! Unter keinen Umständen! Aber eben das war seine Angst, seine größte Sorge. Seit er seinen Entschluss gefasst und Laubwechselfeld verlassen hatte, wusste er, dass dieser Tag irgendwann kommen würde. Dieser Tag, vor dem er sich so sehr fürchtete - und ich mich.
    „Stan! Stan, hör mir zu! Hör mir zu! Ich werde dich nicht verlassen! Ich will dich nicht verlassen! Nie mehr!“
    So wie es bei Claire und Eagle der Fall war, stellte Stan abrupt sein Wehklagen ein. Es war still. Der Wind säuselte sanft, der Springbrunnen plätscherte rhytmisch. Jeden Moment musste sich Darkrais Illusion auflösen. Stan schaute nach oben. In seinen feuchten Augen spiegelte ich mich, ebenfalls mit Tränen in den Augen.
    „W-wirklich nicht?“
    „Wirklich nicht!“
    In der Ferne explodierte Darkrais Stimme zu einer exorbitanten Kakofonie. Die Illusion, die der Ränkeschmied geschaffen hatte, löste sich nicht auf, sondern zersprang wie eine Glasscheibe in tausend schwarze Stücke. Wir waren zurück, zurück in der unendlichen Dunkelheit des Limbus. Doch wir waren noch immer zusammen. Shaymin und Igelavar jubelten, während Stan mir mit Freudentränen um den Hals fiel. Doch unsere Freude war nur von kurzer Dauer. Darkrai hatte seinen Thron verlassen. Die schwarzen Schatten, die seinem Körper Form gaben, wurden von einer noch schwärzeren, glühenden Aura überschattet.
    Wenn ich nicht von eurem süßen Nektar des Schmerzes kosten kann, dann werde ich euch eben zerstören!
    „Wenn Darkrai unsere Gedanken im Limbus vernichtet, sind alle darin verloren! Kämpft!“

  • Part 5: Gegen die Finsternis



    Ich spürte wie die Fasern, die meinen Verstand zusammenhielten, nach und nach ihren Halt verloren. Eisern klammerte ich mich an die Hoffnung, tauchte hinab in das Meer der Erinnerung, wo ich aus den glücklichen Momenten Kraft schöpfte. Meine erste Begegnung mit Stan, wie wir unsere Freundschaft knüpften, unsere Siege und die gemeinsame Zeit, die Bekanntschaften, die wir schlossen, wie wir uns stritten und wieder versöhnten.
    Jetzt nicht nachlassen!
    Ich versetzte mir selbst einen gewaltigen Ruck. Die Energie aus meinem Körper donnerte gegen die Kluft aus Dunkelheit und Hass vor und drängte sie weniger Zentimeter zurück. Shaymin leuchtete hell, so hell wie meine glücklichen Erinnerungen. Sie hielt eine kuppelförmige Barriere aufrecht, die uns nicht nur vor Darkrais negativer Energie abschirmte, sondern auch dagegen ankämpfte. Ihr Schild wuchs, so wie ich uns mit meinem Ausbruch etwas Distanz verschafft hatte. In der Bresche zwischen Elektrizität und Feuer pressten Stan und Fiffyen unter Qualen ihre verletzlichen Leiber gegen Darkrais Angriff. Fiffyen hatte keine Fragen gestellt, keinen Streit gesucht, diesmal nicht. Auch ohne Erklärungen schien sie zu wissen, was auf dem Spiel stand.
    Jetzt war es Darkai, der sich einen Stoß versetzte. Ein schwarzer Puls ging aus seinen ausgestreckten Schattenhänden aus. Es war ein Sargnagel, und genau so schlug er zu. Die ausgelöste Welle schmetterte gegen Shaymins Schild. Erst Fiffyen, dann auch Stan schleuderte es jaulend zurück. Die Schutzbarriere knisterte. Grünes Licht schoss uns um die Ohren. Unser Schutz schrumpfte. Mir war so, als würde sich der unsichtbare Boden unter meinen zitternden Pfoten öffnen und mich jeden Moment verschlucken. Als Antwort wuchs Igelavars Flammeninferno an. Im gleichen Moment warfen sich Stan und Fiffyen wieder in den Kampf. Unser Widerstand gewann ein kleines Stück an Boden, doch weniger als ich zuvor erkämpft hatte.
    In meinem Kopf nahmen weitere Bilder Gestalt an: Stan und ich in der Badewanne, Igelavar, wie er bei unserer ersten Begegnung in seiner vorentwickelten Form auf einem Stein faul in der Sonne gedöst hatte, Stan graulte mich, als ich mich schlecht gefühlt hatte.
    Eine Sphäre elektrischer Energie mischte sich in meinen Energiestrom. Mit der Geschwindigkeit einer heranrasenden Faust zerschellte er an der Wand vor uns. Wieder wich Darkrais Einfluss um einige Zentimeter und wieder verleibte Shaymin sich dieses Stückchen Spielraum ein. Aber wie lange noch? Wie lange konnten wir uns noch ihm widersetzen?
    Stan! Sheinux! Es gibt etwas, was ich euch aus gutem Grund verschwiegen habe, etwas Wichtiges.
    Bestürzt versetzte ich Shaymin einen Blick, denn ihre Stimme hallte nicht in meinen Ohren, sie war in meinem Kopf. Ich verlor so die Fassung, dass für einen Wimpernschlag der Zeit mein Stromfluss versiegte und Darkrai wieder neuen Raum gewinnen konnte. Verbissen stemmte ich mich dagegen, während ich Shaymins Stimme weiter in meinem Kopf hörte.
    Nicht ohne Grund habe ich euch damals die Rose der Wüste suchen lassen. Sie ist der Schlüssel. Nicht einmal Darkrai weiß davon. Setz sie ein, Stan!
    „Ihr seid in meinem Limbus, Shaymin! Ihr könnt vor mir nichts geheim halten!“
    Darkrais Einfluss wuchs zu einer monströsen, hungrigen Bestie heran. Stan und Fiffyen katapultierte es über unsere Köpfe hinweg. Shaymins Schutzschild schrumpfte um ein Vielfaches.
    Nein!“, keuchte sie.
    Darkrai kam näher, und mit ihm die Finsternis. An dem blassgrünen Schutzwall gefror das Kondenswasser zu Eiskristallen. Die eisige Hand des Zerstörers der Träume drang durch unseren Schutz und ließ unseren heißen Atem in der Luft sichtbar werden. Stück für Stück ergriff die Finsternis von uns Besitz. Stan preschte heran und warf abermals seinen zerbrechlichen Körper in die Bresche. Er schrie vor Schmerzen. Die Tränen auf seinem zermürbten Gesicht gefroren zu Eis. Doch sein Opfer stoppte die heranrückende Vernichtung - für den Moment.
    „Wenn einer von uns loslässt, ist es vorbei!“, keuchte ich.
    „Jetzt dürft ihr sterben!“
    Aufeinanderfolgende Explosionen brandeten plötzlich gegen Darkrais Hass, ausgelöst von sichelförmigen Geschossen über unseren Köpfen. Darkrais Macht schwand ruckartig.
    „Ich bin noch nicht mit dir fertig!“, krächzte Sora herausfordernd.
    „Halt dich da raus!“, schrie Darkrai.
    „Gib ihn mir zurück!“
    Eagles Partner-Pokémon Sora stand uns bei! Und mit ihr der Geist ihres Trainers: seine unerschütterliche Kraft, seine Zielstrebigkeit und seine Sturheit. Jetzt hatten wir eine Chance.
    „Jetzt, Stan!“, schrie ich.
    „Wir kommen hier raus! Los!“, brüllte Igelavar mit dem Maul voller Flammen.
    Am Ende seiner Kräfte strauchelte Stan im unkontrollierten Zickzack an uns vorbei. Auf halbem Weg zu seinem Rucksack, den er zwischenzeitlich verloren hatte, knallte er auf den Boden. Alarmiert spähte ich über den Rücken. Dort lagen er und Fiffyen - ohnmächtig; Scorpio und Gaia, ebenfalls bewusstlos, nicht unweit von ihnen entfernt. Dann aber: ein schwaches Lebenszeichen. Meter für Meter schleppte Stan sich zu seiner Tasche. Er riss den Reißverschluss auf. Die Sekunden verstrichen.
    Aus den Tiefen seiner verdorbenen Seele stieß Darkrai einen ohrenbetäubenden Schrei aus. Außerhalb von Shaymins Schild war es lediglich ein schrilles Aufheulen, doch als es den Schutz durchdrang, verwandelte es sich zu einer wimmernden Totenklage. Angst, Trauer und Verzweiflung nahmen in meinem Kopf bildliche Gestalt an. Mit einem gleichgültigen Grinsen im Gesicht ließ Stan mich sterbend in einer Wüste zurück, meine Freunde gingen im Waldbrand in Flammen auf, der Nationalpark war zu einem verkommenen Tal des Elends verdorben, Deoxys zertrümmerte einen zur Salzsäule erstarrten Stan in seine Einzelteile.
    Meinen restlichen Mitstreiter erging es nicht anders. Wieder verlor der Unterschlupf rapide an Größe. Selbst Shaymin wirkte zerstreut.
    „Nicht ... hinsehen“, klagte Shaymin unter Tränen, „nicht hinsehen!“
    „Du nimmst ihn mir nicht!“ Aus Soras Kehle entstieg ein zerstörerisches Krächzen. Nicht mehr Herrin ihrer Gefühle schmetterte sie ihren Leib ohne Rücksicht auf Verluste gegen die lebensbedrohliche Barriere vor ihr. Ihr Hass und ihre Angst spielten sie Darkrai direkt in die Hände. Schwarzweiße Federn stoben. Sora schrie vor Wut - und vor Schmerzen. Augenblicke später katapultierte es den Vogel über unsere Köpfe hinweg.
    Mit blankem Entsetzen sah ich ihr nach - und da war Stan! Mit letzter Kraft schleppte sich Stan kriechend in unsere Richtung. In der Hand hielt er die Rose der Wüste. Ich schaute wieder nach vorne. Meine Augen schwangen im Takt der näher kommenden Energie. Darkrais Einfluss hatte uns fast erreicht.
    „Los, Stan!“, flehte Shaymin.
    Stan mobilisierte die letzten Kraftreserven. Er riss seine Hand nach vorne. Noch in der Bewegung kollabierte er. Die Blätter der Rose flatterten im Fahrtwind der konkurrierenden Mächte. Sie berührten Shaymin.
    Aus heißerer Kehle krächzte ich Stans Namen, während sich mein Blick völlig auf Shaymin konzentrierte. Jeden Moment musste es geschehen. Jeden Moment hatte der Albtraum ein Ende. Jeden Moment ... Und es geschah - nichts. Wieso geschah nichts? Ich rief Shaymin beim Namen. Doch die Angesprochene reagierte nur mit blankem Entsetzen im Gesicht.

  • Part 6: Schocksamen



    Shaymins Schild knisterte und knackte wie brüchige Zweige, die man an das Ende ihrer Belastung trieb. Blassgrüne Funken sprühten, landeten auf dem Boden, wo sie zu Asche zerfielen, oder versengten uns das Fell. Unsere Reihen hatten sich gelichtet. Stan: bewusstlos. Fiffyen: zermürbt. Sora: entschwunden. In der ausgestreckten Hand meines Freundes flatterte die Blume, in der wir alle Hoffnungen gesteckt hatten und immer noch Shaymins Rücken berührte, ohne etwas zu bewirken. Im Missklang der Elemente welkte das leuchtende Emblem unseres Widerstandes dahin, und mit ihr unsere letzte Hoffnungen. Mit ausgebreiteten Händen schob Darkai die dunkle Energie in unsere Richtung. Er kam näher, immer näher. Ich sah das Weiße in seinen mörderischen Augen, den Hass und den Hunger.
    Meine Beine waren nur noch Gelee, der Nacken steif, der angsterfüllte Ausdruck auf meinem Gesicht festgefroren. Ich kniff die Augen mit aller Gewalt zu und versuchte, meinen Geist von der unbarmherzigen Wirklichkeit zu lösen, ohne den Energiefluss aus meinem Körper abreißen zu lassen. Tiefer als je zuvor schwamm ich im Meer meiner Erinnerungen. Doch da war nichts. Ich fand keine weitere glückliche Erinnerung, an die ich mich klammern konnte. Es gab nichts mehr, was mir noch Kraft geben konnte. Tiefer und immer tiefer. Hinein in die dunkelsten Schluchten meines Geistes. Doch da gab es nichts. Nichts wollte mir in den Sinn kommen, als blockierte etwas oder jemand meinen Geist. Gewaltsam riss es mich zurück in die wirkliche Welt, wo die Qualen meinen Körper fluteten. Ich konnte nicht aufgeben! Ich durfte nicht aufgeben!
    „Es tut mir leid, Sheinux. Es ist alles meine Schuld. Ich habe mich geirrt.“
    Shaymins Stimme, einst süß, zärtlich und manchmal sogar ein wenig frech, war von Gewissensbissen und Furcht zerrüttet. Das Eis knackte, als ich mein Gesicht etwas zur Seite drehte, wo Shaymin mich mit feuchten Augen ansah. Neben mir versetzte sich Igelavar einen letzten verzweifelten Stoß. Ich wusste, es war sein letztes Aufbäumen.
    „Du hast es schon mal gemacht und dich verwandelt. Wieso jetzt nicht?“, keuchte ich.
    Shaymin speiste den Schild mit einem Schub neuer Kraft. Das Sprechen fiel ihr schwer. „Der Limbus ist zu ... dunkel, zu kalt. Ich habe ... nicht damit gerechnet. Die Rose ... nur im Licht entfaltet sie ... die Kraft.“
    „Naives Mädchen! Jetzt zahlt ihr die Zeche! Sterbt!“
    Unmittelbar, bevor Darkrai seine mörderische Drohung bewahrheiten konnte, geschah es: Ein Strahl gleißenden Lichts jagte an uns vorbei und krachte tosend gegen die Barriere. Darkrais ausgefahrene, glühende Hände erbebten, er selbst schwankte plötzlich wie ein schaukelndes Boot im Sturm. Fiffyen war verschwunden. An ihrer Stelle stand ein anderer Vierbeiner mit ausgefahrenen Krallen und Schaum vorm Maul. Die Augen des Pokémons mit dem struppigen, schwarzgrauen Fell brannten so rot wie ein Feuer in der Nacht.
    „Hände weg von meinem Sheinux!“ So wie das letzte Wort gebellt war, entfesselte das Pokémon erneut eine zerstörerische Energiesäule aus dem Maul.
    „F-Fiffyen?“, stammelte ich.
    Shaymins Barriere gewann an Größe. Darkrai hatte fast seinen eben erst zurückgelegten Weg eingebüßt. Als Spielball der gegensätzlichen Kräfte pendelte er unkontrolliert über den Boden. In einer schnellen Bewegung und Panik im sichtbaren Auge fuhr seine zu einer Klaue geformten Schattenhand nach vorne, als versuchte er, eine unsichtbare Kante zu greifen. Tatsächlich stabilisierte diese Bewegung ihn. Darkrai riss den Kopf in die Höhe und erfasste uns mit seiner Wut. Eine neue Welle schonungslosen Hasses brandete auf den Schild. Wieder nahm Shaymins Blockade ab, und wieder kam Darkrai näher. Fiffyens neue Form konnte ihn bremsen, doch ihn aufzuhalten, vermochte sie nicht.
    „Es gibt keine Hoffnung! Es gibt kein Licht! Nur Zerstörung!“, schrie Darkrai.
    „Hoffnung ist wie eine Blume: Sie gedeiht an jedem Ort“, erwiderte Shaymin.
    „Du trotzt mir noch immer? Ich sehe die Furcht, wie sie dein Herz ummantelt, wie sie dich verzagen lässt, dich auffrisst. Und du trotzt mir noch immer?“
    „Bis zum letzten Atemzug.“
    „So sei es!“
    Die Elemente selbst verschworen sich gegen uns. Dunkle Blitze zuckten aus Darkrais Handflächen, während er die Barriere weiter in unsere Richtung stemmte. Sie waren Fangzähne, die über unseren Schild züngelten. Mit jedem der kurzen Einschläge schwand unser Schutz zunehmend. Darkrai erhob seine linke Hand. Eine violette Kugel mit schwarz glühender Aura stieg empor. Mit ohrenbetäubendem Knall explodierte sie zu Schrapnelle kleinerer Projektile. Jeder Aufprall war wie ein Kanonenschlag. Die eisige Finsternis zog seinen Kreis enger. Igelavar und ich rückten naher an Shaymin heran. Unser Schutz bot kaum noch Raum. Wenige Meter war Darkrai noch entfernt. Meine vibrierenden Augen quollen aus den Höhlen. Die Qualen wurden unerträglich. Ich hörte Darkrais Stimme in meinem Kopf wie schon die Male zuvor, wo er versucht hatte, meinen Verstand an sich zu reißen. Enttäuschung. Hass. Verzweiflung. Seine Stimme war zu stark. Ich konnte nicht mehr.
    „Wo ist dein Trotz, Shaymin? Wo deine Hoffnung? Wo?“
    Shaymin antwortete nicht mehr.
    „Hast du aufgeben? Antworte!“
    Keine Antwort. Ich wusste, es war das Ende.
    „Wo Schatten ist - da ist auch Licht!“
    Hinterrücks explodierte eine Stimme. Sanft und wohltuend im Klang, als ob ein Engel sprach, gleichzeitig mit einer Drohung so stark und streitsüchtig wie ein Gewittersturm.
    Zu benommen, um den Ursprung der Stimme hinter meinem Rücken auszumachen, blieb mir nur die Hoffnung. Doch welche Kraft auf dieser Welt konnte uns noch retten? Zu oft hatte uns die Hoffnung bereits enttäuscht. Es war vorbei.
    Darkrai hob den Kopf in die Höhe. Ich wusste nicht, was diese Geste zu bedeuten hatte. War sie gut oder schlecht?
    „Es ist sinnlos!“
    Wieder streckte er eine Hand aus - diesmal schräg über unsere Köpfe hinweg. Schwarze Blitze entstiegen der Handfläche, immer und immer wieder. Darkrai schrie vor bestialischer Wut. Jetzt sah auch ich es: Es war eine Sphäre reinen Lichts. Langsam stieg sie empor. Das bloße Hinsehen linderte die Schmerzen und vertrieb Darkrais Stimme aus meinem Kopf.
    „Was ...?“, raunte ich.
    „Gaia!“, hörte ich Shaymin keuchen.
    Die Kugel explodierte. Ein greller, gleißender Schein flutete den Limbus mit warmem Licht. Ich schrie vor Schmerz. Meine Augen versengten. Es fühlte sich an, als stünden sie in Flammen. Meine Beine klappten ein. Ich war blind. Nur das Getöse blieb zurück. Auch Fiffyens und Igelavars nackte Augen waren dem Schauspiel direkt ausgesetzt gewesen, denn ihr Klagen hämmerte ebenso in meinen Ohren wie das Darkrais. Eine neue Quelle der Wärme keimte auf - direkt neben mir. Ich blinzelte. Punkte tanzten in dem Schneegestöber meiner Netzhaut. Shaymins schwarze Konturen mischten sich darunter. Sie wuchsen in die Höhe. Ihre krafterfüllte Stimme explodierte.
    „Es ist vorbei, Darkrai!“
    Der Boden bebte. Ich spürte die unglaubliche Energie. Die Vibrationen machten mich zum Spielball. Ich verlor den Boden. Der Luftwiderstand peitschte mir ins Gesicht, während Angst und Panik Darkrais Stimme versetzten.
    „Vorbei!“, entlud sich Shaymins Drohung.
    Shaaaaaayminnnnnn!

