Leben und lernen - Die Celebi-High

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  • Hallo Eagle. (:


    Nachdem @Rusalka in der Feedbackkette deine Story als nächstes vorgeschlagen hat, dachte ich mir, ich schreib dir mal einen Kommi dazu, damit du hier nicht noch länger warten musst.
    Vorneweg muss ich jedoch sagen, dass ich mir nicht die gesamte Story durchgelesen habe, weil das hier sonst noch länger auf sich hätte warten lassen müssen. Ich beziehe mich deshalb mal nur auf den letzten Part 6 hier. Wird also von der Story her nicht so viel geben, wo ich mit Feedback dienen kann, also wird’s eher auf Schreibstil und derartiges herauslaufen. Ich hoff, dass ist auch ok. ^^ Well, here goes …


    Part 6


    Gut, ich hab jetzt den ganzen Part ohne jeglichen Zusammenhang gelesen und bin deshalb natürlich erstmal etwas leicht verwirrt. Aber das macht nichts, ich werd die ganze Sache jetzt einfach mal für sich kommentieren und wenn ich irgendwelche seltsame Dinge sage oder merkwürdige Schlüsse ziehe, dann ignorier das einfach. Weil ich hab wirklich keinen Plan. ^^”
    Von meiner Unwissenheit aber mal abgesehen, fang ich trotzdem mal beim Titel an: Die Terror-Therapie.
    Der Titel weist schon mal darauf hin, dass hier irgendetwas schief gehen muss, obwohl ich sagen muss, dass er mir im ersten Moment irgendwie etwas Angst gemacht hat. Terror-Therapie, das klingt als hätte man Frankensteinsmonster als Psychiater oder müsste sich sonst einer merkwürdigen Therapie unterziehen. Deshalb, war ich doch sehr gespannt, womit wir es hier zu tun haben werden, um welche Therapie es sich handelt und wer die arme Person ist, die sich das antun muss.
    Okay, ich versuche mir den Spaß nun nach dem Lesen des Parts etwas zusammenzureimen: Anscheinend mussten Sonja und Ray ein Projekt bearbeiten. Teil dieses Projekts war also dieses junge Riolu — welches wohl in einen der vorherigen Parts geschlüpft ist, nehme ich an. Nur irgendwie läuft irgendwas nicht so wie es soll: Riolu hat Angst vor Frauen, was es für Sonja natürlich schwer macht, ihr Projekt richtig umzusetzen, wenn sie mit dem jungen Pokémon nicht arbeiten kann. Ray versteht sich allerdings super mit Riolu. Allgemein hat Riolu keine Probleme mit Männern, ist aber ansonsten sehr schüchtern und hat Angst vor allem. Was irgendwie verständlich ist, ich meine, es ist ja doch alles neu, wenn man noch nicht so lang auf der Welt ist. Die wenigsten werden da schon sehr selbstbewusst sein. Das ist auch im Grunde das, was die Professorin Canra hier ausdrücken möchte. Anscheinend möchte Sonja schon beinahe „gewaltsam” Riolus Angst vor Frauen brechen. Prof Canra ist dagegen, was ich ebenfalls so sehe. Ich meine, so eine Angst muss man nach und nach verlieren, da kann man keinen Crash-kurs oder so machen. Ich weiß leider nicht, auf welchem Ereignis Riolus Angst begründet ist, aber das ist auch Nebensache, Fakt ist, dass Sonja Riolu von dieser Angst heilen möchte.
    Ich muss sagen, Sonja ist mir hier etwas zu grob. Ich kenne ihre Beweggründe nicht komplett, aber irgendwie ist es mir zuwider, wie sie vorgeht. Aber gut. (Die Sache mit den Kochkünsten von Eagle war schon interessant, da kann jemand wohl so überhaupt nicht kochen. Manche Leute sollte man wohl doch nicht in die Küche lassen, aber dass Ray die Reste aufgehoben hat, um sich später noch mal vor Mathe drücken zu können … boah, da dreht’s mir den Magen um bei der Vorstellung!)
    Geckarbor soll also nun helfen. An der Stelle mal eine erstklassige Beschreibung des Geckos, vor allem hast du hier schön seine Persönlichkeit zum Ausdruck gebracht — es erinnert mich doch sehr stark an das Geckarbor von Ash aus dem Anime. Riolu wird neugierig, was ein gutes Zeichen ist und obwohl ich zuerst noch Zweifel hatte, so ist Geckarbor ein absolut anständiger Kerl. Man weiß bei so verschlossenen, kühlen Charas ja nie, aber Geckarbor schwingt sich gleich mal zum großen Bruder auf, das fand ich toll! Sonjas Begeisterung ist hier verständlich, aber Geckarbor ist ja auch ein Männchen — macht also Sinn, dass Riolu vor ihm keine Angst hat. Sonja will also eine Vermittlerin und wählt hier ihr Evoli. (Evoli und Riolu — erinnert mich ja mal total an meine eigene FF, das Pairing passt einfach gut zusammen. :D Pluspunkt!) Als dann Evoli tatsächlich aus ihrem Ball da war, war irgendwas komisch. Ich meine, nach Sonjas Beschreibung müsste sich Evoli ganz anders verhalten, als sie es hat und ich hab schon böses geahnt. Entweder hat sich Sonja doch in dem Charakter ihres Pokémon geirrt oder aber etwas anderes ist los. Daran, dass es sich um Zorua handelt — ja, darauf bin ich natürlich nicht gekommen! Und das Chaos ist perfekt. (Übrigens super, wie du immer wieder das Gewitter zu Wort kommen lässt und damit die Stimmung noch mehr unterstreichst.) Zorua stiftet das, was man von ihm erwartet: Unfug. Am Ende schafft Sonja nicht einmal es zurückzurufen und Riolu, Zorua und Geckarbor sind weg. Sonja hat sich verletzt und sie müssen ihre Pokémon in dem großen Schulhaus wiederfinden. (Jedenfalls denke ich, dass es ein großes Schulhaus ist, es wirkte so für mich.) Als die drei Mädels auftauchten, war ich etwas verwirrt, aber mir fehlen ja die Zusammenhänge, jedenfalls wollte man den drei nicht begegnen. Sonja bleibt schließlich zurück — wenn sie nicht gescheit laufen kann, ohnehin die beste Wahl — und Ray zieht allein los. Dabei trifft er auf Skip, einen weiteren Charakter. Und plötzlich tritt eine Stampede los! Hierbei hatte ich meine größte Freude an deinen treffenden Beschreibungen der hysterischen Frauen in ihren Stöckelschuhen. Wunderbar beschrieben — der Fußboden tut mir leid!
    Skip weiß anscheinend worum es ging oder auch nicht, schwer zu sagen. Nun ja, jedenfalls hat er Zorua und Riolu gesehen, aber auch die drei anderen Mädels. Und schließlich der Ort des Terrors: das Mädchenklo.
    Die Details der ganzen Sache lässt du in diesem Falle interessanterweise aus. Ich weiß nicht, was dich dazu bewegt hat vom Ort des Geschehens und Rays Entdeckung des Chaos wegzugehen, aber an dem letzten Abschnitt hatte ich — obwohl ich ihn als ungewöhnlich empfand — auch meinen Spaß. Ach ja, die liebe Presse, jeder will der erste sein, aber dadurch wird jede Nachricht nur ungenauer. Anscheinend hat Riolu das Mädchenklo vollständig demoliert, wie er das geschafft hat, weiß niemand. (Aber Riolu hat ja ungeahnte Kräfte und ich glaube in die Enge treiben sollte man es nicht.) Verletzt wurde niemand, psychiatrischen Beistand bekommen trotzdem einige Damen. Sonja war leider schuld an dem ganzen Dilemma und damit war ihre Projektwoche mehr oder weniger dahin. Ray freut sich über seine 3- wie ein Honigkuchenpferd und für Sonja ist das wohl die schlechteste Note ihres Lebens. (Jedenfalls klang sie so, wie eine Art „Hermine Granger” aus Harry Potter.) Riolu ging zurück in die Pension, wo er anscheinend auch herkam und Ray will den kleinen Kerl noch oft besuchen.


    So viel zu dem Teil an sich. Wie schon erwähnt, gefallen mir deine Beschreibungen durchweg sehr! Anfangs musste ich mich allerdings erst in den Schreibstil einlesen, die langen Sätze war ich erstmal gar nicht so gewöhnt. Deine Stärke sind sie aber und man kommt gar nicht durcheinander. Stattdessen setzt du gekonnt Akzente und Details ein, sodass man schnell das große Bild erfassen kann. Ab und an ist aber auch ein kurzer Satz mal ganz nett — gerade im Puncto Spannungsaufbau darf es ruhig mal kürzer werden. ;)
    Dein Schreibstil ist eine interessante Erzählerperspektive, die etwas abseits von den Charakteren steht, sich dafür aber einen teilweise schönen Unterton zu eigen macht, der mir sehr gefallen hat. Gerade bei der Beschreibung der drei Mädels mit ihrem Make-Up hab ich da eine klare Abscheu dagegen herauslesen können. Mann, das schlechte Parfüm konnte ich sogar fast selbst riechen! Man merkt, da hast du sehr gute Details eingebaut. Wo es teilweise gefehlt hat, war bei den Menschen und Pokémon. Die Pokémon wurden hierbei noch eher beschrieben als die Menschen — ich weiß leider überhaupt nicht, wie ich mir Ray und Sonja vorstellen muss. Aber gut, wenn man die Story von Anfang an gelesen hat, weiß man es vermutlich. Trotzdem sind manche Gesten recht gut, um dem Lesen die Erscheinung der Charas vor Augen zu führen. (Durch die Haare fahren und hierbei deren Farbe, Länge und Beschaffenheit erwähnen. An der Kleidung zupfen oder ähnliches, um wieder deutlich zu machen, was die Charas tragen, stuff like that.)
    Ansonsten aber tip top, da kann man nur noch wenig Verbesserungen bringen. Mir persönlich — aber das liegt an meiner ganz persönlichen Sichtweise von Pokémon — hat die Verallgemeinerung der Unlicht-Pokis nicht so gefallen. Vielleicht kann man die große Masse so darstellen, aber ich würde niemals ein Poki nach seinem Typ bewerten. ;) Aber wie gesagt, persönliche Ansicht meinerseits.
    Nun, mehr will mir grade speziell zu diesem Part auch nicht einfallen. Fakt ist: obwohl ich keinen Zusammenhang kannte, hatte ich große Freude am Lesen und Verfolgen der Handlung dieses Parts. Ich denke, das spricht für dich, wenn man auch komplett ohne Vorkenntnisse alles gut verfolgen kann.


    In diesem Sinne: Happy Writing!


    — Cynda
    (Eigentlich hatte ich mich schon in meinen Winterurlaub verabschiedet, aber ich finde, dieser Kommi muss unbedingt noch vor 2015 endlich mal gepostet werden.)

  • Part 7: Metal Gear Pichu


    Ich hatte nun in New Bedford eine Nacht, einen Tag und noch eine ganze Nacht vor mir, ehe ich mich nach meinem Bestimmungshafen einschiffen konnte, und es erhob sich die Frage, wo ich bis zu meiner Abfahrt essen und schlafen sollte. Der Abend war alles andere als schön, im Gegenteil sehr dunkel, trübselig und trostlos, dazu noch bitterkalt, und ich kannte hier keine Menschenseele. Ich kramte in meiner Hosentasche und förderte schließlich ein paar Silbermünzen zutage. Also, Ishmael, sagte ich zu mir, während ich mitten auf der trostlosen Straße meinen Seesack auf den Rücken nahm, wo immer du auch zu übernachten gedenkst, vergiss nicht, nach dem Preis zu fragen, und sei ja nicht allzu wählerisch.
    Auf unwirkliche Art gaben die schlichten Raufasertapeten und die verwaisten Tische und Stühle des Klassenzimmers die Klänge der Geschichte von Ishmael, einem jungen Matrosen auf der Suche nach einem Nachtquartier, wider. Selbst Skip nahm es wahr, wie sehr das Flair eines Schulraums ein leichtes Zaudern in der Stimme eines jeden Redners betonte, selbst wenn eigentlich fast niemand da war, der einem zuhörte.
    Auf das Drängen seines Projektpartners hin hatte man vorerst dieses leere Klassenzimmer für den vorletzten Tag der gemeinsamen Gruppenarbeit gewählt - neutraler Boden, wie Eagle es genannt hatte. Wenn hier etwas zu Bruch ging, schadete es nicht. Mit ein wenig Dusel hätten sie sogar einen Musikraum finden können. Dort war man es schließlich gewohnt, wenn etwas d-Moll-iert wurde. Eagle hätte sogar gelacht, wenn der Witz nicht auf Rays Kappe gegangen wäre ... Letztendlich hat man dann aber doch den erstbesten leeren Raum vorliebgenommen, ob Musik oder nicht.
    Sie waren allein. Skip, Eagle und Pichu. Bei dem gestrigen Abstecher in der Bibliothek hatte eine ledergebundene Ausgabe alten Seemanngarns das Interesse des Suicunes geweckt. Bereits die mächtigen Segel der gewaltigen, zweimastigen Brigg auf dem Einband des Buches hatte Skips Vorstellungskraft auf eine besondere Weise stimuliert, wie es sonst nur beim Anblick der hohen See möglich war. Fast schon hatte er sie auf der Haut fühlen können, die eisige Bö, an einem regnerischen Herbstmorgen, das hypnotische Schaukeln der an den Anlegestellen vertäuten Kutter sehen können, so auch die weiße Gischt, wie der aufgewühlte Wind sie über die Schiffsrelingen wuchtete, das salzige, unverkennbare Aroma des Meeres schmecken können ... In Skip ruhte die Hoffnung, er könnte auch Pichu für Ismhaels Abenteuer begeistern. Seine Überzeugung überdauerte selbst den ersten Zwischenfall, bei dem ein unbedeutender Teil des Klassenzimmer-Mobiliars einer Pichu-Eskapade zum Opfer gefallen war, noch während er dem Pokémon das erste Kapitel vorgelesen hatte. Der Vorfall hatte nicht gerade dazu beigetragen, Eagles von Stunde zu Stunde merklich schlechter werdende Laune zu verbessern. Liebevoll konnte man es sicherlich nicht nennen, wie er finster dreinblickend auf einem Stuhl dasaß, seine Hände auf dem Pult vor sich ausgestreckt. Die hartnäckig angelegte Ganzkörperdaumenschraube hielt Pichu - oder zumindest das, was die gefalteten Hände offenbarten, nämlich die winzigen Füßchen unten, dann lange Zeit nichts, dann den Ansatz von viel zu wenig Hals und den darüber liegenden Kopf - für den Moment im Zaum. Ein Anblick, bei dem jeder Erziehungsberater wohl auf der Stelle in Ohnmacht gefallen wäre, an Effizienz aber nicht zu übertreffen. Aller widrigen Umstände zum Trotz war er nicht an die Decke gegangen. Noch nicht. Er überließ es ganz der Phantasie, falls ihn jemand bei seinen leisen Selbstgesprächen belauschte, welchen der anderen Anwesenden er am meisten verwünschte: das Brechmittel oder die Gewürzgurke. An weiteren Kosenamen für Pichu mangelte es nicht, dafür hatte der muffelige Raikou ausgiebig gesorgt. Kleines Problem, Satansbraten und Pelzverschwendung gehörten dabei noch zu den eher freundlichen Umschreibungen. Die gewaltige Fülle an weiteren, nicht ganz so galanten Namensgebungen sprengte mittlerweile die Kapazität eines handelsüblichen DIN-A4-Blattes. Für seine Verhältnisse betrachtete Eagle die Dinge ungewohnt objektiv ... oder auch engstirnig: Morgen war der Spuk vorbei. Warum also jetzt noch kriecherisch um die Gunst dieses Balgs buhlen? Das hatte er nicht nötig. So tief wie Sonja würde er ganz gewiss nicht sinken, auch wenn er zugegebenermaßen ihre Anwesenheit deutlich derer des Suicunes und dessen hirnverbrannte Flausen vorgezogen hätte. Ihn und seine wertlose Scharteke.


    Draußen nahm der Wind allmählich Fahrt auf. Sicherlich wäre Eagle längst seiner Langeweile vor dem einschläfernden Gerede zum Opfer gefallen, kribbelte es ihn nicht so unangenehm zwischen den Fingern. Er mochte sich täuschen, aber es schien fast so, als wurde es von Minute zu Minute schlimmer. Unruhig rutschte er auf dem Stuhl hin und her, schielte dabei ungeduldig auf die Digitaluhr an seinem Handgelenk. Sie waren noch nicht allzu lange hier, noch keine zwei Stunden. Wie lange sollte das noch so weiter gehen? Zwei weitere Stunden mit diesen Freaks in einem Raum eingesperrt und er war reif für die Klapsmühle. „Was hältst du davon, einfach mal für ’ne Weile die Klappe zu halten?“, kommentierte Eagle das ununterbrochene Gewäsch von Masten und Tauen des Suicunes. Der Raikou fuhr seine rechte Stirnhälfte zum rechten Oberarm, eine Stelle, an der es ihn schon die ganze Zeit so unangenehm gejuckt hatte. Da das kleine Früchtchen beide Hände fest in Anspruch nahm, wusste sich Eagle nicht anders zu helfen, dem stechenden Gefühl anders zu begegnen.
    Der Suicune schaute abschätzig über den Buchrand hinweg, noch während er den gesprochenen Satz beendete. „Und was dann? Sollen wir uns bis morgen früh stillschweigend den Hintern platt sitzen?“
    „Keine schlechte Idee“, knurrte Eagle. „Eigentlich sogar der beste Einfall, den du je hattest, Grützkopf.“
    „Zumindest versuche ich, Pichu ein Vorbild zu sein, im Gegensatz zu dir. Wenn du schon nichts wirklich Konstruktives mit ihm unternehmen willst, könntest du es wenigstens versuchen, dich etwas zusammenzureißen. Es tut wirklich nicht weh, hin und wieder mal ein nettes Wort, weißt du?“
    Eagle lachte hohl auf. „Konstruktiv? Und wie nennst du bitte das, was du da machst? Glaubst du ernsthaft, das Gör schert sich auch nur einen Deut darum, dass du dir seit Stunden den Mund fusselig laberst?“ Er ätzte weiter: „Und überhaupt, wo wir gerade beim Thema sind: Mancherorts würde bereits der Titel deines Schinkens unter den Zensurhammer fallen. Reichlich fragwürdige Kinderlektüre, wenn du mich fragst. Taugt nicht mal als Einschlafhilfe, außer, du ziehst jemandem damit eins drüber.“
    Pichu antwortete auf das zynische Gelächter mit Interesse. Mehr als für einen knappen Schulterblick reichte die stark eingeschränkte Bewegungsfreiheit allerdings nicht aus.
    „Dann lass mal hören, wonach dir der Sinn steht.“ Unüberhörbar schlug Skip das Buch zu - ein deutliches Zeichen, das er mit dieser Geste setzte, und mit einem nachdrücklichen Blick bekräftigte. Es dauerte nicht lange, bis Eagle die Initiative ergriff; gezwungenermaßen, denn Pichu machte seiner Langweile mit anhaltenden sinnlosem Gebrabbel Luft. Anfängliche Versuche, Pichu zum Schweigen zu bewegen, scheiterten kläglich. Aber auch Skip wollte der Raikou nicht gewähren lassen, als dieser demonstrativ das Buch in die Höhe hielt und darauf deutete, ganz im Sinne von „Soll ich dann weiter vorlesen?“.
    „Nicht ein Wort“, drohte Eagle und übertönte Pichus Unmut nur knapp.
    Pechschwarze Wolken machten derweil den Tag zur Nacht. Erste Regentropfen perlten an den Fensterscheiben hinab. Durch jede noch so kleine Ritze verschafften sich die halsstarrigen Böen Einlass und wisperten in den Korridoren und Klassenzimmern ihre klagenden Lieder.
    „Ein Vorschlag zur Güte: Morgen steht noch das Essay an, welches wir, wohlgemerkt, auch nicht mal ansatzweise vorbereitet haben. Ich hab da schon ein paar Ideen, aber die Umsetzung braucht eben Zeit; und eine helfende Hand wäre auch nicht verkehrt. Also ankern wir Pichu bei ein paar seiner Altersgenossen und machen währenddessen klar Schiff. Was hältst du davon?“
    „Du hörst dich an wie Sonja“, maulte Eagle gelangweilt.
    „Und du dich wie Ray“, konterte Skip süffisant grinsend. „Drum herum kommen wir nicht. Und im Gegensatz zu dir habe ich ehrlich gesagt keine Lust, die Nacht durchzuackern. Wir können auch hier bleiben und uns weiter gegenseitig auf die Nerven gehen. Aber deine Meinung zu dem Punkt dürfte ich bereits kennen. Also, was ist? Hör’ ich ein Aye?“
    Eagles Kiefer malmten. So sehr es ihm zuzugeben widerstrebte, aber der Suicune behielt in diesem Punkt recht. Auch der Rest hörte sich nicht schlecht an. So bekam er wenigsten seine Hände von dieser Heulboje frei und stank notentechnisch nicht völlig ab. „Gar nicht schlecht für jemanden mit nur Grütze im Kopf.“


    Zuversichtlich knisterte und knackte das Dachgebälk trotzig auf das bevorstehende Unglück wartend. Kundschaftende Windböen umschwärmten das Schulgebäude und schätzen das von Menschenhand geschaffene Massiv ab, über welches das Unglück schon bald hereinbrechen würde, das sie so schaurig besangen. Jenseits davon, in dem Lehrerzimmer, dem Sekretariat und den Klassenräumen, war es ein ganz normaler Schultag, dem man als solchen auch begegnete. Lehrstoff für die nächste Stunde wurde vorbereitet, im verqualmten Sekretariat gluckerte das Wasser der dritten Kanne Kaffe durch den Filter, im Klassensaal für Mathematik beschränkte sich das Interesse von manch einem Schüler vielleicht weniger auf die zermürbenden Formelsammlungen in den Lehrbüchern und dafür mehr auf der verheißungsvollen Gewitterfront jenseits der schützenden Fenster. Ausharren bis zum erlösenden Läutern der Schulglocke mussten sie aber alle. War man nun Lehrer, Sekretärin oder Schüler.
    Das matte Licht der Deckenbeleuchtung schmeichelte der Melancholie einsamer Schulkorridore. Nur Wenige streiften umher. Wenn, dann jemand auf dem Weg zu den Örtlichkeiten. Vielleicht auch ein Botengänger. Zuletzt Skip und Eagle, unmittelbar beim Verlassen des Schulgebäudes. Im Deckmantel der Projektwoche öffnete sie die zweiflüglige Ausgangstür. Eine steife Brise nahm die beiden Schüler und das Pokémon, das sich auch weiterhin in Eagles unerbittlicher Umklammerung befand, augenblicklich unfreundlich im Empfang. Markanter Regengeruch lag in der Luft, ein eisiger Wind blies. Die Haare auf der Haut richteten sich empört auf, standen auf Sturmwarnung. Es brodelte, wie in einem Vulkan, nur dass der Himmel schwarze Wolken statt schwarzer Asche spukte, Schicht über Schicht. Noch war es aber nicht so weit. Noch ließ der Wolkenbruch auf sich warten. Noch. Während sie den großen Schulbrunnen passierten, zogen Eagles Blick und das düstere Antlitz quellender Gewitterwolken blank. Der Himmel loderte auf, als stünde er lichterloh in Flammen. Ein Blitz zuckte hinter der Wolkendecke, verwandelte das tiefe Schwarz für einen Wimpernschlag in flauschige, weiße Wattebällchen. Die Pauken donnerten, der Himmel schrie vor Schmerz auf. Sturmböen rissen den heimtückischen weißen Schleier herab, die Nacht kehrte wieder. Eagle bemerkte einen jähen Schmerz an seinem rechten Handgelenk. Er hatte die Augen geschlossen, als es passierte. Es war nichts, eigentlich nur ein unangenehmes Kribbeln, für die Nichtigkeit noch keiner Sekunde. Doch hatte es ihn so überraschend überfallen, dass er gar nicht anders hatte reagieren können, als zusammenzuzucken. Nachdem der Raikou sich vergewissert hatte, dass seine Begleitung ihm keine Beachtung schenkte, ließ auch er sich nichts weiter anmerken. Die Aussicht, jeden Moment schutzlos im Regen zu stehen, machte ihm bereits mehr als genug zu schaffen, selbst ohne dass Pichu unruhig an seinem Handgelenk kaute und er allmählich das Gefühl in seinen Händen verlor. Griesgrämig beschleunigte er seinen Gang.
    „Und wo glaubst du, willst du hin?“
    In gleich drei Richtungen gabelte sich das Metall der Brücke. Instinktiv hatte Skip den südlichen Pfad eingeschlagen, Eagle dagegen den in östliche Richtung. Überhaupt nicht infrage kam der Weg nach Westen, der geradewegs zum Entei-Schulhaus führte.
    Skip zuckte unschuldig die Achseln. „Aye, warum sollen wir immer zu euch? Zur Abwechslung könnten wir ja mal zu mir. Bei Sturm tuts jeder Hafen.“
    „Eher lass ich mir von den Enteis die Haare waschen, als dass ich auch nur einen Fuß in eure Bruchbude setze!“
    „Du hast Haare?“ Skip belächelte den Umstand, dass er außerhalb des Unterrichts nicht viel mehr als eine Strähne des Kappen tragenden Raikous zu Gesicht bekommen hatte.
    „Wenigsten kann ich ’nen Friseur von ’nem Floristen unterscheiden, oder wie erklärt sich sonst das Gewächshaus auf deinem Dach?!“
    „Friseur? Wohl eher Rasenmäher.“ Skip verdrehte die Augen. Als er das Wirrwarr seiner vom Sturmwind durcheinandergebrachten Haare aus dem Gesicht wischte, streifte seine Hand das wettergebeutelte Brückengeländer - es fühlte sich kalt und feucht an.
    „Ich geb’ dir gleich Rasenmäher!“
    „Willst du jetzt den Rasen mähen oder mir drohen?“
    „Oh, ich würde dir nur liebend gern die Frisur polieren. Ich fang’ einfach bei deiner Visage an und arbeite mich dann langsam hoch. - Kannst du bitte endlich mal die Klappe halten?!“ Der Regen köchelte auf der Stirn des Raikous. Seine überstrapazierten Nerven hatten die Spannweite eines ausgezogenen Betttuches angenommen, auf dem der Suicune fröhlich Trampolin hüpfte. Und als ab das noch nicht genug wäre, nagte Pichus nervös machendes Gequengel gullideckelgroße Löcher in eben dasselbe Laken. Unbeherrscht raste der Blick des Raikous in Bauchnabelhöhe, dort, wo seine zu tauben Eisklötzen gefrorene Hände den pelzigen Krawallmacher beherbergten. Noch nicht einmal in die eigenen Hosentaschen konnte er sie stecken. Im Gegenzug dazu, bekam das Pokémon den besten Komfort, musste nicht laufen und hatte trockene Füße. Und wie dankte man es ihm? Mit Genöle. Was war schon ein eingeklemmter Schwanz im Vergleich zu einer Mittelohrvergiftung im fortgeschrittenen Stadium?
    Erst jetzt und viel zu spät registrierte er, dass Skips unverhofftes Schweigen und die tatsächliche Ursache seiner tauben Hände näher beieinanderlagen, als ihm eigentlich lieb war. Eagle riss die Augen vor Schreck weit auf. Dass er Pichu noch nicht fallen gelassen hatte, war ein Wunder. Die wonnigen, rosaroten Backentaschen des im Fieberwahn brabbelnden Pokémons standen in Flammen. In schnellen, unregelmäßigen Zeitabständen traten winzige, gelbe Funkenstöße aus ihnen hervor, verpufften wirkungslos in geringen Abständen in der Luft oder verschwanden in dem Jackenpolyester. In ihrer Willkür machten die unkontrollierten Blitze aber auch keinen Halt vor den menschlichen Händen - die gefühllose, leere Hülle, was von ihr nach zahlreichen unbemerkten Einschlägen übrig geblieben war.
    Der letzte Stromschlag gab Eagle endgültig den Rest. Ein letztes Mal nährte sich die Elektrizität von dem verbliebenen Gefühl in den beidem Händen - das verbliebene bisschen Lebenskraft gewaltsam herausgepresst. Unfähig seine weitere Reaktion zu steuern, schälten sich die Hände entzwei. Pichus Sicherungsverwahrung existierte nicht mehr. Skip machte einen Satz in Richtung des Pokémons, bekam es aber nicht mehr zu fassen. Auf allen Vieren raste das Funken versprühende Neugeborene los, den Weg über die Brücke zurück, vielleicht genau wissend, wohin es wollte ... oder auch nicht. Die zwei Menschen jagten ihm und den Stromstößen hinterher, ein ganz neues Arsenal an weiteren Beschimpfungen auf den Lippen, in Skips Fall aber eher über das Verhalten ihres Schützlings ernsthaft besorgt. Wenn auch Pichu gerne die Leute neckte, sah ihm dieser Gefängnisausbruch überhaupt nicht ähnlich, und schon gar nicht wegzulaufen. Eine leise Vorahnung - oder war es gesunder Menschenverstand? - bereitete dagegen Eagle gedanklich darauf vor, mit welchen unangenehmen, wahrscheinlich nur wenig schmerzfreien Begleiterscheinungen er die Wiedergewinnung seines Tastsinns feiern dürfte. Die gefühllosen Holzklötze machten bislang keine Anstalten aufzuwachen. Konnte er das Balg mit ihnen nicht erwürgen, dann taugten sie allemal dazu, ihm gehörig eins überzubraten.