  • Part 7: Das Ende des Albtraums


    Die längste Nacht ging zu Ende. Ein neuer Tag brach an. Es herrschte reges Fußgetrappel auf den Gängen, Gelächter, Unterhaltungen. Menschen unterschiedlichen Alters und Herkunft betrachteten die Landschaft, die im unglaublichen Tempo an ihnen vorbei zog. Man schwärmte von neuen Taten, neuen Abenteuern, sehne endlich das Ende der Fahrt herbei. Sie besaßen keine Kenntnisse, mit welcher Tragödie dieser Zugfahrt für acht ihrer Mitmenschen und deren Pokémon hätte enden können.


    Das Surren der Magnetbahn träufelte mir in die Ohren. Ein einzelner Sonnenstrahl streichelte mir verspielt über das Gesicht. Noch im Halbschlaf fühlte ich die Wärme, den Trost, die Geborgenheit, die von dieser geringen Geste ausgingen. Blinzelnd erwachte ich. Noch schlaftrunken flimmerten mir bunte Punkte vor den Augen. Ich war noch müde, unglaublich müde. Alles war so verschwommen. Nur allmählich nahm unser friedliches Abteil klarere Konturen an. Ich lag eingekringelt und schweißgebadet auf Stans Schoß. Mein Freund schlief noch. Auch auf seinem Gesicht stand der Schweiß. So auch Eagle, der uns mit über Kreuz verschränkten Armen gegenübersaß, wo ihm der Sabber leicht aus dem rechten Mundwinkel sickerte. Seine Gesichtszüge begannen leicht zu zucken. Auch in Stan rührte das Leben sich schwach.
    „Stan?“, flüsterte ich leise.
    Er blinzelte und schaute verschlafen zurück. In stiller Überwältigung hauchte er meinen Namen. Dann fiel er mir um den Hals. Ich fühlte seinen Herzschlag - ein unsichtbarer Herzenswunsch, der soeben in Erfüllung gegangen war. Ich lauschte dem Klang seiner weinenden Stimme und stimmte bald mit ihr ein. Die Wärme seiner Umarmung riss selbst dann nicht ab, als unangekündigt die Abteiltür aufgestoßen wurde, Claire zu uns stürmte und mit uns weinte. Nach und nach waren sie alle da, quetschten sich in unser Abteil. Kevin fackelte nicht lange, sonder stürzte jubelnd auf unseren Haufen und schrie immer wieder „Ihr habt es geschafft! Ihr habt es geschafft!“. Simon, dem seine beiden jetzt verständnislos dreinblickenden Freunde während seines Schlafs mit einem schwarzen Filzstift Schnurrhaare auf das Gesicht gemalt hatten, watschelte vor uns auf und ab, überlegend, ob er sich ebenfalls auch auf uns stürzen sollte - was er schließlich dann auch tat. Die kleine Kelly riss sich schließlich von ihren verblüfften Eltern los und schloss sich mit kindlicher Freude unserem Knäuel an.
    Lars und Lindsay, die eigentlich Rebecca hieß, Schulter an Schulter, betrachteten das Schauspiel lachend und mit Freudentränen in den leuchtenden Augen.


    „Und ihr habt alles gesehen?“
    „Sagten wir doch schon: Wir haben alles gesehen. Alles.“
    Wir hatten uns den größten Tisch im Speisewagen gesichert, trotzdem war immer noch zu wenig Platz für all die Leute. Simon konnte schließlich seine beiden Reisegefährten dazu überreden, in ihr Abteil zurückzukehren und dort auf ihn zu warten.
    Der Ort, den ich nur aus dem Limbus her kannte, war nicht wiederzuerkennen. Als wir uns das letzte Mal in dem Speisewagen befanden, war er völlig ausgestorben gewesen. Jetzt aber dominierte munteres Gelächter und Geplapper sowie das Klirren von Besteck den Schauplatz. Selbst die Farben waren froher und kräftiger, so lebensbejahend. Ich fand es geradezu unheimlich, wie sehr ich mich an die Melancholie des Limbus gewöhnt hatte. Die einzigen nicht eingeweihten Menschen waren Kellys Eltern, die hinsichtlich der vielen fremden Gesichter sehr misstrauisch dreinschauten. Auch waren sie die Einzigen an unserem Tisch, die immer noch in Unkenntnis darüber verweilten, an welch grausigem Ende ihr kleines Mädchen nur knapp vorbeigeschrammt war.
    Stan nippte an seiner Limo. Er lehnte erschöpft an der Rückenlehne seines Sitzes. „Alles, huh ...!“, nuschelte Stan. Er beschränkte seinen verlegenen Blick auf das Getränk in seiner Hand. Ich versetzte ihm daraufhin einen Stoß, dass sein Kopf gerade dann hochschreckte, als Simon ehrfürchtig seinen Respekt zollte.
    „Ihr habt ihm den Marsch geblasen!“
    „In den Arsch getreten haben sie ihm!“
    Kellys Mutter machte auf Kevins Ausdruck hin ein missbilligendes Geräusch. „Kelly, Schatz, wer sind diese Leute?“
    „Habe ich doch schon gesagt, Mama: Das sind meine Freunde!“
    „Aber, woher ...?“
    „Psst! Will zuhören!“
    „Es war ziemlich knapp. Wir hatten Glück“, sagte Stan leise.
    „Verdammtes Glück hatten wir“, meinte Eagle, der sich schweigsamer als sonst verhielt. Statt dass ihm aber - wie schon zu oft -widersprochen wurde oder wüste Gesten folgten, machte nachdenkliches Kopfnicken die Runde.
    „Wenn Claire nicht das Bilderrätsel geknackt hätte, wäre es wahrscheinlich aus gewesen“, sagte Rebecca.
    Claire schaute zum gleichen Teil verunsichert wie für dieses unerwartete Lob beschämt. „Das habt ihr auch gesehen? - War doch keine große Sache ...“
    „Ich weiß nicht, wie es bei den Anderen war“, begann Lars, „aber als dieses Pokémon, Darkrai, mich seinen Kräften unterworfen hatte, war mir, als hätte sich mein Verstand aus dem Körper gelöst. Ich konnte alles sehen, gehen, wohin ich wollte, durch Wände, durch die Decke. Es gab keine Grenzen. Es war gespenstisch.“
    „Hätte Darkrai jeden von euch einzeln geschnappt wie bei uns, wäre es vorbei gewesen“, sagte Rebecca.
    Beschämt vergrub Lars sein Gesicht in den Handflächen. „Ich weiß immer noch nicht, wie ich nur so dumm sein konnte ... Man hat uns an der Nase herumgeführt, von Anfang an, und ich habe nichts gemerkt. Nichts.“
    „Der hat uns nach Strich und Faden verarscht!“, polterte Kevin, was wieder von einem missbilligenden Blick von Kellys Mutter begleitet wurde.
    Wir haben nichts gemerkt. Wir“, korrigierte Rebecca. „Wie auch? Ist ja nicht gerade so, als wäre jeder mal in so einer Lage gewesen.“ Rebecca schaute in die Runde. Das nachdenkliche Schweigen gab ihr Recht.
    „Ich bin nur froh, dass es vorbei ist. Muntier ist auch wieder da“, sagte Simon.
    „Elektek auch“, fügte Rebecca hinzu.
    „Es ist, wie Shaymin gesagt hat: Jeder, der im Zug eingeschlafen ist, hat es in den Limbus verschlagen. Darkrai hat da keine Ausnahme gemacht. Es kam ihm offenbar gelegen, dass einige von uns gewisse ... Schwierigkeiten haben. Es machte uns anscheinend empfänglicher“, sagte Lars. „Sag mal, Lindsay ... Rebecca. Ist es eigentlich wahr, was Darkrai gesagt hat? Also ... du weißt schon ...“ In seinem Bestreben, Rebecca einige Details aus ihrer Vergangenheit zu entlocken, stellte sich Lars wenig diplomatisch an. Schon seit ich ihn kennengelernt hatte, fühlte ich in ihm eine gewisse Sympathie für Rebecca. Hinsichtlich der Erlebnisse der letzten paar Stunden jedoch wirkte er jetzt in seinem Glauben wohl zerrissen.
    Die entspannte Stimmung kippte rasant. Die Temperatur an unserem Tisch schien schlagartig deutlich kälter. Rebeccas Mimik war gequält. Kopfschüttelnd schaute sie weg. Sie öffnete den Mund, doch keine Worte wollten ihr über die Lippen kommen. Schließlich sagte sie: „Es war ein Unfall. Ich wollte nicht, dass es so weit kommt. Ich wollte das nicht.“
    „Ist doch egal. Was reitet ihr jetzt auf diesen ollen Kamellen rum? Seid doch lieber froh, dass es vorbei ist“, fauchte ich. Man entgegnete meinem Kommentar verständnislose Blicke. Ich aber fand mich ganz und gar im Recht. Wir hatten gerade die Hölle durchquert. Eigentlich ein Grund zum Feiern. Stattdessen saßen wir da und bliesen Trübsaal.
    „Was hat er gesagt?“, fragte Kevin.
    „Er ...“ - Stan überlegte kurz - „er meint nur, wir sollten das Thema doch bitte ruhen lassen.“
    „Ich finde es schade, dass wir Sheinux nicht mehr verstehen können. Das war lustig“, piepste Kelly unter zustimmendem Nicken.
    „Der Limbus war schon echt schräg, aber die Pokémon zu verstehen, war richtig geil. Eigentlich schade, dass wir überhaupt keine Zeit dafür hatten“, meinte Kevin.
    „Aber du kannst ihn immer noch verstehen, Stan?“, fragte Simon.
    Stan lächelte matt. „Jaah. Betriebsgeheimnis.“
    „Ich hab da so meine Theorien“, bohrte Simon.
    „Lass mal, du Genie ...“, drohte Eagle mit vielsagendem Blick.
    Einige lachten, dann aber wurde es ruhig an unserem Tisch. Rebecca und Lindsay fingen eine leise Unterhaltung an. Kellys Eltern wollten endlich den fremden Menschen den Rücken zukehren, doch ihre Tochter widersprach ihnen konsequent. Simon schaufelte ein zweites Stück Kuchen hinein, als Claire die Stille unterbrach. „Was ist eigentlich mit Shaymin?“
    Zum zweiten Mal kippte die Stimme. Diesmal lag Spannung in der Luft. Stan machte einen verunsicherten Eindruck. „Shaymin? Was meinst du?“
    „Sie hat uns alle gerettet, oder? Ich meine, okay, dieses Pokémon mit dem langen Hals hat auch seinen Teil dazu beigetragen ...“
    „Gaia ...“, brummte Eagle.
    Claire nickte ihm zu. „Gaia. Ohne Gaia wäre es - so jedenfalls verstehe ich das - nie zu der Verwandlung gekommen. Aber ohne Shaymin wären wir jetzt definitiv nicht hier.“
    Stan schaute immer noch verunsichert. „Und ...?“
    Claire lächelte erschöpft, da ihr Wink mit dem Zaunpfahl nicht beachtet wurde. „Wollen wir sie nicht vielleicht auch feiern? Das hat sie verdient.“
    Am Tisch begegnete man den Vorschlag mit zustimmendem Murmeln.
    Stan und ich tauschten Blicke. Ich zuckte die Schultern. „Spricht doch nichts dagegen“, meinte ich. Aber Stan kräuselte nachdenklich die Lippen. Ich war nicht sicher, worüber er nachdachte, aber er überlegte eine Zeit lang, bis er dann endlich in seiner Meinung bekräftigt schien.
    „Ich denke, wenn Shaymin zum Reden oder Feiern zumute wäre, dann wäre sie längst selbst aus dem Pokéball kommen. Aber da das nicht der Fall ist, denke ich, dass sie im Moment lieber alleine sein will. Mir wäre es ehrlich gesagt auch sehr recht, wenn ich mich alleine mit ihr unterhalten könnte. Hoffe, das geht für euch in Ordnung.“
    Nicht jeder schien im ersten Moment einverstanden. Aber am Ende respektierte man Stans Wunsch.
    „Ich habe jetzt auf jeden Fall genug gehört. Wir gehen! Keine Widerrede mehr, junges Fräulein!“
    „Aber Mama!“
    Kellys Eltern entboten uns einen halbwegs freundlichen Abschied. Mit der bitterlich weinenden Kelly im Schlepptau verließen sie unseren Tisch.
    „Sollten wir es ihnen sagen?“, meinte Lars zu Rebecca, während er ihnen nachsah.
    „Warum fragst du überhaupt? Du hast ja doch deinen eigenen Kopf. Geh schon, ich komme gleich nach.“
    Lars stand auf. Sein Lebwohl klang deutlich ehrlicher und freundschaftlicher. Stan schloss er sogar väterlich in den Arm, während er mir die Ohren kraulte. Ich ließ ihn gewähren, schließlich war er ja doch nicht so ein übler Kerl, wie ich lange Zeit von ihm gedacht hatte. Rebecca und Claire, welche sich von Anfang an prächtig verstanden hatten, unterhielten sich noch eine Zeit, bis auch die Ältere von beiden sich daraufhin der Liste der Abreisenden anschloss. Daraufhin ging alles sehr schnell. Eagle seilte sich kurz daraufhin ab, Kevin und Simon waren die Nächsten, nicht ohne Stan und mir jedoch Schulterklopfen und alles Beste auf den Weg zu geben.
    „Also“, sagte Claire, während sie sich erhob. Ihre Stimme klang wehmütig. Schnell rieb sie sich über die Augen. Ihr Gesicht war von Stolz, Freundschaft und Abschiedsschmerz zerrüttet. „Was hast du jetzt eigentlich vor, Stan?“
    Auch Stans Blick wurde glasig. Sie hatten viel durchgemacht, Stan und Claire. Auch meinem schüchternen Freund ging es an die Nieren. „Ich ... also ... Ich habe nicht so wirklich darüber nachgedacht. Wir waren ... also Sheinux und ich waren eigentlich unterwegs zum Nationalpark, aber das hat sich ja“ - Stan schaute mich an, ich nickte bekräftigend, wenn auch vielleicht etwas wehmütig - „erledigt. Jetzt, ja ... keine Ahnung. Vielleicht gehe ich einfach heim und haue mich eine Woche ins Bett. Nach all der Aufregung ist mir irgendwie danach.“
    „Das klingt schön“, schwärmte Claire. Eine kurze, peinliche Pause setzte ein. „Also dann, Stan, Sheinux.“ Sie umarmte Stan ein letztes Mal und auch mir begegnete sie Wange an Wange. „Vielleicht sieht man sich ja wieder.“
    „Ja, vielleicht ...“
    Claire war schon auf halbem Weg den Speisewagen hinaus, als ich Stan, diesem Dauer-auf-dem-Schlauch-Steher, einen kleinen motivierenden, elektrischen Klaps versetzte. „Azaelea City. Stan Lionheart. Komm mich mal besuchen!“
    Claire strahlte. „Versprochen.“