    Der Puls raste. Der Brunnen mit den Repräsentanten der drei Häuser kam näher. Unter den herben Regengeruch mischte sich das Aroma süßlichen Schweißes. Die beleuchteten Fenster, die wie eine Vielzahl von Augen aus dem monströsen Betonkomplex ragten und die näherkommenden Gestalten skeptisch betrachteten, nahmen allmählich begreifbare Formen an. Nur mäßigen Erfolg konnten die Jäger vorweisen. Nach einem halben Kilometer der Hatz hatte Skip etwa eine Armlänge aufschließen können; ungefähr dieselbe Distanz, die sein weniger ertüchtigter Mitstreiter dagegen auf dem gleichen Weg verloren hatte. Eine noch immer betäubte Hand gegen die linke Hüfte pressend und den widerlichen, metallischen Widerhall in der Kehle verspürend richtete Eagle seinen Blick an den beiden Vordermännern vorbei Richtung Schulgebäude. Zwischen bebenden Atemzügen grinste er hässlich. Hier war Schluss. Endstation. Weiter konnte das Früchten unmöglich kommen; es sei denn, jemand war so selten dämlich, ausgerechnet jetzt die Eingangstür einladend zu öffnen. An solche Zufälle glaubte er allerdings nicht. Und wenn doch, fühlte er sich allemal noch dazu in der Lage, dem armen Tropf kräftig auf die Füße zu treten.
    Pichu zog scharf nach links ab, seine Verfolger ihm hinterher. Der Übergang von Schotter auf federndes, nasses Gras bereitete dem Pokémon keine erkennbaren Probleme. Anders Skip, der instinktiv seine Geschwindigkeit für einen Moment drosselte, dann wieder unvermindert nachsetzte. Wenn er jetzt den entscheidenden Moment abpasste und sprang, konnte er Pichu wohlmöglich einfangen, ohne sich beim Sturz die Haut von den Knochen zu schaben. Der Suicune drängte seinen Körper, noch einmal alles zu geben. Mit dem Wind im Rücken streckte er seine Arme aus.
    Mach schon!
    Das Ziel fest im Blick entlud Skip explosionsartig die gesammelte Kraft in den Beinen. Seine Füße verloren den nassen Boden. Noch während sein zu einer schräg aufsteigenden Rakete geformter Körper den Wind überholte, machte er sich auf eine harte Landung gefasst, gleichgültig, ob es ihm gelang, das Pokémon dabei zu fassen oder nicht. Beinahe vermochte er bereits die Elektrizität zu spüren, die ununterbrochen von Pichu ausging - sie war zum Greifen nah.
    Zum zweiten Mal in nur kurzem Zeitabstand wechselte Pichu die Richtung - wieder zur Hauptwand des Schulgebäudes. Skips sehnsüchtig gespreizten Finger erschlafften im Flug. Wie schwere Wackersteine, die man ins Wasser geworfen hatte, sank seine Hoffnung zeitgleich mit dem Rest von ihm.
    Die Wucht des Aufpralls hatte die Wirkung eines Blasebalgs. Skip schnappte nach Luft. Sein Brustkorb knirschte und begann gleich darauf höllisch zu schmerzen. Tränenflüssigkeit sickerte zwischen den fest zusammengepressten Augenlidern leicht hervor. Der verführerische Duft nassen Grases, der ihm in die Nase kroch, schenkte nur schwachen Balsam und linderte den mäßig den Schmerz.
    „Pennen kannst du wann anders!“
    Skip schlug die Augen auf. Der trübe Schleier, der seine Sicht vernebelte, nahm langsam ab, das Stechen beim Atmen blieb hingegen haften wie die Grasflecken an seiner Jacke. Langsam hievten seine maskulin geformten Arme den Rest seines Körpers per Liegestütze nach oben, weg von dem herben Grasgeruch. Bis er wieder auf eigenen, wackeligen Beinen stand, dauerte es vergleichweise länger als üblich, schon gar nicht war es der Verdienst des Soziopathen an seiner Seite.
    „Danke fürs Aufhelfen“, brumme Skip als Antwort für den unfreundlichen Weckruf. Eagle stolzierte gemächlich an dem Suicune vorbei. Er hatte die Jagd aufgegeben. Nicht ohne Grund. Skip folgte dem schräg nach oben gerichteten Blick. Er bekam den Mund nicht mehr zu. Pichu befand sich bereits mehr als auf halbem Wege das Abflussrohr in direkter Richtung zum Dach hinauf, mehr als fünfzehn schwindelerregende Meter über dem Boden. Es war wie Seilklettern an einem viel zu dicken Seil, außerdem war es aus Metall. Die kleinen Hände und Füße krallten sich an der Röhre fest und zogen nach und nach den restlichen Körper hoch; das alles in einer wahnwitzigen Geschwindigkeit, dass der Aufstieg fast wie ein gemütlicher Spaziergang wirkte.
    „Was weiß ich?“, fing Eagle Skips fragenden Blick samt hängender Kinnlade auf.
    Sogar aus dieser großen Entfernung konnte man deutlich die kleinen Blitze sehen, die ununterbrochen aus dem Fell uns insbesondere den beiden Backentaschen des Maus-Pokémons stoben. So wie sich das Fieberwahn leidende Kind verhielt, aufgewühlt, völlig außer Rand und Band und unbeherrscht, konnte man meinen, irgendetwas übte schändlichen Einfluss auf es aus. Ein Mangel an Erziehung schied zwar nicht völlig aus, so auch nicht die Überdosis Zucker zum Frühstück, beides rechtfertigte aber trotzdem irgendwie nicht die schiere Fülle dieses zügellosen Verhaltens.
    Die Dachschräge mit seinen braunen Ziegeln definierte klare Grenzen. Pichus Aufstieg war mit dem letzten Klimmzug beendet, es sei denn, ihm wuchsen plötzlich Flügel. Von dieser Position aus gab es nur wenig Spielraum für weitere Eskapaden. Entweder u-förmig an de Regenrinne entlang um das Dach herum, zwangsläufig also eine Rundreise zum Ausgangspunkt, oder der Abstieg an einem Abflussrohr wieder hinunter. Oder aber, wie in Pichus Fall, den Sprung auf ein Fenstersims und dann durch das einen Spalt weit geöffnete Fenster ins Gebäudeinnere.
    „Was jetzt?“ Mit gequältem Gesichtsausdruck tastete Skip die Oberseite seines verkrampften Halses ab, der vom ununterbrochenen in die Luft Gaffen so steif wie ein Bügelbrett war - nicht sein geringstes Problem. Auch nicht der bald einsetzende Wolkenbruch. Berechtigterweise galt seine Sorge in erster Hinsicht den Leuten in der zweiten Schuletage - die Unglücklichen, die Pichus unberechenbaren Verhalten ausgeliefert waren. Erst dann kam der Gedanke an die Standpauke, die ihn und seinen Kameraden erwarten würde, wenn die jüngsten Vorfälle ans Tageslicht kommen würden. Wo er allerdings gerade einen Gedanken an seinen Begleiter verschwendete: Von Malcom Granger konnte er wohl keine Hilfe erwarten. Wahrscheinlich kam dem Raikou die Situation sehr gelegen. Ein Problem weniger.
    Skip trat an Eagles Seite und holte tief Luft. Gerade als er seine Frage wiederholen wollte, gebot ihn Eagle mit einer demonstrativen Handbewegung in die Höhe zum Schweigen auf.
    „Halt bloß die Klappe!“
    Zweite Etage. Der linke Korridor. Nur welches Zimmer? Der Raikou biss sich auf die Oberlippe. Es lenkte ihm von dem unangenehmen Ziepen seiner Hände ab. Er zählte die Fenster von rechts nach links. Eigentlich ein Klacks, brachte ihm das plötzliche Vibrieren seines Handys mitsamt der dämlichen Musik, die Ray aufgespielt hatte, nicht völlig aus dem Konzept. Wie konnte er auch nur so fahrlässig sein, ausgerechnet vor einer Quasselstrippe wie seinem Zimmerkameraden zu erwähnen, dass er ein Handy besaß. Wahrscheinlich wusste es bereits die gesamte Schule. Eagle hatte es versäumt, den Klingelton - eine kindische Melodie, zu der ein kleines, gelbes, gefiedertes Etwas wie bekloppt eine Landstraße rauf und runter rannte - wieder zu löschen.
    Das Handy erstarb nach einigen Sekunden, auch ohne ein Eingreifen des Besitzers. Die nasskalte Realität holte Eagle wieder ein. Fünftes Fenster ... Welches Zimmer war das? Gedanken rasten wie Flipperkugeln durch seinen Kopf.
    „Mehrzweckraum“, beantwortete er sich selbst nach kurzer Überlegung leise die Frage. Davon gab es drei, alle im Obergeschoss. Zwei im rechten und einer im linken Korridor. Die Treppe rauf, zweite Tür rechts. Siegessicher nickte er. „Mehrzweckraum“, sagte er jetzt laut genug, dass auch Skip ihn hören konnte.
    „Dann los!“ Skip hatte das bärbeißig ausgespuckte Kommando problemlos verstanden. Energisch gab er die Richtung vor: zurück zum Schulgebäude. Kaum hatte er sich einige Meter vom Ausgangsort entfernt, bemerkte er das Fehlen des Raikous an einer Seite. „Was ist?“
    Eine Flipperkugel hatte Eagle eingeholt, noch ehe er einen Fuß in die angestrebte Richtung setzen konnte. Es stimmte nicht, zumindest nicht ganz. Mit wenigen Ausnahmen besaß jeder Saal drei große Doppelfenster mit ausklappbaren Oberlichtluken. Die Mehrzweckräume aber, so rief eine donnernde Flipperkugel ihm schmerzhaft in Erinnerung, hatten keine Fenster. Vergitterte Lüftungsschächte an der Wand sorgten stattdessen für die erforderliche Luftzirkulation, und Licht gab es natürlich elektrisch. Wenn man so darüber nachdachte, kamen einem die Mehrzweckräume beinahe wie hermetisch versiegelte Gefängniszellen vor, insbesondere an Prüfungstagen, wo Lehrer zwischen den Tischen patrouillieren und die im Raum gärende Panik vom Versagen vor sich hertrieben, jede falsche Bewegung mit vernichtenden Blicken straften und Abschreiber kompromisslos abführten, als seien sie Schwerverbrecher. Letzteres musste auch der Grund sein, warum man bereits seit Jahren auf Fenster verzichtete, so jedenfalls, wenn man den Gerüchten von einem großen Abschreibskandal glauben schenken durfte. Auch ohne die vollständigen Details zu kennen, maßte sich Eagle an, ein ganz gutes Bild davon zu machen zu können, welche Möglichkeiten es da gab. Das Fenster, durch das der Zwerg geschlüpft war, konnte folglich unmöglich zu dem Mehrzweckraum im linken Korridor gehören; sondern zu dem angrenzenden Nebenraum. So musste es sein.
    „Los!“, stachelte Eagle Skip an, ihm zu folgen und preschte an dem Suicune vorbei.
    „Wenn du etwas zu sagen hast, dann wäre das eine gute Gelegenheit.“ Skip hastete ihm nach.
    Von oben zuckte ein Blitz, das Krachen ließ nicht lange auf sich warten. Als hätte der Blitz soeben ein Loch in die pechschwarze Wolkendecke gerissen, öffnete sich der Himmel über der Insel. Sinnflutartig quoll der aufgestaute Zorn aus der frischen Wunde. Regentropfen, so hart und schwer, dass sie sogar den hartgesottensten Sturmjäger in die Knie zwingen würden, ganz zu schweigen von den zwei flüchtenden Schülern.


    Nass einschließlich seiner Socken sperrte Eagle den ungewöhnlich eisigen Griff des Herbstes hinter der schweren Eingangstür aus. Der Eingangsbereich lag so vor ihnen, wie sie ihn zurückgelassen hatten: menschenleer. Die Schule stand also noch, trotz des Wirbelwindes außen und dem im zweiten Stockwerk.
    „Willst du mir vielleicht noch etwas sagen? Den Sprung ins kalte Wasser hab ich mittlerweile hinter mir, wie du dir bestimmt denken kannst“, erinnerte Skip an seine unbeantwortete Frage von vorhin. Er wischte sich über die Stirn. Schweiß und Regen hatten einen klebrigen Film gebildet. An der trockensten Stelle seiner Jacke streifte er die Hände ab - sie waren nicht weniger nass wie vorher. Von oben meldete sich weiterer Donnerhall. An dem Wetter sollte sich so schnell nichts ändern.
    „Keine Fenster ...“ Vergeblich presste Eagle eine Hand gegen die heftig schmerzende Stelle. Das Seitenstechen war nicht zu bändigen. Zwischen Ober- und Unterkiefer drang der heiße Atem wie Dampf aus einem Schlot. Langsam setzte er sich in Bewegung, die Treppe zum zweiten Stockwerk anpeilend. Unter gedämpften Zorn atmete er kräftig aus: „Die Mehrzweckräume haben keine Fenster. Sprich: Das Gör kann unmöglich dort sein. - Lass mich ausreden!“, bremste er Skips Nachfrageversuche wütend aus. „Die haben Nebenräume. Keine Ahnung, was da drin ist, war da noch nie drin, aber dort, und nur dort, muss es hin sein. Mit etwas Dusel ist der Raum leer.“ Dabei konnte sich der Raikou ein hohles Lachen nicht verkneifen. Glück? Er? Das Pech hatte er gepachtet, seit dieser Suicune ihm folgte. Von Glück konnte er reden, wenn nicht jeden Moment der Feueralarm losgehen würde.
    Eagle nahm die letzte Stufe, Skip dahinter zwei auf einen Schlag. Links und rechts: verschlossene Türen und leere Korridore. Sie bogen in den linken Korridor ab, ignorierten die erste Tür. Dann kam die zweite.
    „Als ob ich es geahnt hätte ...“ Das jugendliche Gesicht zog eine verbitterte Grimasse. Zwar kein Großaufgebot der örtlichen Feuerwehr, dafür aber nicht weniger frustrierend. An der Tür hängend stand auf weißem Pergament großen, schwarzen Lettern geschrieben: Kenssler Akademie - Kompaktseminar Einkommensteuer und Bilanzierung.
    „Ich kann selber lesen!“, fauchte Eagle seine Begleitung an. Ein Seminar. Ausgerechnet heute. Einen Berg von Vorurteilen stemmte der Gesichtsausdruck des Raikous in die Höhe. Sesselfurzer. Theoretiker. Klugscheißer. Könnten einem das Volumen des Weltraums ausrechnen, aber überfordert mit dem Auswechseln einer Glühlampe. Steuerleute waren etwas, was die Welt nicht brauchte. Eine Plage. Und wie eine solche hatten sie, die Invasoren, die Schule besetzt. Annektiert. Zumindest den Mehrzweckraum. Gut hörbar sülzte eine kräftige Männerstimme staubtrockenen, stinklangweiligen, einschläfernden (Eagle konnte noch Stunden so weitermachen) Gesetzestexte und Rechtsänderungen hinter der massiven Eichentür rauf und runter. Nach gewisser Zeit hörte sich alles gleich an. Stimme rauf: Bahnhof. Stimme runter: Bahnhof. Irgendetwas dazwischen: Vorsicht auf Bahnglas eins, Zug fährt ein. Einfach nur den Text runterrattern wie eine Rechenmaschine, die diese Sorte Mensch so inbrünstig liebten. Beim bloßen Anblick von Zahlen gerieten sie ins Schwärmen, sexuelle Erregung, wenn Soll und Haben sich ausglichen. Tonerschnüffeln – ein Kick. Bald konnte man wahrscheinlich Kanu auf der Sabberlache fahren, die die Eingeschlafenen produzierten - die wenigen halbwegs Normalen in dieser geistig umnachteten Bekloppten-Vereinigung.
    Skips Pupillen zuckten nervös zwischen Tür und seiner Begleitung hin und her. Die Morsezeichen seines schnellen, reservierten Lidschlags signalisierten ein überwältigendes Gefühl von Machtlosigkeit. Kein Teil seines Körpers, kein Muskel kämpfte gerade nicht mit dem bevorstehenden heiklen Spatenstich in unwirtlicher Einöde, der das Fundament für die nachfolgenden Ereignisse ausheben würde; die guten als auch die schlechten Konsequenzen. Selbst die oberen Schneidezähne schabten in unruhiger Extase auf den unteren. Darüber verschlangen sich die Lippen und drückten einander ihren feuchten, nachdenklichen Stempel auf. Die rechte Hand des Jugendlichen schwebte wie bei einer Beschwörung über der Türklinke - sie zitterte. Dann legte er sie ab. Der dunkelrote Kunststoff der Drückergarnitur fühlte sich ungewöhnlich kalt an. Oder waren es seine Hände, die so kalt waren?
    „Sollen wir ... klopfen?“ Erst jetzt, wo er bereits unmittelbar vor dem Öffnen stand, stellte Skip die quälende Frage.
    Eagle bündelte einen Luftstoß gedämpften Zornes zu einer Pistolenkugel. Als ob sie groß die Wahl hätten ...
    Eine Pause setzte ein. Vor der Tür. Das Dahinter war eine ganz andere Geschichte. Skip zögerte den Moment hinaus - der Redner musste doch so langsam mit seinem Satz fertig sein ... Er lauschte auf. War es das? Gerade eben? Oder jetzt? Skip fluchte ein Donnerwetter zusammen. Die Augenlider schlossen die Wirklichkeit aus, die malmenden Kiefer sprengten die Skala messbaren Drucks. Zweimal in Folge prallte menschlicher Knöchel gegen Holz. Laut. Eigentlich gut hörbar. Der Folterknecht hinter der Tür überhörte es - gewollt oder nicht. Skip ließ den Moment kurz auf sich wirken, dann setzte er erneut an. Nichts regte sich. Er rang nach Sauerstoff. Die Mixtur süßen Moschus’ und herben Regens brachte die Luft zum Gären, das Atmen zur Qual. Skips schweißnasse Hand drückte die Klinke, stumm, verunsichert. Die Entscheidung, einfach wieder loszulassen oder den unumkehrbaren Schritt tatsächlich zu wagen, wirbelte unkontrolliert in seinen Gedanken umher wie sprödes Herbstlaub im Unwetter.
    Die Bresche war geschlagen, die Entscheidung getroffen. Keine Zweifingerbrei - mehr hatte der Türöffner nicht gewagt. Gerade weit genug, um hindurch schielen zu können. Es war dunkel. Stockdunkel. Einem scharfen Messer gleich schnitt das Licht des Korridors in das Dunkel des Raums - direkt in den unstillbaren Schlund einer ausgehungerten Nacht. Höchstens nach nur einem Meter war der Kampf zwischen Licht und Dunkelheit geschlagen, die Klinge gänzlich verschluckt. Daneben gab es nur noch eine Lichtquelle im Raum, die Skip gerade so ausmachen konnte, indem er seinen Kopf kompromisslos gegen den Türrahmen presste: Etwa in Höhe, wo sonst das Lehrerpult stand, war eine große Leinwand aufgebaut. Ein Beamer projizierte das passende Bildmaterial darauf. Darunter, an einem Tisch sitzend, sonnten sich der Redner sowie eine weitere Person, eine Frau, in dem Zwielicht der Leinwand; wahrscheinlich bediente sie den Projektor, vermutete Skip. Seitens des Referenten gab es keine ungewöhnliche Regung, gleichwohl, dass ihm plötzlich zwei weitere, wenn auch wenig gesellige Ohrenpaare lauschten. Er predigte unbeirrt weiter. Auch bei den Zuhörern war kein Stimmungswandel zu verzeichnen. Sie klebten an den Lippen des gesprächigen Herrn vor ihnen, hypnotisch oder vielleicht bereits traumatisiert, wer wusste das schon? Eagle quetschte sich an Skip vorbei, hatte vom Lauschen aber deutlich schneller genug als sein Vorgänger.
    „Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber jetzt hab ich sogar noch weniger Bock drauf, in die Vorstellung rein zu platzen.“ Skips gekreuzte Arme lagen auf der knapp eineinhalb Meter hohen Betonbrüstung, von der man hinunter in die darunter liegende Aula schauen konnte, was er auch tat.
    „Meinst du ich?“ Die Tür hatte Eagle angelehnt, vorsorglich. Wer wusste, ob sie noch einmal die Kraft zum Öffnen aufgebracht hätten. „’ne Wurzelbehandlung wäre mir lieber als das hier. Scheißdreck!“ Er rammte die Fußspitze seines rechten Fußes gegen die Betonmauer. Eagle kämpfte erst gar nicht gegen den Schmerz an, der sich rasch in seinem Kopf häuslich einrichtete, und sparte nicht mit wüsten, jugendgefährdenden Flüchen über die eigene Dummheit. Da von dem Redner nicht mehr als ein undeutliches, leises Gemurmel aus dieser Entfernung zu hören war, blieb der Raikou mit seinem unsittlichen Verhalten ungesühnt. „Scheiß drauf! Ich geh rein.“
    „Was?“ Nicht ohne Grund fiel Skip aus allen Wolken.
    „Hast mich schon verstanden.“
    „Schon, aber ...“ Skip rang ungefähr so heftig nach den richtigen Worten wie er bemüht war, seine Finger wieder aus dem Geflecht nervös zusammengeknoteter Jackenschnüre zu befreien. Er schaute Eagle nach, wie dieser sich der einen Spalt weit geöffneten Türe näherte.
    „Vom Warten wird es auch nicht besser“, warf Eagle über die Schulter zurück. „Da bricht die nackte Panik aus, wenn die erst schnallen, was sich da einen Raum weiter unter den Tischen versteckt.“
    „Bei Kaffee und Kuchen ...“, murmelte Skip.
    „Bingo.“ Als Eagle sein Handy nach der Uhrzeit abfragte - über den Anruf in Abwesenheit von Ray schaute er gekonnt hinweg -, schüttelte es ihn innerlich. Wahrscheinlich liefen die Kaffeekannen in der Küche ein Stockwert tiefer gerade warm. Und pünktlich wie die Maurer würde man die brühwarme Suppe auftischen. „Also, du stehst Schmiere, ich schleich mich währenddessen da rein und ... Ja, reinschleichen! Ich mach mich doch nicht wegen der Kröte vor den ganzen Leuten zum Vollhorst!“, schnitt er Skips Raunen ab. „Ich werd das Kind schon schaukeln - und dann sein räudiges Fell abziehen“, ergänzte er leise.
    „Antiquierte Ansichten“, murrte Skip. „Und überhaupt: Wie willst du Pichu rausbekommen, ohne einen Mucks zu machen? Na, da bin ich ja mal gespannt.“
    Ein stechendes Gefühl pfählte Eagles Magen. Nicht weil man ihn soeben gewaltsam aus seiner Traumwelt gerissen hatte. Nein. Er hatte einen Plan. Alles war durchdacht. Nur war der Suicune der Letzte, dem er dieses Geheimnis anvertrauen wollte. Und doch wünschte er sich, er müsste nicht diesen Verlust notgedrungen in Kauf nehmen. „Lass das nur mal meine Sorge sein“, sagte er knapp. Als sich der Raikou der nach wie vor einen Spalt weit geöffneten Tür zuwandte, tastete er mit seiner rechten Hand in seiner Hosentasche, bis er dort auf etwas Metallenes stieß. Etwas, von dem er genau wusste, dass es eigentlich nicht hierher gehörte, und doch zu diesem Zeitpunkt an keinem Ort auf der Welt besser aufgehoben war. Die Tür vor ihm schien sekündlich an Bedrohlichkeit zu gewinnen. Das bisschen Courage, das er angesammelt hatte, verstopfte ihm in Form eines großen Kloßes die Kehle. Als er die Klinke packte und den Spalt gerade so weitete, dass er unbemerkt hindurchschlüpfen konnte, wünschte er sehnlich, sich auch innerlich so resolut zu fühlen, wie er sich nach außen hin präsentierte. Nicht mit Gefühl begleitet, wie ein Lamm gerade zur Schlachtbank geführt zu werden. Das unbehagliche Gefühl hielt an, als das Schloss hinter ihm klickte und die Nacht ihn verschluckte.


    „... tarifbegünstigte Berechnung außerordentlicher Einkünfte zur Anwendung kommt, auch bei der Betriebsveräußerung im Ganzen nach § 16 Absatz 1, Nr. 1 EStG, zusätzlich zum Freibetrag nach § 16 Absatz 4 EStG im simultanen Ansatz des Teileinkünfteverfahrens.“
    „Lieber Gott, lass mich sterben ...!“ Selten schickte Eagle ein Stoßgebet an den großen Schöpfer im Himmel, noch seltener das Flehen nach Erlösung. Die Hand vor Augen sah er nicht, während er sich robbend hinter den Rednern durch den Raum zur Tür kämpfte, die parallel zur Eingangstür lag. Die restlichen vier Sinne waren damit beschäftigt, seinen rapide bröckelnden Verstand zusammenzuhalten. Die Langeweile war fühlbar echt, beinahe greifbar. Auf der stickigen Luft kratzte das erbarmungslose Geseier des Dozenten wie Fingernägel auf einer Schiefertafel. Der perforierte Bodenbelag waren Kochplatten, auf denen die verschwitzten Hände des Eindringlings brutzelten. Jeden Augenblick erwartete der Raikou, einen hellen Aufschrei zu vernehmen, einen bebenden Finger, der auf seine Stelle deutete, ganze Heerscharen von bitterbösen Gesichtern, die ihn ins Visier nahmen. Dass es noch nicht so weit gekommen war, musste bedeuten, dass sich sein Gesicht bislang nur so wie eine Glühlampe anfühlte, aber nicht so hell leuchtete. Ein unsichtbares Husten mischte sich unter die schleppende Stimme des Dozenten. Instinktiv schreckte Eagle zusammen, bewegte sich keinen Millimeter mehr vom Fleck. Etwa die Hälfte des Weges war inzwischen geschafft, die andere lag noch vor ihm. Der Scheitelpunkt der Stimme flößte ihm plötzlich ungeheuren Respekt ein. Oder war es Fracksausen?
    Reiß dich zusammen, Mann!
    Junger Schweiß und alte Regentropfen wirbelten nach der hastigen Kopfbewegung des Teenagers durch die Luft. Bloß das unangenehme Gefühl in der Magengegend konnte er nicht so einfach abschütteln. Eagle sammelte Kraft, während er einen Blick zu seiner Linken warf. Dort, vielleicht fünf Meter entfernt, konnte er die Umrisse von Stühlen erkennen. Besser zu sehen waren die Hinterköpfe zweier Erwachsener. Das von der daneben aufgebauten Leinwand zurückgeworfene Licht ließ sie wie schwebende Geister wirken. Nur hatten Gespenster, sofern man an Übersinnliches glaubte, wohl ihren Beruf verfehlt, wenn sie ihre Opfer zu Tode zu sülzen, statt einen zu erschrecken. Zwei Lautsprecher auf dem Tisch vor dem Redner, je einer links und einer rechts, sorgten für die richtige Akustik. Überschlagen fanden etwa einhundert Personen hier im Raum Platz. Ergo glotzten gerade - im schlimmsten Fall - zweihundert Augen wie hypnotisiert auf die Projektorleinwand und lauschten den wenig unterhaltsamen Steueranekdoten. Eagle fiel gerade ein, dass Sonja einmal erwähnt hatte, ihr alter Herr hätte sie vor die Wahl gestellt: Entweder Steuerberaterin oder auf die Celebi-High.
    Gute Entscheidung, Superhirn.
    „Meine Damen und Herren, ich darf zitieren: Die für die außerordentlichen Einkünfte anzusetzende Einkommensteuer beträgt das Fünffache des Unterschiedsbetrags zwischen der Einkommensteuer für das um diese Einkünfte verminderte zu versteuernde Einkommen und der Einkommensteuer für das verbleibende zu versteuernde Einkommen zuzüglich eines Fünftels dieser Einkünfte. Ist das verbleibende zu versteuernde Einkommen negativ und das zu versteuernde Einkommen positiv, so beträgt die Einkommensteuer das Fünffache der auf ein Fünftel des zu versteuernden Einkommens entfallenden Einkommensteuer. Die Sätze 1 bis 3 gelten nicht für ...
    Eagle würgte Angst und Sorge gewaltsam die Kehle hinunter - es klang, als ob er jeden Moment erstickte. Er ließ sämtliche Vorsicht fallen, vergewisserte sich nicht mehr, ob der Redner oder die Frau, die den Beamer bediente, urplötzlich über die Schulter nach hinten schaute. Es war ihm egal. Er musste aus dieser Irrenanstalt raus. Sofort. Halb robbend und halb auf allen Vieren arbeitete er sich voran, bis seine linke Faust gegen massives Holz donnerte. Hektisch betastete Eagle das Objekt vor ihm. Es war die Tür! Mit einem kräftigen Ruck stieß er sich vom Boden ab und hievte den Rest von sich auf die Beine. Das Metall der Türklinke kühlte seine wund gescheuerte Handfläche wie Eis, das Gefühl von Erfolg war wie Balsam für die Seele. Der Drücker ging problemlos nach unten, die Tür öffnete sich. Fast kein Licht strömte nach außen. Der Redner schwadronierte weiter. Eagle zwängte sich hastig durch den Spalt, schloss die Tür hinter sich. Kein Aufschrei, kein verdächtiges Murmeln, nur entferntes Donnergrollen und Windböen - niemand hatte das Verlassen eines Zuhörers bemerkt.


    * * *


    Im matten Licht der Deckenbeleuchtung glänzte Skips nasses Haar wie eine Speckschwarte. Jede seiner hastigen Kehrtwenden brachte ihn einen Schritt näher an den Rand der Verzweiflung. Mit einer schnellen Handbewegung wischte er sich den kalten Schweiß von der Stirn. Danach atmete er kräftig aus. Schmiere stehen ... Schön dahergesagt. Was sollte er im Fall der Fälle tun? Mit beiden Armen winken und alarmierend auf der Stelle hüpfen? Famoser Einfall ... Unter Schmerzen fasste sich Skip an die Seite. Er fühlte sich wie nach einem Marathon. Dabei saß er hier nur auf glühenden Kohlen. Der eigentliche Sturm war eine Tür weiter.
    Unerwartet horchte Skip auf. Eine Vielzahl von fernen Geräuschen erregte seine Aufmerksamkeit. Anfangs vermochte er den Lärm nicht zuordnen, bloß, dass die Quelle schnell näher kam. Dann identifizierte er den Krach bunt gemischtes Geplärre. Als er sich neugierig über die Brüstung den Geräuschen entgegenstreckte, kämpfte der Suicune erbittert mit seinen Gefühlen. Auf den ersten Blick sah es urkomisch aus, schien aber bitterer Ernst zu sein. In einer Jagdszene, die jedem Klischee gespickten britischen Stummfilm problemlos Konkurrenz machen konnte, hetzte - warum auch immer - Geckarbor hinter Evoli und Evoli hinter Riolu her. Untermalt wurde das Ganze von bitterbösen Drohungen, schadenfrohem Jubeln und ängstlichem Schluchzen. Rasch verlagerte sich die Treibjagd vom Eingangsbereich der Schule zur Treppe ins nächste Stockwerk. Das bunte Trio verschwand so schnell hinter dem Treppengeländer, wie es wieder davor auftauchte, und erreichte die zweite Etage in Rekordzeit.
    „Hey, hey!“ Von Fassungslosigkeit überwältigt verpasste Skip die Chance zum Helden. Die drei Pokémon waren bereits an dem Menschen vorbei, als dieser noch seine Hand in kränklicher Stopp-Manier ausstreckte. Irritiert wusch sich Skip durch das Haar, während er den Vorbeigelaufenen den Korridor hinunter nachschaute. „Was geht hier ab?“


    * * *


    Noch nach fast einer geschlagenen Minute regungslosen Durchatmens legte Eagles Herz die Zugabe eines flotten Fandangos aufs Parkett. Keinen Millimeter hatte er sich seit seinem Eintreten bewegt. Hinter Schloss und Riegel, aber dennoch gut hörbar posaunte die elektronisch verstärkte Stimme des Dozenten einen Themenwechsel an. Der Raikou fand sich in nahezu identischer Dunkelheit wieder, wie er sie erst hinter sich gelassen hatte. Wind und Regen hatten fast alles Licht in seiner neuen Umgebung ausgesperrt. Ein flüchtiger Blitz hatte den Raum für einen Wimpernschlag aufgehellt; zu kurz, um sich alle Einzelheiten des fremden Gebietes begreifbar zu machen. Ein weiter Raum, Fenster, auf deren Oberflächen sich Regentropfen sammelten, Tische und Stühle, Porzellan.
    Kalter, nackter Beton, nur kein Lichtschalter. Hektisch tastete Eagle die andere Seite der Wand ab, bis er schließlich harten Kunststoff fühlte. Angewidert hielt der Raikou schützend seine Hände vor das Gesicht.
    Erst zu dunkel, jetzt zu hell. Entscheidet euch, verdammt!
    Es war ein trüber, frühmorgendlicher Blick, wie nach einer viel zu kurzen Nacht, der die unbekannte Umgebung auskundschaftete. Schultische waren paarweise zusammengeschoben worden, so dass bis zu sechs Personen dort Platz finden konnten. Perlweiße Kaffeetassen und Warmhaltebehälter standen in Reih und Glied auf einer in die länge gezogenen Tischplatte, wo das Schulpersonal wohl in der Pause Kaffee ausschenken würde, daneben noch Untersetzer, Servierteller mit Knabbergebäck, Würfelzucker, Milchkännchen, Servierten und Silberbesteck. Ansonsten glich der Raum jedem x-beliebigen Klassenzimmer. Es gab sogar eine Tafel, dort, wo sie in beinahe jedem Klassenzimmer zu finden war.
    Der Frieden jedoch war trügerisch. Gleich zwei Dinge tanzten derart pervers aus der Reihe, dass sie auffälliger waren als unansehnliche Soßenflecken auf einem weißen Hemd. Pichu war nach seiner Flucht ins Gebäudeinnere nicht weit gekommen. Das Pokémon lag regungslos auf einem Fensterbrett, wahrscheinlich sogar genau unter dem Fenster, durch das es sich gezwängt hatte. So wie es aussah, schlief es. Damit war Eagles größte Sorge gelöst. Mehr sogar: besser, als er es sich erhofft hatte. Dummerweise hatte sich diese Sorge nicht völlig aufgelöst, sondern in eine weitere Präsenz im Raum verlagert.
    „Was machst du hier?“ Eine Frage, auf die der Raikou keine ernsthafte Antwort erwartete. Er fügte die Einzelteile des Puzzles zusammen: das weiße Fell, der flügelförmige Schwanz und die gelben Backentaschen. Wie hatte Professor Joy das Pokémon genannt, das vor einigen Tagen Kleinholz aus einer Fensterscheibe gemacht hatte? Emolga? Selbiges Pokémon starrte den Schüler aus seinen schwarzen Knopfaugen an. Emolga saß auf einem der Tische. In seinen Patschehändchen hielt das Früchtchen einen halb aufgegessenen Keks. Entsprechend seines Hungers hatte ein Tablett vor ihm deutlich abgenommen. Eagle war sich unschlüssig, ob nun mehr Neugierde oder Bestürzen in dem taxierenden Blick lag. Seit er das Pokémon ins Visier genommen hatte - und wahrscheinlich bereits seit dem Betreten des Raumes -, hatte es keinen Mucks von sich gegeben. Eagle wagte einen Schritt weiter in den Raum, schreckte dann aber wieder leicht zurück. Emolga hatte es plötzlich sehr eilig. Der Keks in der Hand verschwand im Mund, das Tablett leerte sich um zwei weitere. Kein Fenster ging diesmal zu Bruch, als Emolga die Flucht ergriff und durch den Spalt eines Oberflutfensters nach draußen kletterte. Zurück blieb Eagle - fassungslos. Pichu schlief nach wie vor. Und der einzige Zeuge war im Unwetter verschwunden.



    * * *


    Julia Brown lächelte selbstgefällig. „So allein, Faksen?“
    „Scheint so, ja.“
    Auf Fabien, Marina und Julia haftete heute ein besonders starkes Parfüm. Es hatte etwas Modriges, wie Skip fand. Roch irgendwie nach dem Tran, mit dem sein Großvater die alte Schaluppe jeden Spätherbst bestrich, um sie winterfest zu machen. Skip ließ sich seine Übelkeit nicht anmerken.
    „Wo ist denn Papa Granger? Oder ist er die Mama?“, gluckste Fabien. Marina und Julia taten es ihrer Hausschwester gleich.
    Der Suicune schaute etwas verlegen drein. „Aufs Klo“, log er.
    Alle drei Mädchen kicherten albern.
    „Witzig?“, erkundigte sich Skip.
    „Hab schon bessere Lügen gehört“, antwortete Fabien.
    „Und wo hast du dein Kleines? Oder hat Granger das auch aufs Klo mitgeschleppt?“, stichelte Marina.
    „Du hast ,Klo’ gesagt!“, hetzte Julia gegen Marina.
    „Jetzt hast du ,Klo’ gesagt!“ Die drei Suicunes fielen in einen gemeinsamen Chor: „Ihh!“ Danach schauten sie einander an und kicherten.
    „Und wo habt ihr eure Kleinen?“ Skip bemühte sich, von der Abwesenheit seines Partners abzulenken.
    „Sokohl hütet unsere Brut. Hat schon seine Vorteile, die Angetraute des Klassenstrebers zu sein, zumindest während des Projekts.“ Julia geizte nicht mit Überheblichkeit in ihrer Stimme. „Was meint ihr, Mädels? Vielleicht überschüttet er mich als Nächstes mit Schmuck. Das wär doch was.“ Sie betatschte ihre Arme, als ob sie Gold und Silber bereits fühlen konnte.
    „Glasperlen“, hustete Marina verdächtig in Fabiens Richtung. Diese erwiderte hässlich grinsend.
    „Einbildung ist auch ’ne Bildung“, versuchte Skip beiläufig in die Stimmung einzutauchen.
    Wie ein Blitz kam der Wetterumschwung auf den Gesichtern der Mädchen. „Das musst du ja wohl am besten wissen, Eiterbeutel“, wetterte Julia.
    „Na dann ...“ Skip war auf keinen Streit aus. Im Gegenteil. Jeden Augenblick konnte Eagle schweißgebadet und mit Pichu auf dem Arm hinter der Seminartür auftauchen, und das würde eine Menge brisante Fragen aufwerfen. Je eher sie Leine zogen, desto besser. Zu seiner Erleichterung ging sein Plan auf. Beinahe entspannt und gleichgültig ertrug er das „Bis dann, Hackfresse.“, als die Mädchen mit einem abfälligen Winken an ihm vorbeizogen.
    „Bis dann, ihr Bilgeratten.“


    * * *


    Der Rückweg war mit Gefahren gespickt wie das Maul einer Bestie mit rasiermesserscharfen Zähnen. Nur ein falscher Mucks genügte, und alles war vorbei. Pichus Ohnmacht hatte die Pforten eines neuen Pfades geöffnet - eines gefährlicheren, am Ende aber auch lohnenswerteren. Sofern es natürlich klappte ... Vor ein paar Minuten noch hatte Eagle die Strecke zur Tür auf der anderen Seite des dunklen Raumes mehr als doppelt so schnell zurückgelegt. Mit dem bewusstlosen, noch immer spannungsgeladenen Pokémon unter dem Arm war das Vorankommen deutlich beschwerlicher. Dennoch war er verbissen motiviert trotz der unveränderten Umstände und dem abscheulichen Gefühl eines Dolchs an der Kehle. Aus jeder offnen Pore rann der Schweiß. Die winzigen Stromstöße, die Pichu hin und wieder unbewusst von sich gab, übten wieder ihre betäubende Wirkung aus.
    „...widersprach der BFH seinem Urteil V R 37/10 vom 22.08. zur Umkehr der Steuerschuldnerschaft bei Bauleistungen. Die neue Rechtsprechung besagt ...“
    Wie angekündigt, hatte der Referent ein neues Fass geöffnet, mit dessen zähen Inhalt er die schwelende Luft unnötig schürte. Als Eagle endlich den halben Weg gemeistert hatte, pfiff er aus dem letzten Loch. Er war ein Wrack, körperlich und seelisch, seine Kraftreserven erschöpft. Die Tür lag noch in unerreichbarer Ferne. Im Hals verspürte er ein widerliches Kratzen. Sein rechter Arm war taub und gefühlt auf die doppelte Größe angeschwollen.
    Weiter!
    „... Austausch zwischen beiden Bauleistern der Bescheinigung nach § 48b EStG und Bescheinigung nach 13b UStG ...“
    Eagle zog seinen zermalmten Körper nach vorne.
    „... Neuauflage des Vordrucks USt 1 TG IV D 3 - S 7279/10 ...“
    Die Welt begann, sich wild um die eigene Achse zu drehen. Eagle machte seine letzten Kraftreserven mobil und zog sich vorwärts. Das Pokémon unter seinem leblosen Arm gab Geräusche von sich.
    „.. nachhaltig eigene Grundstücke nach § 4 Nr. 9 Buchstabe b UStG steuerfrei veräußern ...“
    Noch ... ein Stück ...
    „Pii ...?“
    „Eingangsleistung für unmittelbare Bauleistungen ...“
    Pichu schlug die Augen auf. Vibrierend und mit kindischer Melodie erwachte im gleichen Moment das Handy in Eagles Hosentasche zum Leben. Der Referent verstummte. Ziellose Blitze rissen Löcher in die stickige Luft. Schreie. Menschen gerieten in Panik. Stühle knallten auf den Boden. Tische wurden umgestoßen. Die Tür wurde rabiat aufgeschlagen; eine kühle Brise strömte hinein, Licht drang ins Innere.


    Der Mann im schwarzen Anzug humpelte durch den fast menschenleeren Raum - einer der Stromstöße hatte sein rechtes Bein getroffen. Die Krawatte war verrutscht, das diesem Morgen ordentlich gekämmte Haar wild und ungebändigt. Seiten seines 120-seitigen Manuskripts hatten sich im ganzen Raum verteilt oder waren bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Glutnester schmurgelten Löcher durch die Projektorleinwand. Der Beamer besaß nur noch Schrottwert. Das Pokémon, das für dieses Desaster verantwortlich war, lag ohnmächtig neben seinem Komplizen.
    „Nun zu dir, du Clown!“ Eagle, gerade erst aus seinem Koma erwacht und nicht Herr seiner Sinne, wurde mit solch grober Gewalt am Kragen gepackt, dass er den Stoff reißen hörte. „Was glaubst du, was du hier machst, Bürschchen?“
    Auch ohne dass man ihn wild schüttelte, war Eagle bereits speiübel. Er hatte sich auf die Zunge gebissen und seine rechte Gesichtshälfte war nass vom eigenen Sabber. „Whä ...?“
    „Ich krieg dich schon zum Reden, Jungchen!“ Der schlanke Erwachsene riss den Schüler in die Höhe und packte dessen Ohrläppchen. Eagle stöhnte und schrie vor Schmerz.
    Jemand musste eine Kanone gezündet haben, anders konnte sich niemand im Raum den Donnerschlag draußen auf dem Flur nicht erklären. Tische und Stühle wackelten, von der Decke rieselte feiner Putz. Eagle beschloss, alles auf eine Karte zu setzen. Im Deckmantel des Knalls riss er sich los und rammte dem Mann die Schulter in die Rippen, der sofort in die Knie ging. Er war schon halb auf dem Weg nach draußen gestolpert, als er so scharf kehrt machte, dass er beinahe sein bisschen Gleichgewicht verlor. Ohne Wenn und Aber krallte er sich Pichu. Die Tür schepperte gegen die Wand. Erstickende Flüche jagten ihm nach. Er war draußen.


    * * *


    Skip stellte keine Fragen, nicht einmal erinnerte er seinen Partner daran, dass sie noch immer ihr Essay schreiben mussten. Zu groß war sein Mitgefühl. Am nächsten Tag entschuldigte er seinen Partner wegen Migräne. Das Referat, das er daraufhin alleine hielt, kassierte trotz des dicksten Seemannsgarns, das er je gehört hatte, eine solide 2. Bei der vom Lehrkörper beiläufig gestellten Frage, ob Pichu bei dem gestrigen Gewitter ein seltsames oder unberechenbares Verhalten an den Tag gelegt hatte (der Vorfall im Mehrzweckraum war noch ein wohlbehütetes Geheimnis zwischen allen Beteiligten), mimte Skip den Ahnungslosen und meinte, Eagle habe sich in dieser Zeit dem Pokémon angenommen ... was ja gewissermaßen auch stimmte. Natürlich ging er diesbezüglich nicht ins Detail. Er hatte bereits einen leisen Verdacht, worauf Professor Joy bei ihrer Frage anspielte, und wurde am Ende auch bestätigt. Pichu hatte gewaltige Mengen Energie aus dem gestrigen Unwetter geschöpft. Unfähig mit dieser Überdosis Elektrizität umzugehen, hatte sich diese Überladung in einem gewaltigen Ausbruch ungezügelten Verhaltens manifestiert. Letztendlich war es Eagle egal, als Skip ihm das berichtete. Es war das erste und das letzte Mal, dass der Raikou einem Elektro-Pokémon derart nahe kommen wollte. Und in dieser Beziehung waren sich er und der Suicune zum ersten Mal wirklich geschlossen einig.

  • ~ Kapitel 13: Eagles Feldzug ~



    Part 1: Der Aufrührer und der Faulpelz


    Eine sanfte, laue Brise schmeichelte dem farbenfrohen Blattkleid dieses Novembers. Inmitten einer Serie von goldenen Herbsttagen hauchte das warme Lüftchen so viel Leben, so viel Freude in die Gesichter der Bewohner Celebi Islands, dass man gar nicht anders konnte, als zu Schwärmen für jede freie Minute unter dem Himmelblau. Selbst auf den Korridoren oder in den Klassenzimmern, wo Tageslicht in all seiner Frische und in all seiner Reinheit einen gar nicht schelmisch unter der Nase kitzeln konnte, herrschte beispiellose Unbekümmertheit. Man verleugnete den Gedanken, dass sich jemals auch nur eine Kleinigkeit an dieser perfekten Welt ändern könnte, sperrte ihn kategorisch aus. Überbringer schlechter Nachrichten und Spielverderber hatten es dieser Tage schwer, einen Fuß zu fassen. Dickbäuchige Staatsmänner lamentierten über stagnierende Wirtschaft und außenpolitische Probleme? Gähn. Elektronikkonzerne, die bereits jetzt, im November, die ersten Werbespots für das ideale Weihnachtsgeschenk über den Äther jagten und damit an die kalte Jahreszeit erinnerten? Hart an der Grenze zum Overkill. Selbst dem krankhaft immer strahlenden Wettermann auf dem Nachrichten-Kanal wollte man am liebsten teeren und federn, als dieser ankündigte, dass sich die kletternden Temperaturen bereits wieder auf dem absteigenden Ast befinden würden. Sich diesem perfekten Moment hingeben, einfach nur das Hier und Jetzt genießen - das wollten die Leute. Nicht an morgen denken.
    Es war einer dieser angenehmen Tage, ein Dienstagnachmittag. Kunstunterricht. Festhalten von Stillleben mit nichts weiter als einem Graphitstift. Lernen lässt sich oft nur sehr schwer mit wirklichem Vergnügen in Verbindung bringen. Wer verbrachte schon Zeit am liebsten büffelnd in einem miefigen Klassenzimmer? Ja, nur sehr schwer vorstellbar. Kunstunterricht aber war eine der wenigen Ausnahmen; weil es sich einfach nicht wie traditioneller Unterricht anfühlte. Die Atmosphäre, die Stimmung, die bunten Farben. Nicht mal ein wirkliches Richtig oder Falsch existierte, solange man natürlich nicht völlig am eigentlichen Thema vorbeischrammte. Bizarre Extravaganz, kompromisslose Konformität, ein Mittelding dazwischen - alles war möglich. Diese Unterrichtsform hatte eher die Aufmachung einer Traumfabrik, eines freischaffenden Künstlers, eines Satiremagazins wie MAD. Kreativ sein, mit seinen Freunden blödeln, etwas hinschmieren, was einem gerade in den Sinn kam - und dafür Ruhm oder Spott ernten.
    Professor Cenra durchlief die Werkbänke ihrer Schüler, als ob sie durch eine Einkaufspassage bummelte. Wann immer sich eine der wenigen kleinen Fältchen im Gesicht Regung zeigte, war es nun Ablehnung oder Zustimmung, nahm sie sich die Zeit zur Beurteilung der Arbeiten. Die Lehrerin studierte die Werke ihrer Schüler und übte sachgerechte Kritik aus. Sie verstand es zu beanstanden, aber auch zu loben. Auch dann, wenn Professor Cenra nichts kommentierte, fühlte man sich gelegentlich doch leicht unwohl, besonders wenn man zu allgemeiner Nervosität oder Versagensangst litt. Aufatmen erst dann, wenn das unangenehme Gefühl eines kreisenden Raubvogels über dem eigenen Kopf verschwunden und der verräterische Duft von Wildbeere, Professor Cenras Lieblingsparfum, verflogen war. Meistens war mit der liberalen Lehrerin aber ganz gut Kirschen essen, so die allgemeine Meinung unter den Schülern. Nach jeder absolvierten Runde legte die Professorin eine kurze Pause ein, mal für Unterrichtsvorbereitung, mal für ein vertrauliches Zwiegespräch mit einem ihrer Schüler. Lediglich bei einem ihrer Studentin machte sie eine Ausnahme, die so weit reichte, dass sie diesen im Kunstunterricht konsequent mied. Nicht aus Böswilligkeit, nicht aus Belustigung. Es war aus dessen eigenem dickköpfigen Wunsch heraus entstanden, da es ihn, so sein Wortlaut, einen Scheißdreck kümmere, eine schlechte Zensur in Kunst verpasst zu bekommen.
    Die Uhr schlug 13:30 Uhr. Die graphitschwere Luft lastete drückend auf Eagles resignierend dreinschauender Silhouette. Langsam distanzierte sich der Kopf von der Handfläche, die einige Minuten lang als notdürftige Stütze herhalten hatte müssen. Seit einer Viertelstunde hatte er die Arbeit niedergelegt, keinen Finger mehr krumm gemacht. Professor Cenra hatte es offenbar so hingenommen ... oder ihr war die traurige Einmann-Revolte nicht aufgefallen. Auf der Suche nach etwas Kurzweil lehnte sich Eagle gelangweilt auf seinem Stuhl zurück und streckte seine Glieder von sich. Kaum jemand nahm davon Kenntnis, wie der Blick des Raikous von Tisch zu Tisch in dem weitläufigen dachbodenähnlichen Kunstatelier hüpfte, in der bescheidenen Hoffnung, jemand würde sich seinem stummen Protest anschließen. Und wer die plötzliche Aufmerksamkeit auf sich spürte, der reagierte, als ob er gerade in die Mündung eines geladenen Revolvers geblickt hätten. Panisch suchte man Obdach in seiner Arbeit oder in einem Gespräch mit seinen Stuhlnachbarn. Besser nicht den Eindruck eines Befürworters von der fanatischen Fehde des Raikous gegen den Kunstunterricht erwecken, da sonst der gesellschaftliche Status leiden könnte. Genau so sah es nämlich aus. Es war wie eine bizarre Furcht, eine Krankheit, die ausgebrochen war, ein Geschwür, an dem die Klasse litt und die seinen Namen trug. Waren sie alle geistig umnachtet oder warum besaß niemand den Schneid, laut auszusprechen, was wohl so ziemlich jeder dachte. Kunst war etwas für Gehirnamputierte. Punkt. Keine Diskussion. Genau so gut konnte man sich drei Stunden am Stück den Teleshopping-Kanal antun - dabei starben sicherlich noch weniger Gehirnzellen ab als bei dieser Beschäftigungstherapie für Geistesgestörte. Eagle riskierte einen Blick auf seine Armbanduhr. Leise stöhnte er auf. Noch nicht einmal die Hälfte der Unterrichtszeit hatte er abgesessen. Schlimmer sogar: Eigentlich war noch war keine Zeit vergangen. Dabei fühlten sich die verstrichenen Minuten an wie Stunden. Einer Tafel Schokolade gleich, die man zu lange der warmen Nachmittagssonne aussetzte, schmolz Eagle dahin. Stück für Stück sank er auf dem Stuhl zusammen, bis Hals und Kopf kaum noch über die Tischplatte ragten, dafür aber die Beine immer weiter darunter hervorquollen. Er war es so leid ...
    „Mir reichts, ich hau ab.“
    Ray schmunzelte, während er dabei zusah, wie sein Banknachbar seinen schlappen Körper wieder aufrecht auf den Stuhl hievte. „So badass!“
    Sonja, am gleichen Tisch, schürzte missbilligend die Lippen. „Ist ja deine Beerdigung.“ Sie hielt inne. Fast wie besessen rang das Mädchen erbittert gegen den unwiderstehlichen Drang, noch einmal nachzutreten, und zwar ordentlich. Grund genug hatte sie allemal. Schon allein dafür, dass es letztendlich Eagles glorreicher Idee mit dem Strohhalmziehen zu verdanken war, dass sie die vielleicht einzige Chance ihres Lebens, ein Pokémon beim Schlüpfen zu beobachten, eingebüßt hatte. Dass er nun auch noch ihren Lieblingsunterricht verunglimpfte, setzte dem noch die Krone auf. Kaum wahrnehmbar schüttelte sie dann aber nur den Kopf, als vertrieb sie diesen Gedanken wieder wie ein lästiges Insekt. Ohne ihren Stuhlnachbar eines Blickes zu würdigen, ließ sie ihren Graphitstift wieder zu Papier. „Tu, was du nicht lassen kannst.“
    „Hätte ich auch ohne deine Erlaubnis gemacht.“
    „Du ziehst es echt durch? Echt?“ Skeptisch hob Ray beide Brauen.
    Einige Tische weiter lauschten einige Schüler dem Gespräch. Raikous, Suicunes und Enteis. Sora Townsend war so davon eingenommen, dass sie wiederholt ihren Graphitstift fallen ließ und dann an der falschen Stelle wieder ansetzte.
    „Seine gewohnten Starallüren. Macht er ja doch nicht“, brummte Sonja abfällig.
    „Ich muss dir nichts beweisen! Ich mach das, weil ich keinen Bock mehr hab, klar?“ Eagles Mundwinkel war gefährlich schmal, die Stimme gedämpft aber trotzdem hörbar drohend. Er rutschte mit seinem Stuhl ein wenig zurück. Beide Handflächen lagen ausgebreitet auf den Knien und drückten mit ungeheurer Wut die Schultern aufbruchbereit nach oben. „Was ist, kommt ihr mit?“
    „Danke, aber nein danke“, schnaubte Sonja trotzig. Ihr Blickwinkel mit dem zur Arbeit gesenkten Kopf unterstrich die Verächtlichkeit ihrer Worte.
    „Wenn du mich so fragst ...“ Ray grinste. Er konnte sich nicht erinnern, wann jemand anderes ihn zuletzt zum Schwänzen angestiftet hatte. Wie konnte er da Nein sagen? „Warum nicht.“
    „Tickt ihr noch ganz richtig? Glaubt ihr, das fällt nicht auf, wenn ihr einfach so stiften geht?“
    Unverhofft spürte Ray die Verlegenheit auf seiner Stirn glühen, als Sonja ihn, und nur ihn, beschwörend fixierte. Er sah, wie sich Eagle auf seinem Stuhl startklar nach vorne lehnte. Sein Kumpel würde in den verfrühten Feierabend aufbrechen, mit oder ohne ihn, Sonja dagegen einen Teufel tun. Die Entscheidung lag ganz allein bei ihm, keiner nahm ihm diese ab. So sehr er Sonjas Eifer auch anerkannte, der verführerische Duft der Freiheit und Rebellion war überwältigender. Allmählich, ganz allmählich kühlte Ray Stirn ab, sein lausbübisches Grinsen wuchs in die Breite. „Vorschriften sind Vorschriften - und die Nachschrift kann mich mal.“ Behelfsmäßig stopfte er die unliebsamen Schreib- und Malutensilien in die Schultasche. Keine halbe Minute später war auch er zum Aufbruch bereit.
    „Abfahrt“, sagte Eagle zufrieden.
    Die Professorin streifte gerade irgendwo im hinteren Teil des Ateliers herum - aus den Augen, aus dem Sinn. Die Schultaschen waren geschultert, ein letztes „Ciao“ den Zurückbleibenden entboten. Sie waren frei.


    Ein einziger dünner, schmaler Streifen Puderzucker trübte den azurblauen Himmel. Das Weiß der Schulfassade lag in unendlichem Reichtum goldgelben Sonnenlichts gehüllt, der Asphalt darunter war Gold gepflastert, jeder Grashalm des Rasens von unschätzbarem Wert, der See mit funkelten Diamanten bestückt. Die lichterloh in Flammen stehenden Laubkleider der Bäume wippten hoffnungsvoll in der zarten Herbstbrise. Auf den Ästen, dem Dach der Schule oder hoch oben im Himmel krächzten Vogel-Pokémon aus voller Kehle; ein gemeinsames, unstimmiges Konzert, vielleicht ihr letztes vor der kalten Jahreszeit, und womöglich auch gerade aus diesem Anlass.
    „Mir will das nicht in den Schädel. Kunstunterricht an einer Pokémon-Schule ...“ Eagle schüttelte den Kopf, während er den süßen Duft der Freiheit einatmete. Er streifte seine Kappe ab und kämmte sich mit der flachen Handfläche durch das kurze Haar. Obwohl er lediglich den Dienstag um ein paar Stunden betrogen hatte, liebkoste er den frühen Nachmittag wie ein verlängertes Wochenende. Beide Schulschwänzer waren im beiderseitigen Einverständnis, dass ihnen der Schulhof zu wenig Deckung bot. Auf Erklärungsnot, falls irgendein hergelaufener Erwachsener Nachforschungen anstellte, was zwei Schüler hier während der Unterrichtszeit zu suchen hatten, konnten sie gut und gerne verzichten. Der einzig sichere Ort, der ihnen in den Sinn kam, waren die eigenen vier Wände jenseits der Brücke, die sie gerade überquerten.
    „Weiß nicht. Gehört doch dazu, wie unerledigte Hausaufgaben am Montag. War nie anders, zumindest bei mir. Nur so genial schwänzen - das ist ’ne andere Geschichte. An Prüfungstagen und vor dem Unterricht - klar. Aber das heute war einfach nur ultradreist. Genau mein Geschmack. Sag Bescheid, wenn du noch so ’ne Nummer abziehst.“
    Eagle schüttelte leicht den Kopf. Die Kappe setzte er im gleichen Moment wieder auf. „Soll nicht zur Gewohnheit werden. Höchstens dienstags. Kunstunterricht ...“ Eagle schnaubte herablassend.
    „So schlimm?“ Fragend neigte Ray den Kopf nach links.
    Eagle hielt inne. Der Raikou wandte sich von dem Weg vor ihm ab. Nachdenklich lehnte er sich etwas über die Brückenbrüstung hinaus. Vor ihm - der glitzernde See. „Ich hab einfach keinen Nerv für den Scheiß. Andere Probleme. - Aber nicht dein Problem“, schloss er ab.
    Auch Ray hielt es nicht für nötig, ohne seinen Kameraden weiterzugehen. Nachdenklich kratzte er sich am Kinn. „Diese Rico-Sache? Wann hat er dich für den Kampf bestellt? Übermorgen?“
    Perplex wirbelte Eagle herum. „Woher ...?“
    „Diana. Keine Ahnung, wo sie es aufgeschnappt hat, halt ihre üblichen Quellen. Die kennt wahrscheinlich sogar deine Blutgruppe, bevor du überhaupt deinen Spendeausweis beantragt hast.“
    Eagle stöhnte. Ausgerechnet diese Quasselstrippe hatte davon Wind bekommen, und es natürlich an die große Glocke gehängt. Auf der gesamten Insel gab es mittlerweile wohl niemanden mehr, der nichts davon wusste. Die sanften Wogen des Sees hatten längst nicht mehr die beruhigende Wirkung wie gerade eben noch. Das Metall der Brückenbalustrade donnerte dumpf, als die geschlossene menschliche Faust in Wut runterdonnerte. „Ja, übermorgen. Das übliche Blabla. Ich hätte immer nur Glück gehabt, öffentliche Demütigung und so weiter und so weiter ... Am Donnerstag jedenfalls will er Nägel mit Köpfen machen.“
    Ray verschränkte verständnislos die Arme. „Was machst du dir jetzt einen Kopf? Wäre nicht das erste Mal, dass du mit ihm den Boden aufwischst. Oder liegts daran, dass du noch nichts für die Party Schrägstrich Ricos Beerdigung organisiert hast? Könnten ja zu dem Zweck Dianas Vorräte plündern? Na, und schon sieht die Welt ganz anders aus.“
    „Du checkst es einfach nicht.“ Da Rays Miene nach wie vor verständnislos verharrte, atmete Eagle seinen Kummer laut aus, während er sich wieder dem See zuwandte. „Skorgla ...“ Seine Begleitung machte daraufhin ein Geräusch, von dem man annehmen durfte, dass sich sämtliche staubigen Zahnräder in dem Oberstübchen gerade in Bewegung gesetzt hatten. „Rico hat wohl geschnallt, dass mit Skorgla nicht viel anzufangen ist. Womit er auch recht hat ... Also heißt es dann, zwei gegen eins. Aber ich will verdammt sein, wenn ich es diesem Kotzbrocken mitsamt seiner Inzuchtbrut einfach mache! Lieber stehend sterben als kniend untergehen.“
    „Übertreibs mal nicht.“ Ray trat an die Seite seines Freundes. Da Eagles Kopf auf seinen gekreuzten Armen lag, welche er wiederum auf dem Brückengeländer abgelegt hatte, wirkte der Größenunterschied gigantisch. „Also, wie siehts aus? Staralili gegen Glumanda - das könnte klappen. Aber Voltobal fegt Staralili wahrscheinlich früher oder später vom Tisch. Typenvorteil halt.“
    „Bei dir ist echt mal was hängen geblieben? Glückwunsch!“, schnaubte Eagle verächtlich.
    „Aber Skorgla besitzt irgendwie einen Vorteil gegenüber Voltobal, warum auch immer. Also wäre er der beste Konter. Warum gibst du ihm keine Chance?“
    Nach wie vor warf Skorglas einzigartige Resistenz gegen Elektro-Angriffe Eagle ein unlösbares Rätsel auf. Doch was half es? Besaß das Pokémon zwar dieses einzigartige Geschenk, wusste es seine Gabe dennoch nicht zu nutzen. Eagle war weniger sauerer auf Skorgla als auf sich selbst. Warum hatte er nicht bereits in der Safari-Zone erkannt, bevor er seinen Pokéball vergeudet hatte, wie Skorgla tickte? Jetzt war es dafür zu spät. Der anschauliche Flug-Skorion hatte sich als zimperliche Memme entpuppt, Rico dagegen war mit seinem mächtigen Elementararsenal gefährlicher denn je. Der Raikou war ideenlos. Und um Skorgla von dem weinerlichen Prügelknaben, der er war, zu einer Scheren schwingenden Killermaschine umzukrempeln, fehlte einfach die Zeit. Nein, ihm blieb eigentlich nur noch eine Möglichkeit ... Keine einfache, aber dennoch eine Möglichkeit.
    „Weil ich weiß, wie es ausgeht“, antwortete Eagle knapp verschlossen. „Ich krieg das auch ohne Skorgla gedeichselt. Irgendwie ...“
    Höchst uneinsichtig schüttelte Ray den Kopf, während einige seiner Finger unruhig auf dem metallischen Geländer trommelten. „Da bin ich ja mal gespannt. Sag, hast du es überhaupt man mit Skorgla ernsthaft probiert? ’nen Lehrer gefragt? Oder vielleicht hat Sonja ’nen Plan. Bibliothek whatever ...“
    „Klar! Natürlich! Gleich morgen stapf ich in die Bibliothek und krall mir den erst besten Scheu-überwinden-in-fünf-einfachen-Schritten-Schmöcker. Warum bin ich nicht gleich darauf gekommen? Vielleicht weil ich keine gottverdammte Grütze im Hirn hab?!“
    Ray warf Eagle ein schiefes Lächeln zu. „Hast du das auch schriftlich?“ Er wandte sich vom See ab und lehnte sich rücklings gegen das Geländer. „Na, sei es drum. Ich organisier dir dann schon mal die Beerdigung. Wie willst du deinen Sarg? Pompös? Schlicht? Was soll auf dem Grabstein stehen? Und hältst du Lilien für zu klischeehaft? Wie findest du stattdessen Narzissen?“ Am Ende seiner Rede war Ray sicher, dass er den Bogen überspannt hatte. Krampfhaft zog sich sein Inneres zusammen, in Erwartung, dass Eagles Rechte seiner Magengegend jeden Moment einen schmerzhaften Besuch abstatten würde.
    Provoziert von der düsteren Zukunftsaussicht, bezog Eagle vor Ray Position. Er lächelte kalt. „Ich hab da andere Pläne. Ganz andere. Schau her.“
    „Was soll schon sein - das ist ’n Pokéball“, tat Ray wenig überrascht darüber, dass Eagle ihm einen Pokéball in seiner kompakten, murmelgroßen Form vor die Nase hielt. „Na und? Hab ich auch. Sogar zwei.“
    Per Knopfdruck auf den Kern des Balls schwoll die Kapsel auf ein Vielfaches ihrer ursprünglichen Größe an, so auch Eagles hässliches Grinsen. Auf einen weiteren Knopfdruck entblößte sie ihr makelloses, kahles Inneres. Der Pokéball war ...
    „Leer?“, stutzte Ray baff.
    „Bingo.“ Einem kostbaren, verbotenen Etwas gleich, über das man unbedingt Stille wahren musste, verschwand der Pokéball rasch wieder in der Hosentasche ihres Besitzers. Eagles Grimasse aber blieb. „Das ist Sonjas Pokéball. Du weißt schon, den, den sie in der Safari-Zone verloren hat. Dank mieser Wegbeschreibung hab ich mich dumm und dämlich gesucht - und beinahe den Bus verpasst. Am Ende war es wirklich mehr Glück als Verstand. Aber hier steh ich nun. Das ist meine Trumpfkarte.“ Dunkle Wolken schoben sich vor Eagles Gesicht. Seine Augen blitzten bedrohlich. „Kein Wort zu irgendwem oder du bist tot.“ Die Stimme des Raikous zitterte, sein Mund war trocken. Plötzlich war ihm speiübel. Er hatte sich provozieren lassen. Das bisher so wohlbehütete Geheimnis war nicht mehr. Ein Fehler? Zumindest hätte es schlimmer kommen können. Viel schlimmer. Wenn jemand wie Diana ihn aus der Reserve gelockt hätte ... es stünde jetzt schon in jedem Blatt.
    „Bist du bekloppt? Das ist einfach nur total geil! Rico wird wie ein kleines Baby flennen, wenn du ihn derart verarschst“, triumphierte Ray. „Was jetzt allerdings noch die Frage aufwirft, mit was du ihn überraschst. Diesbezüglich schon einen pokétechnischen Plan?“
    „Blöde Frage. Ich fang mir das stärkste Pokémon in der Gegend und knall ihm eins vor den Latz“, antwortete Eagle. Angesichts der Erleichterung für Rays Sympathie ihm gegenüber bekam er seinen barschen Unterton nur sehr schwer wieder als festen Bestandteil in seine Stimme.
    „Elektro-Pokémon zerlegt man am besten mit Bo...“
    „Ich stampf dich gleich in den Boden, aber mit deiner Hackfresse nach vorn! Bevor ich mir freiwillig so einen Dreck suhlenden Kompost-Fetischisten fange, laufe ich lachend in die nächste Kreissäge!“, donnerte Eagle. „Diesen Strom-Junkie werd ich vorführen nach allen Regeln der Kunst. Flug-Pokémon oder gar nichts!“
    „Bin dabei. Aber woher nehmen und nicht stehlen?“
    „Dort!“ Scharf deutete Eagle in westliche Richtung, vorbei am Entei-Schulhaus, wo ein Bergmassiv stolz und majestätisch über den dünnen Herbstschleier ragte: das Kihen-Gebirge.

  • Part 2: Lug und Trug


    Auch an diesem Abend gehörte der Schülertreff zu dem mit Abstand belebtesten Ort auf dem gesamten Campus. Die Zahl an gelben, blauen und roten Uniformen war ungefähr so wenig überschaubar wie Kleckse auf einer weißen Tapete, auf der man mit viel Schwung drei Farbeimer ausgelehrt hatte. Im ewigen Wettstreit hatte Billard erneut die Liste der trendigsten Freizeitbeschäftigungen erklommen, dicht gefolgt von Tischfußball. Flipperautomaten dagegen waren zurzeit verpönt, out, bis man sie in einer nostalgischen Welle wiederentdecken würde. Während die vielen bunten Lichter, Glöckchen und Hebelchen in den unbesetzten Flipperautomaten allmählich Staub ansetzten, hatten gleich mehrere Parteien Stellung auf einem Möbelstück oder einem günstigen Stehplatz nahe dem einzigen Billardtisch auf dem gesamten Schulgelände bezogen. Bewaffnet mit ihren langen Queue-Stangen hielten die unliebsamen Okkupanten die Wartenden in Schach. Doch mit jeder weiteren in der Versenkung verschwindenden Kugel schrumpfte ihre Vorherrschaft. Wenn erst die schwarze Acht eingelocht war, stand der feindlichen Übernahme nichts mehr im Wege. Bis dahin musste man sich notgedrungen mit anderen Dingen die Zeit vertreiben. Hausaufgaben allerdings erledigte man besser an einem anderen, weit, weit entfernten Ort. Allein das Wort war in diesen heiligen Hallen ein absolutes No-Go. Bessere Überlebenschancen besaß man, wenn man auf einer Star-Trek-Convention als Storm Trooper aufkreuzte.
    Andy war heute gleich in zweifacher weiblicher Begleitung anzutreffen, wirkte jedoch nicht ganz so glücklich damit, dass er an diesem Abend seine Flamme mit deren besten Freundin Lilith teilen musste. Alexa und Diana beschlagnahmten je einen Stuhl an der kleinen Theke. Bereits vorher waren die beiden Teenagerinnen gut miteinander ausgekommen, doch nach der gemeinsam Zeit der Projektwoche sah man sie nur noch selten getrennt. Mit von der Partie war außerdem noch die Entei Lucy, ebenfalls ziemlich Dicke mit Diana. Von der dritten Jahrgangsstufe waren an diesem Abend nur wenige Schüler zugegen, womöglich wegen anstehender Klausuren. Unter den Anwesenden gehörte Nicki Kennedy, eine Entei mit auffällig langem brünettem Zopf, die in ihrer Freizeit gerne im Schülertreff die Bar führte, wie gerade eben. Emily Hayek, zweiter Jahrgang Suicune, und Jasmin Ewert, dritte Jahrgangsstufe des Raikou-Hauses, hatten ihren heftigen Disput zwischenzeitlich beigelegt. Ihr Pokémonkampf am Samstag sollte klären, welches ihrer beiden Pokémon das glänzendste Fell besaß und damit die Gewinnerin auf den unangefochtenen ersten Platz der besten Coiffeurinen der Celebi-High katapultieren.