    Auf dem Weg zurück in unsere Kabine seufzte Stan schwer. Ein wenig vorwurfsvoll schaute er mich an. „Was sollte das eben? Das tat weh!“
    „Claire ist schwer in Ordnung. Du könntest ruhig netter zu ihr sein.“
    Stan seufzte noch schwerer. „Noch netter? Ich geb’ doch schon mein Bestes.“
    „Stimmt wohl“, gab ich zu. „Im Gegensatz zu damals, als ich dich kennengelernt habe, war das eben Erdbeeren mit Schlagsahne. Aber das üben wir noch ein bisschen, okay?“
    „Was gibt es denn noch Besseres als Erdbeeren mit Schlagsahne?“
    „Erdbeeren mit Schlagsahne und Vanille-Eis!“
    „Du weißt echt, was gut ist.
    „Ich habe einen ganz einfachen Geschmack: Ich bin bereits mit dem Besten zufrieden.“
    Der Hunger sollte uns schlagartig vergehen, als Stan die Tür zu unserem Abteil aufschob. Eagle war da. Angesichts der Tatsache, dass er dem Tod noch einmal von der Schippe gesprungen war, wirkte er wenig zufrieden, geradezu grantig.
    „So“, machte er und stand auf, „so. Da bist du ja.“
    Stan schob die Abteiltür zu. Unschuldig ging er an seinem stehenden Reisegefährten vorbei und nahm Platz. „Ja?“
    Eagle ballte die Fäuste. „Tu nicht so“, knurrte er. „Ich kann eins und eins zusammenzählen, weißt du?“
    „Häh?“
    „Hast du mir nichts zu sagen?“ Eagles Stimme wurde lauter, sein Ton rauer.
    „Was zusammenzählen? Wovon ...?“
    „Ich wollte dir Zeit geben, dich bei mir auszukotzen, aber ich muss dir mal wieder nachhelfen! Du bringst nicht Shaymin heim, sondern diese Verschwendung von Pelz da, habe ich recht? Habe ich recht? Antworte!“ Eagle war Stan an den Kragen gegangen. Mit der anderen Hand hatte er seine geballte Faust unterhalb von Stans Kinn platziert.
    Mit einem Mal war ich auf den Beinen. Funken sprühten. „Lass ihn los! Sofort!“
    „Halt dich da raus“, fauchte Eagle.
    „Ich sagte, du sollst ihn loslassen!“
    „Ich - ich habe nie gesagt, dass ich Shaymin nach Hause bringe. Du hast da scheinbar etwas missverstanden.“
    „Und das hast du die ganze Zeit gewusst und dich wahrscheinlich köstlich darüber amüsiert, du und dein kleiner Flohzirkus!“
    „Glaubst du das wirklich? Dann hast du echt eine Meise! Mittlerweile dürfest du mich doch kennen.“
    „Meine letzte Warnung. Lass - ihn - los!“
    Eagles Gesichtszüge waren nicht zu deuten. Sicher: Fuchsteufelswild beschrieb seinen Zustand noch zu milde, aber er haderte auch mit sich selbst. Seine Faust zitterte in der Luft. Er presste seine Augen zusammen, seine bebenden Kiefer waren in einer festen Mangel verkeilt. Dann: Mit einem gewaltigen Ruck ließ er endlich von meinem Freund ab. Eagle schnappte sich daraufhin sein Hab und Gut, riss die Abteiltür auf und rammte sie wieder zu. Seine Schritte polterten den Gang entlang, bis sie allmählich verebbten.
    Erschöpft und mit trübseligem Gesichtsausdruck sackte Stan auf seinem Sitz zusammen. „Und ich dachte, er hätte sich endlich geändert ...“
    „Nicht jeder, der aus dem Rahmen fällt, war vorher im Bilde.“
    „Er hat das wohl aus meinem Albtraum interpretiert. Dumm ist er nicht.“
    „Aber ein Arsch.“
    Stan lächelte matt. „Das trifft den Nagel auf den Kopf.“


    Es war das erste Mal seit langer, langer Zeit, dass ich und Stan alleine waren. Wirklich alleine. Niemand war da, der uns stören konnte. Wir hatten das komplette Abteil für uns. Und alles, was uns einfiel, war uns gegenseitig anzuschweigen. An unserem Fenster zog die Landschaft in einem Schleier aus bunten Farben vorbei. Eine ländlich geprägte Region mit seinen bewachsenen Feldern und kleinen, verschlafenen Ortschaften. Die Magnetbahn schnellte an Reisenden am Wegesrand vorbei und überholte mit spielender Leichtigkeit jedes Pokémon am Himmel. Ein harmonisches Ding Dong schallte irgendwann aus den Lautsprechern, gefolgt von einer wohlklingenden Frauenstimme, welche das baldige Erreichen Dukatia Citys ankündigte. Der Zug wurde langsamer. Ich stützte mich auf dem Fenstersims ab und schaute gedankenversunken durch das Glas. Unsere Reise hatte uns so weit geführt; in Teile der Welt, von denen ich noch nicht einmal gewusst hatte, dass es sie überhaupt gibt. Wir hatten das Meer gesehen, eine Wüste, die Asphaltdschungel der Menschen, im schrillen Kontrast dazu Baumhausen City - eine Siedlung eins mit der Natur, die aschebedeckte Landschaft Laubwechselfelds, Wälder, blühende Landschaften ... und die vielen unterschiedlichen Menschen und Pokémon. Wir hatten wirklich viel erlebt, Stan und ich.
    „Bereust du deinen Entschluss?“, fragte er mich. Stan trat an meine Seite und legte mir die Hand auf die Schulter. „Würdest du nicht vielleicht doch lieber heim?“
    „Ich werde den Nationalpark schon vermissen“, dachte ich laut und nach langer Überlegung, „die Sache ist nur: Deinen Holzkopf würde ich noch viel mehr vermissen.“
    Stan erwiderte mein Grinsen. „Ich habe dich auch lieb.“
    „Du weißt, was mir gefällt“, säuselte ich verträumt, als er damit anfing, mich hinter den Ohren zu graulen.
    Abteiltüren wurden aufgeschoben, Gepäck schabte über den Boden, Fahrgäste tummelten sich auf dem Gang, schwatzten, scherzten und warteten. Erste hohe Häuser tauchten auf, Fabriken, asphaltierte Straßen, geschäftige Menschen mit Anzug und Krawatte. Wir waren wohl fast da.
    „Wenn du aber willst, Sheinux“ - Stan klang plötzlich sehr ernst -, „dann können wir gerne auf einen Sprung in den Nationalpark gehen. Ist nicht sonderlich weit von hier.“
    Überwältigt von diesem Vorschlag schaute ich ihn mit leuchtenden Augen an. „Das wäre toll!“

  • Wollte eigentlich viel früher ein Kommentar verfassen, aber in der Zeit, in der ich einen einzigen Absatz fertig habe, schreibst du eine ganze Salve von Parts xD (Und das neue PMD ist da auch grade kein große Hilfe …)



    Also wie du es schon gesagt hast, das Ende naht und ja … man merkt es. Seit meinem letzten Komment ist auch ein Haufen passiert, neue seltsame Räume entdeckt, die Gruppe hat sich fast völlig verstreut, Eagle ist zurück, Sharleen ist in Wirklichkeit die Drahtzieherin, die wiederum in Wirklichkeit Darkrai ist, welches Stan bereits eine Weile verfolgt hat und der Grund ist, warum sich Shaimin ihnen angeschlossen hat, Kampf und Entkommen aus dem Limbus … also ja, ziemlich viel ist geschehen und offenbart worden.
    Der Horrorpart, das weiter vortasten der verlorenen Gruppe, die zuerst „lediglich“ das Gefühl haben, dass etwas nicht passt, bis schließlich zur finalen Realisation, dass hier etwas ganz und gar nicht passt, fad ich weiterhin sehr stimmungsvoll. Das unbehagliche Gefühl, die Angst, welche die Charaktere verspürten, kam wie in den letzten Parts sehr gut rüber. Sei es nun die etwas merkwürdigen, scheinbar nicht zusammenhängenden Räume bis schließlich die Halle und das Portal, welches sich in einem der Bilder öffnete, alles trug Teil zu der schön der Atmosphäre. Und dann bam, Haufen Offenbarungen und der große Showdown.
    Das erste „Opfer“ ist gleichzeitig „Täter“ … Warum hab ich das nicht durchschaut xD Hatte Sharleen zwar bisher nicht verdächtigt gehabt, aber das erklärt, warum sie freiwillig in diesem verlassenen Zug zurückgeblieben ist, hatte dieses Mädchen ja schon für völlig verrückt erklärt. Hätte eigentlich auch in Erwägung ziehen können, dass womöglich ein Darkrai für diese Horrorabendteuer verantwortlich ist, aber auf die Art wie du diese unheimliche Welt präsentiert hast, bin ich erst gar nicht auf diesen Gedanken gekommen, dass doch ein Pokémon dahinter sein könnte. Wirkte so „echt“ … was seltsam ist überhaupt zu sagen, wenn man bedenkt, dass alles in einer gruseligen Villa abgespielt hat. Ich gehöre nicht zu der Kategorie, die Twists aus mehreren Kilometern Entfernung erspähen können, also bin ich definitiv nicht das Maß aller Dinge, aber mich haben diese Wendungen auf alle Fälle unerwartet getroffen. Auch der Zusammenhang von Shaymins und der von Darkrai, die Geschichte mit der Blume, die Stimme in Sheinuxkopf, Ereignisse die schon etwas länger zurück liegen, aber schön das ihre Bedeutung nun auch in dieses Finale einfließen. Obwohl Darkrai kein typische Bösewicht, der den Helden auf dem Weg ganze Zeit in die Quere kommt (diese Aufgabe erfüllte stattdessen Eagle hervorragend XP) und alles auf genau diesen Endkampf zuläuft, finde ich, passte alles am Ende schön zusammen. Es war nie so recht der Fokus bisher, aber damit bindet es schön einige der Ereignisse, die nie so recht abgeschlossen wurden. Würde mich interessieren, ob all die Ereignisse in völlig berechnend platziert hast, um auf dieses Finale hinzuspiele oder ob sich alles „zufällig“ alles dann in deine Händegespielt haben … obwohl, ich glaub ich will das gar nicht mal wissen xD Manchmal ist es schöner, unwissend zu bleiben und sich dem Zauber hinzugeben.


    Die folgende Action war auch nicht so ohne. Sobald man weiß, gegen was man ankämpft, verschwindet zwar ein Teil der Angst, aber die Anspannung bleibt, immerhin ging es nun um das Leben der Gruppe. War jedenfalls ein würdiger Climax, etwas chaotisch, ein ziemliches Hin und her zwischen Darkrai und Shaimin. Stans und alle seine Pokemon kämpfen Seite an Seite (Fiffyien bekommt sogar eine letzte Entwicklung spendiert, war ja bisher nur Feurigel vergönnt) und vor allem überkommt Stan seine letzte große Frucht, dass Sheinux ohne ihn besser aufgehoben wäre und er sich endgültig verabschieden muss. Nach einem letzten Schlag und dem Einsatz aller … plötzlich ruhe. Nach dieser langen Zeit des ständigen Horrors und diesen hitzigen Kampf, ist diese Rückkehr in die alte Welt fast so wie das Erwachen aus einem Traum … was in dem Fall wirklich der Fall ist für unsere Helden, also passt dies perfekt. Alle können wieder aufatmen, die Gruppe trennt sich und Stan und Sheinux sind wieder unter sich. Naja und dann ist da noch Eagle, dessen offenbar etwas tragische Backstory kurz angekratzt wurde, der noch immer stinksauer ist, aber irgendwie scheint er sich auch etwas geändert zu haben. Wenn auch nur daraus erkenntlich, dass er nicht alle anschnauzt und am Ende den Rückzug antritt.
    Nun, es fühlt sich dennoch wirklich gut an, die zwei wieder in einer entspannter Situation zu sehen und zu wissen, dass die Befürchtung Stans bzgl. Sheinux und seiner Trennung –offenbar- aus der Welt ist. Ich schätzte jetzt was jetzt noch folgt … ist der Epilog.


    Ich spar mir mal meine „finalen“ Gedanken zu der ganzen Story auf, weil ganz am Ende der Reise sind wir ja noch nicht angekommen(selbst wenn sich das ganze schon sehr „Final“ anfühlt). Die letzten paar Part waren auf alle Fälle ein ziemliche Achterbahn von Gefühlen.
    Nochmals sorry das ich hier alles nur ein verhältnismäßig kurzes Kommentar für all die Parts, ich denke, man könnte für jeden einzelnen mindestens so viel schreiben … aber ich bin echt zu langsam xD
    Jedenfalls danke für all diese aufregenden Part über die letzten Tagen und bin schon gespannt, was jetzt noch nach diesem Klimax ansteht.^^


    lg
    Toby

  • Kapitel 10: Heimkehr


    Part 1: Nachbesprechung


    Ein warmes, orangefarbenes Glühen ging von dem wenig bewölkten Himmel aus. Ein sichelförmiger Mond trat seinen steilen Siegeszug über den sterbenden Tag an und wurde während seines Aufstiegs von einer kleinen Anzahl blinkender Sterne gefeiert. Wir ließen uns ganz und gar von der Flut von Menschen aus dem Bahnhof treiben. Einige bekannte Gesichter tauchten dabei auf, sogar die kleine Kelly glaubte ich aus dem unglaublichen Tosen herauszuhören. Nach und nach lichteten sich die Menschenmassen, in alle Himmelsrichtungen schwärmten sie aus, nur um sich dann mit ganzen Heerscharen neuer, fremder Gesichter zu vereinen. Dukatia City war die bislang größte Stadt, die ich bislang bereiste. Selbst die höchsten Hochhäuser in meinem Gedächtnis konnten mit diesen Monumenten menschlichen Größenwahnsinns nicht konkurrieren. Manche waren mehrere Hundert Meter hoch. Die meisten dieser Wolkenkratzer bestanden aus gewöhnlichem Beton, manche aber waren völlig von einer Glasschicht ummantelt und schimmernden in gerechtfertigter Konkurrenz zu den Gestirnen am Himmel. Tatsächlich mochte das bloße Auge einem Glauben schenken, diese hohen Bauwerke könnten die Sterne vom Dach der Welt pflücken. Die vielen Straßen waren die Venen und Arterien eines niemals zur Ruhe kommenden, lebenden Organismus. Obwohl bereits der Abend dämmerte, waren die meisten Läden noch geöffnet. Menschen, Jung und Alt, drängten sich mit Einkaufstüten in den dicht bevölkerten Fußgängerzonen, manche auf dem Nachhauseweg, andere noch auf der Suche nach dem nächsten Schnäppchen, oder machten ganz was anderes. An den vielen Geschäften blinkten ununterbrochen aufsehenerregende Lichter oder beschallten die vorbeiziehende Kundschaft mit heimtückischer Werbe-Propaganda oder lockten mit verführerischen Düften - alles mit Erfolg. Nicht nur Kinder lagen ihren Eltern quengelnd in den Ohren, auch Erwachsene unterlagen leicht den Versuchungen, die von den verschlagenen Kaufleuten herbeigeführt wurden. Die Schatten der vielen unterschiedlichen Menschen zogen so rasant wie Erinnerungen an uns vorbei. Keiner schien den anderen zu beachten. Wieder einmal musste ich mir eingestehen, wie unvorstellbar es doch war, dass jeder hier seine ganz eigene Geschichte erzählte. Vor einigen Wochen hätte ich das alles hier nicht für möglich gehalten.
    In Dukatia City schien es nie wirklich Nacht zu werden. Tatsächlich war es durch die künstliche Beleuchtung selbst dann noch fast taghell, als der Mond bereits hoch am jetzt sternenbevölkerten, dunklen Himmel stand und wir auf der Suche nach einer Bleibe eines von zwei Pokémon-Centern von Dukatia City im nördlichen Teil der Stadt erreichten. Selbst dieses wirkte größer und imposanter als alles, was ich bislang gewohnt war: zweistöckig, breitschultrig, die Fassade ohne den Hauch von Verschleißerscheinungen. In der Tat hätte es mich nicht gewundert, wenn die gesamte Passagier-Liste des Magnetzuges hier übernachten könnte. Ein wenig sollte ich sogar recht behalten, denn das ein oder andere Gesicht kam mir sogar bekannt vor. Von unseren Freunden war jedoch keiner darunter. Stan checkte am Empfang ein. Wir bekamen ein Einzelzimmer zugewiesen. Es war bereits zulange her, seitdem wir ganz unter uns waren, daher zogen wir es vor, all dem Lärm und dem Gedränge den Rücken zuzukehren. Endlich waren wir allein.