    „Kann schon sein, Ray, aber Scoppels Überbiss ist alles andere als manierlich. Wenn du mich fragst, hat Chillabell jetzt schon gewonnen. Das gibt kein Kampf am Samstag, das gibt ein Gemetzel.“
    „Dich fragt aber keiner. Hast du eigentlich kein Zuhause oder wer hat dich eingeladen?“
    „Ich“, antwortete Skip. Er beugte sich etwas über den Tisch und schirmte seine Begleitung, die Entei Kathy Torres, etwas von Eagles abwertenden Blick ab.
    „Und nur falls es dich interessiert: Ich habe Skip eingeladen. Ein Problem?“ Sonja ignorierte Eagles abfälliges „Hmpf!“ und rückte als Zeichen ihrer Sympathie merklich etwas zu Kathy auf.
    „Was solls, wenn Scoppel die Beißerchen etwas raushängen? Letztendlich wird das auf dem Kampffeld entschieden, nicht auf ’nem Laufsteg. Und da geht Chillabell garantiert unter. Die ist ja so aufgedonnert, die stolpert über ihren eigenen Schwanz, geschweige denn, dass die überhaupt kämpfen könnte“ Ray reichte Skip den Becher mit den beiden Würfeln. Sein Wurf, eine 46, galt es zu schlagen.
    Etwas abseits des Billardtisches und den auf der Lauer liegenden Spielern hatte sich die Clique an einem runden Tisch versammelt. Ihr zwangloses Beisammensein wurde lediglich von Eagles Dickschädel getrübt, der sich nach wie vor nicht so richtig mit dem Gedanken anfreunden konnte, dieselbe Luft wie Suicunes und Enteis atmen zu müssen. Oder vielleicht war er auch einfach nur sauer, dass er punktetechnisch nicht so gut dastand. Mäxchen lautete der Namen des Spiels, bei dem es erlaubt, sogar erwünscht war, seine Mitspieler anzulügen. Das Spiel bedurfte lediglich eines undurchsichtigen Spielbechers und zwei Würfeln. Das Prinzip war nicht weniger schlicht: Wer an der Reihe war, schüttelte die Würfel im Becher. Im Anschluss schaute der Würfelnde unter den Becher und ließ die restlichen Spieler wissen, wie viel Augen er hatte. Der nächste Spieler (im Uhrzeigersinn) musste den Wurf seines Vorgängers überbieten und so weiter. Hatte er jedoch eine niedrigere Zahl, wovon nur er natürlich wissen konnte, da nur er unter den Becher schauen durfte, so konnte er den nächsten Spieler anlügen. Nahm der Angelogene das Märchen für bare Münze, musste er natürlich einen höheren Wurf erzielen. Durchschaute er jedoch die Irreführung, so musste der Lügende wiederum die Karten - oder in dem Fall die Würfel - offen auf den Tisch legen. Wurde er tatsächlich bei seinem Täuschungsmanöver entlarvt, verlor er ein Leben. Hatte er jedoch nicht geblufft, verlor der Ungläubige dagegen ein Leben und das Spiel begann von vorne. 65 war der höchste normale Wurf. Weiter ging es mit Pasch 1 (zwei Einsen), Pasch 2 (zwei Zweien) und so weiter. Der Trumpf war das sogenannte Mäxchen, eine Eins und eine Zwei, die man nicht überbieten konnte und bei dem jeder Spieler ein Leben verlor. Leben konnte man durch viele Dinge symbolisieren. Man führte eine Strichliste oder konnte persönliche Gegenstände des Verlierers - natürlich nur kurzfristig - konfiszieren. In der weniger jugendfreien Kneipenvariante dieses harmlosen Spiels musste der Verlierer ein nicht gerade wenig alkoholhaltiges Getränk leeren: die stärkste Leber gewann. Deutlich sittlicher hatte man sich im aktuellen Spiel auf Salzstangen geeinigt. Wem am Ende das Knabberzeug ausgegangen war, der flog aus dem Spiel. Ray besaß noch alle fünf Leben, Skip und Kathy waren bei vier Leben und Eagle bei zwei Leben angelangt. Sonja besaß ganze neun Leben. Nicht aber, weil sie das Spiel so gut beherrschte, sondern aus Mitleid; sie verlor praktisch jede Runde, und so hatte man ihr Punktekonto notgedrungen aufstocken müssen. Sheinux, der unparteiische Schiedsrichter, beobachtete das Spiel aufmerksam von Rays Schoß aus und entledigte sich schamlos den verbrauchten Leben - indem er sie verputzte.
    „Von Riolu hätte man auch nicht erwartet, dass er das Klo in die Luft jagt“, konterte Skip. Zweimal würzte er die Luft mit kraftvollen Stößen seines Bechers, dann hämmerte er ihn auf den Tisch. Ein Blick darunter: „53.“
    Kathy nahm ihn lächelnd entgegen. „Riolu war dein Projektpokémon, Sonja?“
    „Unser“, korrigierte Ray.
    Reumütig seufzte Sonja auf. Sie lehnte sich weit zurück. „Unser ...“
    „An den Vortrag wird sich schon in ein paar Wochen niemand mehr erinnern. Aber unsere Legende lebt auf ewig“, verkündete Ray stolz.
    „So wollte ich aber ehrlich gesagt nicht in die Schulära eingehen, Ray“, meinte das Mädchen mit der Zahnspange. „65.“ Verschmitzt lächelnd, so nach dem Motto „Worauf wartest du noch?“ sah sie nun Sonja an. Stark zögernd nahm die Raikou den Becher entgegen.
    Sonja würfelte. Länger als jeder Spieler vor ihr stierte sie unter den Becher. „Mhm ... einund...vierzig?“
    „41 ist niedriger als 65, Einstein“, belehrte Eagle Sonja. „Hoch damit!“
    „Ach Sch...!“
    Nach Sonjas kurzer Klage, Ray solle endlich damit aufhören, Sheinux das salzige Knabberzeug der anderen Spieler zu geben, ging das Match weiter.
    „34.“
    Ray nahm Eagle den Becher ab. „Geschenkt.“
    „Sorry, dass ich da jetzt bohre, aber den Mehrzweckraum ... den hat Riolu ...?“
    „Nicht geschrottet. Leider.“
    Abfällig die Nase rümpfend warf Sonja Ray einen missbilligenden Blick zu. Skip dagegen rutschte unruhig auf der Polsterung hin und her, während er zu Eagle linste. Der wiederum heuchelte Interesse für das aktuelle Fernsehprogramm im Schülertreff: die gefühlt neunhundertneunundneunzigste Wiederholung von Flegman, dem selbsternannten Superhelden mit der Lizenz zum Einschläfern. Von den Anwesenden war Kathy die einzig nicht Eingeweihte. Gerüchte machen zwar an der gesamten Schule die Runde, Fakt aber war, dass nur Skip, Eagle, Ray und Sonja die ganze Wahrheit wussten. Ein Wunder, wenn man bedachte, wie knapp Eagle der Schlinge um den Hals entkommen war und dabei so belastende Spuren hinterlassen hatte: Pichu, die gelbe Uniform, seinen bleibenden Eindruck auf den Referenten, ...
    „Keine Ahnung“, log Skip ohne mit der Wimper zu zucken. Er nahm den Becher entgegen. Inzwischen waren sie bei 52 angekommen. „Wie lief es eigentlich so bei dir?“
    Kathy senkte ihren Blick. Man konnte problemlos erkennen, wie das Mädchen sich auf die Unterlippe biss. „Es war eine Katastrophe. Wir Enteis waren ja nur unter uns. Man könnte meinen, dass das umso besser ist. Aber am Ende ...“ Sie schüttelte den Kopf. Wenig später atmete sie laut aus: „Ich war mit Pam in einer Gruppe, Pam Finnley.“
    Mit Ausnahme von Skip stöhnte jeder am Tisch gut hörbar auf. „Das ist die, die aussieht, als würde sie sich Anabolika in die Füße spritzen“, klärte Ray Skip beiläufig auf dessen fragenden Gesichtsausdruck auf. Selbst der Suicune und die Entei glucksten, und sogar Eagle fand etwas Anteilnahme, wenn auch auf seine ganz eigene Art. „Und ich dachte, nur ich hatte Probleme ...“
    „Hey!“, beschwerte Skip sich.
    „Hast du nicht auf der Stelle kotzen müssen?“, fragte Ray.
    „Das trifft den Nagel auf den Kopf, ja. Niemand wollte wirklich mit Pam in eine Gruppe. Und mit mir auch niemand. Eigentlich logisch, dass wir in eine Gruppe kommen mussten, auch wenn die ... Beziehung von Anfang an unter keinem guten Stern stand. - Pasch 2.“
    Frei von Bedenken oder Argwohn nahm Sonja Würfel samt Becher entgegen.
    „Ich konnte Pam nicht leiden und Pam mich nicht.“ Kathy lächelte matt. „Beste Voraussetzungen also. Nur ließ sie ihren Frust gerne an mir aus, während ich eigentlich die ganze Zeit nur auf das Ende hinarbeiten wollte. Irgendwie war ich plötzlich an allem Schuld: Dass ich mit ihr in einer Gruppe war.“ Aus Kathys geballter Faust hob sich ein Finger. „Dass sie noch Hausaufgaben für die übernächste Woche zu erledigen hatte.“ Kathy fügte einen weiteren hinzu. „Dass sie plötzlich einen Pickel am Mundwinkel hatte. Et cetera, et cetera.“
    Mitleid machte die Runde. Zum überwiegenden Teil für Kathy, die dankbar dafür den Kopf hob, der traurige Rest für Sonja. Die Raikou hob ebenfalls den Kopf - in Scham. „Ich - ich kann doch nicht lügen!“
    „Wie oft noch: du musst!“, stöhnte Eagle genervt.
    Sonja zögerte kurz. „Pasch 6.“
    „Das glauben doch du und zehn andere nicht! Ich will sehen.“
    „Gottverdammt!“
    „Mauzi schlüpfte bereits am Dienstag, so um die 9:00 Uhr abends. Ab da ging es eigentlich nur noch abwärts. Alles, was schiefgehen konnte, ging auch schief. Eigentlich weiß ich seit diesem Tag erst wirklich, was man alles falsch machen kann.“
    Betroffen stützte Sonja ihr Gesicht auf ihren in Y-Form gefalteten Händen. „Davon kann ich ein Lied singen ...“
    „In d-Moll“, ergänzte Ray grinsend.
    „Ich war praktisch eine alleinerziehende Vollzeitmutter. Morgens, mittags, abends und nachts. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, dann war Pam eigentlich immer nur dann rechtzeitig zur Stelle, wenn die Kacke bereits mächtig am Dampfen war. Die Rolle des verantwortungslosen Vaters, der den ganzen Tag besoffen in der Kneipe saß, und sich dann über den Saustall daheim beschwerte, hatte sie echt gut drauf. Dann gab es natürlich noch die täglichen Eskapaden mit Mauzi. Ich denke, das lässt sich ziemlich gut auf zwei besonders gravierende Vorfälle zusammenfassen: Einmal Pams zerfetzter Lieblingspullover - darin sah sie eigentlich immer aus wie ein menschlicher Rollmops, aber hey, wem es gefällt. Und dann hatte es Mauzi irgendwie geschafft, Pams Schmuckschatulle zu plündern. Billiger Plunder, wenn ihr mich fragt, aber davon ist nichts mehr wieder aufgetaucht. Seitdem hat sie mich auf dem Kicker.“
    Ray ruinierte etwas den Tiefgang des Moments, indem er ein schon eine ganze Weile im Schülertreff losgelassenes Vogel-Pokémon mit auffällig buntem Gefieder höflich eine Salzstange anbot. Ansonsten war das bedrückende Schweigen inmitten der ausgelassenen Kakophonie niederschmetternd.
    „Immerhin hast du sie jetzt vom Hals“, tröstete Skip seine Begleitung schließlich. Beiläufig reichte er den Becher an die Entei weiter.
    „Schwacher Trost, wenn ich sie fast den halben Tag um mich herum hab ... und das noch für die nächsten drei Jahre. Nicht zu vergessen die ganzen anderen Idioten.“
    „Wenn du so mit deinen Leuten unzufrieden bist und es dir absolut ernst ist, dann wechsle doch einfach das Haus.“ Andy war an den Tisch getreten. Allein. Seinem geplagten Gesichtsausdruck zu urteilen, war ihm jede Ausrede recht, um sich für den Augenblick von den palavernden Frauenzimmern loszueisen. Offenbar hatte er das Gespräch schon einige Zeit belauscht. „Kathy, richtig?“ Er nickte ihr zu. „Ich hab im ersten Jahrgang Suicune sausen lassen. Bereut habe ich das eigentlich nie. Geht ganz problemlos ohne viel Bürokram. Einfach bei deinem Hauslehrer ’nen kurzen Antrag stellen und fertig. Rest besorgt er. Nach ein paar Tagen kannst du dann schon einziehen. Kleine Empfehlung meinerseits: komm zu uns.“ Er zwinkerte Kathy zu.
    Verhalten schaute die Entei bis zum Kragen des Zweijahrenstuflers hinauf, mit dem sie bislang noch nie ein Wort gewechselt hatte. Zeitgleich hob sich hinter den Brackets ihrer Zahnspange zwar ein bescheidenes, dafür aber zunehmend dankbares Lächeln ab. „Ähm, danke. Ich ... überlegs mir.“
    Interessiert schaute Andy in die Runde. „Ah, Mäxchen?“ „Sonja ist am Gewinnen?“, registrierte er den Punktestand.
    „Nicht in diesem Leben, und nicht solange Ray das Glück pachtet“, kommentierte Eagle. Er wartete den nächsten Zug Sonjas ab, die gerade am Würfeln war.
    Deutlich schneller als bisher verkündete sie: „Mäxchen.“
    „Dann hoch damit.“
    „Wieso - glaubst - du - mir - nicht?!“
    „Spielt in dem Fall keine Rolle, Sonja. Wenn du Mäxchen hast, kann ohnehin keiner überbieten, also musst du zeigen, was du hast“, belehrte Andy mit belustigtem Unterton seine Hausbewohnerin.
    „Och, Mensch!“ Beleidigt und schwer seufzend knallte sie den Becher mit der geschlossenen Seite auf den Tisch.
    „Sheinux, knabber deines Amtes!“
    „Shuww!“


    Andy verweilte noch volle drei Runden am Tisch, von wo er Zeuge wurde, wie Sonja zwei weitere Salzstangen einbüßte. Als Sarah - nicht gerade über Andys Desinteresse glücklich - ihren Freund zurückzitierte, hatte der Geräuschpegel im Schülertreff gegenüber einer halben Stunde leicht abgenommen.
    Jedes Öffnen der Ausgangstür servierte den verbliebenen Gästen die bittere Wahrheit auf einem eisigen Tablett: Der Tag neigte sich unweigerlich seinem Ende zu. Mit kalter Umarmung hieß die angebrochene Nacht die allmählich aufbrechenden Schüler beim Verlassen des Gebäudes willkommen, während sie die angenehme Atmosphäre der Zurückgebliebenen mit Ablehnung schmähte. Gelächter wurde in den Räumlichkeiten seltener, unangenehme Themen wie bevorstehende Klausuren dagegen häuften sich. Wer bisweilen noch hartnäckig auf ein Spiel am Billardtisch gelauert hatte, trug die Hoffnungen mit einem kurzen Blick auf die Uhr allmählich zu Grabe, ohne jedoch mit Verwünschungen gegenüber den Besatzern zu sparen. Mit Meldungen über Korruption und Schmiergeldaffären des Geschäftsführers der Silph Co. gegenüber seinen Mitgesellschaftern kehrte auch das Fernsehprogramm seinem jüngeren Publikum endgültig den Rücken zu.
    Im Wettstreit um die goldene Hochstaplerkrone waren vorerst die letzten Würfel gefallen. Zu sehr im gemeinsamen Missklang vereint, konnte ihr Spiel nicht ohne Weiteres fortgesetzt werden. Wie und warum das strittige Thema eigentlich angesprochen wurde, daran vermochte sich schon niemand mehr richtig zu erinnern. Nur, dass es jetzt eben im Raum stand und so schnell nicht wieder vom Tisch sein würde.
    „Und warum sollte mich das interessieren?“
    Skip flüsterte Kathy etwas zu, die gewaltige Kluft zwischen Eagle und Sonja wagte er jedoch nicht zu betreten. Die Raikou dagegen erwiderte ihrem Hauskollegen recht furchtlos: „Ich weiß ja nicht, wer dir was anderes eingetrichtert hat, aber du genießt hier keine Sonderprivilegien. Wenn du Scheiße baust, dann darfst du sie genau so ausbaden wie jeder andere hier. Also komm mal wieder schön runter von deinem Thron.“
    „Weißt du, wie du dich anhörst?“, schlug Eagle zurück. „Wie Cenra.“
    Der Geräuschpegel am Tisch hatte Dimensionen angenommen, dass Gesprächsfetzen bis hin zu vollständigen Sätzen zu den Ohren von Außenstehenden durchsickerten. Die diskreten Details von Eagles kleiner Kunstunterrichts-Eskapade waren insbesondere für Schüler der ersten Jahrgangsstufe nicht gerade uninteressant. Die wenigen Anwesenden unter ihnen spitzten interessiert die Ohren. Sonja blieb das nicht verborgen. Sie senkte ihre Stimme zu einem mahnenden Flüstern.
    „Sie hat das gemerkt, weißt du? Ihr wart kaum weg ... du hättest ihren Blick sehen müssen. Ich weiß nicht, ob sie es dieses Mal nur bei Rede und Antwort belässt.“
    „Ist mir immer noch egal. Soll sie mich doch rausschmeißen! Das Beste, was mir passieren kann.“
    „Und was dann? Wie gehts dann weiter? Seit ich dich kenne“, grollte sie, „ziehst du am Stück dein Ding durch, ohne Rücksicht auf Verluste und wem du eigentlich schadest. Und weiß du was? Am meisten, am meisten schadest du dir eigentlich selbst, nur checkst du das irgendwie nicht, weil ja alle Anderen daran schuld sind, nur nicht du selbst. Ich hab schon arme Leute getroffen, Leuten, denen es wirklich dreckig ging, Arme, Verwitwete, Schwerbehinderte - die waren umgänglicher und bei Weitem nicht so verbittert wie du.“
    „Dann ists im Endeffekt immer noch mein gottverdammtes Problem und nicht deins, also was kümmerts dich eigentlich?! Statt dauernd einen auf Mutter Teresa zu machen und den Leuten in deiner krankhaften Paranoia auf den Sack zu gehen, solltest du endlich mal vor deiner eigenen Haustür kehren! Dreckig genug ist es dort ja allemal, Stichwort: Zorua. Und soll ich dir was sagen?“ Trotzig lehnte er sich in ihre Richtung. „Morgen mache ich blau, und da kannst du dich jetzt auf den Kopf stellen!“
    Mit ihrer schrillen, fauchenden Stimme mimte Sonja ausgefahrene Klauen auf einer Schiefertafel, während die filigranen, kunstfertigen Finger hysterisch durch den langen Zopf fuhren. „Du bist ... du bist unmöglich!“
    „Versetz dich mal ansatzweise in seine Situation, nur für einen Moment.“ Ray nutzte seine letzte Salzstange (die restlichen hatte er an das hin und wieder auftauchende Vogel-Pokémon verfüttert, womit er als bester Spieler plötzlich auf dem letzten Platz lag) als verlängerten Zeigefinger und dirigierte damit in Sonja Richtung. „Wenn du als totaler Vollkrüppel malen ...“
    „Ich geb dir gleich Vollkrüpel!
    „Warte! Warte! War ein schlechter Start von mir, sorry“, beschwichtige Ray Eagle rasch und hob milde stimmend die Hand. „Lass mich, ich kann das. Wirklich.“
    Eagle grunzte ungläubig und lehnte sich verstimmt auf seinem Stuhl zurück; für Ray mehr als ausreichend. „Er hasst Kunst, hatte vielleicht von Anfang an immer schlechte Noten, egal wie sehr er es versucht hat, selbst Kleinigkeiten. Wenn selbst meine Weihnachtssterne aussehen würden, wie gerade aus dem Mixer gezogen - spätestens dann hätte auch ich es wohl satt. Irgendwann würde ich es wohl auch hinschmeißen, mich damit abfinden, zwei linke Hände zu haben.“ Abwägend blinzelte er in Richtung des eingeschnappten Raikous. Das Fernbleiben eines möglichen Donnerwetters war für Ray Grund genug, um fortzufahren. „Du kannst dir vielleicht ein Gedicht oder eine Formelsammlung mit Gewalt in den Hirnkasten prügeln, aber wenn du von Natur aus zitternde Hände oder kein Geschick Schrägstrich Talent hast oder einfach nur Grobmotoriker bist - nenn es, wie du willst -, was willst du daran ändern? Bisschen Training kann vielleicht die ein oder andere Falte ausbügeln, aber großartige Sprünge würd ich nicht erwarten. Das Ergebnis bleibt immer unter dem Durchschnitt. Und Spaß machts bestimmt auch nicht, wenn man immer mit einem Kotzgefühl bei der Sache ist. Irgendwie kann ich das ziemlich gut nachvollziehen. Bei mir bleibt nix hängen, was ansatzweise was mit Zahlen zu tun hat. Fertig ist die Kiste. Wird sich nie ändern. Die Faulheit besorgt den Rest.“
    „Ohne Ray hätte ich EDV auch schon längst hingeschmissen“, nickte Skip. „Mir sind die Kisten einfach unheimlich.“
    „Im Auswendiglernen war ich schon immer grottig“, stimmte Kathy in die Unterhaltung mit ein. „Eigentlich sind mir alle Lernfächer mehr oder weniger zuwider. Aber irgendwie hab ich mich immer mehr schlecht als recht durchboxen können. Ich will Sachen viel lieber selbst ausprobieren, ohne mich an irgendwelche Regeln oder Vorgaben zu halten.“
    Sonja kreuzte die Arme. Zerrissenheit umspielte ihre Lippen. „Und ich bin eine Flasche im Sport. Aber mach ich deswegen die Flatter? Nein.“
    „Und wie oft“, bohrte Ray mit genüsslichem Unterton, „spielst du mit dem Gedanken, genau das zu tun?“
    Alle Augen waren auf die Raikou gerichtet. Die in Hartnäckigkeit verkeilten Arme entknoteten sich allmählich ganz von alleine. „Wie kommst du darauf? Das ist doch ... ich meine ... also ...“ Sie setzte zu einer langen Pause an, bei der sie verlegen ihr Kinn gegen die rechte Schulter stützte und am Tisch vorbei auf den Boden schaute, nur nicht in die anklagenden Gesichter. „In jeder Sportstunde aufs Neue“, seufzte sie schließlich, den Blick weiterhin auf den Boden gerichtet. „An mir ist keine Sportskanone hängen geblieben, egal wie sehr ich mich reinknie. Da fehlt einfach die Veranlagung.“
    „Soll heißen, du bist für das Fach nicht geschaffen. Das kommt mir irgendwie bekannt vor.“ Woher nur ...? Eagle grinste gönnerhaft.
    Sonja, an der Eagles Spott nicht spurlos vorbei gegangen war, entgegnete missmutig: „Zumindest versuche ich es. Vergebliche Liebesmüh hin oder her. In der Beziehung bin ich nun mal stur. Und Professor Cenra erkennt das auch an. Vielleicht nicht mit Bestnoten, aber sie tut es. Würde sie bei dir bestimmt auch machen, aber du machst ja lieber blau.“
    „Bingo.“
    „Ich dachte, wir spielen Mäxchen“, stutzte Ray. Er beschlagnahmte den lange nicht mehr angerührten Becher. Die Würfel kullerten. Mit dumpfem Geräusch knallte das Gefäß auf den Tisch. Er hob ihn hoch. Freudestrahlend verkündete er: „Na also, Mäxchen!“
    Das darauffolgende Aufstöhnen der Tischgemeinde erübrigte den Rest. Man kürte Ray zum unumstrittenen Zocker-König des Abends - oder, wie Eagle es nannte, „Dreckslucker“ -, Sheinux, der Unparteiische, erhielt alle restlichen im Spiel befundenen Salzstangen (Eagle und Sonja knabberten ihre selbst) und das Kunstthema war für den restlichen Abend vom Tisch. Ihre restliche halbe Stunde im Schülertreff verlief deutlich harmonischer. Streit und Uneinigkeit waren vergessen. Weiteres Gesagte legte man nach all den Halbwahrheiten und Ausflüchten nicht mehr sonderlich auf die Goldwaage. Während Sonja jedoch fest damit rechnete, dass Eagles in Ärger willkürlich geworfener Fehdehandschuh nur eine voreilige, impulsive Bauchentscheidung sein konnte und sie, wie jeden Morgen, den gemeinsamen Schulweg zusammen antreten würden, befand sich Eagle im Geiste bereits auf halbem Weg das Kihen-Gebirge hinauf.

  • Ich könnte heulen. ...
    In den letzten zwei Tagen habe ich deine Geschichte verschlungen und bin sauer auf mich weil ich mir keine Zeit gelassen habe und jetzt warten muss.
    Eagle du hast wirklich ein Talent. Dein Schreibstil ist unglaublich fesselnd, da du genau auf alles eingehst und du malst mit deinen Worten wunderschöne Bilder. Egal ob ein ruhiges Würfelspiel oder das Chaos in einem Kampf mit 10 Leuten, Ich kann beim lesen alles vor mir sehen und bin von deiner Geschichte schlichtweg begeistert. Und trotz der fülle an Charakteren können alle stehts zur Geltung kommen. Danke für dieses Erlebnis ich hoffe du bleibst dran!

  • Part 3: Streben nach Macht



    Kalt fühlte sich die Luft an diesem Mittwochmorgen an - kalt und feucht. Zäher, frühmorgendlicher Nebel verfälschte die Aussicht auf einen weiteren goldenen, wenn auch kurzlebigen Herbsttag zu trauriger Tristesse. Es war einer dieser Tage, an denen man am liebsten gar nicht vor die Tür gehen wollte; zumindest solange nicht, wie die peinigende Nasskälte die Insel in ihrem unerbittlichen Würgegriff hielt.
    Eagle hatte eine nahezu schlaflose Nacht hinter sich gebracht. Er fühlte sich schwach und unendlich müde, und auch, wenn er es nie öffentlich zugeben würde, hatte sich ein verdammt flaues Gefühl in seiner Magengegend ausgebreitet: ein großes, schwarzes Loch. Nichts jedoch, was ein üppiges Frühstück füllen oder ein starker Tee besänftigen könnte. Zweifel plagten ihn; dieselben Zweifel, die ihn in der vergangenen Nacht nicht zur Ruhe hatten kommen lassen. Zweifel auf die Aussicht auf Erfolg seiner Unternehmung. So viel konnte schief gehen. Gleich zwei Traumszenarien hatten ihm das bestätigt und in fiebrig aus dem Schlaf fahren lassen. Sein erster fiktiver Ausflug hatte bereits beim Verlassen des Raikou-Schulhauses geendet, wo er von Professor Cenra und Markis Tarmur in Empfang genommen worden war. In fester Übereinstimmung hatten sie beschlossen, ihn von der Trainings-AG in die Arbeitsgemeinschaft für künstlerisches Gestalten zu überführen. Arbeiten mit Fingerfarben! Gegen 3:00 Uhr und gefühltem unendlichen Umherwälzen hatte er einen steinigen Bergpass erklommen. Erst ganz oben auf der Spitze, Aug in Aug mit dem monströsen Schatten, dem er hinterher gejagt hatte, war im klar geworden, dass er seine Pokébälle vergessen hatte. Als die Bestie ausgeholt und ihm die geifernden Reißzähne in den Arm versenkt hatte, war der Raikou zum zweiten und letzten Mal schweißgebadet aus dem Schlaf geschreckt.


    Schweigsam stand Eagle vor dem geschlossenen Fenster seiner Zweimann-Bude. Die trübe Nebelsuppe hinter dem Glas beschränkte die Sicht auf nur dürftige hundert Meter. Die Konturen gelb-uniformierter Schüler, die Richtung Norden unterwegs waren, verschwammen allmählich in dem gräulichen Dunst, je weiter sie sich von dem Schulhaus distanzierten. Eagle inspizierte seine Armbanduhr, so wie er es die letzte halbe Stunde bereits zigmal getan hatte. Er nickte bestätigend. Diese Schüler mussten zu den Letzten angehören. Nachzügler waren es, Langschläfer, notorische Zuspätkommer. Kurz davor, einen Krankheitsfall zu inszenieren, hatten sie sich doch noch dazu aufgerafft, die Behaglichkeit ihres Bettes zu verlassen. Selbst die wirklich Allerletzten unter ihnen schienen es überhaupt nicht eilig zu haben. Sie schlenderten gemächlich, scherzten oder nutzten den Rücken ihres Vordermannes, um noch auf die Schnelle ein paar halbherzige Bemerkungen auf die unerledigten Hausaufgaben zu klatschen.
    Unmittelbar nachdem sich Stimmen und Bilder in der grauen Nebelsuppe verloren, löste sich Eagle von seinem Posten. Müde atmete er aus und ließ sich langsam auf der Bettkante nieder. Noch war das Risiko, ertappt zu werden, zu groß, als dass sie jetzt schon den Aufbruch wagen konnten. Erschöpft legte er sich wieder auf das Bett, das er aus Langeweile bereits mehrfach gemacht hatte, zählte bereits zum x-ten Mal die runden, braunen Muster auf den Panellen der Zimmerdecke und kontrollierte in einem weiteren Anfall krankhafter Paranoia sein Reisegepäck. Lange, schwarze Jeans, Hemd, Schuhe, Pokébälle. Auf alles Weitere konnte er verzichten. Nur noch Ray aus dem Bett werfen ...
    Beiläufig drehte Eagle den Kopf ein wenig nach rechts Richtung seines Mitbewohners, wo leise Empfindung, beobachtet zu werden, seinen Ursprung fand. Sheinux hatte die Nacht außerhalb seines Pokéballs verbracht. Seitdem Eagle das Bett verlassen hatte, ruhte unablässig eines von den beiden gelben Augen auf ihm. Ein unangenehmes Gefühl ... Sie starrten einander an, als ob einer von beiden - oder alle beide - etwas ausgefressen hätte.
    „Entweder weckst du ihn oder ich“, drohte Eagle. Seine Hand umklammerte den Hals der Mineralwasserflasche, die er auf seinem Nachttisch stehen hatte. Vielsagend hob er sie hoch und schüttelte die klare Flüssigkeit darin. Sie war noch halb voll. „Such es dir aus.“



    * * *


    Von dem Schulhaus mit dem gelben Dach ging es über den geschotterten Weg Richtung Südwesten. Statistisch gesehen ein eher unüblicher Pfad, den man zu dieser Tageszeit einschlug, denn dieser Weg führte direkt zum Schülertreff. Schätzte Eagle die Wahrscheinlichkeit, einem anderen Schüler zu begegnen, zwar als äußerst gering ein, wollte er jedoch kein unbedingtes Risiko eingehen. Statt also den schnellsten Weg einzuschlagen, nämlich über die von allen Häusern gemeinsam genutzte Brücke Richtung Westen, die dummerweise in unmittelbarer Nähe des Entei-Quartiers mündete, ging es zuerst zum Schülertreff, wo eine erwartungsgemäße Stille hinter den dunklen Fensterscheiben regierte. Querfeldein und in gebührender Distanz zum Entei-Schulhaus marschierten sie schweigsam weiter westwärts. Innerhalb des dichten Nebels war das Landschaftsbild wenig abwechslungsreich. Nasses Gras, teils kniehoch, erschwerte das Vorankommen. Nicht lange dauerte es, bis sich die Feuchtigkeit wie Korrosion durch die Turnschuhe gefressen hatte, während die Hosen bis zum Knie hinauf durchweicht waren. Recht früh begriff Sheinux die Vorzüge, wenn ein hochgewachsener Zweibeiner ihm den nassen Pfad ebnete. Durch die gezogene Schneise im Gras trottete er fast schon gemütlich hinterher und bewunderte beiläufig die taubenetzten Spinnweben zwischen den höchsten Grashalmen, die wie gesponnenes Silber funkelten.
    Trotz trüber Sicht erkannte man die gewaltige Silhouette des Kihen-Gebirges auch aus Distanz relativ mühelos. Mit seinen knapp 2.500 Metern Höhe war der Gebirgszug insbesondere im orangefarbenen Licht eines sommerlichen Sonnenuntergangs wie ein strahlendes Leuchtfeuer, das Schiffe auf See nicht selten zur Navigation verwendeten. Seinen Ursprung hatte das Massiv bereits in Küstennähe, wo basalthaltiges Gestein auf üppigem Grün häufiger wurde, je mehr man westwärts ins Landesinnere vorstieß. Was erst als sanfte Steigung begann, entwickelte sich zunehmend zum schweißtreibenden Aufstieg. Das Grün verschwand zunehmend, der Nebel wich. Schroffe, unförmige Steinzähne zermalten das Land, verschlangen es, bis eine unwirtliche Felslandschaft die Szenerie dominierte. Nackter, rauer Fels. Ab und zu vielleicht einige Haarbüschel gelb-orangenen Grases, die durch die raue Erde die Köpfe hinausschreckten.
    Ray brach schließlich in das unangenehme Schweigen, wenngleich auch in den letzten Minuten schwere Atemzüge die Stille ohnehin getrübt hatten. Er zog den linken Ohrstöpsel seines MP3-Players aus dem Ohr und ließ ihn achtlos in Brusthöhe baumeln. Midi-Musik trat leise daraus hervor. „Königsdisziplin ... Izzy hat nicht übertrieben.“
    Eagle schaute ihn beiläufig von der Seite her an. Seine Wangen waren deutlich röter als die Rays. „Was nuschelst du? Welcher Izzy ist König?“
    „Kein König“, korrigierte Ray. „Isaiah Peters, Rufname Izzy. Kennst ihn, bestimmt schon gesehen. Drittes Jahr Raikou, etwas kräftigerer Kerl, steht auf schlechte Krimis mit offensichtlicher Handlung, hat es mal geschafft, Doom auf einem der Bibliotheks-Tablets zu installieren.“
    „Ach, der Nerd“, schnaubte Eagle und schnappte dabei nach Luft. Er maskierte sein dürftiges Interesse an der Unterhaltung, indem er langsamer wurde. Tatsächlich ging ihm allerdings langsam die Puste aus.
    „Genau der“, sagte Ray. Er passte seine Geschwindigkeit an.
    „Und weiter? Was ist mit ihm?“
    Ray zuckte die Schultern. „Ist schon ’ne ganze Weile her, da kamen wir halt so ins Gespräch. Musik, Games, Pokémon - das Übliche halt. Jedenfalls“, fuhr er fort, nachdem Eagle begonnen hatte, ihn finster anzuschauen, „ich weiß nicht mehr, wie wir darauf kamen, aber er meinte so, dass die Abschlussprüfung für den zweiten Jahrgang in Überleben in der Wildnis wohl daraus bestehen würde, vierundzwanzig Stunden hier auf dem Berg zu verbringen.“
    Eagle schnaubte abfällig: „Im Sommer? Im Herbst oder Winter würd ich es ja noch verstehen, aber im Sommer? Kann ja nicht so schwer sein. Schöne Prüfung ...“
    Ray grinste etwas verlegen, denn Eagles Kritik war gerechtfertigt. Dummerweise war er damals nicht viel mehr darauf eingegangen. Kurze Zeit später hatten sie das Thema gewechselt. „Weiß nicht“, gab er überfragt zurück. „Izzy meinte nur, es wäre ganz schön hart gewesen. Und nass. “
    „Wie wollen die so etwas überhaupt bewerten? Kommt man nicht lebend zurück, gibts Punktabzug?“
    „Da gäbe es schon Möglichkeiten. Für jeden blauen Fleck Minuspunkte, pro abgetrenntes Körperteil eine Notenstufe niedriger. Dann spielt noch die Art des Dahinscheidens eine Rolle. Tod durch Steinschlag, Sturz in den Tod“, zählte Ray makaber grinsend auf und fügte seiner geballten Faust jedes Mal einen weiteren Finger hinzu, als ob er ganz nebenbei über Urlauberlebnisse plauderte, „Tod durch Hitzschlag, Vergiftung, an einer Banane Ersticken, Schrammen am Ohrläppchen, Kirschkern in der Nase, Dehydrieren ... Apropos: Letzteres dürfte dir eigentlich bekannt vorkommen. - Wollen wir nicht mal ’ne Pause machen?“
    Eagle protestierte noch, doch Ray führte Sheinux bereits zum nächstbesten kniehohen Felsbrocken, den er als Sitzgelegenheit auserkoren hatte.
    „Du hast ,Faust im Gesicht’ vergessen. - Meinetwegen dann Pause ...“ Nur nach außen hin widerwillig suchte auch Eagle sich einen Platz zum Rasten, einen halben Steinwurf von seinem Weggefährten entfernt.
    Ray streifte seinen Rucksack vom Rücken und inspizierte den Proviant. Zwei handliche Wasserflaschen hatte er dabei, zwei steinharte, in Plastik verpackte Brezeln und eine halb leere Tüte mit Käsebällchen, die er aus Dianas eiserner Reserve stibitzt hatte. „Wundert mich ja, dass du mir das Fressalienbeschaffen anvertraut hast.“ Er warf Eagle eine Brezel und eine Wasserflasche zu. „Oder sollte ich mich geehrt fühlen?“
    Eagle schraubte den Verschluss der Flasche ab, zögerte allerdings und schaute - den Gelangweilten mimend - in eine andere Richtung. „Ich brauch eigentlich nix.“ Trotzdem leerte er die Flasche mit gewaltigen Schlücken. Der versteckte Seitenhieb des üblicherweise unterdurchschnittlichen Schülers verfehlte sein Ziel nicht zu knapp und trieb Eagle einen Hauch von Schamesröte ins Gesicht. In Wahrheit hatte er Ray natürlich nicht mit irgendetwas beauftragt - und wer wusste das besser als er selbst? Er hatte gar nicht so weit gedacht, wie lange sie wohl unterwegs sein würden. Dabei gehörte Professor Armadis’ Moralpredigt über Vorratsplanung vor jeder noch so kleinen Reise, insbesondere immer ausreichend Flüssigkeit dabei zu haben, zu einem schon fast festen Ritual in jeder Stunde Überleben in der Wildnis.
    Während Ray begann, seine Ration kameradschaftlich mit Sheinux zu teilen, legte Eagle seinen Kopf in den Nacken. Mit dem Tal hinter ihnen war der Himmel nunmehr wolkenlos, die Aussicht jetzt fast klar. Am weiten Horizont verteilte sich der dahinsiechende Nebel wie ein zu kleines Stück Butter, das man großzügig auf einem Stück Brot verteilte. In nicht weiter Ferne erkannte er Punkte am Himmel - Vogel-Pokémon, die diese Insel ihr Zuhause nannten ... und wie man sie einfach überall traf. Ein allgegenwärtiges Phänomen. Nichts, was für die Besonderheit des Kihen-Gebirges sprach. Auf dem Hinweg über die Südebene hatten sie eine weidende Paarhufer-Herde überrascht, die bereits bei Blickkontakt verschreckt Reißaus genommen hatte. Gerade in diesem Augenblick krochen einige scheue Boden-Pokémon hinter nahegelegenen Felsen hervor; wahrscheinlich angelockt von den seltsamen Geräuschen knisternden Plastiks. Jetzt geködert von der Aussicht, einige fallen gelassene Brezelkrumen zu klauben. Eagles drakonischer Blick ließ die gelb-schuppigen Beobachter rasch hinter dem nächsten Felsen verschwinden, wo sie nur kurze Zeit später bereits wieder auftauchten. In Gedanken schüttelte Eagle den Kopf. Dafür hatte er die Reise nicht auf sich genommen. Sie mussten weiter.


    Von ihrem Ausgangspunkt ging es weiter westwärts. Der Bergkamm wurde steiler, der vorgegebene Pfad durch hohe Felswände links und rechts schmäler. Mannshohe Felsbrocken aus grauem Granit türmten sich auf, erschwerten das Weiterkommen. Zuhauf wölbte sich die Straße von außen nach innen zu knöcheltiefen Mulden. Eagle ertrug die zusehends krampfenden Waden zähneknirschend, den Blick stur nach vorn gerichtet.
    Nach einer halben Stunde gelangten sie an eine Gabelung. Der vorgegebene Weg führte als Spalt inmitten zweier hoher Felswände hindurch; zehn, vielleicht fünfzehn Meter lang, bis man wieder ins Freie kam. Der Hohlraum wurde enger, je höher der Blick wanderte. Die rechte Mauer neigte sich irgendwann so stark zur gegenüberliegenden Seite, dass an der engsten Stelle nur eine Armlänge von der anderen Wand trennte. Die alternative Route führte nur wenige Meter nach links zu einem steilen Felshang. Sprödes Distelgebüsch säumte das unmittelbare Umfeld und verlieh diesem alternativen Weg eine nur wenig einladende Note. Doch mit etwas Mühe war der Hang begehbar. Auf einem Stück Fels nahe dem Weg, der durch den Spalt führte, gab es eine zwar etwas schmuddelige, doch nach wie vor auffällige Wegmarkierung in Form des Schulwappens. Unmissverständlich die Botschaft, in welche Richtung Wanderer sich orientieren sollten. Ray warf einen Blick über die Schulter, wo das Tal noch im sich langsam lösenden Würgegriff des Nebels lag. An klaren Tagen musste das Panorama großartig sein, weit nach Osten hinaus, sogar bis zum Eschwald. Im Moment war durch den dichten Nebel im Tal nur das Schulgebäude einigermaßen zu erkennen.
    „Was jetzt? Weiter?“
    „Hm ...“ Eagle versuchte seine Unsicherheit so gut es geht zu unterdrücken. Er wandte sich von Rays fragendem Gesichtsausdruck ab und der Passage stillschweigend zu.
    „Wieso nicht weiter?“, fragte Ray. Er wies auf die Wegmarkierung. Als auch nach Sekunden keine Antwort folgte, machte er es sich auf einem glatten Felsen in der Nähe bequem.
    Es blieb still. Keiner sagte etwas. Ein leiser Windhauch blies. Endlich wandte Eagle sich von der Straße ab, Zweifel in seinen Augen.
    „Was haben wir bisher gemacht? Nix, sag ich dir, rein gar nix. Durch die Landschaft getappt und in der Nase gebohrt“, beschwerte sich Eagle. Angestrengt atmete er aus. „Dort lang geht es genau so weiter. Auf dem vormarkierten Weg könnte sich nicht mal ein Blinder verlaufen. Und natürlich gibt es da auch nichts von Interesse. Darauf geh ich jede Wette ein.“
    „Also, was schlägst du vor?“, fragte Ray und verschlang beide Arme ineinander. „Ab durch die Rabatte? Soll mir auch recht sein.“ Er stand wieder auf und reihte sich kurz hinter Eagle ein, vor der Steinböschung wartend. „Kommst du, Sheinux?“ Bei genauerer Betrachtung fing Ray den Blick seines kleinen Partners auf. Etwas Besorgtes lag darin. „Nicht gut ...?“, wollte Ray wissen. Er schaute hinüber zu der anderen Route, der Wegmarkierung, der sicheren Straße, die ihnen bislang gute Dienste erwiesen hatte. Irgendwie konnte er Sheinux nachempfinden. Jetzt, wo er so darüber nachdachte ... Nicht nur einmal hatte Professor Armadis gemahnt, eine Straße leichtsinnig zu verlassen.
    „Mir doch egal!“ Eagle kraxelte als Erstes den steilen Hang hinauf, rutschte dann auf halbem Weg wieder ein gutes Stück zurück. Nach zwei weiteren plumpen Anläufen war er oben, die Hände staubig und verschrammt, die Hose an einer Stelle mit Disteln übersäht.
    Ray taxierte den Hang oberflächlich. Nach etwas Anlauf überwand er die Hürde beinahe spielend - und mit deutlich weniger Schrammen, nur von Sheinux’ Leichfüßigkeit noch in den Schatten gestellt.
    Das Gelände wurde wieder offener, zunehmend jedoch auch steiler. Fast so schien es, dass sie wieder einer Straße folgten, nur wirkte diese irgendwie ausgetreten. Ray war froh, seine anfängliche Skepsis doch wieder ablegen zu können, auch wenn er sich beinahe sicher war, dass der andere Weg weniger steil gewesen wäre. Sheinux trottender Gang hingegen wirkte umsichtiger als sonst. Jede Biegung nahm er mit Vorsicht, jeder unerwartete Luftstoß kribbelte unangenehm wie ein Vorbote nahenden Unheils. Ein Geräusch - sein Blick wanderte alarmiert umher, blieb auf den steilen Felshängen links und rechts hängen, die mit jedem weiteren Schritt ihre kalte Umarmung um die Gruppe enger zu schnüren schienen. Die deformierten Felswände nahmen immer ähnlichere Formen an wie verwitterte Reliefs grimmiger Gesichter, von Wind und Wetter geformt; trotzige Mahnmale, die stumm den Wanderern ins Gewissen sprachen, schnell wieder umzukehren. Tatsächlich schloss nach einer Viertelstunde die Felslandschaft ihren Ring wieder so eng, dass die drei Wanderer kaum noch in eine Reihe passten, ohne sich gefahrlos auf die Füße zu treten. Sicht und Bewegungsfreiheit im stetigen Wechsel mit hohen Felswänden. Der Gehweg endete, Rays Bedenken kehrten wieder. Auch Eagle wurde zunehmend mürrischer. Während er einen weiteren Felskamm hochkroch und sich an dem ausgetrockneten Gerippe eines verdorrten Schösslings auf das Plateau zog, wurden die ersten Verwünschungen gegen diesen Ort laut. Die erreichte Ebene war keine zwanzig Meter breit. Dafür führte sie in die Länge höher hinaus, wo weitere Fels-Platten weiter oben warteten. Keine Hänge mehr, sondern ein mannshohes Bollwerk massiven Steins.
    Nacheinander zogen sie sich hoch, mit Fingernägeln und Krallen auf Fels schabend. Es gab keinen straßenähnlichen Weg mehr. Nur noch den steinigen Boden, der sie rechts an einer hohen Steinmauer entlang führte. Links führte der Blick mindestens einhundert Meter steil hinunter.
    Ray warf einen Blick auf Sheinux. Täuschte er sich oder konnte er dem azurblauen Fell ein leises Glimmen entnehmen? Ein Zeichen drohenden Übels? Sie tauschten Blicke aus. Gleichwohl, dass er seinem Freund beschwichtigend die Hand in den Nacken legte und Sheinux daraufhin ein wenig entspannter wirkte, konnte Ray nicht anders - er fühlte sich, als ob sich eine unsichtbare Schlinge enger und enger um seinen Hals schloss. Das hier hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mit der Safari-Zone. Es fühlte sich ... echt an?
    Ray wandte sich an Eagle. „Meinst du nicht, es wird langs...“
    Mit der Wucht eines Kanonenschlags riss eine Explosion einen Fels entzwei. Aus der frischen Wunde quoll ein Steinregen, prasselte auf die am Boden kauernden Wanderer und bedeckte sie mit einer dünnen Staubschicht. Wofür sie gekommen waren: Sie hatten es gefunden.

  • Part 4: Jäger und Beute


    Ein dichter Vorhang aufgewirbelten Staubes hing noch immer bleischwer in der Luft. Kies löste sich klackernd von den steilen Felshängen. Qualm eiterte unaufhörlich aus der noch frischen Wunde im Bergmassiv. Jemand hustete. Kleidung schabte über den Boden. Wieder war ein Husten zu hören; die gleiche Stimme.
    Zwischen dem pulverisierten Gestein in der Luft mischten sich allmählich begreifbare Konturen. Eine schmale, wankelmütige Steinstraße, die zwischen einer tiefen Schlucht und hohen steinernen Wänden eine trügerische Passage bot. Klobige Felsbrocken säumten den Weg. An manchen von ihnen hatte Löwenzahn seine Triebe an der kühlen, zu der Sonne abgewandten Seite in den rauen Boden geschlagen, die zackigen Blätter fahl und verdorrt. Mehrere schroffe, deformierte Felsnadeln ragten unterhalb des Abgrundes fast bis zu dem Gehweg hinauf, an der höchsten Stelle kaum breiter als der Arm eines Kindes lang.


    Scharfe Steinsplitter nagelten sich in seine aufgeschrammten Hände, als Eagle stöhnend seinen Körper nach oben stemmte. Dreck klebte an seinem verschwitzten T-Shirt und den Lippen, derselbe Geschmack haftete an seiner Zunge. Auch Ray hatte wieder festen Boden unter den Füßen. In gebückter Haltung röchelte er ununterbrochen, als ob er jeden Moment seine Seele aus dem Leib erbrechen müsste. Aus einer schmutzverkrusteten Wunde am Kinn - zugezogen, als er sich mit aller Gewalt auf den Boden geworfen hatte - quoll ein winziges Blutrinnsal. An seinen Knien stützten sich Sheinux’ Vorderpfoten ab, dessen Gesichtsausdruck zu Ray hinauf Trost vermittelte. Außer, dass graugelber Staub sein sonst so sauberes Fell unansehnlich befleckte, hatte er keine sichtbaren Blessuren davongetragen.
    „Schon gut, bin ... okay“, würgte Ray mit heißerer Stimme hervor.
    Wind kam auf. Eine Böe, wie ein kräftiger Schlag. Erschrocken bohrte Sheinux seine Krallen durch den Hosenstoff. Rays Gesicht flammte vor Schmerz auf, während er Schutz suchend noch tiefer in die Hocke ging. Eagles Fluch ging in dem wütenden Windstoß unter. Zähneknirschend presste er seine nur um ein Haar hinfort gewehte Kappe zurück auf den Kopf.
    „Da oben!“
    Schreie. Kreischen. Der Himmel - ein Kräftemessen mächtiger Urgewalten. Zwei Vogel-Pokémon, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten, prallten aufeinander, ließen das strahlende Blau in heillosem Chaos versinken. Das eine: grell leuchtend wie ein strahlender, goldbrauner Stern, mit schier unendlich gezacktem Gefieder, bei dem bereits beim bloßen Hinsehen die Augen jener, die es betrachteten, hätten sofort bluten müssen. Der Schnabel - ein zermalmender Speer, lang und spitz. Das andere: silbrig in der späten Vormittagssonne schillernd. Ein schmaler, geschmeidiger Körper in einer robusten Rüstung vereint. Die Füße waren mit mächtigen Klauen bewehrt, die Flügel wie eine Vielzahl runder Säbel - eine Kriegsmaschinerie. Geschmiedet für den Kampf.
    Eagles steif gewordener Nacken begann allmählich zu schmerzen, die grelle Sonne ließ die Augen vor Anstrengung tränen. Abwenden wollte er sich trotzdem nicht. Keine Sekunde. Zu eindrucksvoll war der Anblick aus seinen unwürdigen Augen. Zu majestätisch.
    Nichts ließ erahnen, wie lange das Himmelsballett bereits andauerte. Keine Ermüdungszustände, keine sichtbaren Verletzungen. Es war schwer festzustellen, wer den Kampf dominierte. Die ausgefahrenen Klauen des Silbervogels waren Dolche, die kurz vor dem erlösenden Stich in der Dunkelheit jäh aufblitzten. In engstirniger Verbohrtheit legte er sich nach dem missglückten Angriff scharf in die Kurve, bevor er sich mit der Geschwindigkeit einer Kanonenkugel erneut auf sein Opfer stürzte. Der gelbe Vogel bewegte sich langsamer, fast schon träge, was vielleicht seiner Größe geschuldet war, die die des Angreifers beinahe doppelt überragte. Mit weit gespreizten Flügeln zog er scheinbar unbehelligt seine Bahnen - ein geduldiges Lauern. So wie ein Zusammenstoß mit dem gepanzerten Widersacher beinahe unvermeidbar wurde, tränkte der gelbe Vogel mit seinem uraltem Brüllen das Himmelsblau in grelles Licht. Spiralförmige Blitze entstiegen seinen zackigen Flügeln kreuz und quer. Der Angreifer tauchte ab, ein wütendes Kreischen schmetterte aus seiner Kehle. Im unberechenbaren Zickzackflug entging er den unheilvoll knisternden Energiewellen, dann mit einer scharfen Kehrtwende zurück. Die Zerstörungskraft der Blitze reichte weit über das eigentliche Ziel hinaus. Zwei der verirrten Projektile sprengten mindestens einen halben Meter breite Löcher in den Berg, woraufhin das unmittelbare Umfeld augenblicklich in einer dicken Staubschicht versank.


    „Deren Differenzen möcht ich echt nicht haben.“ Die letzten Tropfen Flüssigkeit gingen in Rays ausgedorrter Kehle unter. Obwohl er sich zumindest für das Heraussuchen und Öffnen der Flasche Zeit genommen hatte, vermochte auch er nicht einmal für eine Sekunde seinen Blick von dem Spektakel hoch oben zu lösen. Die Härte des Kampfes war beispiellos. Etwas Vergleichbares hatte er nie gesehen. Die Kämpfe - oder sollte er eher Kasperletheater sagen? - bei dem Turnier vor einigen Monaten wirkten dagegen fast, als ob sich zwei Vorschüler im Sandkasten um Förmchen und Eimer zankten. Erst kürzlich hatte Professor Armadis das Thema über das Revierverhalten wildlebender Pokémon beiläufig im Unterricht erwähnt. Dass der Pokémon-Typ eine wichtige Rolle spielte, Pflanzen-Pokémon beispielsweise einen ganz anderen Stil offenlegten als beispielsweise die meisten Elektro-Pokémon; manche aggressiver, manche toleranter. Feen- und Käfer-Pokémon gehörten Professor Armadis’ Aussage zu folge zu den freimütigsten, dicht gefolgt von Pokémon des Typs Pflanze und Wasser. Feuer- und Flug-Pokémon dagegen führten die Spitze der Intoleranten an, nur noch übertroffen von dem kompromisslosen Drachen-Typ, welcher das Eindringen von Ungebetenen in ihr Revier kategorisch ablehnte. Doch nur selten kam es laut dem Professor für Überleben in der Wildnis so weit, dass Rivalen ihre territorialen Ansprüche bis aufs Blut verteidigten. Es war mehr ein Kräfte-Gebaren, bis langsam die Kräfte nachließen oder einer der Kontrahenten von sich klein beigab. „Bis einer weint“, murmelte Ray leise und nickte.
    „Das ist ... ein legendäres Pokémon. Ganz sicher.“
    Überrascht darüber, Eagles merkwürdig hohl klingende Stimme zu hören, drehte Ray sich diesem zu. „Was? Legendär? Und das heißt?“
    Eagle hatte nicht die Kraft, wie sonst immer gereizt auf Rays Unkenntnis zu reagieren. Sein Blick gen Himmel war glasig und verschwamm mit jeder Sekunde, in der er sich das Blinzeln verkniff, immer mehr. „Weiß nicht mehr ...“
    „Wie? Was weißt du nicht mehr? Du hast doch gerade eben gesagt ...“
    „Ich weiß, was ich gesagt habe!“ Der plötzliche Gefühlsausbruch sprengte die unsichtbare Mauer um Eagles Stimme. Die Kraft darin kehrte wieder. Mit schmerzverzerrtem Gesicht massierte sich seinen Nacken, hielt den Blickkontakt zu den Pokémon am weiten Horizont allerdings bestehen. „Legendär halt. Ich hab mal was gelesen, schon ewig her. Kann mich jetzt nicht an jedes beschissene Detail erinnern ...“ Ein gequältes Kopfschütteln unterstrich das Hadern mit den eigenen Gedanken. „Ihre Spezies ist fast einzigartig, obwohl sie unglaublich lange leben sollen. In manchen Kulturen werden sie sogar als Götter verehrt; körperliche Manifestation der Elemente, Natur, Gleichgewicht, was auch immer.“
    „Stark?“
    „Verdammt stark“, antwortete Eagle.
    Ray starrte ebenfalls wieder zum Himmel empor. Wind peitschte. Der Kampfplatz bäumte sich allmählich zum aufgewühlten Mahlstrom auf. Die Schwingen des Pokémon in stählerner Rüstung waren Rotorblätter: zu schnell für das nackte Auge. Schwere Orkanböen entstiegen ihnen, entfachten ihren Zorn über den Vogel in Gold. Der sanfte Ritt über die vorher noch ruhigen Luftströme verwandelte sich in unkontrolliertes Schaukeln. Doch provozierte die wilde Entschlossenheit, mit der sein Widersacher ihn traktierte, keinerlei Gegenreaktion. Überhaupt verhielt sich das Elektro-Pokémon in Rays Augen ganz und gar nicht den Umständen entsprechend. Irgendwie merkwürdig distanziert, fast schon unbehelligt; insbesondere, wenn man berücksichtigte, dass hier nicht gerade ein Kaffeekränzchen stattfand. Inzwischen dämmerte es Ray, dass es sich nicht bei dem Angreifer um die Legende handelte, sondern bei dem Verteidiger. Ganz und gar nicht, wie er zu Anfang noch angenommen hatte, denn trotz des Größenunterschieds sprachen die Anzeichen eher für den Silbervogel. Die Angriffslust, die Beherztheit, Kraft und Geschwindigkeit - alles Indikatoren, die eigentlich auf das Pokémon in schillernder Rüstung hindeuteten. Aber ... Ray zerbrach sich den Kopf. Irgendwie glaubte er, den goldenen Vogel schon einmal gesehen zu haben. Nicht so wie jetzt, nicht vis-à-vis, und dann sicherlich nur zufällig. Denn an eine tatsächliche Begegnung würde es sich doch sicherlich erinnern. Ein Bild, eine Zeichnung. Irgendwas und irgendwann. Doch wo? Und wann? Ray konnte nicht anders, als sich in diesem Augenblick über seine eigene Vergesslichkeit zu ärgern. Ähnlich Eagle, nicht nur von derselben Frage geplagt, sondern auch noch mit einem Pokéball zu wenig unterwegs. Zwei unglaublich mächtige Pokémon, aber nur eines konnte er fangen. Grimmig betrachtete er nicht mehr das Geschehen um ihn herum, sondern nur noch die kleine Kugel in der eigenen Hand. Auf Knopfdruck schwoll sie auf ein Vielfaches ihrer ursprünglichen Größe an. Sein eigenes übel gelauntes Abbild schimmerte ihm auf dem blanken Metall entgegen.
    „Das kotzt!“
    „Deckung!“


    Der Berg erbebte. Die Wucht einer Sprengladung erschütterte das Gebiet, mächtig genug, dass selbst in dem kilometerentfernten Entei-Schulhaus die Scheiben vibrierten. Gestein zersplitterte, Geröll prasselte die Berghänge hinab, ein unerbittlicher Pfeifton in den Ohren aller Anwesenden. Der Geduldsfaden der Legende - er war gerissen.
    Mit richterlichem Urteil läuterte sie Himmel und Erde mit sengenden Entladungen; schneller, stärker, zerstörerischer. Nicht mehr zur Verteidigung. Zum Angriff. Das Kniegelenk einer getroffenen Felsnadel zersprang augenblicklich, woraufhin diese zur Seite hin einknickte und gegen die nächste Zinne gleich daneben krachte. Erst sah es so aus, als wären die beiden Säulen nun für alle Ewigkeit in einer innigen Umarmung vereint. Doch langsam rollte die verwundete Nadel Stück für Stück zur Seite weg. In Zeitlupe schabte Stein auf Stein, bis der Schwerkraft nichts mehr zu trotzen vermochte.
    Erneut bebte die Erde, stärker als zuvor. Die Druckwelle, als das tonnenschwere Monstrum ins Tal krachte, deckte die letzten Laubdächer nahe gelegener Bäume ab. Hunderte Meter schoss der Staub in die Luft, die noch immer von weiteren Entladungen des legendären Donnervogels überzogen wurde. Sein Gegner war nicht mehr zu sehen. Eagle glaubte, als er während des Funkenregens kurz die Augen geöffnet hatte, etwas Großes vom Himmel stürzen zu sehen.
    Blitz und Donner verebbten so plötzlich, wie sie gekommen waren. Als unumstrittener Alleinherrscher, frei wie eine Feder im Wind, zog es den goldenen Vogel über den weiten Horizont hinaus auf das offene Meer. Ein letztes Schmettern seines Schreies wie ein zum Leben erwachter Blitz. Das Pokémon war nur noch als kleiner Punkt schwach auszumachen, bis es endgültig aus der Sichtweite verschwand.


    Bis Ray sein eigenes „Vorbei?“ vernehmen konnte, war die Legende bereits nicht mehr auszumachen. Selbst dann noch klingelte es ihm unangenehm in den Ohren. Auch Sheinux - in diesem Fall wegen seiner übersensiblen Sinnen eher verflucht als gesegnet - kämpfte noch erbittert gegen die Nachwirkungen im Gehörgang, was sich in einem zum gleichen Teil machtlosen wie mitleiderregenden Kopfschütteln bemerkbar machte.
    „Scheint so. Vorbei ...“ Eagle stand vor dem Abgrund. Unter ihm ragten die zwei heil gebliebenen Felsnadeln aufwärts. Die Bruchstücke der dritten Säule, teils rauchende Trümmer auf verbranntem Erdboden, konnte er schwach im Tal ausmachen. Er suchte die Umgebung ab, doch fand nichts. Sie waren beide verschwunden: das silberne und das goldene Pokémon.
    Ray kniete neben Sheinux nieder. Stumm und mit einfühlsamem Blick deutete er mit dem Zeigefinger seiner einen Hand auf den Pokéball, den er in der anderen hielt. Als Sheinux den Kopf schüttelte - diesmal als verneinende Geste gemeint -, nickte Ray seinem Freund sanft lächelnd zu und erhob sich wieder, im Geiste die Bilder kurz vor dem katastrophalen Angriff. Von dem einen auf den anderen Augenblick hatte das legendäre Pokémon seine Ruhe und somit völlig die Selbstkontrolle verloren. Fast so, als wurde aus einem lustigen Spiel plötzlich todernst. Für einen Augenblick verstummte Ray in Gedanken. Konnte es sein? Ein unverfängliches Spiel? Nichts weiter? Hatte die Legende seinen Kontrahenten von Anfang an überhaupt nicht ernst genommen? Daher die merkwürdige Zurückhaltung? Bis sie eine unerwartete Gegenwehr gespürt hatte, gegen die selbst sie sich eine gewisse Machtlosigkeit eingestehen musste? Oder hatte der Donnervogel einfach nur Kräfte für den einen verhängnisvollen Angriff gesammelt, so wie sich eine Batterie erst auf volle Leistung aufladen musste? Auch diese Theorie war nicht unabwegig. Oder es hatte keinen bestimmten Grund. Wer wusste das schon? Weit und breit gab es wohl nur einen, der sämtliche Details kannte - und den trieb es gerade auf den endlosen Horizont zu.
    Obwohl ihm überhaupt nicht danach war, lächelte Eagle spöttisch. „Vermasselt. Das war die Gelegenheit. Und ich hab es vermasselt.“
    Ray wusch sich über die Stirn. Eine beachtliche Menge Schweiß und Dreck verfing sich in seiner Hand. „Was hättest du tun sollen? Staralili hochschicken, damit sie höflich anfragt, sie sollen doch bitte runter kommen? Die wäre jetzt Toast, das ist dir schon klar?“
    „Was weißt du schon?!“, brüllte Eagle.
    „Ich hab Augen im Kopf“, antwortete Ray mit einem lässigen Schulterzucken.
    „Echt jetzt? Mir noch gar nicht aufgefallen!“
    „Du bist so scharfsinnig, du riechst den Furz im Dunkeln.“
    „Alter! Ray!“
    Sheinux stieß einen überraschten Schrei aus. Rays Mund entstieg ein fäkaler Fluch. Eagle kippte vor Schreck rücklings um und entfernte sich in panischen Rutschbewegungen von der Schlucht, wo das silberne Pokémon, nur wenige Meter von ihnen entfernt, auf der Thermik empor ritt, sein Gesicht zu den Erdbewohnern gerichtet. Es hatte sie gesehen.

  • Hallo Eagle,



    ich habe deine Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes verschlungen :D


    Eigentlich wollte ich mir mit dem Lesen Zeit lassen, aber deine Story hat mich von der ersten Zeile an so gefesselt, dass ich einfach nicht aufhören konnte. Die Art und Weise, wie du die Geschehnisse und die Eindrücke der Personen schilderst, ist echt super. Dadurch fühlt man sich nahe an der Handlung und so ist es meiner Meinung nach sehr einfach, sich in die jeweilige Situation hinein zu versetzen.



    Am meisten beeindruckt mich, welche Tiefe du deinen Charakteren vermittelst. Trotz der Tatsache, dass es mehrere Hauptakteure gibt, kommt bei dir keiner zu kurz und die Charakterzüge eines jeden Einzelnen sind gut dargestellt und nachvollziehbar. Des Weiteren ist die Entwicklung der Beziehungen untereinander, und vor allem zu ihren Partnerpokemon, einfach nur toll. Besonders Ray finde ich von Anfang an super unterhaltend. Ich kann dich also auf ganzer Linie einfach nur loben (:



    Zum Schreibstil, der Rechtschreibung und Grammatik bleibt mir nicht viel mehr zu sagen, als dass sich deine Geschichte super lesen lässt und es auch kaum, wen überhaupt, kleine Fehlerchen gibt.


    Ich hoffe, du schreibst bald weiter. Ich kann es nämlich schon gar nicht mehr erwarten, es ist einfach zu spannend.



    Falls das möglich ist, dann würde ich mich über eine Benachrichtigung zum nächsten hochgeladenen Teil freuen (:



    Viele liebe Grüße



    Sharp

  • Part 5: Der Phönix aus der Asche


    Einem Senkrechtstarter gleich schwebte der silberne Vogel auf der warmen Luftströmung nach oben. Die rasiermesserscharfen, bis zum Anschlag gespreizten Schwingen wogen in der Thermik kaum erkennbar auf und ab, fast so, als stand das Pokémon völlig still. Die geifernden Reißzähne in seinem Maul schimmerten in der Mittagssonne wie das vollkommene Metall, das selbst nach dem schweren Kampf gegen die Legende keine Spuren einer Verletzung, noch nicht einmal einen Kratzer aufwies. Unter der Legierung ungezügelter Rage bildete der ungebrochene Kampfeswille den Kern seiner gelben Augen. Aus voller Kehle donnerte ein rasendes Brüllen wie das Schleifen glühenden Metalls. Die Herzen erfüllte er mit Furcht, den Seelen entwaffnete er die Hoffnung, zermürbte den Willen.
    Mit eingeklemmtem Schweif und verzagendem Gesichtsausdruck hatte sich Sheinux kampfbereit vor den Menschen aufgebaut. Rays Hand schnellte voran und packte das Pokémon beim Nacken. Dabei nahm er es mit zusammengebissenen Zähnen billigend in Kauf, dass ihm Sheinux ungewollt einen reflexartigen Stromschlag aus dem glimmenden Fell versetzte. Kein langes Fackeln, nicht einmal ein kurzer Augenkontakt. Als sie die wenigen Meter zurückhasteten und zu dem gewölbten Plateau darunter sprangen, war Ray nur eine Armlänge hinter Eagle. Bereits das Überwinden dieser kurzen Distanz entfesselte eine destruktive Wirkung auf die vom langen Aufstieg angeschlagenen Muskeln. Krampfende Waden standen vom einen auf den anderen Augenblick lichterloh in Flammen - ein infernales Lauffeuer, das sich über die stechenden Seiten hinauf zum Brustkorb ausbreitete und dort die Lungenflügel in Brand setzte. Dahinter in einigen Metern Höhe: Rasendes Krächzen wie Metall auf einem Schleifstein und das wilde Auf und Ab stählerner Schwingen wie Paukenschläge bildeten die Einheit einer just in Bewegung gesetzten Kriegsmaschinerie. Unaufhaltsam. Gnadenlos.
    Ray geriet auf dem unebenen Schotter gefährlich ins Wanken. Der Untergrund knirschte unheilbringend, als er mit Sheinux in dem Armen und einem überraschten Aufschrei auf den Lippen gute drei Meter voranrutschte. Mit viel Müh und Not fand er wieder seine Balance und versuchte das deutlich lauter gewordene Flügelschlagen über ihm auszublenden. Ray rief sich den Hinweg in Erinnerung: Ein halbwegs offenes Gelände zwischen all den schmalen Schluchten, die sie zuvor überwunden hatten. Große Felsbrocken als Deckungsmöglichkeit. Ideal. Jedenfalls deutlich besser, als hier auf einer Klippe auf dem Präsentierteller zu sitzen. Ray hoffte bloß, dass Eagle ähnliche Gedanken hegte. Zum Fragen fehlte ihm einfach der Atem. Unter das aufgebrachte Krächzen des Verfolgers mischte sich plötzlich ein merkwürdiges, rasch lauter werdendes Surren. Ray riskierte einen raschen Schulterblick. Als er die blassblauen, geschwungenen Windschnittsicheln ausmachte, blieb ihm nicht einmal die Gelegenheit dazu, kreidebleich anzulaufen. Explosionen. Schnell aufeinander. Zwei. Drei. Der Berg erzitterte. Unmittelbar nach dem Zusammenstoß ergoss sich aus den rauchenden Kratern ein Geröllregen. Umherfliegender Schotter verwandelte sich in Schrapnelle. Ray nahm deutlich wahr, wie die teils winzigen Projektile nur kurz davor waren, seine Hosenbeine zu durchschlagen. Er wollte Eagle überholen, doch der Pass war zu eng. Links eine steile Felswand, rechts gut und gern hundert Meter freier Fall.
    Ohne Vorwarnung schoss der Jäger über die Köpfe der Teenager hinweg. Ein Luftsog wirbelte auf wie bei einem tonnenschweren Fahrzeug, das mit überhöhter Geschwindigkeit an einem vorbeiraste. Ray schluckte in Gedanken. Der Vogel war schnell. Verdammt schnell. Wahrscheinlich war es nur seiner sadistischen Freude an der Jagd zu verdanken, dass er sie noch nicht mit seinen gewaltigen Klauen zermalmt oder dem krummen Schnabel aufgespießt hatte. Nach überraschend scharfer Kehrtwende kam das Pokémon weit über den Köpfen der Flüchtenden zum Stillstand, an einem Punkt, an dem der Weg darunter bereits längst zu Ende war. Mit zerfetzenden Säbelhieben geißelten vier seiner acht Schwingen hinab. Jeder dieser ruckartigen Bewegung entwuchs eine neue Windschnittsichel. Geduckt, sodass sich sein Kinn auf Sheinux’ Rücken presste, sprang Ray seinem Vordermann hinterher. Sekundenbruchteile, nachdem seine Beine auf der tiefer gelegenen Ebene aufsetzten, er das Gleichgewicht verlor und auf dem Steiß landete, surrten zwei Sicheln haarscharf über seinen Kopf hinweg und zertrümmerten den Felsvorsprung darüber. Der gewaltige Lärm des explodierenden Felsbrockens machte ihn unempfindlich gegen den heftig pulsierenden Schmerz in seinen Beinen, seiner Brust oder dem seinem Hinterkopf, auf dem sich ein Splitterregen ergoss.
    Weiter!, spornte Ray sich an und rappelte sich auf. Deutlich spürte er den heißhungrigen Blick seines Verfolgers. Es blieb keine Zeit zum Verschnaufen.
    Der Bergpass schnürte seine Umarmung eng. Links und rechts wuchsen die steilen Felswände in die Höhe. Boten sie zwar die lebensnotwendige Deckung, beschworen sie gleichzeitig aber auch die Gefahren eines Felsschlages herauf. Das Zeitgefühl ging den beiden Jungen verloren, während sie sich Meter für Meter durch die enge Straße kämpften. Allmählich ging der grelle Pfeifton in Rays Ohren in ein dumpfes Gurgeln über. Das Knirschen des Sandes, Eagles heißes Röcheln, fuchtiges Flügelschlagen ... Gerade auf Letzteres hätte er ebenso gut verzichten können.