    Beladen mit Fressalien stieß Stan am weiteren Abend die Tür zu unserem Quartier auf. Ich war bereits da und wartete.
    „Die Anderen wollen bestimmt auch was“, keuchte Stan auf meinen überwältigten Gesichtsausdruck hin.
    „Stimmt.“
    Auch wenn ich lieber mit Stan allein gewesen wäre, fand ich es insgeheim doch sehr egoistisch, dass ich ursprünglich nicht an die Anderen gedacht hatte. Igelavar, Shaymin und auch Fiffyen - wir alle hatten viel durchgemacht. Wir waren inzwischen mehr als zufällige Reisegefährten. Wir waren eine Familie. Es stimmte mich daher sehr froh, jeden von meinen Freunden bei unserem kleinen geselligen Zusammensein begrüßen zu dürfen. Shaymin lächelte mich an, wurde aber schnell von Fiffyen, die tatsächlich innerhalb des Limbus eine Entwicklung unterlaufen hatte, abgeblockt. Weniger an dem Zusammensein interessiert, recke Igelavar die Nase hoch und schnüffelte gierig.
    „Kuchen und Früchte für Igelavar“, sagte Stan lächelnd und reichte dem hungrigen Feuer-Pokémon ein Tablett ein reich gedecktes Tablett, „knackig-frisches Gemüse für Shaymin“, sagte Stan und gab das nächste Tablett weiter, „und eher Deftiges für Sheinux, mich und ...“
    Ich vermutete stark, dass Stan während seiner Abwesenheit lange an seinem vorsichtigen Herantasten an Fiffyen geprobt hatte. Bereits vor ihrer Entwicklung war meine hartnäckige Liebhaberin sehr kräftig, geradezu bullig gewesen. Jetzt aber standen hier eine Ansammlung von mindestens 40 kg Fell, Fleisch, Muskeln, Krallen und scharfen Zähnen. Sie und ihr ganzes Wesen waren mit Abstand die größten Unbekannten hier.
    „Das ist Magnayen für euch, und Fräulein Magnayen für dich und den kleinen Stachelkopf, klar?“, schnauzte sie Stan an.
    Der erwiderte mit einem resignierenden Lächeln, während Shaymin zeitgleich verdächtig hustete. Fiffyen oder Magnayen hatte sich kein bisschen verändert. Stan nahm nicht wie üblich auf dem Bett Platz, sondern reihte sich bei seinen Reisegefährten auf dem Teppich ein; eine Geste, die versinnbildlichte, dass wir, ob Mensch oder Pokémon, alle zusammengehörten.
    „Wir haben es also wirklich geschafft, ja?“, schmatzte Igelavar.
    „Haben wir“, antwortete ich. Mit großen Augen stelle ich fest, dass Stan wirklich keine Kosten und Mühen gescheut hatte. Lachs in Streifen, noch mehr Obst, belegte Brote, Omelett, kalte Pfannkuchen, schokoglasierte Kuchen, Waffeln, Fruchtsäfte und Limonade. Gierig angelte auch ich mir meinen Anteil und begann zu essen.
    „Bin froh. Das Traumobst ist kein Vergleich zu dem hier“, schmatzte Igelavar.
    „Echt wahr ...“, stimmte ich ein.
    „Wo ist eigentlich Eagle? Ich will mich noch bei Gaia bedanken“, fragte Shaymin so in die Runde schauend.
    „Oh der ...“ - Stan und ich tauschten Blicke (ausgerechnet, als ich die Backen randvoll hatte) - „der wird wohl in Zukunft wieder eigene Wege gehen. Es gab da ein paar ... Missverständnisse. Und ja ...“
    „Du kriegst doch sonst immer alles mit. Das hättest du doch wissen müssen.“
    Leicht verärgert über Magnayens Einwurf antwortete Shaymin mit aufgesetzter Freundlichkeit: „Ich wollte aber so freundlich sein, höflich zu fragen, Fräulein Magnayen.
    „Das falsche Wort zur falschen Zeit - schon ist es rum mit der Zufriedenheit“, brummte ich leise und versenkte daraufhin meine Zähne in ein gewaltiges Stück Schokokuchen.
    Magnayen hob eine Braue, entgegnete dem aber nichts mehr.
    „Jedenfalls“, sagte Shaymin, „finde ich es schade, dass ich es versäumt habe, Gaia zu danken. Wir verdanken ihr alles.“
    Ein wenig vorwurfsvoll schaute ich Shaymin an und auch Stan schüttelte den Kopf.
    „Stell dich mal nicht unter den Scheffel. Die Hauptarbeit hast immer noch du gemacht.“
    „Aber ihr habt dafür den Weg geebnet. Ihr alle. Sheinux, Igelavar, Stan, Sora, Gaia und auch du Magnayen. Ohne euch hätte ich das nicht geschafft.“
    Die Reaktion in unsere Runde konnte unterschiedlicher nicht sein: Stans Wangen färbten sich leicht rot, Igelavar würgte aus vollem Mund ein fast unverständliches „Keine Ursache“ hervor, während Magnayen „Pff!“ machte und überheblich wegschaute, als hätte man ihr gerade eine Portion Dreck aufgetischt.
    „Was ist eigentlich genau passiert? Es ging alles plötzlich so schnell. Ich habe irgendwie nur noch die Hälfte mitbekommen. Gaia hat irgendetwas gedreht, das weiß ich, und dann hast du dich verwandelt. Und dann?“
    Auf meine Frage hin herrschte plötzlich Totenstille. Selbst Igelavar hörte mit dem Kauen auf und auch Magnayen wirkte selten interessiert.
    Schweigsam schaute Shaymin in die Runde. Am Ende beschränkte sie ihren Blick auf das angekaute Stück Sellerie vor ihr.
    „Ist es dir unangenehm?“, fragte Stan.
    „Nein, das ist es nicht“, antwortete Shaymin kopfschüttelnd. „Es ist nur ... Ach, ich denke, ich bin euch endlich die ganze Wahrheit schuldig.“ Hier brach Shaymin ab. Als sie die ungeteilte Aufmerksamkeit auf sich nicht weiter leugnen konnte, begann sie zu erzählen: „Also, ihr wisst mittlerweile, dass die Rose der Wüste ganz besondere Kräfte in meiner Art hervorruft. Aber auch nur am Tage oder wenn die Rose von genug Licht gespeist wird. Das habe ich leider völlig außer Acht gelassen, als wir den Limbus betraten. Ursprünglich hatte ich ja auch andere Pläne. Als ich euch, Stan und Sheinux, damals in die Wüste nach der Rose suchen ließ, hatte ich gehofft, dass ihr sie zurückbringt. An diesem Punkt wollte ich mich euch bereits anschließen, denn ich wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis Darkrai sich zeigt. Sein Limbus wäre ohne die ganzen anderen Seelen deutlich schwächer gewesen. Aber am Ende kam es anders. Ihr kamt nicht zurück, wie ich euch ursprünglich aufgetragen habe.“
    „Hast du?“, fragten Stan und ich überrascht im Chor.
    Shaymin nickte. „Habe ich. Vielleicht hätte ich es deutlicher machen sollen, aber ... Sei es drum! Jedenfalls kamt ihr nicht wie ursprünglich von mir geplant zurück. Stattdessen habt ihr Deoxys aufgespürt und den Körpertausch vollzogen. Darkrai hatte wieder von Stan Besitz ergriffen, welcher abermals deutlich mehr Widerstand zeigte als Sheinux. Er war tief in deiner Seele verborgen, Stan. Ich konnte ihn unmöglich erreichen und dir helfen. Du hast leider so lange Widerstand geleistet, bis der denkbar ungünstigste Zeitpunkt eingetreten war: Du warst so traurig darüber, dass deine und Sheinux’ Reise bald beendet sein würde, dass Darkrai endlich deinen Geist knacken konnte wie eine Nuss. Unglücklicherweise waren zeitgleich auch noch so viele andere angreifbare Ziele in deiner Nähe, dass Darkrai einen unglaublich mächtigen Limbus formen konnte. In dieser Zeit extrahierte Darkrai ungeheure Mengen an negativen Traum-Energien aus seinen Opfern, dass er am Ende mächtiger war als wir alle zusammen. Nur die Rose der Wüste konnte ihm Einhalt gebieten. - Schenk mir doch bitte einen Saft ein, Stan, ich bin ganz ausgetrocknet.“
    Stan tat wie geheißen, wobei seine Hände vor Aufregung so sehr zitterten, dass etwas Flüssigkeit daneben ging. Als Shaymin ihre Kehle befeuchtet hatte, fuhr sie fort: Gaia schuf im Limbus eine künstliche Lichtquelle. Dies reichte glücklicherweise aus, um der Rose die Kraft zu verleihen, dass ich aufsteigen konnte.“
    „Aufsteigen? Du meinst, dich verwandeln“, hakte ich interessiert nach.
    Shaymin nickte. „Mein Clan nennt diesen Vorgang aufsteigen. Die Rose verleiht uns die Fähigkeit, uns von den Lastern unserer profanen Hülle zu befreien und eine heilige Form anzunehmen. In diesem sakralen Gewand verfügen wir über ganz besondere Fähigkeiten. Nicht nur fliegen“, erstickte Shaymin meinen gedachten Kommentar bereits im Keim. „Wir besitzen die Gabe, Verderbnis, Krankheit und alle bösen Einflüsse aus der Luft zu filtern und sie in reine Lebenskraft umzuwandeln. Gewissermaßen habe ich Darkrais negativen Willen umgekehrt und diesen als Waffe gegen den Verursacher gerichtet. Etwas Ähnliches habe ich vor einigen Tagen gemacht, erinnert ihr euch? Als ich den Wald von den Spuren der Verwüstung gereinigt habe. Nur wirkten Darkrais Kräfte deutlich massiver, sodass ich genug Lebenskraft ansammeln konnte, um ein Loch in den Limbus zu reißen.“
    „Das heißt, du hast ihn nicht vernichtet?“, fragte Stan.
    „Nein, das wäre auch gar nicht möglich gewesen; na ja, fast. Hätten wir Darkrais Verstand wirklich auslöschen wollen, hätten wir auch seinen Limbus vernichten müssen. Ich vermute jedoch, dass dann auch unser letztes Stündlein geschlagen hätte. Stattdessen wurde durch meinen konzentrierten Einfluss eine Kluft in den Albtraum geschlagen, durch die unsere gefangenen Seelen fliehen konnten. Es war äußerst riskant“, ergänzte Shaymin finster. „Ich kann nicht unbedingt behaupten, so etwas schon einmal gemacht haben, wenn ihr versteht. Aber es war unsere einzige Chance. Die Alternative kennt ihr.“
    „Das heißt dann allerdings, Darkrai ist immer noch da draußen“, schlussfolgerte Stan. Seine Stimme war bedenklich angespannt.
    Bestürzung folgte unmittelbar seinem Kommentar. Igelavar verschluckte sich und begann unkontrolliert zu husten. Das Entsetzen geißelte auch mir mit unsichtbaren Peitschenhieben das Gesicht.
    „Ist das wahr, Shaymin?“, fragte ich fassungslos. Konnte das sein? War es wirklich so? Irgendwie ergab dieser total verquere Bockmist schon Sinn. Es war schließlich ein Traum, nicht? Ein ziemlich realer Traum, aber immer noch ein Traum. Wenn Shaymins Einfluss nichts weiter als ein überdimensionaler Wecker gewesen war, dann musste Darkrai noch am Leben sein.
    „Du machst Witze!“, knurrte Magnayen wild. „Es war alles für die Tonne? Darkrai flattert irgendwo da draußen noch rum und könnte jeden Moment wieder zuschlagen?“
    „So einfach ist das nicht.“
    „Wann war es das jemals ...?“, klagte ich mit einem tiefen Seufzen.
    „Bitte erzähl weiter“, bat Stan begierig.
    Shaymin befeuchtete sich erneut ihre Kehle und fuhr fort: „Wenn ihr so darüber nachdenkt: Kommt es euch nicht komisch vor, dass der Limbus nur von so wenigen Menschen und Pokémon bevölkert war? Wie viele Menschen, glaubt ihr, waren im Zug? Wie viele Pokémon? Wie viele waren eingeschlafen?“
    Ein kurzes, nachdenkliches Schweigen setzte ein. Kreuz und quer tauschten wir Blicke aus.
    „Jetzt, wo du es sagst ...“, meinte Stan.
    „Richtig. Darkrai besitzt unsägliche Kräfte, aber auch diese sind begrenzt. Es gelingt ihm nicht, gesunde Seelen in seinen Limbus zu zerren. Fast jeder, der dort war, litt unter einem tiefgründigen persönlichen Dilemma. Manch eines war vielleicht ausgeprägter als das andere. Bei der kleinen Kelly verspürte ich zum Beispiel nur die typischen Ängste, die man als hilfloses Kind so hat. Trotzdem reichte es aus, sich an ihrer Seele zu vergreifen. Anders wäre es vielleicht gewesen, hätten ihr Pokémon an der Seite gestanden.“
    „Pokémon? Wieso Pokémon?“, fragte Stan verwundert.
    Shaymin verschränkte etwas verlegen ihren Mund. „Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich dieses Phänomen auch nicht vollständig durchschaue. Was ich weiß, ist, dass zwischen Pokémon und Menschen ein unsichtbares Band existiert. Diese Verbindung lebt im Geiste. Pokémon und Mensch formen eine Einheit. Will Darkrai sich an einer Seele vergreifen, muss diese Einheit erst geschwächt oder sogar zerstört werden. Es reicht anscheinend nicht aus, dass ein Glied dieser Verbindung lediglich angeschlagen ist, denn der andere Teil sorgt wiederum für das Seelenheil des anderen, sei es nun Mensch oder Pokémon. Ein drastisches Ungleichgewicht vermag anscheinend jedoch, diesen Schutz aufzuheben. Durch diese unsichtbare Verbindung werden dann auch die Seelenpartner angreifbar. Darum zog es nicht nur Menschen in den Limbus, sondern auch die Pokémon, die sie auf der Reise begleiten. Es hätte ebenso passieren können, dass es einen völlig gesunden Menschen in den Limbus verschlägt, weil die Seele eines seiner ihn begleitenden Pokémon krankt. Ich habe so das Gefühl, dass dies bei eurem Freund Kevin der Fall war, denn ich vermochte in ihm keinen tiefen Schmerz oder Angst zu spüren.“
    „Esoterisches Geschwafel! Was ist mit Darkrai? Kann er uns jetzt wieder angreifen oder nicht?“, bellte Magnayen.
    „Stan befindet sich auf dem Weg der Gesundung, und solange keiner von uns tiefe Narben auf der Seele erleidet, wird sich Darkrai keinem von uns mehr bemächtigen können.“
    „Na, das war dann doch mal ein Wort!“, jubelte Igelavar und untermauerte seine Freude mit einem herzhaften Zulangen.
    „Es kommt noch besser“, strahlte Shaymin sacht. „Indem Darkrai sich an den Ängsten und Schmerzen seiner Opfer vergangen hatte, wurden diese Albträume direkt in den Limbus übertragen. Sie existieren jetzt nur noch in abgeschwächter Form im Unterbewusstsein der Person - eine klägliche Erinnerung sozusagen. Darkrai kann also diese Schwäche nicht mehr ausnutzen. Ohne einen wiederkehrenden, tiefen Albtraum ist es ihm unmöglich, einen Limbus zu formen. Außerdem hat auch Darkrai einen bleibenden Schaden genommen, denn auch er war ein Teil des Limbus. Stan beispielsweise kann Kraft daraus schöpfen, dass er nun endlich seinen Albtraum abgeworfen hat. Darkrai aber, der nur aus negativen Emotionen besteht, hat damit einen sensiblen Teil von sich im Limbus verloren.“ Shaymin pausierte kurz. „Die Villa ist auch aus Darkrais Vorstellungen gewachsen. Ebenso wie ihr hat auch er hat seinen Teil dazu beigetragen. Meine Vermutung geht in die Richtung, dass die Porträts, wie wir sie im ganzen Haus vorgefunden haben, direkt aus Darkrais verworrenem Erinnerungsvermögen stammen, dasselbe gilt für die veranschaulichte Obsession mit Zeit, die wohl aus seinem Unterbewusstsein rührt. Im Grunde“ - hier wurde Shaymins Stimme wieder nachdenklicher - „könnte er einem fast schon leidtun.“
    Bei diesen Worten klappten uns die Kiefer hinunter. Igelavar gelang es mit einer schnellen Handbewegung gerade noch so, eine unappetitliche Sauerei zu verhindern.
    „Leid? Hast du Knallerbse noch alle Brokkoli in der Birne? Wie kann dir der Drecksack leidtun?“, fauchte Magnayen.
    Auch ich musste ihr beipflichten. Darkrai hatte kein Mitleid verdient. Jede Strafe war noch zu gering. Dieser machthungrige, rachsüchtige, ohne mit der Wimper zuckende Knallkopf war das Non plus ultra einer Hassfigur. Ihm wollte man nur einmal im Leben begegnen - und zwar, um ihm zünftig ins Gesicht zu spucken, dann eins über die Rübe zu ziehen, ihn dann die nächstbeste Klippe runterzuschmeißen und dann noch einmal hinterherspucken, vielleicht auch noch einmal. Konnte man jemandem wie Darkrai eigentlich oft genug anspucken? Besser einmal zu viel als zu wenig, wie man so gerne sagt.
    „Darkrai hat ein schreckliches Los gezogen“, flüsterte Shaymin geheimnisvoll.
    „Wie meinst du das?“, fragte ich.
    „Es ist ... schwierig. Auch mein Clan hat nur Theorien, was das betrifft. Wir wissen - oder sagen wir - wir vermuten, dass irgendwann etwas in Darkrais Leben eintreten wird, was seine Seele ewiglich dazu verdammt, zwischen zwei verschiedenen Welten gefangen zu sein. Ein sich in alle Ewigkeiten wiederholender Prozess.“
    „Verstehe ich nicht“, kapitulierte ich.
    „Ist mir auch zu hoch“, schulterzuckte Stan. „Aber du scheinst wirklich viel über Darkrai zu wissen.“
    „Wir konnten den rachsüchtigen Usurpator lange genug studieren. Auch sehen wir die Dinge nicht nur mit unseren Augen. Wir durchschauen die Fassade und blicken den Lebewesen direkt in die Seele. Kenne deinen Feind - und überlebe.“
    „Das stammt aus dem Gesetz der Straße“, stellte ich verblüfft fest.
    „Wollte ich auch gerade sagen“, meinte Magnayen.
    „Das Gesetz der Straße ist auch uns nicht fremd und es verbirgt sich viel Weisheit darin“, sagte Shaymin. „Leider hat Wissen allein nicht ausgereicht, um unser Überdauern zu sichern.“
    „Aber jetzt ist es vorbei. Wir haben gewonnen“, sagte Stan lächelnd und streichelte Shaymin über ihr blumiges Fell.
    „Ja ...“, schwärmte Shaymin entspannt.
    „Eines aber noch, Shaymin.“ Mit auf ihr verhärtetem Blick ließ Stan von ihr ab. „Was ist mit Sharleen?“
    Shaymins Miene verdunkelte sich. „Ich denke, du kennst die Antwort - und sie wird dir nicht gefallen. Sharleen ist eine verlorene Seele, vielleicht sogar aus dem letzten Limbus. Für dieses Mädchen existiert leider keine Hoffnung mehr so wie auch für alle anderen von Darkrais vormaligen Opfern.“
    „Du hast recht - mir hat sie wirklich nicht gefallen“, antwortete Stan daraufhin schwermütig.
    „Das war es dann also? Keine Geheimnisse mehr?“, fragte ich nach einer kurzen Pause subtil lächelnd.
    „Keine Geheimnisse mehr. Tihihi!“, antwortete Shaymin das Lächeln ehrlich erwidernd und mir zuzwinkernd.
    Magnayen starrte Shaymin wütend an. „Ich hab dir schon einmal gesagt, Teuerste, du sollst aufhören, meinem Sheinux schöne Augen zu machen!“
    „Hast du Schmetterlinge im Bauch, dann hör auf, dir Raupen in den Hintern zu stecken“, entgegnete Shaymin kühl. „Außerdem: Hast du mal in letzter Zeit in den Spiegel geschaut? Wobei ... würde ich dir auch nicht empfehlen.“
    Magnayen lachte theatralisch schrill auf. „Sagt gerade die Richtige! Du bist doch so hässlich, dass deine Eltern dich mit einer Steinschleuder füttern mussten!“
    „Hat dir schon mal jemand gesagt, dass deine Zähne wie Sterne sind? Schön gelb und weit auseinander.“
    „Sheinux, jetzt sag doch auch mal was!“, fauchte mich Magnayen an.
    „Alle Frauen wollen einen Mann festnageln und wundern sich dann, wenn er nachher bekloppt ist ...“
    „Pfoten weg von meinem Sheinux!“
    „Freunde! Freunde!“, mit überfordertem Lächeln versuchte Stan, wieder für Ruhe zu sorgen. Vergeblich. Hilfesuchend schaute er mich an.
    „Ich würde ja Fehler zugeben – wenn ich welche hätte“, murmelte ich ihm mit gesenktem Haupt zu.
    „Ooh! Die kleinste Geige der Welt spielt gerade nur für dich. Heul! Schnüff!“, ätzte Magnayen.
    „Schenkst Du mir ein Bild von Dir? - Ich sammle Naturkatastrophen“, foppte Shaymin zurück.
    „Isst du das noch, Sheinux? Danke!“, bediente sich währenddessen Igelavar selbst.
    Stan vergrub sein Gesicht. „Womit habe ich das verdient? Womit ...?“
    „Jeder hat das Recht, hässlich zu sein, doch du übertreibst!“