    Als sie den Engpass endlich durchquert hatten, waren ihre Schritte nicht mehr als ein unbeholfenes Stolpern, die Atemzüge wie ein verrostetes Getriebe. Offenes Gelände. Ein Felsbrocken, vielleicht eineinhalb Meter hoch: die rettende Bastion. Die Teenager stürzten in den Schatten, rempelten einander für jeden noch so kleinen Zentimeter Deckung an. Wann immer der Jäger, der hartnäckig seine engen Bahnen um das Gelände zog, in Sichtweite rückte, türmten sie auf die andere Seite ihres notdürftigen Bunkers. Ein Katz-und-Maus-Spiel. In einem fiebrigen Wahn kramte Eagle in seinen Hosentaschen, doch Staralilis Pokéball schien ein Eigenleben entwickelt zu haben und glitschte ihm durch die verschwitzten Finger. Metall blitzte am Himmel auf. Sofort flüchteten sie auf die andere Seite. Wütende Schreie. Eine Vorahnung? Wie lange noch, bis sich eine neue Welle der Vernichtung über sie ergoss? Eagle fluchte, dann plötzlich weiteten seine Augen sich. Endlich!
    Steil wie eine Rakete schoss Staralili aus den Pokéball heraus, als hätte sie diesem Augenblick die ganze Zeit über fiebrig herbeigesehnt. Am höchsten Punkt - sie berührte schon fast die Mittagssonne - spreizte Staralili ihre Schwingen und schlug rechts zu einer scharfen Kurve aus und kam erst zum Stillstand, als beide Kontrahenten am Himmel einander gegenüberstanden. Der Größenunterschied zwischen der flauschigen Federkugel und dem stählernen Bollwerk war gigantisch. Diesem absoluten Widerspruch zum Trotz plusterte sich Staralili aufsässig auf, gefolgt von ihrem furchtlosen Drohgesang. Ihr Gegenüber taxierte das aufsässige Großmaul mit bisher unbekannter Gelassenheit. Oder war er irritiert? Irritiert darüber, was für einen netten, kleinen Appetithappen man ihm gerade aus freien Stücken serviert hatte? Mit schnellen Flügelschlägen hielt Staralili trotzig ihre Position. Der Stahlvogel schwebte mit ausgebreiteten Flügeln wie ein Senkrechtstarter auf der Stelle. Kein Lüftchen regte sich. Die Ruhe vor dem Sturm. In berauschender Euphorie blähte sich Eagles Brustkorb unter seinen kräftigen Atemzügen, die die trockenen Lungen mit frischer Luft fluteten. Hier hatte die Hatz ein Ende. Sein gerötetes Gesicht formte eine rachsüchtige Fratze. Jetzt war er am Drücker.
    Ray warf indessen Sheinux einen Blick zu. Er nickte seinem Kumpanen zu. Eagle fing die Geste auf und reagierte prompt.
    „Du hältst dich da raus!“
    Äußerst skeptisch schaute Ray Eagle an, dann kurz zum Himmel, dann wieder zu Eagle. Kurz öffnete er den Mund, schüttelte schließlich und endlich aber nur den Kopf. „Okay, okay. Du musst es wissen. Ich geh nur mal fix Deckel kaufen. Wir sind nämlich gleich so was von im Eimer.“ Am Ende seines Satzes ließ er sich neben Sheinux nieder. Seine wunden Füße brachten ihn um.
    „Quatsch keinen Scheiß und sperr die Glubscher auf. Gleich kannst du was lernen.“
    Nicht minder skeptisch als gerade eben stemmte Ray den Kopf wieder in den Nacken und schaute hinauf. Er kreuzte die Finger und murmelte leise: „Na dann, toi, toi!“
    „Angriff von unten!“
    Staralili tauchte ab. Schnell. Wahnsinnig schnell. Wie auf einer Rampe katapultierte sie nach kurzer Talfahrt zu einem Looping steil nach oben. Vergeblich suchte man Ansätze von Rücksicht oder Gnade, als sie einer Pistolenkugel nacheiferte und ihren zierlichen Körper zielgerecht gegen den entblößten Brustkorb schmetterte. Das riskante Manöver blieb nicht ohne Folgen - für beide Seiten nicht. Die stählerne Himmelsfestung schleuderte es aus ihrem gleichmäßigen Schwebezustand, woraufhin sie ein kleines Stück an Höhe verlor. Noch mehr büßte Staralili allerdings ein, die orientierungslos gen Boden trudelte. Der Aufprall hatte sie offenbar fast noch mehr in Mitleidenschaft gezogen als ihren Gegner.
    In Anspannung verkrampften sich Eagles Muskeln, während er versuchte, seinen Geist von Rays kritischem Blick zu verschließen.
    „Fernkampf, Staralili. Torpedier ihn! Los!“
    Dem schwankenden Schwebezustand des Silberphönix zu urteilen, litt er noch unter den späten Folgen des vorwitzigen Angriffs. Oder er suchte noch nach einer Erklärung, was überhaupt gerade vorgefallen war. Staralili schnellte derweil wieder nach oben, ein gutes Stück über dem ursprünglichen Ausgangspunkt des ersten Angriffs. Ihr Gegner erspähte sie. Seinem metallischen Fauchen folgte das reihenweise Aufblitzen der gebleckten Zähne. Ein kräftiges Flügelschlagen katapultierte ihn mit einem gewaltigen Schub nach oben. Sein Ziel war vor Augen.
    „Jetzt!“, donnerte Eagle.
    In wilder Ekstase peitschten Staralilis Schwingen nacheinander herab. Die Schreie des Angreifers gingen in einem Sturm aus rotierenden Sicheln unter, die unbarmherzig auf ihn einschmetterten, nicht wenige von ihnen direkt in das Gesicht. Dichter Rauch hüllte das Zentrum der Explosionen ein und weitete sich konsequent aus, was heißen musste, dass der Getroffene dem Inferno und der Schwerkraft trotze. Noch. Eagle sah seine Chance, es zu beenden, den Sieg in greifbarer Nähe.
    „Feg ihn vom Himmel! Mach schon!“
    Jetzt schnellten Staralilis beide Flügel zeitgleich hinab. Keine Sichel mehr entstieg ihrem Gefieder, sondern eine Windböe mit einer Verwüstungskraft, wie sie nur ein ausgewachsener Orkan besaß. Den Rauch zerstreute es buchstäblich in alle Winde. Das Pokémon im Zentrum war nichts mehr als eine silberne Sternschnuppe, die vom Himmel stürzte.
    Mit hellem Aufschrei verlieh Ray seiner Fassungslosigkeit Ausdruck. Der ohrenbetäubend Aufschlag übertünchte den Laut, die heftige Druckwelle fegte den Klang seiner Stimme schließendlich davon. Aufgeworfener Schotter regnete noch vom Himmel und ein dichter Staubvorhang trübte das Sichtfeld, als Eagle bereits das Schlachtfeld stürmte. In der Hand: den Pokéball. Lechzend nach jeder Bewegung, jedem Geräusch, jedem noch so kleinen silbernen Farbton arbeitete er sich durch die wabernden Rauchschwaden. Plötzlich hielt er inne. Augen und Ohren folgten einem Geräusch, als ob etwas Schweres über den Boden schabte. Es war unmittelbar vor ihm, eigentlich zum Greifen nah. Eagle zögerte nicht. Ehrfurcht zeigte seinen Beinen den Weg in sichere Distanz, Versessenheit gab ihm wiederum die Kraft, den so lange behüteten Pokéball ins Ziel zu lenken.


    Der Staub in der Luft war wie ein dünner, trüber Vorhang, durch den Eagle gebannt blickte. Seine Atmung hatte er vor Nervosität bereits auf ein absolutes Minimum reduziert, viel mehr ließ die rußige Luft auch nicht zu. Seit einer gefühlten Ewigkeit schon, so kam es ihm vor, tobte im Inneren der Kugel eine Schlacht von unvorstellbarer Härte. Der Pokéball hatte ein Eigenleben entwickelt. Er kullerte, sprang und drehte sich wild um die eigene Achse. Mit jeder weiteren Sekunde, in der Eagle damit zubrachte, seine Fingernägel tiefer und tiefer in das Fleisch der eigenen Handflächen zu vergraben, wurden seine Gebete lauter, panischer.
    „Komm schon!“
    Nicht nur vor ihm tobte ein Kampf. Auch in Eagles Kopf. Und so sehr er es sich auszureden versuchte, so sehr er sich dagegen sträubte: Seine Zweifel waren stärker. Denn er stand kurz davor, dieses Kapitel der Schlacht zu verlieren.
    „Jetzt mach schon!“
    Hoffnung wurde zu Enttäuschung. Enttäuschung zu Furcht. Versinnbildlicht von dem schier unbezwingbaren Bollwerk, das langsam den unergründlichen Wirbeln der Sphäre entwuchs, so wie es bereits zuvor aus den Abgründen der Schlucht entstiegen war. Die unmittelbare Nähe zu den zerstörerischen Waffen der Kreatur und das Donnern eines wütenden Schreis wie aus den Kehlen von Hunderten ließen Eagle verzagen. Er wollte den Rückzug antreten, doch seine Beine verwehrten ihm ihren Dienst. Erst dann, als die gelben Lanzen, die die Augen der Kreatur waren, drohten, den Menschen bei lebendigem Leibe zu pfählen, gewann er endlich wieder die Kontrolle. Erst aber über seine Sinne, seine Wahrnehmung. Der Pokéball! Er lag in kaum zwei Meter Entfernung auf den Boden. Sollte er es noch einmal versuchen?
    „Alter, was treibst du?! Hau ab!“ Vernunft gepaart mit Angst obsiegte schlussendlich in dem ungleichen Kampf, der sich in seinem Kopf abgespielt hatte. Er folgte dem eindringlichen Weckruf Rays. Rennend, als ob sein Leben davon abhing. Doch das Schlagen mächtiger Schwingen, welches ihm dicht auf den Fersen war, ließ ihn ahnen, dass dies diesmal nicht ausreichen würde. Diesmal nicht. Mit bebendem Herzschlag machte er sich bereits auf das Schlimmste gefasst.
    Staralili stürzte vom Himmel, die Krallen gewetzt, eine zornige Kampfarie krächzend. Das widerwärtige Geräusch von Nägeln, die über eine Tafel kratzten, mischte sich unter das erboste Brüllen vor Schmerzen. Staralilis Fänge hackten über das kalte Gelb der Augen, hinterließen tiefe Schrammen. Mit fuchtigen Hieben seines Schnabels versuchte der stählerne Vogel sich gegen die lästige Schmeißfliege zu erwehren, verfehlte jedoch wiederholt sein Ziel. Staralili tauchte unter dem bedrohlichen Horn hindurch und bearbeitete die andere Gesichtshälfte mit unverminderter Härte. Doch plötzlich schnellte der Schnabel in einer rasanten, zur Seite gerichteten Aufwärtsbewegung heran. Staralili schleuderte es in unkontrollierten Kreiselbewegungen hinfort, unfähig, dem gewaltigen Stoß zu trotzen. Dass es zu Beginn selbst grobkörnigen Kies meterhoch aufwirbelte, hetzte der Angreifer nach. Sein Zerstörungspotenzial sprengte dabei jeden Rahmen. Regelrecht eine Schneise der Verwüstung zog er über den Boden fast zwei Meter unter ihm. Es war die Schubkraft eines Jets, der im Begriff war, die Schallmauer zu durchbrechen.
    Wie ein Spielball wirbelte Staralili noch umher. Der Luftwiderstand hatte sie etwas abgebremst und das Gefühl von langsamer Kontrolle kehrte zusehends zurück. Sie spannte die Flügel, wollte sich den Gesetzen der Schwerkraft zur Wehr setzen. Die Realität verzerrte sich. Schräg über Staralili verzerrte sich die Realität. Aus der deformierten Luft schälten sich die groben Konturen des Silbervogels. Mit ausgefahrenen Klauen stürzte er auf das ihm auf Gedeih und Verderb ausgelieferte Opfer hernieder und schmetterte es samt seines eigenen Gewichts mit erbarmungsloser Härte auf die ausgedörrte Hochebene. Einen halben Meter noch schleifte das Monstrum mit Staralili als Bremsklotz über den Boden. Über dem schwach fiependen Häufchen Elend thronte der Sieger mit weit gespreizten Schwingen. Er reckte den Kopf in die Höhe und ließ die Welt durch sein mark- und beinerschütterndes Siegeskrächzen teilhaben an seiner beispiellosen Grausamkeit.
    Eagle stieß einen Fluch aus den tiefsten Abgründen seiner Kehle hervor. Der Raikou überholte seinen eigenen Atem, der ihm ins Gesicht schlug, als wäre er ein feuriger Odem. Sein gesunder Menschenverstand mahnte ihn davor, wie schlecht doch seine Chancen stünden, auch nur eine winzige Delle in die schier undurchdringliche Panzerung des gleichmütig wartenden Vogels zu prügeln. Sein Zorn aber war stärker. Das hilfloses Fiepen zwischen den gnadenlosen Fängen war wie das Kratzen einer Schallplattennadel auf seinem Trommelfell. Selbst wenn er seine Augen davor verschloss, konnte er weiterhin ganz deutlich Staralili sehen, als hätten sich ihm die grausamen Bilder bei vollem Bewusstsein auf die Netzhaut gebrannt.
    Erst überholte Rays Stimme ihn, dann raste auch schon Sheinux an ihm vorbei. Das Elektro-Pokémon beantwortete den Befehl seines Trainers mit einer Blitzpeitsche, die dem nichtsahnenden Silbervogel mit einem schnalzenden Geräusch gegen den Schädel donnerte. Er strauchelte, als hätte ihn ein Lastwagen angefahren; abgerundet dadurch, dass er am Ende das Gleichgewicht verlor und zur Seite hin zusammensackte. Doch die Narkose währte nur kurz. Eagle brachte sich gerade noch rechtzeitig aus der Schusslinie, um das Abheben aus nächster Nähe mit ansehen zu dürfen. Die Festung war wieder in der Luft - und aufgebrachter denn je. Aufmüpfig bohrte Sheinux die Krallen in den Boden und schickte seine trotzige Nachricht zum Himmel empor. Seitlich rollte der heranrasende Angreifer durch die Funkelschläge hindurch. Links. Dann rechts. Er täuschte einen weiteren Drall nach links vor, zog dann aber stattdessen so schnell wieder aufwärts zum Himmel hinauf, dass der kräftige Aufwind Sheinux durchrüttelte. Der nächste Sturzflug folgte rasch und unvermindert rücksichtslos. Blitze stoben vom Erdboden in die Höhe, zwangen den Angreifer erneut zu scharfen Ausweichmanövern. Der Boden kam näher. Wieder ein rascher Drall nach links, doch diesmal bremste sich das Pokémon zeitgleich mit einem entgegengesetzten Schlagen seiner plötzlich hell leuchtenden Flügel ab. Es schoss nach oben, gleichzeitig entstiegen seinen Schwingen zwei sichelförmige Projektile. Einer von Sheinux Stromstößen sprengte das erste Geschoss. Das Elektro-Pokémon machte einen rettenden Satz zurück - weit genug, um einem direkten Treffer zu entgehen, doch nicht weit genug, um nicht von der Explosion unmittelbar vor seinen Füßen weggeschleudert zu werden. Noch während die Druckwelle einen Meter hoch und einige Meter weit ihn durch die Luft katapultierte, fand Sheinux sein Gleichgewicht. Nach einer halben Drehung streckte er seine Vorderbeine weit aus. Schotter knirschte und rutschte unter seinen Pfoten hinweg, doch landete er sicher, ohne ins Stolpern zu geraten.
    „Vorsicht!“
    Sheinux wirbelte wieder herum, reckte seinen Kopf in die Höhe und dem fanatischen, sich rapide nähernden Kampfschrei des heranrasenden Angreifers zu. Weniger als zehn Meter Entfernung trennte Sheinux vor den ausgefahrenen Klauen.
    „Donnerwelle!“
    Ein Geflecht spindeldürrer Entladungen stob aus Sheinux’ Fell. Erste Blitze schnalzten dem Angreifer in das Gesicht. Die bläulichen Fänge schlossen dann ihre Arme um den Rest des Leibes, als wären sie dornige Ketten. Unter Höllenqualen stürzte der Silbervogel um Haaresbreite über Sheinux hinweg, schmetterte schier ungebremst auf das Plateau und überschlug sich dort noch mehrere Male. Seine Gliedmaßen zappelten, als ob man ihn unaufhörlich mit spitzen Nadeln quälte, und gingen im absoluten Einklang mit seinem qualerfüllten Krächzen.
    Eagles Fingernägel kratzen über den Boden, als er den Pokéball einsammelte. Er stoppte erst nicht, sondern warf ihn noch im Ansturm auf die zu Fall gebrachte Himmelsfestung.


    Kein Lüftchen regte sich mehr. Der Himmel war beraubt um seinen Herrscher, der Boden still wie auf einem Friedhof. Nur der Pokéball tanzte in wilder Extase über den Boden. Ein Überschlag, dann rollte er wie in einem teuflischen Mahlstrom gefangen in einer kreiselförmigen Bewegung zur Seite, überschlug dich dort, kippte dann wieder zur Seite und ... Der blinkende rote Kern des Pokéballs erlosch, nahm das ursprüngliche reine Weiß an. Es war vollbracht. Die Festung war eingenommen.
    Eagle stand regungslos in einige Meter Distanz. Arme und Beine waren taub, seine Lippen zitterten, der Mund war trocken. Ray trat mit Sheinux in den Armen an seine Seite. Keiner sagte etwas. Eagle tat einen Schritt auf den Pokéball zu, zögerte dann aber plötzlich. Er warf einen Blick über die Schulter: Staralili lag regungslos auf dem Boden.
    Während er mit unergründlichem Gesichtsausdruck erst seine bewusstlose Freundin in die Arme schloss und sich erst dann dem Pokéball näherte, quälte ihn plötzlich zum ersten Mal innerlich die Frage, ob er richtig gehandelt hatte. Denn obwohl er sich doch hätte freuen müssen, hatte dieser Sieg seltsamerweise den Beigeschmack einer Niederlage.

  • So, nachdem ich zweimal unterbrochen wurde, konnte ich den Part jetzt endlich lesen. Und ich muss sagen, er gefällt mir richtig gut.
    Den Titel von Part 5 hättest du passender nicht treffen können. Dadurch knüpfst du super an den vorherigen an.


    Die Flucht und der anschließende Kampf sind dir sehr gut gelungen. Bei der Verolgungsjagd habe ich richtig mitgefiebert und konnte durch deine Beschreibungen des Geschehens und der Verfassung von Eagle und Ray beinahe selbst den Ernst der Lage spüren. Du hast die Szene sehr detailreich beschrieben und konntest trotzdem die rasante Geschwindigkeit und die Panik vor dem Angreifer super herüber bringen, Hut ab. (:


    Den Kampf fand ich von vorne bis hinten mitreisend und überzeugend. Der Größenunterschied der Kontrahenten ist hier natürlich echt krass, aber durch Eagles und Staralilis Entschlossenheit konnten sie sich nicht von ihrem Plan abbringen lassen. Ray hat man wieder einmal angemerkt, dass ihm die Rolle als stummer Beobachter echt nicht liegt. Aber durch sein Eingreifen in höchster Not und die Stärke von Sheinux konnte das drohende Unheil noch abgewendet werden. Eagle und Ray wollen es zwar nicht wahr haben, aber sie sind nunmal einfach ein gutes Team. Besonders gut fand ich deine Beschreibung des Pokéballs und den Kampf in dessen Inneren.
    Der Preis für diesen hart erkämpften Sieg ist allerding sehr hoch, doch ich denke und hoffe, dass Staralili das Ganze halbwegs glimpflich überstanden hat und schnell wieder fit ist.


    Gespannt bin ich jetzt echt auf die folgenden Kapitel: Wie kommt Eagle mit seinem neuen Partner zurecht? Wie reagieren die Professoren auf diesen Ausflug und dieses Ergebnis? Wie entwickelt sich das Verhältnis zwischen Ray und Eagle weiter?
    Fragen über Fragen, und ich freue mich jetzt schon darauf, diese Antworten von dir zu erhalten. (:


    Tipps oder Hinweise habe ich eigentlich nicht wirklich für dich. Der Part ist wieder einmal sehr gut geschrieben, du bringst den Inhalt auf anschauliche Art und Weise gut herüber und deine Story wird dadurch noch ein Stück interessanter. Von meiner Seite aus sind daher alle Daumen nach oben gereckt, mach weiter so. (:


    Viele liebe Grüße


    Sharp

  • Part 6: Legenden und Mythen


    Noch am selben späten Nachmittag stürmte Eagle den Krankenflügel der Schule und vertraute Staralili den kompetenten Händen seiner Lehrerin und Schulärztin an. Wiederholt wich er ihren lästigen Fragen aus und tischte die gewaltigsten Lügenmärchen in seinen jungen Jahren auf. Angefangen mit „Warum befindet sich Staralili in einem solch desolaten Zustand?“ über „Mir wurde berichtet, Sie und Mr. Valentine sind heute nicht zum Unterricht erschienen. Dürfte ich den Grund erfahren?“ bis hin zu „Wie sehen Sie denn eigentlich aus?“. Obwohl er Rays Ratschlag gefolgt war und einen Großteil der belastenden Staubspuren von Gesicht und Kleidern gewaschen hatte, war es wohl nur oberflächlich geschehen. Er wusste nicht wie, aber irgendwie schaffte er es in einem Stück wieder aus dem Krankenflügel hinaus. Staralili war in besten Händen, das stand ganz außer Frage. Auch wenn besagte Hände ihn beinahe zu strangulieren versucht hatten, als er mit Unschuldsmiene gefragt hatte, ob Staralili für einen morgigen Kampf denn auf dem Damm sein werde. Seinen Fang hatte er ihr nicht präsentieren. Dieses Geheimnis wollte er wahren, solange es ihm möglich war - also im Grunde bis zum morgigen Nachmittag.


    Mit zwei Büchern unter dem Arm kehrte Eagle nach einem kurzen Abstecher in der Schulbibliothek in sein Zimmer zurück. Ray, der ebenfalls anwesend war, frönte der ungenierten Völlerei. Eine seiner Betthälften glich einem Süßwarengeschäft, die andere einer Müllhalde. Zwischen etlichen klebrigen und salzigen Plastikschnipseln, Verpackungen und zwei Flaschen Cola döste Sheinux. Am anderen Bettende hatte es sich Geckarbor bequem gemacht. Im krassen Kontrast zu dem restlichen Bett hatte er einen winzigen Stapel Verpackungsstreifen fein säuberlich vor sich aufgetürmt. Seelenruhig lutschte er der Bonbons mit seiner Lieblingsgeschmacksrichtung herbe Limette.
    Eagle vermied es, den ovalen, gelben Schlitzaugen, die ihn beim Türschließen scharf ins Visier nahmen, sonderlich Beachtung zu schenken. Eines der beiden Bücher warf er beinahe achtlos an das Ende seines Bettes. Mit dem anderen in Händen drückte er seinen Hinterkopf ins Kopfkissen und begann zu lesen. „Johtos wundersame Bergwelt“ von Randulf Jakobsson behandelte genau das, was der Titel versprach. 327 Seiten maß das Lexikon, zwei Drittel davon nur belanglose, pedantische Schwärmereien des Autors über Minerale, Felsformationen und Vermessungstechniken. Eagle übersprang Jakobssons endlose Ausführungen zur Geologie und zeigte auch den Kapiteln über die Flora nur die kalte Schulter. Erst die Abhandlungen über die Fauna von Johtos Bergwelt beschworen sein ungeteiltes Interesse herauf. Die zum Teil bebilderten Seiten zählten insbesondere Pokémon des Typs Boden und Gestein auf. Bis auf wenige Ausnahmen konnte Eagle kaum ein Exemplar in seinem persönlichen Wissenskatalog wiedererkennen. Da war zum Beispiel Sandan, ein Boden-Pokémon, das sie nicht nur kürzlich im Unterricht behandelt hatten, sondern heute sogar in freier Wildbahn gesehen hatten. Auch erkannte er auf der nächsten Seite Phanpy wieder, Fabien Dinas’ Partner-Pokémon. Eagles Züge verfinsterten sich, als er weiterblätterte und dort sein eigenes kleines Dilemma fand: Skorgla. Rasch schob er seine düsteren Gedanken beiseite, so wie er die Seite im Buch umdrehte. Als endlich seine Suche von Erfolg gekrönt war, konnte man die restlichen Seiten im Buch an zwei Händen abzählen. Stumm formten Eagles Lippen den Namen des Pokémons: Panzaeron. Sein Zeigefinger streichelte über das Schwarz-Weiß-Portrait des in Szene gesetzten Silbervogels, darunter Worte wie „Territoriale Veranlagung“ und „Gemeingefährlich“. Für Eagle nichts Neues. Außer den Namen. Panzaeron.
    „Wie geht’s Staralili?“
    Unnötig laut klappte Eagle das Buch wieder zu und warf es ans Bettende. Dafür sammelte er das andere wieder ein. „Ist über dem Berg.“ Bereits der Einband war mehr als vielversprechend. Drei Vogel-Pokémon waren darauf abgebildet. Eines davon erkannte er sofort wieder. Es war nicht das erste Mal, dass er dieses Buch in Händen hielt. Doch konnte er sich nicht mehr daran erinnern, warum er es nur so oberflächlich gelesen hatte.
    „Wird sie kämpfen können?“, hakte Ray nach.
    „Nein.“
    „Was, nein?“
    „Nein halt.“
    „Und weiter?“
    „ Jetzt nerv nicht!“
    „Wer hat dir jetzt wieder ans Bein gepisst? Was hast du da, zeig mal und mach Platz.“
    „Alter, geht’s noch?!“
    Mit einem empörten Gesichtsausdruck und provozierend geballter Faust erwerte sich Eagle gegen den Störenfried auf seiner Bettkante. Erfolglos.
    „Hey, das kenne ich“, meinte Ray und deutete auf das Buch.
    „Gar nichts kennst du! Und schon gar kein Buch“, höhnte Eagle.
    „Doch warte ... mir fällt’s ein, ganz sicher.“ Rays in die Länge gezogenes, teilweise sogar verärgertes „Mhm“ ließ erahnen, wie hartnäckig er sein Gedächtnis nach der Antwort durchforstete. Er biss sich auf die Lippe, während er zeitgleich seine Hand gegen die Stirn presste und über seine rechte Gesichtshälfte strich, bis er sein Kinn erreichte. „Ich komme drauf ... das war ...“ Triumphierend schnipste er mit den Fingern. „Ja, genau! Als ich hier eingezogen bin.“ Ray nickte bekräftigend und deutete auf den Einband. „Genau das hast du damals gelesen, ganz sicher.“
    Auch Eagle fiel es jetzt wieder ein. „Ja, genau“, schimpfte er, „oder sagen wir: Ich wollte es lesen. Nur hast du geschwätziger Spaten mir einen Strich durch die Rechnung gemacht und dann hab ich es aus Frust irgendwann wieder zurückgebracht, weil ich ja doch keine ruhige Minute mehr hatte!“
    „Ich fühle mich geehrt, dass du das noch so gut weißt“, feixte Ray. „Also, was ist mit dem ... Oh, warte! Genau!“
    „Genau, du Schnellchecker“, sagte Eagle und tippte unnötigerweise noch mit dem Finger auf den Gewittervogel. „Das ist er. Und jetzt Klappe!“
    Schon auf dem Vorwort machten sich deutliche Gebrauchs- und Alterserscheinungen bemerkbar: Ein Eselsohr auf der ersten Seite, vergilbtes, teilweise sogar sprödes Papier, das nur durch eine weitere sorgsame Nutzung noch einige Jahre überdauern würde. Eagle übersprang den Prolog und suchte das Inhaltsverzeichnis auf der nächsten Seite nach Anhaltspunkten ab. Auch Ray überflog mit großen Augen die Kartei. Es war das erste Buch, in das Ray sogar freiwillig einen Blick geworfen hätte, und das nur durch das bloße Aufzählen des Inhalts. „Das Zeit-Ei“ hieß es da, „Der Meerestempel“, „Der Prinz der Wüste“, „Die Legende von Alto Mare“, „Der Patron der Raubkatzen“, „Das Schwert des Tieflandes“, „Die Legende vom dunklen Propheten und der Zeitkrise“ ... Wenn der Autor mit seinen Erläuterungen so überzeugte wie mit dem Inhaltsverzeichnis, rechnete Ray mit einer sehr langen Nacht. Den Schlaf konnte er schließlich im Unterricht nachholen.
    Eagle klappte derweil ein Kapitel mit dem ebenso ungeheuer interessanten Titel „Die legendären Vögel und die Bestie des Meeres“ auf. Die Blicke der Jungen kreuzten sich kurz, dann begann jeder für sich zu lesen.


    „Arktos, Koloss des Eises, der Erste im Bunde,
    Zapdos, Titan der Blitze, als Zweiter im Bunde,
    Lavados, Gigant des Feuers, als Dritter im Bunde.
    Bewahret ihre Harmonie,
    sollen sie nicht zerstören die Welt,
    in der zur Schlacht man sie treibt.
    Erhebet sich auch der große Wächter des Wassers,
    der manch Kampf zu beenden weiß,
    so wird auch sein Lied allein scheitern
    und nur Asche ist, was bleibt.
    Alle drei, oh Auserwählter, in deine Obhut sollst nehmen,
    denn ihre Schätze zusammen,
    werden die Bestie des Meeres zähmen.“


    Mit zum gleichen Teil belustigten wie auch angewiderten Gesichtsausdruck lehnte sich Eagle zurück und distanzierte sich von dem Buch in seinen Händen. „Geisteskrankes Gefasel.“
    Ray war anderer Meinung. „Ist auch mir zu hoch, aber geil ist es trotzdem.“
    „Geil?“ Eagle lachte belustigt auf. „Wer auch immer so einen Bockmist verzapft hat, muss doch Drogen genommen haben.“
    Ray überhörte es. Eagle konnte hadern, so viel er wollte: Selbst für seine Verhältnisse fand es Ray dennoch unglaublich interessant. Unten hatte der Autor Anmerkungen und Interpretationen unterschiedlicher Quellen, insbesondere von Wissenschaftlern, Professoren, aber auch von Philosophen, verfasst. Und auch, wenn er bei der Anmerkung eines renommierten Pokémon-Professors über ein Vogel-Pokémon, das über das Meer surft - was auch immer das bedeutete -, in Gedanken den Witz formte „Hält sich wohl für einen Wellensittich“, geriet er richtig ins Schwärmen. So mussten sich also die Kinder fühlen, die in Filmen eine vermoderte Piratenkarte fanden und auf Schatzsuche gingen. Aber mehr gab es nicht zu dem Thema, wie Ray am Ende dann doch enttäuscht feststellen musste. Nichts darüber, warum ihnen Zapdos erschienen war. Nichts darüber, warum Zapdos überhaupt auf der Insel war. Hatte er wirklich geglaubt, selbst Teil einer Legende zu sein? Als sich Ray dabei ertappte, tatsächlich den Gedanken kurzzeitig gehegt zu haben, konnte er nicht anders als zu grinsen.
    „Nimm’s ruhig. Ich hab für heute echt genug.“ Eagle drückte Ray das Buch in die Hand.
    „Zu liebenswürdig“, grinste Ray und nahm es entgegen. Statt aber sich - hungrig wie er war - gleich darauf zu stürzen, legte er es auf seinen Nachttisch ab und klappte stattdessen sein Laptop auf.
    Eagle machte ein abfälliges Geräusch. „Dachte ich es mir doch. Selbst du bist für den kranken Scheiß noch zu schlau. Du kannst es aber trotzdem zurückbringen. Oder verscherbeln. Mir egal.“
    „Ich mach nichts davon. Jedenfalls noch nicht. Ich hab nämlich gesagt bekommen, die hätten die halbe Bibliothek in den letzten Sommerferien eingescannt und im Schularchiv abgespeichert. Vielleicht ist das dabei. Ich hab meine Infos lieber auf ’nem Display. Bücher erinnern mich immer an die Gähnfabrik.“


    Mit diesen Worten begann für Ray nicht nur seine längste, sondern auch seine bildungsreichste Nacht. Als Eagle auf die Uhr schaute und Ray gewaltsam den Stecker zog, war es bereits weit nach Mitternacht. Und während Ray im Traum legendären Pokémon hinterherjagte, quälte sich Eagle durch eine weitere fast schlaflose Nacht. Morgen war es soweit.

  • Und da ist ja auch schon der nächste Part. (:


    Diesmal ein wenig kürzer, aber genau so gut wie jeder Andere. Der Einstieg im Krankenflügel ist schon sehr gut. Ich kann mir Schwester Joy bildlich vorstellen, wie sie sich vor Malcolm aufbaut, ihn scharf anblickt und mit ihren Fragen durchlöchert.
    Staralili hat die Auseinandersetzung mit nicht all zu schweren Verletzungen überstanden, das finde ich super. Was wäre wohl passiert, wenn es sie richtig arg erwischt hätte? Daran denke ich mal lieber nicht.


    Die Situation auf Ray's Bett ist mir nicht völlig unbekannt, daher hatte ich bei dieser Zeile auch sofort ein passendes Bild vor Augen. :D
    So nun zu meinem Lieblingsabschnitt in diesem Part: der wunderbar lustig/sarkastische Dialog von Eagle und Ray. In den letzten Parts ist sehr viel passiert, es gab viel Action und spannende Entwicklungen. Im Gegensatz dazu steht jetzt diese eigentlich ruhige Szenerie im Zimmer der beiden Teenager. Doch durch die impulsive Art der beiden entwickelt sich daraus wieder ein herrlicher Schlagabtausch. Die charakterlichen Züge kommen wieder super zur Geltung und genau dadurch entsteht eines dieser Gespräche, die ich in deiner Story so liebe: Ein distanzierter Eagle, der versucht sich gegen den hibbeligen Ray zu wehren; Ray, der immer gut gelaunt keine Gelegenheit auslässt, seinem Mitbewohner den letzten Nerv zu rauben; ein resignierender Eagle, der sich ein weiteres Mal nicht im Wortgefecht gegen Ray durchsetzen kann.


    Es mangelt deinem Part meiner Meinung nach an Nichts. Der Stil ist nach wie vor sehr gut, es lässt sich prima lesen und die Handlung fügt sich lückenlos in die bisherigen Abschnitte ein. Fehler in Grammatik und Rechtschreibung sind mir auf den ersten Blick auch nicht wirklich aufgefallen.


    Da der Part so schnell kam, bin ich als Leser natürlich sehr zufrieden. Die Vorfreude auf den nächsten ist dennoch bereits wieder groß. (:


    Bis dahin, liebe Grüße


    Sharp

  • Part 7: Früchte einer verdorbenen Saat



    Der späte Nachmittag war schwanger von gärender Feindseligkeit; ein schriller Kontrast zu der warmen Sonne, die Celebi-Island in goldenes Licht tauchte. Schüler aller Häuser und aller Jahrgangsstufen hatten die pathetische Mundpropaganda vernommen und sich erwartungsvoll am Austragungsort vor der Schule versammelt. Anfeuerungsrufe und anfängliches Grölen, ein Blutrausch der Gefühle, besaßen jedoch mittlerweile nur noch das müde Summen eines ausgedünnten Bienenschwarms. Man hatte sich von den Gerüchten eines spektakulären Kampfes zwischen den Erzrivalen weit mehr erhofft als das Austauschen von nicht jugendfreien Hasstiraden, ganz zu Schweigen von der einschläfernden Darbietung zweier Pokémon. Eines wollte offenbar nicht kämpfen, und das andere konnte es anscheinend erst gar nicht. Nur verbal schenkte man sich nichts. Zu mehr hatte es in dieser Auseinandersetzung noch nicht gereicht.
    Rico machte einen Schritt auf Voltobal zu und grollte: „Jetzt gib dir doch mal Mühe!“
    „Deine komische Billardkugel kriegt doch nicht mal eine Glühbirne warm. Warum machst du mit ihm nicht einen Saftladen auf oder so?“ Eagle war von Kopf bis Fuß versteift, die hängenden Arme am Ende zu Fäusten geballt. Längst hatte er es aufgegeben, den Lässigen zu mimen. Dafür hatte Skorgla mit seiner feigen Einstellung gesorgt. Auch das langgezogene „Uhh!“, die Reaktion der Zuschauer nach seinem stumpfen Seitenhieb, war nicht sonderlich inspirierend.
    Als Antwort formte Voltobal eine vor Energie knisternde Sphäre. Einige Sekunden lang hüllte sie ihn gänzlich in bläulich glühende Flammen ein, bevor er sein regungsloses Ziel mit einer schieren Flutwelle glühenden Plasmas zu überschwemmen versuchte. Instinktiv hob Skorgla die klobigen Scherenhände in die Höhe, an denen die Woge mit einem hässlichen Knistern brandete.
    „Sag mal, checkst du das nicht?“, rief eine der zuschauenden Suicunes vom zweiten Jahrgang. „Skorgla ist vom Typ Boden. Boden! Elektro-Angriffe wirken da nicht. Genauso gut könntest du Wattebällchen werfen.“ Einige der Zuschauer lachten oder grölten; manche wegen des Kommentars, andere lachten sogar über Ricos Unkenntnis. Andere wiederum nutzten es als Sprungbrett für ihren eigenen verbalen Beitrag.
    „Blutige Anfänger halt!“
    „Enteis halt!“
    „Opfer!“
    „Ey!“
    „Was ist dein Problem?!“
    „Wer hat dich gefragt?!“
    „Dumm?“
    „Dann kommt doch her!“
    „Komm du doch her!“
    Auf den Boden aufprallende Pokébälle und die Pokémon, die sich aus ihnen befreiten, übertönten das Pfeifkonzert. Was eben erst als ein eher harmloser Schwelbrand begonnen hatte, entwickelte sich rasch zu einem ausgewachsenen Hexenkessel. Vier weitere Kämpfe flammten auf, einer hitziger als der nächste.
    „Und während die in Villarriba schon feiern, dürfen wir in Villabajo noch schrubben ...“ Eagle rammte das spitze Ende seines Fußes gereizt in den Boden. Wütender als über Skorgla war er nur über sich selbst. Er hätte es doch wissen müssen. Es besser wissen müssen. Wissen, dass Skorgla partout nicht kämpfen wollte. Sein Blick schweifte zu der Peripherie, wo Schüler aller Jahrgangsstufen den Kämpfenden zujubelten, sie anfeuerten, mit ihnen fieberten. Es machte ihn nur noch wütender. Seine Chance, gewaltigen Eindruck zu schinden und sich von der erfahrenen Schmach, die er bei dem Turnierfinale erfahren hatte, reinzuwaschen, hatte er vertan. Jetzt konnte er nur noch retten, was noch zu retten war. Sein letztes bisschen Ehre.
    Seine Gedanken spielten Tennis. Natürlich war es ein Leichtes, Panzaeron ohne Wenn und Aber auf das Kampffeld zu schicken; eine tiefe Kluft aber, die allem widerspräche, was er sich im Stillen ausgedacht hatte. So konnte und wollte er einfach nicht die Bombe platzen lassen. Es fehlte das entscheidende Überraschungsmoment. Panzaerons Auftritt sollte etwas Besonderes sein. Die steile Kehrtwende, wenn er erst mit dem Rücken zur Wand stünde, mit der er dann alle Zweifler mit einem Schlag auf seine Seite ziehen wollte. Die Trumpfkarte.
    „Greifst du jetzt vielleicht endlich mal an? Was kannst du eigentlich?“
    Pokémon und Trainer tauschten Blicke. Dem drakonischen Grimmen des Menschen hatte der Flugskorpion jedoch nichts entgegenzusetzen. Wie Butter in der prallen Sonne ging er unter ihm ein. An dem Punkt angelangt, wo sein Ego bequem in einem Fingerhut hätte Platz finden können, schnellte er überraschenderweise auf Eagle zu, überrumpelte ihn regelrecht. Den Kopf hängend und mit Trauer in den Augen umklammerte er zittrig die Hüfte der Person vor ihm; einer Person, die ihn eben noch ausgeschimpft hatte. Zögernd hob Skorgla den Kopf. Tränen blitzten in den Augen. Sie sahen einander an, blickten einander tief in die Seele. Skorgla, nichts sehnlicher wünschend, als endlich akzeptiert zu werden, für das, was er war. Eagle, so voller Berührungsängste und der körperlichen Nähe abweisend, verbissen strebend nach Erfolg und Anerkennung. Unangenehme Sekunden waren es, die sich wie Tage erstreckten. Und keiner wusste genau, was der andere dachte. Trügerische Unwissenheit. Doch dann, nach schier endlosen Jahren der Folter, begann Eagle mit gehemmtem Gesichtsausdruck Skorglas rechte Schulter zu tätscheln; Hände, die er eben noch wie in einem mechanischen Schutzreflex in die Höhe gerichtet hatte, als ob er eben noch durch eine lehmige Brühe stinkenden Unrats gewatet wäre.
    Insbesondere Mädchen, die noch nicht ganz den Verlockungen der angrenzenden Kämpfe verfallen waren, antworteten auf diese Augen schmeichelnde Geste mit einem langen herzerwärmenden „Aww!“. Der Entei am anderen Ende des Austragungsortes dagegen musterte das Geschehen mit gehässigem Blick und schmähte den Raikou mit Verachtung.
    „Rührend, Granger, rührend. Das geht mir so nahe, dass ich kotzen könnte.“
    „Hör zu, ich weiß, dir das geht das hier gegen den Strich“, übertönte Eagle die ihm entgegengebrachte Ächtung und schaute seinem Pokémon in die wässrigen Augen, „aber ich stecke jetzt in dieser Scheiße drin. Wir stecken hier jetzt drin. Beide. Und keiner kommt hier ohne den anderen raus, klar?“ Eagle wusste nicht, inwieweit oder ob seine Worte Skorgla erreichten. Er hielt einen Moment inne, beseelt von der Hoffnung, dass, wo Worte vielleicht versagten oder zu schwach waren, ehrliche Gefühle dagegen auf fruchtbaren Boden stießen. Obwohl ihm selbst solche Gefühle völlig fremd waren, eine derartige Lage ihm selbst völlig fremd war, brachte er dennoch das gleiche Verständnis auf, mit dem er schon Sonja unter seine Fittiche genommen hatte. Denn waren sie so unterschiedlich? Sonja? Skorgla? „Rico wird uns ums Verrecken nicht gehen lassen. Nicht ehe wir fertig sind mit ihm ... oder er mit uns. Glaubst du, du kannst über deinen Schatten springen?“
    Träge rieselten die Sekunden in der Sanduhr der Ewigkeit hinab, bis Skorgla endlich seine Entscheidung fällte - zu Gunsten seines Trainers. Er wandte sich der Herausforderung zu, stellte sich ihr, wenn auch zaghaft. Als dann Eagles erleichterter Angriffsbefehl ertönte, waren die inneren Dämonen vergessen; dieser besondere Moment, von dem Skorgla wusste, dass er jetzt endlich akzeptiert wurde.


    Die kurzen, klauenbewehrten Füße stießen sich kraftvoll vom harten Untergrund ab. Am höchsten Punkt dann der akrobatische Überschlag zur Seite. Skorgla spannte die Arme. Seine Gleitschwingen fingen den schier einzigen Windhauch im Unkreis mehrerer Kilometer. Auf einer Woge des Glücks raste er steil hinab. Keinen halben Meter vom Boden entfernt zog er seinen Bug steil nach oben. Binnen Sekunden katapultierte er auf gut und gern fünfzig Meter Fuß in die Höhe. Auf Eagles Armen und Beinen spross eine Gänsehaut, auf seinem Gesicht eine breite Grimasse. Er hatte sich in seinem ersten Eindruck nicht blenden lassen und schon gar nicht getäuscht: Skorglas verstecktes Potenzial schien grenzenlos.
    „Wie kann so etwas fliegen? Ach, scheiß drauf! Schieß ihn ab!“
    Ricos Wut ging unmittelbar auf das Pokémon zu seiner Seite über. Auf den cholerischen Angriffsbefehl des Enteis hin durchsiebten Blitzentladungen den Himmel wie Flakfeuer. Die wenigen Einschläge, die den Himmelsstürmer streiften, waren nichts weiter als geringfügige Turbulenzen. Auch in der Luft war Skorgla dank seiner Typen-Kombination Boden/Flug vor Elektro-Angriffen gefeit.
    „Ey, so langsam dreh ich ab!“ Rico schien kurz vor der Explosion zu sein, als er in die ratlosen Gesichter seiner Freunde schaute. Verzweifelt schweifte sein Blick sogar zu der Stelle, von wo die Suicune ihn vorher von der Seite angemacht hatte, doch die Schülerin war mittlerweile in ihren eigenen Pokémon-Kampf verwickelt und hatte gerade selbst mit Blitzen zu kämpfen.
    „Jetzt sind wir dran! Giftstachel-Salve!“
    Im beinahe senkrechten Sturzflug schoss Skorgla dem Erdboden entgegen. Auf halber Strecke kehrte er das Ruder um und stemmte sich steil gegen die Schwerkraft. Im selben Moment peitschte seine Dornenrute von links nach rechts. Der Knall aus der Schwanzspitze gebar einen Schauer purpurrot glühender Projektile, die - begünstigt durch den vorherigen Sturzflug - mit unverminderter Geschwindigkeit dem Erdboden zurasten. Lang wie Stricknadeln waren sie und mindestens zweimal so breit. Ihr unmittelbares Umfeld war wie ein Brandherd: Dampf entstieg den Geschossen, die Luft zwischen ihnen kochte.
    Als Voltobal sich beinahe zu einer gummiartigen Masse zusammenpresste, wuchs er so in die Breite, dass er mehr Fläche als Höhe besaß. Am tiefsten Punkt befreite er sich aus der Haltung und dehnte seinen Körper explosionsartig zu seiner ursprünglichen Form zurück, was einen vergleichbaren Effekt wie eine Sprungfeder hatte. Seine Schubkraft war so ungeheuer wie der rettende Satz, mit dem er sich in Sicherheit brachte. Augenblicke später durchschlug auch schon das Sperrfeuer die Erdoberfläche. Die Geschosse splitterten wie Glas, nachdem sie zwei Zentimeter massiven Untergrunds durchbohrt hatte. Eine bestialisch nach brennendem Benzin riechende Toxinlache blieb zurück. Gras ging bei Kontakt mit der Flüssigkeit jäh in Flammen auf und verbrannte zur Unkenntlichkeit.
    Weiteres Flakfeuer nährte den Himmel. Auf Anordnung seines Trainers hatte Voltobal seine Taktik geändert. Welle für Welle sternenförmiger Geschosse zwangen Skorgla in luftigere Höhen. Aus sicherer Distanz erwiderte er den Angriff. Zu zahlreich aber war das Kreuzfeuer, sodass die eigene Attacke hoffnungslos im Kugelhagel zerschellte und zu einem unkontrollierten purpurroten Giftregen wurde. Eagle haderte mit seinen Gedanken: Den Angriff fortsetzen, was nicht nur eine Gefährdung für ihn war, sondern auch für alle Zuschauer, oder ein Strategiewechsel. Rasch, wenn auch widerwillig befand er sich dann doch seiner Verantwortung. Es musste auch anders gehen.
    „Runter und Kreideschrei!“
    Nach draufgängerischem Slalom den heranstürmenden Geschossen entgegen hatte Skorgla seinen Abstand zu Voltobal auf kaum mehr als zehn Meter reduziert. Die Angriffswellen des Elektro-Pokémons am Boden wurden schneller, heftiger. An niedrigsten Punkt - Skorgla pendelte sich gerade bei acht Meter Höhenunterschied ein - dann der Schreckensmoment: ein Querschläger. Kontrollverlust. Skorgla - mehr durch die Kollision mit dem Geschoss geschockt als verletzt - plötzlich im unkontrollierten Sturzflug. Zuschauer stöhnten auf, allen voran Eagle, dem in Sekundenschnelle die Kreidenbleiche das Gesicht übertünchte. Auf der anderen Seite: Jubel bei der Entei-Fraktion.
    „Hochziehen! Hochziehen!“
    Skorgla riss die Augen auf, schnupperte den kalten Wind der nahenden Niederlage, der ihm unheilvoll um die Ohren peitschte. Eine Rolle nach rechts, er spreizte beide Arme. Die Asche verbrannter Pflanzen wirbelte auf, nicht wenige der Zuschauer zogen instinktiv die Köpfe ein, als Skorgla kaum zwei Meter über dem Erdboden hinwegraste. Sein ungebrochener Wille war sein Auftrieb, der ihn in sichere Distanz brachte. Eagle schöpfte neuen Mut, doch Rico hatte Blut geleckt. Welle für Welle Sternenschauer waren Skorgla dicht auf den Fersen. Der Flugskorpion wechselte in Schräglage und drehte nach rechts ab, kurz bevor das unheilvolle Surren in seinen Ohren ins Unerträgliche wuchs. Das Ausweichmanöver war eine langgezogene Kurve, die Skorgla wieder in gefährliche Bodennähe brachte. Schon wollte er wieder nach oben schnellen - ein weiterer Schwall Geschosse zwangen ihn erneut zum Abtauchen. Der Boden rückte näher.
    „Komm schon, hoch!“
    „Hau ihn runter! Tackle ihn vom Himmel, wenn’s sein muss! Mach schon!“
    Vielleicht war es als eine verdrehte Phantasie im Augenblick des greifbaren Sieges gemeint, nichts weiter als ein Witz, aber als Voltobal auf der Stelle wie ein Autoreifen rotieren zu begann, war niemandem zum Lachen zumute. Die massive Reibung ließ Rauch aufsteigen, Dreck und Gesteinssplitter verwandelten sich in scharfe Projektile. Zu einer lebendigen Kanonenkugel - nicht weniger schnell und einige Male größer - feuerte sich Voltobal selbst dem niedrig fliegenden Flugskorpion entgegen. Die Kollision war unvermeidbar. Es gab nichts mehr, was Trainer am Boden noch ausrichten konnten; nichts außer zu bangen.
    Voltobal raste ungebremst in die in einem Schutzreflex ausgezogenen scherenbewehrten Arme und Klauenfüße, Skorgla somit sprichwörtlich in die offenen Arme - eine schmerzhafte Umarmung. Der mit weitaus mehr Masse, Geschwindigkeit und Größe gesegnete Flugskorpion hatte seinen Gegner gefangen wie einen Ball. Ungläubiges Staunen machte die Runde aus, gleich aber überstimmt aber von dem frenetischen Jubel. Fänger und Gefangener verloren ihr letztes Bisschen Höhe. Voltobal dämpfte mit seinem weichen Körperbau Skorglas Fall ab. Kaum unten rangelten beide Pokémon miteinander. Mit seinen panischen Bewegungen war Skorgla mehr darauf bedacht, das Pokémon zwischen seinen Klauen endlich abzuschütteln, als ihm zu schaden. Seine Versuche wurden umso hektischer, als Voltobal hell zu leuchten begann.
    „Finale, los!“, brüllte Rico.
    „Gib ihm seine Medizin!“, befahl Eagle.
    Skorgla rammte das Ende seines dornigen Schweifs in die Voltobals Taille und injizierte ihm eine Dosis seines lähmenden Giftes. Die bösartigen Augen des Elektro-Pokémons weiteten sich in Furcht, dann in Schmerz, kurz darauf rollten sie in den Augenhöhlen nach oben. Voltobals Glühen verschwand, das Pokémon erschlaffte.
    Die Zuschauer, die den Kampf verfolgt hatten, explodierten in tosendem Beifall. Selbst wer gerade seinen ganz eigenen Kampf am Ausfechten war, konnte nicht anders, als für einen Moment den Jubelschreien zu folgen, die ihre Blicke zu dem regungslos daliegenden Elektro-Pokémon führten. Zu den beiden Trainern, einer feiernd, der andere lautstark schimpfend wie ein Kesselflicker. Aber auch zu dem wenig enthusiastischen Gewinner, der bereits mit gesenktem Haupt, eingekniffenem Schwanz und schnellen, watschelnden Schritten auf halbem Weg zu seinem Trainer war. Der Mumm hatte Skorgla verlassen. Es war ihm alles zu viel. Die Geräuschkulisse. Die vielen erdrückenden Blicke, die auf ihm lasteten. Die Aufmerksamkeit. Er wollte nur noch hier weg. Skorgla kam schweißgebadet bei seinem Trainer an. Ein winziges, gezwungenes Lächeln - mehr brachte der Sieger des Kampfes nicht zustande, auch dann nicht, als Eagle ihn mit einem Berg Lobeshymnen überschütten wollte. Auf der anderen Seite formierte Rico sich mit schäumendem Blick neu.
    Glumandas Schwanzspitze loderte heiß wie hell. Dieser Kampf war noch lange nicht vorbei.


    „Glück, Granger, Glück. Schaufel dir dein Grab, solange du noch kannst. Jetzt ist nämlich Ende der Fahnenstange. Und von deinem miesen Glü...“
    „Ja, ja, schenk dir die alte Leier. Ich kann’s echt nicht mehr hören.“ Eagle rief Skorgla zurück. Er würdigte den Pokéball eines dankbaren Nickens, dann wandte er sich Rico zu. „Du bist immer nur am Rumflennen, weißt du das? Die Welt ist so ungerecht. Alle sind sie gegen dich. Alle haben Glück, nur du nie. Ich hab ’ne Hackfresse. Blablabla. Zum Kotzen. Jedem geht’s tierisch auf den Sack, nur darum haben die Leute kein Bock auf dich. Nur checkst du das nicht. Du checkst nie was, das ist dein Problem.“
    „Du laberst“, entgegnete Rico knapp.
    „Ja, vielleicht labere ich nur. Und vielleicht hab ich auch nur Scheißglück. Was weiß ich. Aber wenn es nicht so ist ... wenn es wirklich kein Glück ist, sondern Können ...“ Eagles eben aufgenommene diabolische Fratze wuchs in die Breite. „Dann darfst du in der ersten Reihe dabei sein, wenn wir das ein für alle Mal klären. Hier und jetzt.“
    So wie er seine Worte ausgesprochen hatte, schleuderte Eagle seinen Pokéball auf das Kampffeld. Die Zeit war reif. Seine Geheimwaffe. Seine Trumpfkarte. Seine Eintrittkarte zu Ruhm und Ehre. Der Moment, auf den er so verbissen hingearbeitet hatte. Panzaeron schoss aus dem Pokéball hervor, dabei schmetterte er seine gefürchtete Kampfarie, die ihn und Trainer an die Spitze der Charts katapultieren sollte. Ein einstimmiges Raunen zog sich durch die in Ehrfurcht verblasste Menge. Die übrige Geräuschkulisse splitterte wie gefrorenes Glas. Kämpfe, Auseinandersetzungen, Wortgefechte - nichts schien mehr wichtiger als das stählerne Ungetüm, das die niederen Erdenbewohner mit seiner Überlegenheit herabwürdigte. Eagle wartete noch, bevor er mit einer Ansage den Kampf eröffnete. Er konnte nicht anders, als sich an Panzaerons Anblick sattsehen. Den Moment genießen, und die Aufmerksamkeit, in der er badete.
    Panzaeron flog eine lange Schleife entgegen der strahlenden Nachmittagssonne. Er spähte hinab, wo eine Ansammlung von Leuten zu ihm aufsah. Menschen. Pokémon. Ein großes Gebäude dahinter. Er stieß ein weiteres Brüllen aus voller Kehle hervor.
    Einige der Zuschauer deuteten noch auf das Pokémon mit den plötzlich hell aufleuchtenden Flügeln am Himmel, ein beeindruckter Ausdruck auf ihren Gesichtern. Manches Staunen dagegen ging in ein irritiertes Flüstern über, andere packten bereits ihren Nachbarn und wichen verängstigt zurück. Dann machte sich die nackte Panik breit. Schreie. Angst und Schrecken erfüllte die Luft. Menschen stoben in Entsetzen auseinander, rempelten einander an oder rannten einander fast über den Haufen. Panzaerons rotierende Windschnittsicheln visierten die fliehende Menge an. Eagle fasste sich mit angstverzerrtem Gesichtsausdruck an die Stirn, riss dann Mund weit auf, doch selbst wenn es kein erstickender Ton gewesen wäre, der ihm wie zähflüssiges Terpentin von den Lippen tropfte, übertönten die Schreie seiner Mitschüler selbst die eigenen Gedanken. Aus dem Nichts formte sich eine blaue Lichtkuppel über der Einschlagsstelle. Nur einen Wimpernschlag später zerschellten Panzaerons Projektile an der Energiebarriere. Menschen kauerten darin. Eine Gruppe verstörter Mädchen im geschützten Inneren prallte auf ihrer Flucht dagegen wie gegen Fels und fanden sich Augenblicke später auf dem Boden wieder. Zwei Pokémon, eben noch aufs Blut verfeindet, suchten in dem Wirrwarr ihre Trainer. Inmitten all dem stand Meditalis, Sarahs Partnerin. Mit nach oben ausgebreiteten Händen hielt sie die mystische Energie aufrecht, die den Schutzschild speiste, der das Schlimmste noch einmal verhindert hatte.
    Vereint im Bestreben, den gemeinsamen Feind zu Fall zu bringen, eröffneten gerade noch rivalisierte Pokémon den geschlossenen Angriff auf die fliegende Festung. Stromstöße. Flammenwürfe. Wasserfontänen. Mit wilder Entschlossenheit stemmte Panzaeron sich gegen die Elemente. Im steilen Sturzflug feuerte er zwei weitere Windsicheln ab. Dicht aufeinanderfolgend waren die Explosionen, die beide Verteidiger verschluckten und in einem Gemisch aus dichtem Qualm und Steinsplitter untergehen ließ. Sekunden darauf bohrte sich Panzaeron durch den Rauchkegel und setzte seinen Vernichtungsfeldzug dicht über dem Boden fort, wo seine ausgebreiteten Stahlschwingen noch im Vorbeiflug einen irregeführten Verteidiger umnieteten und der unerbittliche Luftstrom ein nächst davon stehendes Feuer-Pokémon regelrecht wegfegte.
    Mit der Wirkung eines Weckrufs packte jemand Eagles Schulter so fest und so tief, dass er Fingernägel auf der Haut kratzen spürte.
    „Geht’s noch?! Tickst du nicht mehr ganz richtig, oder was?!“
    Noch nie hatte Eagle Sarah so hysterisch erlebt. Sie war knallrot im Gesicht. Er wollte sich losreisen, doch fehlte ihm die Kraft, nachdem er sich erfolglos die Kehle mit Panzaerons Namen heißer geschrien hatte. Im selben Moment tauchten auch Andy und Ray auf. Dann auch Sonja, Skip sowie einige weitere Schüler der ersten Jahrgangsstufe.
    „Hast du Panzaeron nicht unter Kontrolle?“, übertönte Andy das wilde Wirrwarr an Stimmen.
    „Woher hast du überh...“
    „Ist doch Wurscht!“, schnitt Sarah dem Suicune Marco Haywood ins Wort. „Pfeif Panzaeron halt zurück! Dalli!“
    Eagle fluchte. Warum war ihm das nicht eingefallen? Panzaeron war wieder hoch oben am Himmel. Hatte der Pokéball überhaupt eine derart große Reichweite? Zwischen seinen zusammengepressten Kiefern - ein unterdrückter Fluch. Es musste einfach klappen. So gut er konnte visierte Eagle Panzaeron an. Sein weit ausgestreckter Arm folgte dem Ziel wie das Korn eines Gewehrs einer Tontaube. Aus dem Kern des Balles suchte sich der purpurrote Strahl seinen Weg zum Himmel. Er war schnell, überholte sogar Panzaeron, verfehlte das eigentlich Ziel aber um mindestens zehn Meter.
    „Nicht erst Weihnachten!“, schnauzte Linsey Mac Cullen.
    „Halt bloß die Fresse!“, brüllte Eagle zurück und besprenkelte Linsey nicht gerade mit wenig Speichel. Der nächste Versuch war besser - nur wenige Meter daneben. Eagle schöpfte bereits neuen Mut, doch bereits der nächste Versuch war wieder um Welten schlimmer als der erste. Es war zum Mäusemelken. Doch dann: ein Fangstrahl wie aus einem Bilderbuch. Er peilte direkt die linke Hälfte des in der Sonne schimmernden Oberkörpers an. Panzaeron neigte den Kopf etwas zur Seite, schaute dem nahenden Ende seines unredlichen Kreuzzuges direkt ins Gesicht. Einer seiner Stahlflügel schlug zur Seite aus - eine Geste, die nicht nur so ausschaute, als ob man einem mit dem Handrücken ins Gesicht schlug, sondern sich ebenso auch anhörte. Der Strahl prallte an dieser Bewegung ab, verebbte im Nichts. Wer nicht verzweifelt aufstöhnte, der fluchte. Nur Eagle brachte mittlerweile keinen Ton mehr über die Lippen. Einfach alles überforderte ihn. Seit wann widersetzten sich Pokémon den Befehlen ihrer Trainer? Wieso konnten sie den Fangstrahl abwehren? Er hatte Panzaeron doch gefangen! Das ergab keinen Sinn.
    Knalllaute heftig genug, um Explosionen zu imitieren, erschütterten das Geschehen. Selbst der Erdboden schien in Furcht zu erbeben. Immer und immer wieder war das Klirren von Glas zu hören. Splitter und Mauerstein schnitten durch die Luft. Der Kampf hatte sich ausgedehnt und den Westflügel des Schulgebäudes erreicht, wo Qualm emporstieg. Panzaeron tranchierte die Celebi-High wie eine Weihnachtsgans. Seine Angriffe waren ziellos, von blinder Zerstörungswut. Panzaeron flog eine lange Schleife. Windschnittsicheln rissen Ziegel vom Dach, die zu rauchenden Trümmern zerschellten. Sein Brüllen ließ Fensterscheiben bersten als bestünden sie aus einer hauchdünnen Eisschicht. Wer von den unfreiwilligen Zuschauern noch die Kraft besaß, vergrub die Stirn, Mund oder gleich das ganze Gesicht in den Händen. Vorne sprang das Hauptportal auf. Schüler, die ihren Feierabend noch in der Bibliothek oder der Mensa verbracht hatten, stürmten heraus beziehungsweise dem Strom der im Schulgebäude Unterschlupf Suchenden direkt in die Arme. Auch die ersten Erwachsenen mussten gegen diesen Strom ankämpfen. Professor Armadis war der Erste, der sich ins Freie durchkämpfte und dort die aufgepeitschte, angsterfüllte Luft einatmete. Er packte einen seiner Schüler am Arm. Ein kurzer Wortwechsel entstand. Der aufgehaltene Entei sagte etwas, dann deutete er genau auf die Position, wo Eagle stand, dem wiederum sofort das Herz in die Hose sackte. Im Eiltempo hetzte der Raikou-Hauslehrer über den Platz. Einstweilig geriet er ins Stolpern, als sein Schulterblick zu dem lauten Knall wanderte und kurzzeitig bei einem rauchenden Loch in der Gebäudefassade, so groß wie ein Fußballtor breit, hängen blieb.