    Gewissermaßen war es doch eine Erleichterung, dass wir über diesen Umweg das Thema Darkrai endlich hinter uns lassen konnten. Am Ende konnten wir alle darüber lachen, außer Magnayen. Aber auch unsere leicht reizbare Freundin beruhigte sich irgendwann glücklicherweise wieder. Igelavar sorgte fast im Alleingang dafür, dass kaum ein Krümel übrig blieb. Als Stan die Reste beiseite packte, fühlte ich mich richtig schläfrig. Noch nie sah ein warmes, weiches Bett so einladend aus wie an diesem Abend. Stan überraschte mit dem Vorschlag, dass doch alle die Nacht im Zimmer verbringen sollten. Als er dann aber bereits losziehen wollte, um Körbe und Decken als Übernachtungsmöglichkeit für uns zu organisieren, erhob Magnayen mit der spitzfindigen Frage, ob ich denn die Nacht in Stans Bett verbringen würde, Einspruch. Wenn das so wäre, meinte sie daraufhin, dann würde auch sie das tun. Mit diesen Worten machte Magnayen dann demonstrativ einen Satz auf das Bett. Zu diesem Zeitpunkt streckte auf der Matratze Igelavar bereits alle Viere von sich. Stan beugte sich kampflos. Am Ende belagerten wir also zu fünft vom Kopf- bis Fußende das Bett. Und obwohl ich nicht mit Stan die Nacht alleine verbringen konnte, fühlte ich mich wohl nie geborgener als an diesem Abend - zusammen mit all meinen Freunden.

  • So da, hier wären wir wieder … zurück in der alt bekannten Welt. Wie du bereits erwähnt hast, sehr Informationsreicher Part, der mal die letzten offenen Fäden abschließt, die es noch bezüglich dem Limbus und Darkrai gab (Es sei den jemand natürlich, jemand verheimlich weiterhin etwas, oder Darkrai ist noch nicht endgültig besiegt, oder ich übersehe eine Frage die offensichtlich noch im Raum steht xD)


    Wieder ein Part, in dem man sich noch von den letzten Parts „erholen“ kann. Auch wenn das Abenteuer im Limbus aufregenden, atmosphärisch und letztlich auch sehr actionreich war, ist es wirklich erfrischend, wieder Interaktion des Main Cast außerhalb einer solchen Umgebung zu sehen. Stan und sein Team bei einem gemütlichen Abendessen, wahrscheinlich noch immer weit entfernt von dem, was man ein „Dream Team“ bezeichnen könnte, aber das wäre ja langweilig. Igelavar gefräßig wie immer, Stan und Fräulein Magnayen noch immer etwas angespannte Beziehung und dann haben wir nochmals die Dynamik zwischen letztere und Shaymin, die noch immer höchst unterhaltsam (warum macht es bloß so spaß, Charaktere zu schreibe, die gemein zueinander sind xD) und welche offenbar ganze Bücher zum Thema „Die besten Sprüche, um sein gegenüber zu beleidige. Mit Stil!“ gelesen haben. Waren einige sehr amüsante Beleidigungen dabei, die ich mir für die Zukunft merken sollte. Tja und dann ist da noch Sheinux, der sich zwar prächtig mit Stan versteht, aber noch immer zwischen den Fronten der zwei zankenden Weibchen feststeckt. Allem in allem fand ich diese Stelle sehr gelungen, auch als „Rahmen“, damit Shaymin noch ihre letzten Erklärungen und Gedanken zu Darkrai äußern konnte. Wirklich bisschen viel Information auf einmal (von warum diese Leute in den Limbus gebracht wurde, warum sie nicht vorher eingegriffen hat bis Anmerkungen zu Darkrai selbst) waren aber finde ich recht gut in diese ganze Szene verpackt und tja ... wenn man die Infos nicht jetzt rüberbringt, würde sich das wahrscheinlich gar nicht mehr ausgehen.^^


    Und weil du letztens einen Zusammenhang zu deiner PMD Story erwähnt hast … Nach dem Shaymin nochmals betont hat, wie Darkrais Innere sich in den Bildern zum Thema „Zeit“ manifestiert haben, glaub ich sehe ich langsam die Verbindung. Ist dies vielleicht dasselbe Darkrai, das nach seiner Niederlage in diese Welt gebracht wurde? Oder eher umgekehrt, wurde Darkrai nun in die PMD Welt geschickt, denn Shaymin erwähnt ja, dass Darkrai ursprünglich ein Mensch war und stark mit der Geschichte ihrer Ahnen zusammenhängt … außer ich hab das irgendwie gröber missverstanden.


    Die Schlussszene fand ich wirklich sehr knuffig, einfach alle Charaktere, zusammengequetscht auf ein einziges Bett. War zwar nur ein Bruchteil dieses Kapitelabschnitts, doch konnte ich nicht anders als zu lächeln, während ich mir diese Szene vorstellte. Hätte Stan nicht noch im letzten Part erwähnt, dass sie einen Abstecher beim Nationalpark machen würden, wäre das auch eine Stelle, an welcher man den Buchdeckel zuklappen könnte. Aber das wäre nur halb so interessant, nicht wahr ?: P


    Bin jedenfalls gespannt, auf welches Ende du diese Story nun wirklich hinsteuern wirst^^


    lg
    Toby

  • Part 2: Aufbruch


    „Nicht du! Nur nicht du! Ich tue alles! Aber lass ...!“
    „Du solltest mich doch mittlerweile besser kennen!“
    Durch die Gänge und Korridore donnerte das heftige Aufeinandertreffen von Metall auf Kunststoff. Es versteinerte das Gesicht der Leiterin des Pokémon-Centers, sorgte für ein verschrecktes Durchgehen anwesender Pokémon und diente als Weckruf für alle, die sich noch in ihrer gemütlichen Grunzmulde vor dem neuen Tag versteckten. Seinen Ursprung und Höhepunkt fand der Lärm, der sich in meinen Ohren übrigens eher wie das stimmungsvolle Signal zum Essenfassen anhörte, im Eingangsbereich unserer Herberge. Der Fußboden dort war ein zu einem Festbankett hergerichtet, mit Leckerbissen so weit das Auge reichte. Der größte Teil der Schatzkammer aber lag noch gut versteckt in den geheimnisumwitterten Untiefen des eisernen Vorratbehälters - über den ich mich sogleich hermachte.
    „Nicht mehr! Nie mehr! Ich kündige! Wirklich! Vielleicht werd ich Tornadojäger! Oder vielleicht doch Sprengmeister! Stuntman! Das wär’s doch! Genau! Hauptsache etwas Ungefährlicheres als das hier! Hahaha! Nie mehr!“
    Schade! Es war wohl das letzte Mal, dass ich den Lebensmittelschmuggler mit seinem fahrenden Schwarzmarkt über den Weg laufen würde. Ein Grund mehr, die Situation voll auszukosten - im wahrsten Sinne des Wortes.
    Wir waren an diesem Morgen recht spät. Kein Wunder, mochte ich meinen, denn Darkrais Albtraum hatte uns keinen besonders guten Schlaf geschenkt. In unserem Quartier hatten wir die Reste unseres gestrigen Mahls vertilgt und Stan hatte dem Badezimmer einen kurzen Besuch abgestattet. Danach waren wir abreisefertig. Magnayen und Igelavar haben sich widerstandslos in ihre Pokébälle verkrochen. Nur Shaymin war noch da, einen Dialog mit Stan suchend.
    „Sheinux! Was bei allem, was gut und heilig ist, tust du?! Das ist so widerlich! Bääh!
    „Was wolltest du gerade sagen, Shaymin?“, fragte Stan.
    Bestürzt schaute Shaymin Stan an, der wiederum keine wirkliche Notiz an meinem Beutezug zeigte.
    „Willst du nicht eingreifen?“
    „Wieso? Er hat ja doch seinen eigenen Kopf. Warum sich also mit ihm streiten?“
    „Hör auf dich hochzuschaukeln, Shaymin. Schau lieber: Ich glaube, ich habe da eben eine reichhaltige Schokoader entdeckt.“
    „Ich lasse mich eher dazu überreden, bei Magnayen eine Zahn-OP durchzuführen, als dass ich dieser ... dieser Keimschleuder zu nahe komme! - Nimm mich schon hoch, Stan.“
    Im Fahrwind hochkochender Gefühle stampften schwere Schritte an mir vorbei. Gleich darauf entlud sich auch schon der brodelnde Vulkan. „Junger Mann!“, bäumte sich die Frauenstimme auf. „Ich will doch schwer hoffen, dass du diese Sauerei beseitigst?“
    „Sicher. Wenn Sheinux fertig ist“, antwortete Stan fast schon gelangweilt.
    „Nix da! Sofort!“
    „Doch da! Wenn sie es ihm ausreden können, bitte. Ich kann es jedenfalls nicht.“
    „Bist du sein Trainer oder nicht? Ruf ihn in seinen Pokéball zurück!“
    „Lass sie es doch versuchen, Stan. Wenn ich mit ihr fertig bin, passt sie in einen Pokéball!“
    „Du könntest es wenigstens versuchen“, hörte ich Shaymin leise maulen.
    Stan tat einen feuchten Dreck - und das war auch gut so! Auf Zehenspitzen bugsierte er durch den herumliegenden Unrat und nahm irgendwo abseits auf einer Bank Platz. Die hoffnungslos überforderte Frau begann fluchend, hinter mir her zu räumen, musste sich am Ende dann aber vor meinen territorialen Besitzansprüchen geschlagen geben und den Rückzug antreten. Tja, niemand machte mir eben einfach so das Frühstück streitig. Während meiner Schatzsuche streiften mich viele belustigte, überraschte, aber auch angewiderte Blicke. Davon sonderlich stören ließ ich mich allerdings nicht.
    „Also, was war die Frage, Shaymin?“, wollte Stan wissen.
    „Öhh ...“ Lang und laut zogen sich Shaymins Gedanken dahin. „Ich hab’s vergessen, was ich dich fragen wollte. Ich war wohl ... zu abgelenkt.“ Sie betonte die letzten Worte scharf.
    „Dann hätte ich jetzt aber mal eine Frage.“
    „Frag ruhig.“
    „Was wirst du jetzt tun, Shaymin? Was willst du tun?“
    Auch ich spitzte bei dieser Frage beide Ohren und beschränkte mein Wühlen auf das Minimum. Sie war mehr als berechtigt. Shaymin hatte uns nur wegen einer Sache begleitet: Darkrai. Und dieses leidige Kapitel war abgeschlossen. Sie hatte alles zurückgelassen, um uns beizustehen. Alles. Mehrmals hatte unsere Freundin schon erwähnt, wie viel das geschichtsträchtige Land ihrer Ahnen ihr bedeutete. Es war nicht weniger gleichzusetzen wie meine Beziehung zum Nationalpark. Ich jedoch hatte mittlerweile fast meinen Seelenfrieden gefunden. Ein letzter Besuch noch, ein Abschiednehmen. Der Nationalpark würde in meinen Erinnerungen auf ewig weiterleben. Was aber Shaymin betraf ...
    „Ob du mir das jetzt glaubst oder nicht, aber ich habe mir da wirklich noch keine großen Gedanken gemacht. Ich will nicht pessimistisch klingen, allerdings wusste ich noch nicht einmal, ob wir überhaupt so weit kommen.“
    „Und jetzt, wo wir so weit gekommen sind? Was hast du vor?“ Stan hielt kurz inne. Man spürte förmlich, wie die nächste Frage ihm unangenehm auf der Seele brannte. „Willst du wieder heim?“
    Unangenehme Stille ergriff von der Unterhaltung Besitz. Shaymins langes Zögern hinterließ der Phantasie nur wenig Spielraum. „Ich müsste lügen, würde ich behaupten, dass mir meine Heimat nicht fehlt“, sagte Shaymin schließlich. „Es geht mir schon lange so, seit wir aufgebrochen sind, um genau zu sein. Ungefähr so muss es Sheinux gegangen sein, als er sich dir auf deiner Reise angeschlossen hat. - Ah, jetzt weiß ich wieder, was ich dich fragen wollte. Aber vorher bin ich dir wohl noch eine Antwort schuldig. Es ist wohl wirklich so ähnlich wie bei Sheinux. Er trat diese Reise aus Überzeugung an. Und aus dieser Überzeugung keimte dann bald darauf eine unerschütterliche Freundschaft. So etwa ist es auch bei mir, Stan. Ich tat dasselbe. Ich stellte das meine Wohl unter das eure.“
    Stan murmelte etwas, was sich verdächtig nach „Simon“ anhörte. Was auch immer er damit meinte. Auch Shaymin wirkte etwas irritiert, ließ sich aber nicht weiter beirren.
    „Niemand ist mehr da, um unsere Geschichte zu erzählen. Niemand ist mehr da, um müden Wanderern eine Bleibe im Sturm zu schenken.. Niemand ist mehr da, um unser Land zu ehren. Niemand mehr. Und jetzt ... ja, obwohl meine Arbeit getan ist, bin ich dennoch noch hier, so wie auch Sheinux, nur ferner der Heimat denn je.
    „Tut mir leid ...“, entschuldigte Stan sich aufrichtig.
    „Muss es dir nicht“, antwortete Shaymin entschieden. „Denn dafür sind Freunde da. Ich werde auch in Zukunft für euch da sein - und ihr für mich, wenn ich Heimweh habe. Versprochen?“
    „Versprochen“, antwortete Stan glücklich.
    „Außerdem muss ja jemand auf euch aufpassen. Tihihi!
    „Ich kann ... sehr wohl ... auf mich ... aufpassen!“
    Alarmiert sprang Stan auf die Beine und hechtete zu mir. „Sheinux, alles klar?“
    Glücklicherweise gab es keinen Spiegel, denn mein Kopf musste inzwischen tiefrot wie eine Tomate sein. Die Luft blieb mir weg. Ich hustete und röchelte, doch der Klos in meinem Hals gab einfach nicht nach. Die Leiterin des Pokémon-Centers eilte hervor, doch bevor sie uns erreichte, hatte Stan mit gezieltem Schulterklopfen das Schlimmste verhindert.
    „Siehst du, ich hab es dir doch gesagt!“, nörgelte Shaymin. Ihre Stimme schwankte zwischen Erregung und Erleichterung.
    „Auf meinen ... Beutezügen habe ich schon ... größere Klunker ... verschluckt. Keine ... große Sache“, würgte ich atemlos hervor.
    An diesem Punkt angekommen, zog Stan schließlich den Schwanz ein und verwies mich auf die Strafbank. Während ich mich erholte, räumte er hinter mir auf - mit Mopp und Eimer. Das nenne ich Arbeitsteilung!
    „Das ist nicht lustig, Sheinux! Du solltest dich was schämen, deinen besten Freund auch noch in die Pfanne zu hauen!“
    Hatte ich das etwa laut gesagt? Hatte ich nicht! Wie es auch war - Shaymin hatte es mir irgendwie vom Gesicht abgelesen. Und ja ... Ich fühlte mich tatsächlich etwas dreckig; jedenfalls so dreckig, wie man sich fühlen konnte, nachdem man sich gerade im Unrat gewälzt hatte. Beim nächsten Mal würde ich ihm helfen.


    Der Tag begegnete uns von der allerfreundlichsten Seite. Keine Wolke trübte den Himmel, die Sonne geizte nicht mit Licht und Wärme und die kleinen Menschen auf den farbigen Ampeln waren meist tiefgrün, weswegen wir sehr schnell vorankamen. Stan empfand es, so ließ er es uns so kurz wie leise wissen, immer noch als leicht unangenehm, wenn er sich auf offener Straße mit Pokémon unterhielt, drum war der nimmermüde Sound der Großstadt das Einzige, was uns mit Gesprächsstoff versorgte - auf Dauer sehr langweiligem Gesprächsstoff, wie ich mittlerweile zugeben musste. Doch glücklicherweise ließen wir Dukatia City bald hinter uns. Mit der langsam dem Himmel emporkletternden Sonne im Rücken ging es noch durch die letzte Unterführung hindurch. Selbst der Lärm der Schnellstraße, die Dukatia City im Westen mit Oliviana City und im Osten mit Viola City verband, wurde bald von den angenehmen Klängen der Natur abgelöst. Wir waren wieder ungestört. Die kleine Shaymin durfte ab diesem Punkt laufen. Zu groß war in der Stadt das Risiko gewesen, dass ein unachtsamer Menschenfuß sie gestreift hätte. Hier aber lauerte dieses Risiko nicht mehr. Nachdem sie ein Wort des Dankes gesagt hatte, reihte sie sich in unser Glied ein. Jetzt, wo wir endlich wieder uns waren, niemand mehr uns ablenkte und auch die Gefahr von den qualmenden und röhrenden Automobilen nicht mehr bestand, bemerkte ich, wie ausgeruhter Stan doch plötzlich aussah. Er wirkte viel lebendiger, hatte sogar einen Hauch Farbe im Gesicht. Er war nicht wiederzuerkennen. Was so eine albtraumlose, erholsame Nacht so alles bewirken konnte!
    „Warum du die Reise ursprünglich auf dich genommen hast, wollte ich vorhin von dir wissen, Stan.“
    „Ich will ja nicht so wie Magnayen klingen, aber müsstest du das nicht mittlerweile wissen?“
    Es stimmte. Wenn auch nur die Hälfte von dem, was Shaymin uns erzählt hatte, der Wahrheit entsprach, nämlich wie leicht es ihr doch anscheinend fiel, in das Gedankengut anderer einzublicken, dann musste sie das doch wissen. Warum also plötzlich diese Höflichkeit?
    Shaymin holte auf. Es fiel ihr nicht leicht, mit uns Schritt zu halten.
    „Ich durchleuchte die Leute nicht gern - das gehört sich nicht; nur, wenn es wirklich sein muss“, winkte sie ab.
    „Da gibt es eigentlich nichts Besonderes. Wenn man es jedenfalls mit deiner oder Sheinux’ Geschichte vergleicht, wirkt es geradezu jämmerlich.“ Stan zuckte die Schultern. „Meine Eltern meinten, es würde mir gut tun, wenn ich mal etwas von der Welt sehen würde. Das war es eigentlich schon im Großen und Ganzen.“
    „Mir hast du vor ein paar Tagen noch etwas anderes erzählt“, stellte ich klar. „Du hast gesagt, du wolltest die Welt sehen.“
    „Hast du mir das wirklich abgekauft?“, fragte Stan mit einem Ausdruck auf dem Gesicht, der so viel zu heißen hatte, wie „Schenk mir ein wenig Mitleid“.
    „Keine Sekunde.“
    „Dachte ich mir. Jedenfalls kamen meine Eltern auf die Idee, von der sie so begeistert waren, dass sie sogar ihre kompletten Ersparnisse für den Pokédex ausgeben haben. Ich war wenig begeistert, wie ihr euch vielleicht vorstellen könnt, aber ... na ja, so kam es eben. Ich wusste am Anfang nicht so wirklich, was ich machen sollte oder wohin ich sollte. Viele Leute in meinem Alter drücken eher noch ein paar Jahre lang die Schulbank, aber das hatte ich schon vor Jahren abgelehnt. Ich fühlte mich nie wirklich als Trainer. Also zog ich planlos drauf los. Mein einziges Ziel, was ich hatte, war, dass ich mir mal das Raumfahrtzentrum anschauen wollte.“
    „Hast du es bereut?“, fragte ich mit einem unüberhörbaren, nachdrücklichen Interesse.
    „I wo! Ich glaube, ich bereue nichts.“
    Meine Lefzen kräuselten sich zu einem scharfen Grinsen.
    „Nicht mal, dass du dem kleinen Balg ein qualmendes Abschiedsgeschenk im Kinderzimmer hinterlassen hast?“
    Stan wurde leicht rot im Gesicht, verteidigte sich aber energisch.
    „Ich musste mal; jeder hätte dasselbe gemacht.
    „Oder als du dich wegen mir vor dem ganzen Pokémon-Center lächerlich gemacht hast?“
    „Ich bin es ja mittlerweile gewohnt, hinter dir herzuräumen.“
    „Und als du Claire gehen gelassen hast?“
    „Du hast sie ja nur gern, weil sie Lipgloss mit Erdbeergeschmack verwendet.“
    „Wa-wa-was?“
    Da war ich doch glatt baff! Nicht nur, dass Stan mir konsequent widersprach, ihm was sogar etwas aufgefallen, was ich gar nicht gemerkt hatte! Stimmt! Sie roch tatsächlich ziemlich erdbeerig. Und Stan war das aufgefallen? Meinem Stan? Dem Dauer-auf-dem-Schlauch-Steher? Er war nicht nur reifer geworden, seitdem wir diese Reise angetreten hatten. Er schien auch endlich ein Gespür für seine Mitmenschen entwickelt zu haben. Oder lag es nur an Claire? Hm? Claire mochte Stan. Und Stan ... mochte Claire?
    „Jedenfalls ... habt ihr ... viel erlebt.“
    Mit ihren winzigen Füßchen wuselte Shaymin uns atemlos hinterher. Ihre Wangen waren bereits rosarot vor Anstrengung.
    „Soll ich dich wieder tragen?“, fragte Stan.
    „Für eine Pause ist es noch zu früh - keine Mülltonne in Sicht“, stellte ich nach Absuchen der näheren Umgebung fest.
    Shaymin sah mich kaltschnäuzig an. Mittlerweile kannte ich ihre Einstellung zu Mülltonnen zur Genüge. Eine weitere Diskussion kam nicht auf. Shaymin willigte ein, wieder in den Pokéball zu verschwinden.


    Unser nächstes gemeinsames Zusammensein war für die Mittagszeit vorherbestimmt. Wir kehrten unter einem schattigen Baum ein, stocherten in Büschen nach wilden Beeren und stillten unseren Durst an einem Bach. Ich döste in der angenehmen Kühle des Baumes ein und fand sogar eine gute halbe Stunde Schlaf. In dieser kurzen Zeit bestimmten verschiedene Bilder mein Unterbewusstsein. Meist waren es Erinnerungen, fast nur Fragmente; nicht jedoch nur Ausschnitte während meiner gemeinsamen Reise an Stans Seite, es waren auch Bruchstücke aus meinem Leben davor. Ich erwachte, ohne mich an genaue Details zu erinnern. Was ich aber bemerkte: Die Landschaft glich der in meinem kurzen Schlaf. Wo ich dann darüber so nachdachte, kam mir Umgebung tatsächlich vertrauter vor, fast schon bekannt. Weit im Nordosten ließen sich vage Konturen eines hohen Bergmassivs ausmachen. Es war der Kesselberg, das weiß ich heute. Selbst wir Pokémon kennen diesen grimmigen, grauen Vater unter demselben Namen, wie ihn die Menschen bezeichnen. Hinter ihm hatte ich zu meiner Zeit als Rebell der Straße immer die Sonne am Abend verschwinden sehen. Zu der richtigen Jahreszeit hatte das Gebirge geglüht, als hätte es lichterloh in Flammen gestanden. Wir hatten uns Geschichten darüber ausgedacht. Kleinere Welpen hatte man damit geängstigt, sie eines Tages dort auszusetzen, wenn sie ungezogen waren, damit ein böser Mensch sie irgendwann in den höchsten Turm im Kesselberg verschleppt. Ich denke, dieselben Geschichten erzählt man sich heute noch.
    Ich sog die frühe Mittagsluft ein - selbst der Geruch weckte nostalgische Gefühle in mir. Wir mussten meiner einstigen Heimat tatsächlich sehr nahe sein. Stan erkundigte sich, ob ich gut geschlafen habe. Wir machten uns wieder auf den Weg. Es wurde ruhig um uns. Wir erzählten nichts, richteten unsere Blicke stur geradeaus.
    Wieso freue ich mich nicht? Ich habe alles, was ich mir wünschen kann. Liegt es an mir? An Stan? Heute Morgen war ich noch so enthusiastisch. Und jetzt? Ich habe mich doch längst mit dem Gedanken abgefunden, dass ich Stan dem Nationalpark vorziehe. Und trotzdem bin ich jetzt gerade auf dem Weg dorthin. - Wohin wären wir sonst unterwegs? Stan wollte eigentlich einen Abstecher zu sich nachhause machen. Mir zuliebe hat er seine Meinung geändert. Das können wir aber sicherlich noch nachholen. - Vielleicht ist das ein Fehler, was wir gerade machen. Ich sollte endlich loslassen lernen!
    Der letzte Schritt fühlte sich so an, als wären wir gerade durch eine durchlässige Seifenblase geschlüpft. Mit einem Mal fühlte ich mich so komisch. Meine Gedanken waren wirr. Und die Landschaft - sie war kaum wiederzuerkennen.

  • So, bin endlich dazu gekommen, mein Kommentar für dem neuen Part zu verfassen. Naja, zumindestens hab ich es noch rechtzeitig vor dem nächsten Part geschaft ... was auch nur ander angekündigten Pause liegt xD


    Gleich zu Beginn ein alt bekanntes Gesicht und der dazugehörige Running gag (man, wie ich den schon vermisst habe), der hiermit auch seinen Abschluss findet. Es ist dieselbe Situation wie schon so oft aber wenn man die erste Szene mit dieser hier vergleicht, sieht man den Weg, welcher seither zurückgelegt wurde. Der „Herr Essenslieferant“ schmeißt endgültig das Handtuch und Stan macht sich gar nicht die Mühe, seinen Freund davon abzuhalten, selbst wenn ihm eine Autoritätsperson ihn dazu auffordert. Und Sheinux fühlt Mitleid für Stan, der den Müll zusammenkehren muss … nun, zumindest ein klein wenig.


    Stans etwas gewonnenes Selbstbewusstsein kommt auch etwas mehr zu Tage, erst durch sein nicht sofortiges nachgegeben gegen die Pokecenterleiterin, aber auch, dass er sogar mal schlagfertig auf Sheinux Gerede reagiert hat. Zum Schluss kriegen wir noch die (offenbar) ganze Wahrheit, über Stans Reisemotivationen … Wie fangen immer die besten Abenteuer und Geschichten an? „Meine Eltern wollten, dass ich mal raus gehe und die Welt sehen“ wahrscheinlich nicht, aber in dem Fall hat es gereicht, wenn man so zurückblickt, in welche Situation es die Helden verschlagen hat, von spannenden Kämpfen, Körpertausch und Horrorvilla.


    Sieht aber so aus, als würde letztlich Sheinux doch noch etwas von seinen Erinnerungen und Gefühlen zu seiner alten Heimat überrumpelt zu werden. Letzte ausständigen Fragen wurden mit Shaymin geklärt, doch wie du gemeint hast, am Ende soll die Spannungskurve wieder etwas nach oben gehen und ich schätze, das beginnt jetzt. Zumindest in den letzten 20% des Parts, doch du stellst Sheinux aufkeimende Unsicherheit finde ich sehr gut in dieser kurzen Zeit dar: Er träumt schon etwas von seiner Heimat, nur um völlig zu realisieren, dass er tatsächlich da ist. Er bemerkt bekannte Dürfte, und „Sights, während er zu zweifeln beginnt, dass dieser Besuch die beste Idee war. Am Ende auch bisschen Monolog, die seine innere Zerrissenheit nochmals betonen. Ich schätze diese Monologe hast du gemeint hast, als du sagtest, du würdest in den alten Kapitel mehr Stilmittel wie Monologe einbauen, oder?
    Ich sehe auch, warum du dir schwer tust, dich auf ein Ending zu entscheiden. Von dieser Setup gibt mehrere Richtungen, wie der Besuch in Sheinux alten Heimat enden könnte und ich kann mir vorstellen, dass du noch einige mehr hast, als ich mir gerade vorstellen könnte.


    Bevor wir die Lösung dazu bekommen, kommt noch die angekündigte kleine Pause, bin sowohl darauf gespannt (wie ich wahrscheinlich mittlerweile 100x angemerkt habe), mit welcher Auflösung du die Geschichte abschließe wirst, sowie auf das Video, was ja dazu kommen soll.


    Auf baldiges Wiederlesen
    Toby

  • Ich bin jetzt bei dieser Story auch am aktuellen Stand angekommen. Ich weiß garnicht so recht, wie ich meine Empfindung während und nach dem Lesen in Worte fassen soll... WOW trifft es da wohl am besten. Ich versuche mich an dieser Stelle etwas kurz zu halten, denn sonst würde ich an diesem Kommentar einige Stunden sitzen. Es gibt einfach zu viele Aspekte, auf die ich gern eingehen möchte. Für den Anfang werde ich mich aber mal auf ein paar beschränken.


    Beim Wechsel von Buch 1 zu Buch 2 war ich erst etwas verwundert. Die Story stellte für mich an dieser Stelle einfach keine Grenze, keinen Übergang oder logischen Grund, für die Weiterführung in einem neuen Buch, dar. Nachdem ich jetzt bis kurz vor das Ende des dritten Buches gelesen habe, leuchtet mir das jedoch mehr als nur verständlich ein. Jedes Buch ist in sich geschlossen, hat seine eigene Vorgeschichte/Einleitung, einen in sich schlüssigen Verlauf der Handlung mit einer gesunden Mischung aus Spannungs- und Ruhephasen
    und meiner Meinung nach auch jeweils ein Ende, dass den Übergang zu einem neuen Buch mehr als rechtfertigt. Ich kann das jetzt nur aus der Sichtweise einer Person schreiben, die die drei Bücher in der richtigen Reihenfolge und am Stück gelesen hat, aber gerade der kaum vorhandene Szenen- und Zeitwechsel zwischen den einzelnen Werken macht den Einstieg in das Geschehen sehr leicht und man ist als Leser sofort (wieder) im Bilde des Geschehens.


    Alle Charaktere, denen du in dieser Geschichte Leben eingehaucht hast, haben eine unglaubliche Tiefe in Bezug auf Charakter, Herkunft, Denkweisen und Einstellungen. Das gilt gleichermaßen für Menschen, wie auch Pokémon. Das Zweigespann der beiden Protagonisten (und ja, ich persönlich weise Stan eine genauso wichtige Stellung innerhalb der Geschichte wie Sheinux zu, auch wenn sie [bis auf ein Kapitel] aus der Sicht des Zweitgenannten heraus dargestellt wird) könnte zu Beginn der Story unterschiedlicher nicht sein. Ganz ehrlich: vorallem innerhalb des ersten Buches gab es einige Stellen, wo ich je nach Situation entweder Stan oder Sheinux einfach nur wachrütteln wollte um ihnen klar zu machen: "Es ist so offensichtlich, tu es!" oder auch "Das kann jetzt alles nicht dein Ernst sein?!". Ich steckte so in dem Geschehen drin, dass ich am liebsten eingeschritten wäre. :D Die charakterliche Reifung der beiden im Laufe der Geschichte ist dir wunderbar gelungen. Es war ein fortschreitender Prozess, ging mal schneller, mal langsamer voran und es gab hier und da sogar Rückfälle zu alten Verhaltensweisen. Genau das macht die Story so echt, nicht einfach kopflos dahingeschrieben, sondern einem wirklichen Entwicklungsprozess ähnlich. Vorallem das hebt dich (sowohl diese, wie auch andere Geschichten von dir) von einem Großteil der anderen Autoren ab. Oftmals hatte ich schon das Gefühl, die Charaktere entwickeln sich alle so 0815 mäßig, komplett vorhersehbar und strikt linear. Und da eben das bei dir nicht der Fall ist, gefällt mir das Werk so gut. Auch die anderen Charaktere stellst du dem Leser in vielen Facetten dar, so dass man zu einem jeden ein gutes, umfangreiches Bild vorm inneren Auge hat. So erging es zumindest mir. Gerade in Buch 3 Kapitel 8 + 9 hast du es geschafft, trotz der großen Anzahl an Akteuren keinen zu kurz kommen zu lassen. Jeder bekam eine individuelle, wohl durchdachte Persönlichkeit. Das bemerkenswerte daran ist, dass du selbst die Vergangenheit, Ängste und Gefühle eines jeden tiefgreifend in die Geschichte integrierst. Das macht sie nicht nur zu Statisten, sondern zu wichtigen Bestandteilen des großen Ganzen.
    Es hat mich auch gefreut, den ein oder anderen, durch deine weiteren Storys, bereits bekannten Namen/bekannte Person zu entdecken. So zum Beispiel Ray Valentine auf dem Schiff, wobei es sich hier wohl nur um denselben Namen, jedoch eine ganz andere Person als die aus der "Celebi-High", handelt. Hingegen war mit Eagle dann wirklich dieselbe Person, wie du sie auch in der anderen Story verwendet hast, vorhanden. Zeitlich spielt "Pflicht und Ehre" ja augenscheinlich nach der "Celebi-High" und daher ist es interessant zu sehen, was aus einem der Hauptcharaktere nun geworden ist. Dieser Zusammenhang gefällt mir sehr gut.


    Durch die gesamte Geschichte zieht sich ein roter Faden, den du nie abreisen lässt, der sich jedoch um die ein oder andere Begebenheit herumwindet. Klingt vielleicht etwas komisch, aber ich wusste es nicht anders zu umschreiben. Nichts passiert bei dir ohne Grund. Die temporären Ziele ergeben sich je nach Situation: Nach Hoen reißen um das Raumfahrtzentrum zu besichtigen, das Turnier gewinnen um an Geld zu kommen, Deoxys jagen um den Körpertausch rückgängig zu machen oder auch Sheinux zurück in seine Heimat zu bringen. Doch das große Ganze bleibt dabei irgendwie immer gleich. Während ihrer Reise erleben Stan und Sheinux so viel, was ihre anfänglichen Differenzen nach und nach beseitigt und sie beide reifer werden lässt. Dass sie solchen "Gewalten" wie Deoxys oder Darkrai begegnen, und letztlich sogar trotzen können, lies sich zu Beginn der Reise nicht annähernd erahnen. Durch all diese Wendungen wurde es nie langweilig. Für diesen Ideenreichtum kann ich dir nur meinen höchsten Respekt zollen. Du hast in diese eine Story wirklich richtig viel Inhalt hineinbekommen und diesen stets sehr anschaulich herüber gebracht. Es stellten sich mir immer wieder Fragen, die nicht gleich (manchmal sogar erst viele Kapitel später) beantwortet wurden. Dadurch wurde die eigene Fantasie angeregt. Ich habe mir wirklich die unterschiedlichsten Dinge ausgemalt, manche mehr, manche weniger realistisch und am Ende kam es dann doch meist anders als erwartet. :D Besonders die Sidestory um die Rose der Wüste war gut in das Geschehen integirert, und hat sich von da an stetig in die Handlung eingebunden und diese beeinflusst. Ich finde es sehr gut, dass solche Sachen bei dir nicht nur mal zum Partfüllen eingestreut werden, sondern dass sie immer einen tieferen Grund haben und auch im Nachhinein noch oft in die Geschichte wieder integriert werden. Ein weiteres super Beispiel ist da auch der Running-Gag mit dem Müllmann, wie Blackdraco schon erwähnt hat. Generell hast du es auch hinbekommen, die Geschichte mit einem wirklich passenden Humor zu versehen. Ich hatte beim Lesen immer viel Spaß. Wie ich dir schon gesagt habe, sind da vorallem auch die tollen Dialoge maßgeblich daran beteiligt. Bei den Wortgefechten von Fiffyen/Magnayen und Shaymin musste ich zweimal sogar herzhaft laut loslachen. Das schaffen nicht viele Autoren bei mir, Hut ab. :D


    Am Ende schließt sich anscheinend doch der Kreis. Für Sheinux begann alles im Nationalpark und nun ist er wieder in seiner alten Heimat. Doch endet hier auch alles? Das ist die große Frage. Aufgrund der bisherigen Entwicklungen und oftmals plötzlichen Geschehnissen kann ich mir da persönlich noch kein wirkliches Ende zusammenreimen. Durch den von dir getroffenen Überleitungssatz zum nächsten Kapitel ist jedoch die Spannung bei mir schon wieder deutlich gestiegen, denn das klingt alles andere als normal. Aber bevor ich hier jetzt die wildesten Vermutungen anstelle, warte ich den nächsten Part doch lieber ab. Insgeheim hoffe ich ja schon seit langem, besonders aber nach der Entwicklung von Feurigel, darauf, dass sich Sheinux ja evtl. auch noch entwickelt. Da würde es mich brennend interesserien, wie du diesen Vorgang aus seiner Perspektive wohl beschreiben würdest. Aber all zu große Hoffnungen auf so eine Entwicklung mache ich mir dann doch nicht. ;)


    Während des Lesens sind mir hier und da noch ganz vereinzelt ein paar Wortverdreher oder andere kleinere Fehlerchen aufgefallen. Da ich die Geschichte jedoch erst einmal genießen und einfach nur lesen wollte, habe ich diese bisher nicht festgehalten, tut mir leid. Wie bei der Überarbeitung von einzelnen Parts würde ich dir aber auch in diesem Punkt gern meine Hilfe anbieten, d.h.: Ich würde die komplette Story irgendwann noch einmal durcharbeiten, und partweise eine Sammlung erstellen, wo die Stellen verzeichnet sind, an denen mir noch etwas aufgefallen ist. Aufgrund der Länge der Story wird es sich dabei sicherlich um eine längerfristige Aufgabe handeln. Aber da du hier ein wirklich gutes Werk erschaffst, wäre es die Mühe wohl wert. Wir hatten ja schonmal kurz darüber gesprochen, zwecks deine Storys wirklich in gedruckter und gebundener Form zu realisieren. Und ich kann auch jetzt noch sagen, ich wäre wohl dein erster Kunde. ;) Falls du also in Zukunft gern auf ein wenig Hilfe zurückgreifen möchtest, kannst du dich jederzeit gern bei mir melden.


    Ich könnte jetzt auf noch viel, viel mehr eingehen, aber das soll erstmal reichen. Ich freue mich auf die Fortsetzung sowie den Abschluss dieses Werkes und werde dem wirklich entgegenfiebern.


    Viele Liebe Grüße
    Chris

  • Part 3: Racheengel


    Das Landschaftsbild war zu einem pockenvernarbten, kargen Ödland verdorben. Am fernen Horizont erhob der Kesselberg seine schwarzen Konturen in den blutrot getränkten Himmel. In einer endlosen Elegie gefangen, krümmte sich der Boden vor Elend und Trauer. Gewaltige Abgründe zogen dort metertiefe Schneisen, sie rissen das Land gewaltsam entzwei und bürdeten der Welt ihren verheerenden Schmerz auf. Die schroffen Klippen in und an den Schluchten erweckten die Illusion von Reißzähnen, fast so, als versuchte sich der Nationalpark im Würgegriff seiner Pein selbst zu verschlingen. Durch den wolkenverhangenen Blutstrom reichte nur karges Sonnenlicht hindurch. Was auch immer das milchig weiße Licht berührte, wirkte wie in einem anhaltenden Todeskampf gefangen. In Fieberträumen wandten die kahlen Bäume ihre spindeldürren, knochigen Äste gen Himmel. Das wenige Gras auf dem verbrannten, spröden Boden knirschte wie Glasscherben und zerfiel bei der bloßen Berührung zu Asche. Das eben erst durchquerte Gelände krankte an derselben dunklen Leere wie das, das sich vor uns erstreckte. In dieser dahinsiechenden Welt gab es kein Leben, keine Hoffnung. Es stank nach Elend und Qual, nach Tod.
    »Gefällt es dir, Sheinux?«
    In unmittelbarer Nähe versetzte ein tiefer, finsterer Bass der sterbenden Umgebung den Todesstoß. Hinter uns. Stan und ich schnellten herum, den Ursprung des Lauts folgend. Schon riss mich eine Woge des Hasses hinfort. Die stehende Luft peitschte mir entgegen. Jaulend schmetterte ich auf den Boden. Die Welt begann sich zu drehen. Stans angstverzerrte Stimme rief meinen Namen, Augenblicke später schrie auch sie vor Qualen.
    »Du sorgst dich um ihn, Stan? Was ist mit dir?«
    Mit diesen Worten ergoss Darkrai eine dunkle Stichflamme über Stan. Mein Freund schrie, wie er noch nie geschrien hatte. Gefangen in Todesqual krümmte er sich auf dem Boden. Wo Darkrais Zorn ihn verfehlte, färbte die Erde sich schwarz.
    »Lass ihn in Ruhe!«
    »Ich habe dich nicht vergessen!«
    Mit diesen Worten riss es mich erneut hinab in ein eisiges Meer aus rasiermesserscharfen Scherben, wo jeder Atemversuch mit 1.000 Nadeln beantwortet wurde.
    Lass es aufhören! Lass uns gehen!
    In der Ferne explodierte ein Pokéball, ohne geworfen worden zu sein.
    Darkrais Stimme donnerte sofort los: »Und dich auch nicht, Shaymin!«
    Es passierte so schnell - Shaymin war noch nicht richtig da, da hatte Darkrai sie schon von den Beinen gerissen.
    »Du müsstest doch wissen, Shaymin,« - ergötzend an den Qualen, die er dem kleinen Blumen-Pokémon zufügte, kam er ihr näher - »dass ich immer kriege, was ich will. Und ich lasse mich« – diesmal traf sein ungeheurer Zorn wieder mich – »nicht aufhalten – von niemandem!«
    »Du kranker Bastard!«, verwünschte Shaymin ihn durch du dunklen Blitze hindurch, während Darkrai seinen Hass ein weiteres Mal an ihr ausließ.
    Sein halb verschleiertes Gesicht nahm die widerliche Fratze eines grinsenden Totenschädels an.
    »Ja, lass mich von deinem Hass kosten, deinem Leid, deiner Angst. Zu lange habe ich darauf …«
    Ein Blitz schnalzte dem Racheengel an die Schläfe. Nur kurz betäubt riss er den Kopf herum. Da stand ich. Taub für den Schmerz, der an meinen zitternden Knien sägte. Das von zwei Stürzen schmutzige Fell flackerte wie eine Gewitterwolke. Der Abscheu, der auf dem Gesicht kochte, zog sich bis zur steil aufgerichteten Schwanzspitze. Der wütende Aufschrei meines Namens war nur ein unbedeutender Unterton, versteckt in einem bestialischen Ansturm ewigen Hasses, den er mir entgegenfeuerte.
    Ich machte einen Satz zur Seite und erwiderte den Angriff. Darkrai erhob seine realitätsverzerrten Hände und formte einen unsichtbaren Schild, an dem mein Funkenstoß abprallte.
    »Du kannst nicht gewinnen!«
    Schwarze Blitze züngelten mir entgegen - wild, ungebändigt. Sie setzten mir nach und leckten an den Hinterläufen und dem Schwanz, als wären sie lebendig. Zur Seite abrollend erwiderte ich das Feuer. Es traf Darkrai diesmal unvorbereitet. Mit der Wirkung einer gepfefferten Ohrfeige schnellte sein Kopf kurz zur Seite, bevor sein tiefrot loderndes Auge mich erfasste.
    Schwere Explosionen donnerten wiederholt auf Darkrais entblößten Rücken ein. Der Getroffene keuchte und wirbelte herum. Shaymin war wieder auf den Beinen. Ihre letzte grün glühende Energiekugel krachte auf Darkrais Brust, zwei weitere schlugen auf einem Hügel hinter ihm ein, dass es Erde und Steine regnete. Die Gunst der Ablenkung nutzend knallte daraufhin erneut ein Blitzstrahl gegen den Hinterkopf unseres gemeinsamen Feindes. In seinem Limbus war er mächtig, aber hier, in der Realität, konnten wir ihn schlagen. Wir mussten ihn einfach schlagen!
    »Es reicht!«
    Darkrai riss die Arme auseinander. Sein Echo war eine unglaubliche Druckwelle, die über uns hinwegrollte. Wieder krachte ich auf den Boden. Shaymin erging es nicht anders. Ein dunkler Energiestoß jagte an meinem Ohr vorbei, als ich mich eiligst aufrappelte. Shaymin hatte weniger Glück - der Angriff erwischte sie direkt an der Stirn. Ihre Glieder zuckten noch kurz, dann wurde es still um sie.
    »Drecksack!«, brüllte ich.
    Ein neuer Strom hasserfüllter Gedanken manifestierte sich aus meinem Fell. Augenblicke später stand Darkrai regelrecht in grellen gelben Flammen. Er wehrte sich nicht, obwohl sein Gesicht in offenbaren Schmerzen zuckte.
    »Es ist vorbei, Sheinux, vorbei. Du kannst nicht gewinnen oder dich retten, und selbst wenn du es könntest: Einen nach dem anderen werde ich dir nehmen, alles, was dir lieb und teuer ist. Das Loch in deinem Herz kann durch nichts gefüllt werden; nur durch Kummer, durch Leid, durch Qual. So oder so wird dein Leben heute enden.«
    »Ich habe da ganz andere Pläne. Du Brechmittel kommst mir nur dauernd in die Quere.«
    »Dann hättest du niemals diese Reise antreten sollen. Aber du musstest ja immer den Helden spielen. Und für was? Für einen Menschen.«
    »Stan ist mein Freund!«
    »Ihr wart nie Freunde!«, spuckte Darkrai aus. »Er ist ein Mensch, du ein Pokémon! So etwas wie Freundschaft existiert zwischen diesen Spezies nicht! Ihr seid zu verschieden!«
    »Stan ist ein Pokémon unter den Menschen! Mehr Pokémon, als du jemals sein wirst!«
    »Und wer bist du? Ein Niemand! Ein unbedeutender Schandfleck. Ein Insekt! Ein winselndes Ungeziefer!«
    »Wer ich bin? Wer ich bin?«
    Aus einem verstohlenen Winkel bemerkte ich, wie sich Stan schwach rührte. Er war am Leben! Ich spürte neue Kraft in mir keimen, neue Hoffnung. Ich setzte meine frecheste, dreisteste und gemeinste Fratze auf, die ich finden konnte.
    »Ich bin Sheinux, Sohn des Sechsten Hauses, unangefochtener Champion und Revierherrscher des westlichen Nationalparks, großmeisterlicher Mülltonnendurchwühler …«
    »Du langweilst mich«, unterbrach Darkrai.
    Unbeirrt und mit lauter werdender Stimme fuhr ich fort:
    » … mit dem blechernen Bierdeckel ausgezeichneter Meisterlangfinger, legendärer Voltensobezwinger, unverzagter Hüter der Reisekasse, Lebensretter erster Klasse, bewanderter Menschenkenner, sagenhafter Piepmatz-Fäller und habe gestern deine Eltern gesehen: zwei hässliche Kerle.«
    »Du hast deine letzte Mülltonne geknackt!«
    »Zwing mich doch!«


    Explosionsartig nahm das Tempo Fahrt auf. Ich tauchte unter einem Sturm schwarzer Blitze ab. Drei Strom-Stöße aus meiner Richtung zischten ihm entgegen. Darkrai schwebte mindestens zwei Meter über dem Erdboden, als er in einer unnatürlichen, ruckartigen Bewegung nach links und rechts auswich, fast schon zu schnell für das nackte Auge. Aus dieser Wendigkeit heraus drehte er wild um die eigene Achse. Die schwarzen Schattenkonturen wurden schmäler, bald waren sie nur ein dunkler, dünner Strich in der Luft. Plötzlich war er fort. Verschwunden.
    Wo war er? Ganz in der Nähe - da war ich mir sicher. Ich spürte seine Präsenz. Sie kam auf mich zu! Schon der kleinste Mucks, das bloße Flüstern eines verirrten Luftzugs, zehrte an meinem Verstand. Ich beschränkte die Atmung auf das Notwendigste in der Hoffnung, ein leises Geräusch vernehmen zu können. Und da war es! Hinter mir! Ich wirbelte herum. Darkrai war schneller und verpasste mir einen Hieb in mein vor Angst verschrecktes Gesicht. Ich geriet ins Straucheln, schmeckte Blut. In meinem Kopf tat sich ein tiefes Vakuum auf, während Darkrai seine Konturen ein weiteres Mal in einem Wirbel schwarzer Farben auflöste. Nur langsam kamen meine Sinne wieder. Ich musste mich konzentrieren, den Angriff abfangen. Funkenstöße schossen ziellos umher, querfeldein, in den Himmel, über den Boden hinweg. Kein unerwartetes Stöhnen, nichts rührte sich. Wachsam horchend tänzelte ich zur Seite. Ich kam mir wie ein Schattenboxer vor, der den Hieben seines unsichtbaren Gegners auszuweichen versuchte. Ich tauchte ab, rollte zur Seite. Wieder ein Funkenstrom. Wieder keine Antwort. Darkrai war noch da, ich fühlte es. Erneut kam er näher. Ich kehrte in mich ein. Lauschte. Die Krallen bohrten sich in den Boden.
    Wo bist du? Komm schon, mach!
    Ein Lüftchen tat sich auf, strich mir durch das Fell. Dann war es plötzlich weg. Verschwunden. Auch das Geräusch des leisen Windsäuselns. Nur noch mein Herzschlag war zu vernehmen. Ich schoss in einer 180-Grad-Drehung herum. Die rechte Vorderpfote riss eine weite Furche in den Boden und schleuderte den aufgeworfenen Dreck direkt in Darkrais überraschtes Gesicht. Es war eine gewaltige Genugtuung, ihn vor Schmerz heulen zu hören. Diese Gefühlsregung reichte auf meiner persönlichen Befriedigungs-Skala ungefähr so hoch, so tief ich ihm auch einen Augenblick später meine Kiefer in den Hals rammte. Vorder- und Hinterläufe fuhren die Krallen aus und klammerten sich wie aufsässige Widerhaken an Darkrais restlichem Körper fest. Ich hatte das Gefühl, in eine Wolke aus Klärschlamm zu beißen. Sein Schweiß und Gestank brannte mir in der Nase. Eisiger Dampf schoss mir aus dem Mund. Der heraussickende Speichel gefror binnen Sekunden zu einer harten Eisschicht. Darkrai schüttelte sich mit schnellen, hektischen Bewegungen, dass es mir schwindelig wurde. Ein weiterer Ruck - ich flog durch die Luft und landete halbwegs anmutig auf den Pfoten. Darkrai pflückte das Eis vom Hals; in seiner Schattenklaue zermalmte er es zu Pulver.
    Die Luft geriet ins Schwanken. Aus dem Windhauch, der mir erst schwach entgegen fächerte, wurde ein verdorbenes, kaltes Klagelied, das wie Peitschenhiebe meine Seele zu malträtieren begann.
    »Stan hat dich nie gemocht! Wer sollte dich flohverseuchten Köter von der Straße auch schon mögen? Du bist Abschaum! Abschaum!«
    Ich schüttelte mich, wehrte mich wie gegen eine lästige Fliege, die mir mit jedem Stich weiteres heimtückisches Gift einflößte.
    »Du bereitest deinen Freunden nichts als Kummer. Von Anfang an wäre Stan ohne dich viel besser dran gewesen. Du bist eifersüchtig auf Igelavar und entgegnest Magnayens Gefühle nicht. Und aus tiefster Seele verachtest du Shaymin, denn dein aufgeblähtes Ego redet dir immer wieder ein, sie nehme dir Stan weg. Du warst ihnen nie ein guter Freund.«
    Auf einer Irrfahrt wand sich mein Geist durch einen endlosen Darm. Mit jeder Kurve wurden die Anklagen lauter und mir dunkler ums Herz.
    »Du bist so blasiert! Du brüstest dich mit Taten, die du nie verbracht hast! Du hattest immer Glück! Du bist schwach! Du bist selbstgefällig! Du kannst niemanden retten – nicht einmal dich selbst!«
    Die letzten Worte brannten noch lichterloh auf der Seele, als die Realität erbarmungslos zuschlug. Wie aus einem Traum gerissen, kam ich plötzlich zu mir. Darkrai türmte sich vor mir auf, seine Nebelfaust zum Schlag ausgefahren. Ich ließ mich auf den Bauch fallen, tauchte unter dem heftigen Hieb hindurch. Der Windhauch, der dem Angriff folgte und über mein Fell heulte, war so eisig, dass sich der eigene heiße Atem zu Eiskristallen verfestigte. Pausenlos zur Seite rollend jagten mir Geschosse nach. Irgendwann - mir war bereits übel - stemmte ich meine Pfoten in einer raschen Bewegung gegen den Boden. Kraftvoll stieß ich mich ab. Der Schwung verschaffte mir mehrere Meter Spielraum zu meinem Verfolger, bevor ich wieder aufsetzte. Ein weiteres Sperrfeuer ergoss sich vor mir. Ich tauchte unter den glühenden Kugeln ab und tänzelte – Darkrai näherkommend – an ihnen vorbei. Erneut drückte ich mich hoch in die Luft, diesmal aber in einer Vorwärtsbewegung, mit blitzenden Zähnen und ausgefahrenen Krallen direkt auf das Schattenwesen zu. Er erhob die Hand und webte mit schneller Bewegung ein Muster in die Luft. Ich donnerte gegen eine unsichtbare Wand, strampelte noch etwas, bevor ich wieder Boden unter den Pfoten hatte. Geistesgegenwärtig sprang ich so heftig zurück, dass Erde und Staub aufwirbelten. Eine weitere Salve ging hernieder. Noch eine und noch eine.


    Bald lag ein dichter Schmutzvorhang über dem Schauplatz. Darkrai musste irritiert sein, anders konnte ich mir die unerwartete Feuer- und Verschnaufpause nicht erklären. Dabei war es nur ein Haufen Dreck in der Luft, der uns voneinander abschirmte. Ein plötzlicher Windhauch - und die Schose sollte aufs Neue beginnen. Für den Augenblick aber war ich sicher und durfte aufatmen. Erst in diesem Moment des trügerischen Friedens bekam ich die vollen Ausmaße meines desolaten Zustandes zu spüren, dass ich am liebsten geschrien hätte. Nichts war mehr an mir dran, was nicht wie ein spröder Ast war, den eine unvorsichtige Bewegung entzweibrechen würde. Ich war am Ende.
    »Du verkriechst dich im Dreck, Sheinux? Jämmerlich.«
    Immer noch ein besserer Ausblick als auf deine Drecksvisage!
    Nur zu gern hätte ich ihm die Worte ins Gesicht geschmettert und ihm dabei mit meinem Elektrorasierer einen aufregenden Scheitel gezogen, doch die Vernunft mahnte mich zur Vorsicht. Die Atmung ging hinunter auf ein Minimum, das unangenehme Kratzen blieb im Hals stecken, Kopf und Schwanz waren eingezogen. Bloß das Herz hämmerte so laut und so schmerzhaft in der Brust, dass ich glaubte, auf der anderen Seite bearbeitete mich jemand mit dem Presslufthammer. Der Vorhang begann sich allmählich zu legen. Darkrais Stimme wurde ungeduldiger. Die Ruhepause näherte sich dem Ende.
    Tu es!
    Ich fokussierte meinen Geist. Das Gesicht vibrierte vor Anstrengung, der Schweiß darauf tanzte. Eine knisternde Energiekugel nahm vor mir langsam Form an - ein Leuchtfeuer, das die trübe Dreckwolke wie tausende strahlende Messer durchschnitt. In dem grellen Schein ging Darkrais neuer Kugelhagel unter, als ob er Steine in einen tiefen Brunnen warf; mehr sogar noch: Jedes seiner Geschosse speiste das meine mit Energie. Es wuchs weiter an. Als Darkrai die Vergeblichkeit seiner Bemühungen realisierte, war die Energiekugel bereits so groß wie ein ausgewachsener Medizinball. Die äußere Korona des Körpers, von deren Oberfläche außer Kontrolle geratene Blitze ununterbrochen stoben, leuchtete hell und sanft wie die Sonne. Sein Inneres glühte in einem sanften Rot, das wie der Kuss einer jungen Rose war. Ein Hauch meines Lebenswillens – und die Kugel setzte sich in Bewegung.
    Ich versteckte mich hinter keiner Illusion. Wenn Darkrai so überheblich war, wie ich ihn einschätzte, würde die eigene Arroganz eine Flucht nicht erlauben. Die Energiekugel teilte den Nebel aus Dreck entzwei und warf ein bedrohliches Licht auf Darkrais schemenhafte Gestalt. Hinter seinem gesichtslosen Schleier aus Niedertracht und Heimtücke mochte er vielleicht das nackte Auge täuschen. Doch ich wusste: Tief im Inneren rang er mit sich selbst - und der nächsten Entscheidung. Es war meine letzte Hoffnung. Ich betete dafür, dass ich nicht irrte.


    Das aggressive Gegeneinander von Licht und Finsternis warf zerstörerische Schatten. Ein blutrotes Feuer loderte in den sonst schwarzen Nebelhänden, mit beiden stemmte Darkrai sich dem Angriff entgegen. Nach der Annäherung mit ihm hatte die Energiekugel eine andere Farbe angenommen. Alles, was gut und richtig war, jenseits von seiner tödlichen Berührung, leuchtete noch strahlend wie die Sonne. Auf der gegenüberliegenden Seite dominierte ein dunkles Orange, als ob der Kontakt mit dem Schattenwesen sie verdorben hatte. Wie man es aber betrachtete, blieb der Angriff nicht weniger gefährlich, denn die Blitze, die unkontrolliert von der Oberfläche ausgingen, zogen eine Schneise in Darkrais Schattengewand. Zum ersten Mal schien er tatsächlich in der Defensive, fast schon mit der Situation überfordert. Ein Funke pfefferte ihm ungebremst ins Gesicht. Vor Schmerz heulend zuckte sein Kopf zur Seite, senkte aber die Arme um keinen Millimeter. Über die Hälfte der Kugel war mittlerweile von einem dunklen Leuchten erfüllt. Mehr und mehr des kalten Glanzes fiel ihm allmählich anheim. Was auch immer er bewirkte: Nicht mehr lange und Darkrais Einfluss würde den Energieball vollständig verzehren. Was dann?
    Worauf warte ich eigentlich? Angreifen! Jetzt! Die Gelegenheit könnte günstiger nicht sein. Er ist wehrlos, sitzt quasi auf dem Präsentierteller. Das ist kein einfaches Kräftemessen, kein Spiel! Entweder der oder ich!
    Da stand ich nun - wachgeschlagen wie von einer Ohrfeige. Ich hob den Kopf ein Stück, fixierte das Ziel. Augen und Nase brannten, die Kehle darbte wie eine ausgetrocknete Wüste, der Wackelpudding in meinen Knien vibrierte bei jeder noch so unvorsichtigen Bewegung. Unter dem rußig befleckten Fell verkrampften sich die Muskeln. Ein Impuls raste durch den gesamten Blutkreislauf, bis er das Gehirn erreichte, wo er einen Quell unendlichen Blutdursts zutage förderte. Die Freigabe war erteilt. Darkrai sollte büßen. Für alles.
    Die Kugel in den Handflächen des Racheengels war fast vollständig verdorben. Der Kern war ein lichterloses Flammenmeer, die Ummantelung eine Gewitterwolke. Gerade als es schien, Darkrais Verbissenheit würde ihn endlich Oberhand gewinnen lassen, raste meine Wut heran - gebündelt in einem sengenden Blitzstrom. Ungezügelt. Verheerend. Vernichtend. Darkrai riss den Kopf zur Seite. Sein rotglühendes Auge weitete sich vor Angst.


    Mein zum Leben erwachter Zorn brandete gegen Darkrais ausgestreckte Hände, und gegen die Kugel, die sich in deren Hohlraum befand. Für den Wimpernschlag der Zeit war der Nationalpark ein Vakuum. Kein Windhauch regte sich mehr, das Geschwür blutroter Wolken kam zum Stillstand, jedes Geräusch verstummte. Dann jagte ein greller Lichtblitz ringförmig über das Land, bevor die Energiekugel in einem weißen Feuer explodierte. Die Geräuschkulisse erbebte wie die Erde. Die anschließende Druckwelle rollte über den pervertierten Nationalpark, riss alles mit sich, lebend oder bereits abgestorben: Dreck, Sträucher, Darkrai und mich. Umherfliegende Gesteinssplitter zersiebten mir den Leib, doch zu diesem Zeitpunkt hatte ich längst kein Gefühl mehr im Körper. Durch den grellen Pfeifton, der mein Trommelfell lähmte, hörte ich noch immer das Heulen des Windes und das Wehklagen des gepeinigten Landes. Der Boden kam näher. Ich schlug auf - ungebremst. Es wurde dunkel. Stille …

  • Zu aller erst sorry für meine verspätete Antwort hier. War `ne ganze Weile nicht mehr im Bisaboard unterwegs, da ich das letzte Semester bisschen mit den unterschiedlichsten Sachen beschäftig war … und ich dazu tendiere, mich irgendwie völlig zurück zu ziehen, sobald ich etwas Stress habe^^“
    Aber genug von mir, widmen wir uns den wichtigen Dingen und kommen zum aktuellen Part:


    Na wenn hier kein „Well, that escalated quickly“ passt, dann weiß ich auch nicht mehr weiter xD Anfangs dachte ich, ich hätte vielleicht einen Part übersehen – was natürlich nicht der Fall gewesen ist. Hab nur vergessen, mit welchem Satz der vorherige Part aufgehört hatte, nachdem ich den gelesen hab, machte es doch wieder Sinn für mich.
    Jetzt am Ende wirklich ein (wahrscheinlich) letzter überraschender Klimax … nun gut, „überraschend“ vielleicht nicht ganz, immerhin hast du bereits erwähnt, dass am Ende der Spannungsbogen noch einmal noch oben ausschlagen würde. Ehrlichgesagt habe ich aber nicht gerechnet, dass Darkrai doch nochmal eine Rückkehr machen würde. Für mich fühlte sich das Kapitel abgeschlossen an … na gut, abgesehen davon, dass sie Darkrai nie direkt besiegt haben, sondern nur den Limbus, also macht dies schon Sinn. Also ja, eigentlich hätte ich vielleicht doch damit rechnen sollen xD Aber wie dem auch sein, diese Möglichkeit bietet die Möglichkeit, noch einen direkten Showdown zwischen unserem Protagonisten und dem mehr oder weniger Hauptantoganisten“ zu haben. Im Limbus war Sheinux immerhin nicht in der Lage, gegen Darkrai wirklich anzukämpfen bzw. war das auch mehr ein Kampf auf der inneren Ebene gewesen, wo er noch mit seinen inneren Konflikten zu kämpfen hatte. Hier nimmt Sheinux die führende Rolle an und kann auch beweisen, dass er Darkrais finstere Verführungen überwunden hat. Zwar versucht er noch weiter Sheinux zu beeinflussen, aber hab mehr das Gefühl gehabt, dass eigentlich schon der Punkt erreicht war, wo dies keine besondere Wirkung mehr zeigte. Besonders, wo Sheinux nochmals alle seine erkämpften Titel aufzählt (neue und alte), fand ich ein klasse Zeichen dafür, dass er sein Selbstvertrauen auch wieder hatte … und schließt finde ich auch schon den Kreis zum Anfang. Das hier war das wirkliche Kräftemessen und ich finde du hast die Action wirklich gut beschrieben und choreographiert, da kann ich absolut nichts aussetzen. Und paar klasse Sprüche hast du auch noch eingebaut, also mehr hätte ich echt nicht verlangen können.^^ Fand mich schnell in die ganzen Geschehnisse reingezogen und Sheinux nochmal richtig in Action zu sehen, gegen einen mächtigen Gegner, wobei da dennoch eine Aussicht auf Erfolg. Jetzt ist noch die Frage, ob dies wirklich das Ende von Darkrai ist, oder ob da noch mehr zu erwarten ist … aber das hat sich doch stark nach dem finalen Schlag, die finale Attacke angefühlt. Und vor allem auf eins bin ich gespannt … nämlich darauf, in welcher Art du diese Geschichte Enden wirst, mit welchem Nachgeschmack.


    Auf baldiges Wiederlesen,
    Toby