    „Sarah, du rufst Meditalis zurück und folgst den anderen. Der Rest: zurück in eure Häuser. Trennt euch. Geht nicht zur Schule. Und keine Gruppen. Los!“ Professor Armadis betonte jeden seiner kurzen Sätze scharf. Man merkte ihm nicht an, dass er gerade die Distanz zwischen Schule und seinen Schülern in absoluter Rekordzeit zurückgelegt hatte.
    Die Gruppe löste sich auf. Jeder schlug nach fast wortloser Absprache einen anderen Weg ein. Über die Brücke. Oder einen langen Weg links beziehungsweise rechts am Ufer entlang. Nur weg von hier.
    „Sie bleiben hier.“ Professor Armadis packte Eagle am Handgelenk. Schon allein der energische Blick des Mannes besaß eine derart fesselnde Wirkung, dass eine Flucht auch ohne körperliches Eingreifen ausweglos war. Sie schauten einander in die Augen, warteten auf eine Reaktion des Anderen. So eingeschüchtert wie über das Verlangen seines Lehrers verwirrt stammelte Eagle: „Pro-Professor?“
    Der breitschultrige, hochgewachsene Mann im abgetragenen Straßenoutfit und Dreitagebart nickte bestimmend. „Sie bleiben hier.“ Erst dann wandte er sich dem Pokémon am Himmel zu. Ein ungeheures Selbstvertrauen ging in der Bewegung aus, mit der er sich breitbeinig wie ein Westernheld kurz vor dem finalen Showdown aufbaute. Ein weiteres Zögern blieb der bereits stark in Mitleidenschaft gezogenen Schule erspart. Professor Armadis ließ einen Pokéball einfach neben sich fallen, aus dessen Lichtschwall sein Partner-Pokémon sich befreite.
    Gewaldro, auch bei seinem Kosenamen Dian gerufen, war ein manngroßes, grazil gebautes, zweibeiniges Pokémon mit grüner, schuppiger Haut, die seine Zugehörigkeit zu der Familie der Pflanzen-Pokémon betonte. Im schrillen Kontrast zu den gefährlich aussehenden Laubblattklingen an beiden Armen und den mit scharfen Krallen bewehrten Füßen hielt Dian einen gefassten, sanftmütigen Ausdruck auf seinem spitzig geformten Gesicht aufrecht. Die athletischen Beine verlagerten sein Gewicht und Körperhaltung leicht nach vorne, was er mit seinem länglichen, spitz zulaufenden Schweif kompensierte. Von den kontrolliert wachsenden Grasbüscheln, die seinen ganzen Schwanz bedeckten, sagte man, Dian könne mit ihnen eine Form der Photosynthese betreiben, was wahrscheinlich auch die Illusion eines erfrischenden Waldgefühls erklärte, wenn man sich in seiner Nähe aufhielt. Ebenso sprach man den gelben Samenschoten, die seinen Rücken bedeckten, eine heilende Wirkung zu. Kurz beobachtete er den Himmel, schon war er über die Situation voll im Bilde, als wäre er von Anfang an dabei gewesen.
    „Mach ihn auf uns aufmerksam.“
    Von der ersten Sekunde an schwammen Mensch und Pokémon auf einer Wellenlinie, teilten die Gedanken des Anderen. Auf dieser steinigen Straße, dem Aggressor direkt in das weit geöffnete Maul hinein, bildeten sie eine geschlossene Einheit wie ein einzelner Mann.
    Dian legte seine Handgelenke aufeinander. Die kurzen Fingerkuppen formten Vogelklauen, während sich die ruhigen Gesichtszüge in Anstrengung anspannten und der restliche Körper zu vibrieren begann. In dem Hohlraum seiner Handflächen nahm ein sanftes, grünes Leuchten langsam Gestalt einer golfballgroßen Kugel an. Sie wuchs rasant, überragte nach kurzer Zeit eine Kinderfaust und am Ende dann, als Dian sie stoßartig in den Himmel wuchtete, besaß sie schließlich den Umfang einer reifen Apfelsine. Sie überholte den Wind, konkurrierte in ihrer Schönheit mit dem herbstlichen Sonnenlicht. Bereits an dem Punkt, als der Energieball den Händen seines Schöpfers entglitt, schien Panzaerons Schicksal so sicher wie bereits vor Jahrhunderten in Stein gemeißelt. Panzaeron hatte noch nichts von den Geschehnissen um ihn herum registriert. Er flog langsamer, wollte sich gerade in die Kurve legen.
    Zentimeter! In wenigen Zentimeter Distanz raste die Kugel an Panzaeron vorbei. Aufgeregt stemmten sich die Schwingen des Stahl-Vogels in wenig ansehnlichen Rückwärtsbewegungen gegen den eben noch eingeschlagenen Weg. Er folgte der Herkunft des Angriffs und fand in Dian seinen Ursprung.
    Eagle wippte unruhig vom linken auf dem rechten Fußballen herum. Der Angriff war gescheitert. Die unmittelbare Nähe zu Dian, den sicherlich gleich Panzaerons geballter Zorn treffen würde, machte ihn nervös. Schon wollte er den Rückzug antreten, als Professor Armadis ihn an der Jacke packte. Der Mann schüttelte den Kopf, ansonsten schwieg er. Eagle schaute ihm irritiert ins Gesicht, doch sein Lehrer, der bereits wieder zum Himmel spähte, verzog keine Miene.
    Hat der sie noch alle?
    Doch dann: Hatte Professor Armadis gerade eben ... gelächelt? Eagle könnte es schwören. Oder hatte er sich geirrt? Nein! Es war kurz, nichts weiter als ein verschlagenes Zucken seiner Lippen, aber es war da gewesen. Unwiderlegbar. Was ging in dem Mann vor? Eagle schaute zum Himmel und glaubte plötzlich zu verstehen. In einem unerwarteten Anflug von Vernunft hatte Panzaeron sein Terrorregime beendet. Zumindest für den Augenblick, denn Panzaeron peilte jetzt einen Standort gefährlich nahe zu ihrem an. Eagle verstand die Welt nicht mehr. Er mochte nicht behaupten, dass Panzaeron jetzt einen zahmen Eindruck erweckte, aber er schien dennoch verändert. Ruhiger. Wieso hatte das Pokémon das Feuer nicht erwidert, eben so, wie es die ganze Zeit über getan hatte? Was ging hier nur vor?
    In etwa zehn Meter Entfernung setzten Panzaerons Klauenfüße zur Landung an. Links und rechts faltete er die Stahlschwingen und legte sie eng an seinen Oberkörper an, als ob er Schwert für Schwert in die Scheide zog. Und wieder! Eagle konnte schwören, Armadis gerade beim Lächeln ertappt zu haben. In flagranti. Der Raikou war sich nicht sicher, die Mimik seines Lehrers richtig zu verstehen, aber seine Vermutung ging bereits so weit, dass Professor Armadis anscheinend haargenau alles bis zu diesem Punkt geplant hatte: Dass Dians Energieball sein Ziel verfehlte, Panzaeron den Angriff einstellte und auf den Boden kam. Hatte er das wirklich alles vorausgesehen? Konnte er das überhaupt? Und wenn es so war, wie ging es dann weiter?
    Beide Pokémon standen einander in einigem Abstand gegenüber. Dian bekam Rückendeckung. Von seinem Menschen-Partner erhielt er ein kurzes, aber bekräftigendes Kopfnicken, das er erwiderte. Panzaeron dagegen stand allein da - frei von Reue oder Furcht. Unangenehme Stille. Drohgebärden gingen von beiden aus. Stumm. Regungslos. Und doch so spürbar wie Nadeln auf der Haut. Ein einziger Funke und der Brennstoff in der Luft würde zu einem wilden Feuer ausbrechen. Eagle schluckte, doch sein Mund war so trocken, dass es schmerzte. Die Ungewissheit hatte seine Zunge wie mit einer Schicht Schlick bedeckt, die wiederum klebte an seinem Gaumen. Er knetete seine Hände in der Hoffnung, das Taubheitsgefühl würde ihn endlich verlassen.
    Dian sprang. Seine Beine verließen kaum den Boden. Es war mehr wie ein gewaltiger Schub, mit dem er weniger Zentimeter über dem Boden schwebte, und das mit einer Geschwindigkeit jenseits des Vorstellungsvermögens. Fast nur noch wie ein verschwommener Schleier wahrzunehmen, fuhr er die Faust aus. Dann schon schlug er zu - ein Geräusch wie marodes Wellblech, das man mit einem stumpfen Gegenstand traktierte. Panzaeron hatte noch nicht alle Flügel gespannt, die Beine waren noch immer am Boden. Sein Maul war weit geöffnet - mehr vor Schreck als aus Zeichen des Trotzes heraus. Dians Faust lag auf Panzaerons Brust. In einer symbolischen Geste drehte er sie in einer langsamen, im Uhrzeigersinn verlaufenden Bewegung, als wollte er ihm das Herz herausbohren. Nach einer halben Drehung kippte Panzaeron lautlos um, mit seinem Kopf direkt auf Dians straffe Schulter. Anfangs ließ das Pflanzen-Pokémon den Geschlagenen noch gewähren, dann machte er in seelenruhiger Manier einen Schritt zurück. Ohne weiteren Halt ging Panzaeron schließlich ganz zu Boden. Der Tyrann war bezwungen, gefällt wie ein morscher Baum.


    Wieder kehrte dieselbe Ruhe ein, die vor dem zermürbenden Angriff geherrscht hatte, nur unterbrochen von dem Knirschen von Schotter unter Dians Füßen. Kein Vogel sang sein Lied, kein Insekt tanzte durch die Luft. Wer noch vor Ort war, zweifelte noch immer an der eigenen Wahrnehmung. Doch Skepsis verwandelte sich rasch in Erleichterung, Erleichterung in eine Vielzahl anderer Gefühle. Anerkennung. Freude. Aber auch in einen gerechten Zorn, der sich gegen einen bestimmten Schüler richtete.
    Der Verdauungstrakt eines ausgewachsenen Drachen-Pokémons war noch ein zu guter Ort für ihn. Und doch konnte sich Eagle in genau diesem Zeitpunkt keinen besseren Ort zum Verkriechen vorstellen.

  • Part 8: Rede und Antwort


    Hinter dünnem Glas schwang das Messing-Pendel einer Wandkastenuhr gleichmäßig hin und her. Das einzige und viel zu kleine Bücherregal im Raum ächzte vor der Last von Reiseführen, Atlanten und Lexika. In einer großen Glasvitrine waren Andenken aus allen Herrenländern nebeneinander aufgereiht: Porzellan, ein hawaiianischer Hut, ein Goldnugget, mehrere urige Trinkkrüge. Über einer weiteren Etage mit schimmernden Geoden standen eingerahmte Photographien. Die meisten Bilder hielten beeindruckende Landschaftsportraits fest. Ein Fischerdorf an der Nordküste Frankreichs bei schlechtem Wetter. Schroffe, unförmige Felsklippen, darüber ein Leuchtturm. Hohe Sanddünen, die sich über den Horizont hinaus schlängelten und wie Pyramiden aussahen. Einige Bilder lichteten auch einen schlecht rasierten, manchmal sogar bärtigen Mann Anfang bis Mitte dreißig ab, hin und wieder alleine und hinter einem bemerkenswerten Landschaftsmotiv, andere Male auch mit über beide Ohren strahlenden Schülern abgebildet. Weitere Photographien hingen an der orangebraun tapezierten Wand. Ein Großteil der restlichen Einrichtung wirkte rustikal und hätte auch gut aus einer Hütte in den Schweizer Alpen stammen können. Eagle schaute stumm an einem Paar Gummistiefeln vorbei zur Ausgangstür - der einzigen Tür im ganzen Raum, die nicht offen stand. Professor Armadis’ Büro war schon eine merkwürdige Kulisse, die die Lehrerschaft in aller Kürze als hohes Gericht auserkoren hatte. Denn darum ging es wohl. Es war ein Verfahren, denn der Gerechtigkeit musste Genüge getan werden. Erst kam die Anhörung und irgendwann dann würde irgendwann auch das Urteil vollstreckt werden. Ein angebotenes Getränk hatte Eagle abgelehnt - seine Henkersmahlzeit, wie er insgeheim gedacht hatte. Jetzt saß er seinem Hauslehrer gegenüber. Kein Tisch trennte die Beiden voneinander - Stuhl zu Stuhl. Fast noch schlimmer als die Anwesenheit der anderen beiden Hauslehrer fand Eagle, dass ihm Professor Armadis mit dem Stuhlrücken voran gegenübersaß. Irgendwie erweckte es den Eindruck, seine ohnehin bereits schlimme Lage noch weiter zu verschärfen. Die Professoren Cenra und Finch hatten bislang noch keinen Ton von sich gegeben. Wie Professor Armadis auch hatten sie lediglich Eagles Ausführungen gelauscht, die - wie Professor Armadis ausdrücklich gewünscht hatte - bis ins kleinste Detail wiedergegeben wurden. Ricos Herausforderung. Wie ihn Skorglas fehlender Kampfeswille dazu gezwungen hatte, nach einem neuen Verbündeten zu suchen. An dieser Stelle war er dann auch gezwungen, darüber zu berichten, wie er Sonjas Pokéball in der Safari-Zone gesucht und schließlich gefunden hatte und mit diesem dann zusammen mit Ray in das Kihen-Gebirge aufgebrochen war. Professor Armadis hatte an dieser Stelle hartnäckig nachgebohrt. Eagle fand es überflüssig zu erwähnen, dass er im Rausch der Gefühle an so etwas Banales wie Vorratsplanung nicht gedacht hatte. Der in dieser Hinsicht merkwürdig kleinkarierte Pädagoge aber hatte darauf bestanden, auch hierüber genauestens informiert zu werden. Anschließend, natürlich wie sie mit voller Absicht vom Weg abgekommen und dann auf die beiden Pokémon im Revierkampf gestoßen waren: Panzaeron und Zapdos. An dieser Stelle hatte Eagle ursprünglich fiebrig eine Reaktion der gesamten anwesenden Lehrer erwartet. Endlich etwas, mit dem er ein wenig Eindruck hätte schinden und über den Vorfall ablenken können. Vielleicht sogar etwas, womit er seinen Kopf aus der Schlinge hätte ziehen können. Er hatte nicht mit Ausführungen gespart, mit Einzelheiten, sogar mit Adjektiven um sich herumgeschossen wie Ray mit schlechten Noten. Ein legendäres Pokémon als Nachbar war sicherlich nicht etwas, was man unbedingt als etwas Normales betiteln würde. Doch eine wirklich nennenswerte Reaktion blieb aus. Nicht einmal ein beeindrucktes Wimpernzucken. Nichts. Demotiviert fuhr Eagle fort. Ihre Flucht, wie schließlich Staralili im Kampf unterlegen und Sheinux in die Bresche gesprungen war. Dann der Fang, von dem er sich so viel erhofft hatte: sein Sprungbrett zu Ruhm und Anerkennung.
    „Ich nehme an, Sie haben sich etwas anderes erwartet.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Sah man von Professor Armadis’ pedantischer Einstellung zur Vorratsplanung ab, endete so eine schier unendliche Schweigeperiode. Ruhig und gelassen wirkte Raikous Hauslehrer, doch misste man die übliche Herzenswärme, die ihm sonst wie auf den Leib geschneidert war.
    „Nicht wirklich“, antwortete Eagle. Jetzt bereute er es, das Glas mit Waldmeisterbrause abgelehnt zu haben. Bereits während des Kampfes mit Rico war seine Kehle staubtrocken gewesen. Und besser war es nach der ellenlangen Reiseanekdote nicht geworden.
    Professor Armadis legte die Flächen seiner Arme auf die Stuhllehne und neigte den Kopf etwas. Schüler und Lehrer waren nun in etwa auf der gleichen Augenhöhe. „Nun, Malcolm, Ihnen dürfte klar sein, dass Sie uns ganz schön in die Bredouille gebracht haben.“
    Eagle hätte am liebsten geantwortet. Doch was hätte er sagen sollen? Dass er es wusste? Dass es ihm leidtat? Natürlich war das der Fall, aber Worte, nichts als Worte. Der Schaden war angerichtet und ließ sich auch so schnell nicht wieder beheben. Also schwieg er. Ein Klopfen an der Tür rettete ihn vor weiteren peinlichen Sekunden.
    „Lassen Sie nur, Galan“, winkte Professor Cenra ab, die der Tür am nächsten saß, und öffnete diese stellvertretend.
    Mr. Figo trat ein. Professor Armadis entschuldigte sich kurz bei seinem Schüler und schloss sich der leisen und nur kurzen Unterhaltung zwischen seinen Kollegen an. Eagle hörte Bruchstücke heraus. Es ging wohl um die erste Bestandsaufnahme des Schadens und auch um die Versorgung der Verletzten, wie ihm sein Hauslehrer gleich darauf - Mr. Figo verließ derweil wieder den Raum - auch bestätigte. „Nun, es dürfte sie interessieren, dass ihre Mitschüler und alle beteiligten Pokémon noch einmal mit einem blauen Auge davon gekommen sind - im wahrsten Sinne des Wortes. Glücklicherweise nichts Ernsthaftes. Jedenfalls nichts, was die Möglichkeiten unserer Krankenabteilung überschreitet.“
    „Gut“, sagte Eagle knapp. Seine ehrliche Antwort.
    „Was den Zustand der Schule betrifft ... Es hat glücklicherweise nur den linken Flügel getroffen. Fassade, Fenster, ein, zwei Klassenräume. Die Damentoilette im zweiten Stockwerk war ohnehin nach den vergangenen Vorfällen etwas in Mitleidenschaft geraten und die Handwerker sollten ohnehin übermorgen zum ersten Mal anrücken. Ich denke, dieser Auftrag wird dann wohl erweitert werden. Glück im Unglück, dass sie erst für den Freitag zugesagt haben.“
    Wieder verlautete Eagle ein kurzes „Gut“. Was hätte er sonst sagen sollen? Er fühlte sich so albern. Und gleichzeitig so hilflos. Ein ganz und gar unbehagliches Gefühl. Wieso kamen sie nicht gleich zur Sache? Wie ging es weiter? Mit ihm? Würden sie ihn von der Schule verweisen? Was geschah mit Panzaeron?
    „Ich sehe, Sie haben Fragen. Nur zu.“
    Was sollte er fragen? Seine erste Frage wäre eigentlich gewesen, warum es anscheinend so gottverdammt offensichtlich war, dass ihm 20.000 Dinge auf der Seele brannten. Er entschied sich zu guter Letzt für das Naheliegende. „Werden Sie mich rausschmeißen?“
    Nach sehr kurzem Zögern antwortete sein Gegenüber: „Diese Frage kann ich Ihnen leider nicht beantworten.“
    „Warum?“
    „Weil das keine Entscheidung ist, die ich zu fällen habe. Diese Bürde hat die Schulleiterin zu schultern.“
    „Und warum bin ich dann hier?“
    Professor Cenra machte ein merkwürdiges Geräusch, als ob sie sich gerade tunlichst zusammenreißen musste, nicht ebenfalls in die Unterhaltung einzusteigen, und das nicht gerade unbedingt leise. Eagle wusste auch, warum. Es war ihm klar, dass er sich nicht gerade musterhaft, sondern sogar rotzfrech präsentierte. Er rebellierte. Spuckte der Obrigkeit regelrecht ins Gesicht. Und das zu der ungünstigsten Zeit, die man sich ausdenken konnte. Doch es war ihm ernst. Warum dann diese Farce, wenn ohnehin an einem ganz anderen Ort sein Urteil ausgesprochen werden würde? Dann konnte er doch gleich wieder gehen.
    „Sie sind hier“, antwortete Professor Armadis in ruhigem, sachlichen Ton, „damit wir den Sachverhalt klären - diesen und den der letzten Tage. Ein allumfassendes Gespräch sozusagen.“
    Verunsichert knetete Eagle seine Hände. Er blickte zur Ausgangstür, als ob sein Verstand verzweifelt auszubrechen versuchte. Am Ende fand er sich aber wieder in den Augen seines Lehrers wieder. „Ich weiß nicht, was Sie meinen“, sagte Eagle halb wahrheitsgetreu, halb flunkernd.
    „Nun, dann wollen wir Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge helfen“, begann er sehr langsam. Sie und Ihr Freund Ray haben sich ohne triftigen Grund vom Kunst-Unterricht distanziert. Am nächsten Tag dann sind Sie beide den ganzen Tag dem Unterricht ferngeblieben, was man schon zu meiner Schulzeit umgangssprachlich als Schwänzen bezeichnet. Anschließend haben Sie unerlaubt das Schulgelände verlassen. Lassen wir mal außer Betracht, dass Sie sich dabei - wenn es glimpflich gelaufen wäre - den Hals hätten brechen können und die Schule in Ihrer Aufsichtspflicht vor der Öffentlichkeit kompromittiert hätten. Denn hier geht es nicht um die Schule - es geht um Sie. Wo also waren wir ...? Indem Sie Sonja Lynns Pokéball an sich genommen und auch nicht wieder ausgehändigt haben, haben Sie Schuleigentum entwendet. Diebstahl. Die Zerstörung des Schulgebäudes, die Gefährdung Ihrer Mitschüler. Nicht zu vergessen: Die Verwüstung von Mehrzweckraum Nummer II und abermals die Gefährdung der Allgemeinheit.“
    Je schwerer Professor Armadis’ Anklage wurde, desto tiefer hatte sich das unsichtbare Messer in Eagles Bauch gebohrt. Beim letzten Vorwurf aber hatte die Klinge seinen Leib durchschlagen und ihn im Anschluss regelrecht gevierteilt. „Wo-woher?“
    „Was glauben Sie, wie viele Schüler der Grundstufe, mit gelber Uniform, mit einem Pichu unter dem Arm und die auf ihre Beschreibung passen hier zur Schule gehen?“ Professor Armadis hatte bei jedem Punkt einen Finger erhoben. Am Ende waren es vier.
    Eagle überlegte fieberhaft. Es abstreiten? Lügen? Wo die Beweislast so erdrückend war? Allein für den bloßen Gedanken fühlte er sich nur bestätigt, dass ihm zurecht dieser Prozess gemacht wurde. Anbei fielen ihm Sonjas mahnende Worte des vorgestrigen Tages ein. Sie hat das gemerkt, weißt du? Ihr wart kaum weg ... du hättest ihren Blick sehen müssen. Ich weiß nicht, ob sie es dieses Mal nur bei Rede und Antwort belässt. Mit brüchiger Stimme fragte Eagle: „Wenn das so offensichtlich war, warum bin ich dann noch nicht darauf angesprochen worden?“
    Auf Professor Armadis’ Gesicht zeichnete sich endlich eine menschliche Regung ab. Er wirkte leicht verlegen, wandte sich nach nur kurzem Blick rasch wieder von seinen beiden Kollegen ab. „Nun, das ist wohl in erster Hinsicht mir geschuldet. Auf meine Bitte hin wurden noch keine Schritte eingeleitet, denn ich wollte Ihnen Zeit geben, sich selbst ... nun, zu stellen.“ Er stoppte kurz. „Ich habe für Sie bebürgt, Malcolm, denn ich ging fest in der Annahme, dass Sie Ihr Versäumnis noch nachholen. Aber da habe ich mich wohl getäuscht. Leider.“
    Eagle hätte nicht geglaubt, dass er sich noch miserabler fühlen konnte, doch Professor Armadis hatte es geschafft, war es nun bewusst oder versehentlich geschehen. Er widerte sich geradezu selbst an. Könnte er doch nur aus diesem Alptraum aufwachen. „Professor, ich ...“
    „Sie haben ganz offenbar ein Problem, Malcolm. Sie durchdenken die Dinge nicht, leben nur für den Nervenkitzel des einen Augenblicks. Ihnen hätte doch von Anfang an klar sein müssen, dass das, was Sie tun, Konsequenzen nach sich ziehen würde. Was glauben Sie: Wie lange hätte es wohl gedauert, bis Professor Cenra, ich oder ein anderer Lehrer-Kollege Sie auf Panzaeron angesprochen hätte? Was wäre Ihre Antwort gewesen?“
    „Ich - ich weiß nicht ...“
    „Natürlich.“
    Der Pädagoge schillerte mit kühler Logik, deren Eagle nichts anderes als nervöses Abwarten erwidern konnte. Nichts aber geschah. Es war die reinste Folter. Im Wechselbad der Gefühle, von Erleichterung bis zur hellen Panik darüber, dass das Türklopfen ihn endlich von der ungeteilten Aufmerksamkeit befreite, drohte sein Herz im selben Zeitpunkt stillzustehen und zu explodieren.
    Mrs. Jenkins, die Sekretärin, verschaffte sich kurzerhand selbst Eintritt, nachdem es ihr zu lange gedauert hatte, dass ihr jemand die Tür öffnete. Für Eagle hatte sie sogleich einen vernichtend scharfen Blick übrig, wurde dann aber gleich von den drei Hauslehrern in Empfang genommen. Die Unterhaltung zwischen den Erwachsenen dauerte deutlich länger als die davor. Beim Hinausgehen missbrauchte Mrs. Jenkins die Tür als persönlichen Rammbock ihrer aufgewühlten Gefühle. Ungeachtet des gewaltigen Rumms kehrte Professor Armadis zu seinem fiebrig wartenden Schüler zurück. Er atmete aus. „Mrs. Jenkins hat uns soeben über den Stand der Dinge unterrichtet. Professor Liva und Professor Novák sind in einer Telefonkonferenz mit ihrer Mutter, der Elternvertretung und dem Oberstudiendirektor geschaltet. Ich fasse mich kurz: Man hat sich dazu entschlossen, Sie nicht von der Schule zu verweisen.“
    Auf ein kurzes, ungläubiges Zögern antwortete Eagle: „Warum?“
    Professor Armadis runzelte überrascht die Stirn. „Sollten Sie nicht vielmehr für diese Entscheidung dankbar sein? Oder brennen Sie so sehr darauf, Ihr Bündel zu packen?“
    „Quatsch! Ich meine nur ... Ich hab ... ich hab ganz schön Bockmist gebaut, oder?“
    „Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung, aber ja, schön formuliert. Sie haben sogar gewaltigen Bockmist gebaut. Und ich müsste lügen, mich auf der Stelle auch nur im Ansatz an etwas Vergleichbares erinnern zu können. Auch kann man leider nicht behaupten, dass Sie sich in der Vergangenheit unbedingt immer musterhaft verhalten haben. “
    Eagle schwieg.
    „Von meinem Standpunkt aus standen Sie mit mehr als nur einem Bein im Grab, wenn ich mir den Vergleich so erlauben darf. Ebenfalls sind mir keine genauen Details bekannt, mildernde Umstände, die gegen einen Rauswurf sprechen. Ich weiß so viel - ich denke, es spricht nichts dagegen, wenn ich es Ihnen sage -, dass Ihre Eltern sich dazu bereit erklärt haben, in gesamten Umfang für den entstanden Schaden aufzukommen. Das sind alle Einzelheiten, die ich kenne. Alles andere ist reine Spekulation. Verzichten wir darauf.“
    Spekulation ... Die brauchte es eigentlich nicht. Eagle hatte sogar eine ziemlich realistische Vorstellung darüber, welche mildernden Umstände es für sein unverschämtes Glück gab. Und er konnte sich glücklich darüber schätzen, wenn diese Information niemals ans Tageslicht kommen würde. Er spürte Professor Armadis’ ehrliches Interesse auf sich ruhen. Offenbar wusste sein Lehrer tatsächlich nicht mehr.
    „Sie sind noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen - wir alle.“
    „Das war es also?“, stellte Eagle verblüfft fest. „Ich bin aus dem Schneider?“
    Professor Armadis lächelte matt. „Nicht ganz, fürchte ich, denn die Schulleiterin hat die Verantwortung, über eine Strafe nachzudenken, abgewälzt, und um ehrlich zu sein, kann ich es ihr bei dem ganzen Wirbel nicht verdenken, für so etwas Banales wie Bestrafung nachzudenken. Als ihr Hauslehrer obliegt es daher mir, über eine angemessene Bestrafung nachzudenken. Leider muss ich behaupten, dass ich, da ich mittlerweile auch wirklich alle Details kenne, wohl auch die beste Wahl bin.“
    „Wenn Professor Liva wirklich alles wüsste ...“
    „Wird sie auch, spätestens in zwei Stunden, denn sie erwartet von mir einen umfangreichen Bericht. Aber auch dann wird sie ihre Entscheidung nicht mehr ändern.“
    „Aber ...“
    „Malcolm, Sie tun schon wieder so, als ob Sie Wert darauf legen, von der Schule verwiesen zu werden.“ Professor Armadis schüttelte den Kopf. „Machen Sie sich mal keine Gedanken um ungelegte Eier und seien Sie lieber dankbar dafür, dass wir alle heute noch einmal mit dem Schrecken davongekommen sind. Das würde ich Ihnen wirklich nahe legen und die Sache damit beruhen lassen. Wenn Sie stattdessen Fragen jenseits einer Entscheidung, an der weder Sie noch ich etwas rütteln können, haben, wäre das jetzt der perfekte Zeitpunkt dafür. Es wird allmählich spät und so ein Bericht schreibt sich nicht von alleine“, ergänzte Armadis müde.
    „Wenn man Scheiße gebaut hat, muss man dafür geradestehen. Ich will keine Vorzugsbehandlung“, gab Eagle trotzig zurück.
    „Ich respektiere Ihre Einstellung. Wirklich. Aber um was geht es wirklich?“
    „Was meinen Sie?“
    „Warum ist es Ihnen wichtig, wie alle behandelt zu werden? Ist es wirklich einem tieferen Gerechtigkeitsempfinden geschuldet? Oder haben Sie einfach nur Angst davor, was die anderen von Ihnen denken? Dass Ihre Mitschüler von Ihnen denken, dass Sie eine Vorzugsbehandlung genießen?“
    Abermals fühlte sich Eagle unangenehm daran erinnert, von seinem Gegenüber wie ein Buch gelesen zu werden. Sein Lehrer hatte recht. Sogar in beiden Fällen. Er wollte keine Sonderbehandlung, wie schon sein ganzes Leben, nur weil er zufällig reiche Eltern hatte. Er wollte wie alle anderen sein. Und er wollte Gerechtigkeit. „Beides“, antwortete Eagle knapp.
    „Dann versichere ich Ihnen, dass Sie heute Abend getrost in dem sicheren Glauben einschlafen können, wie jeder anderer Schüler bestraft worden zu sein, der ,Scheiße gebaut hat’. Also, sonst noch etwas?“
    Eagle dachte nach. „Was ist mit Panzaeron?“
    Professor Armadis nickte. „Eine berechtigte Frage, obwohl Ihnen wahrscheinlich die Antwort auf diese Frage ebenso klar sein wie nicht gefallen dürfte. Panzaeron wird in die Obhut der Schule bleiben.“
    „Ich habe Panzaeron gefangen!“
    „Und sich dabei über alle Regeln hinweggesetzt“, entgegnete Professor Armadis den brüsken Einwurf seines Schülers. „Ich muss mich doch sehr wundern, Malcolm. Gerade haben Sie noch sehr darauf bestanden, wie jeder andere Schüler behandelt zu werden, und jetzt fordern Sie doch eine Sonderbehandlung? So wie Sie sich zum Beginn des Schuljahrs über die Uniformpflicht hinwegsetzen wollten?“
    „Das war ... etwas anderes“, nuschelte Eagle verlegen.
    Mit einem interessierten Gesichtsausdruck äußerte der Hauslehrer ein höfliches Interesse.
    „Ich ... das war mehr als ein stiller Protest gemeint. Aber darum geht es doch gar nicht!“
    „Wo ist der Unterschied zwischen der einen Vorschrift und der anderen?“
    „Ich finde nur, dass keiner einem vorzuschreiben hat, was er anzieht. Persönliche Meinung, wenn es erlaubt ist.“
    „Zur Kenntnis genommen. Es ändert aber nichts daran, dass ein offensichtlicher Regelverstoß vorliegt.“
    Hilfesuchend schaute Eagle in alle Richtungen, als hoffte er, von einer unsichtbaren Präsenz Zuspruch zu bekommen. Am Ende, als er keinen Ausweg mehr wusste, erhob er sich starrköpfig, entfernte sich dabei aber keinen Millimeter. „Und dass ich Panzaeron gefangen habe, zählt überhaupt nicht? Ja, ich weiß, ich habe gehörige Scheiße gebaut, Regeln und so. Aber ich habe Panzaeron am Ende trotzdem gefangen.“ Es war ein schwaches Argument, eigentlich gar kein Argument, das wusste er. Aber wie sollte er die Sache sonst darlegen und seinen Standpunkt bekräftigen? Dass er seinen Arsch riskiert hatte? Er beinahe draufgegangen wäre bei dem Versuch, Panzaeron zu besiegen? Das stimmte wohl, aber am Ende hätte nur die Schule schlecht dagestanden, wäre ihm etwas passiert. Er hatte sich so krass über die Regeln hinweggesetzt, warum konnte er nicht einfach froh sein, überhaupt noch an der Celebi-High bleiben zu dürfen? Warum war er so blind, so starköpfig, dass er für ein Pokémon, dass er überhaupt nicht kannte und dass für ein solches Chaos gesorgt hatte, beinahe sogar Leute ernsthaft verletzt hätte freiwillig seine Schlinge in den Hals legte? War es das wirklich wert? Nicht einmal er selbst konnte sich die Frage beantworten. Professor Armadis sagte nichts. Sie beide sahen einander an. Trotz und Gelassenheit trafen aufeinander. Erst als Eagle wieder zögerlich Platz nahm, antwortete Armadis in aller Sachlichkeit:
    „Malcolm, wenn der heutige Tag uns eines gezeigt hat, dann doch wohl, dass Sie noch nicht bereit sind, Panzaeron zu trainieren. Warum, glauben Sie, hat Panzaeron Ihren Anweisungen nicht Folge geleistet?“
    Eagle dachte nicht einmal nach. Er antwortete auf der Stelle. „Ich weiß es nicht.“
    „Eben. Sie wissen es nicht. Sie sind noch nicht bereit. Darum gehen Sie hier zur Schule. Darum lernen Sie. Panzaeron weiß das. Panzaeron weiß, dass Sie unerfahren sind. Darum widersetzt er sich Ihnen. Er hat keinen Respekt. Warum auch? Warum sollte er Ihnen gegenüber Gehorsam leisten?“
    „Ich habe Panzaeron gefangen!“
    „Und das rechtfertigt was? Bedingungslose Kapitulation? Gefangen haben Sie Panzaeron vielleicht. Aber gezähmt haben Sie ihn nicht. Ihn nicht bezwungen. Verstehen Sie das?“
    Eagle bohrte seine Fingernägel in die eiskalten Hände, bis sie wehtaten. Seine Lippen verschlangen einander. „Das hätte dann aber jedem passieren können. Das ergibt keinen Sinn!“
    „Wie meinen Sie das?“, fragte Professor Armadis in aller Ruhe.
    „Die Safari-Zone!“ Wie ein triumphierender Weckruf stieß Eagle die Worte aus. Genau. Das Argument seines Lehrers entkräftigte gar nichts. Dass ein Pokémon sich über seinen Trainer hinwegsetzte, konnte jedem passieren. „Ebenso könnte mich Skorgla nicht als Trainer akzeptieren. Würden Sie ihn mir dann auch wegnehmen?“
    Armadis’ verständnisvolles Nicken, gepaart mit einem verneinenden Ausatmen wirkte keinesfalls beruhigend auf den Raikou. Irgendwie saugte diese Geste ihm sogar das kleine bisschen Mut, das er eben noch gespürt hatte, aus dem Leib. „Sie sind ein kluger Kopf, Malcolm. In all meinen Jahren hat noch kein Schüler ein derartiges Bedenken geäußert. Vielleicht ist es aber auch nur der Aufregung geschuldet, dass jemand solch ernsthafte Zweifel hegt, diese besondere Gelegenheit einfach verstreichen zu lassen. Lassen Sie mich also erklären.“ Armadis machte eine kurze Pause. Tatsächlich erweckte er durch sein Zögern den Eindruck, als wurde ihm noch nie diese Frage gestellt. „In erster Linie geht es um Verantwortung. Sie sollen lernen, Verantwortung zu übernehmen. Ihr Partner-Pokémon ... Staralili, richtig ...?“ Als Eagle nickte, fuhr der Professor fort. „Staralili und alle anderen Partner-Pokémon sind auf den Charakter ihrer menschlichen Pendants abgestimmt. Es soll erleichtern, nein, gewährleisten, den Schülern diesen ersten und doch gewaltigen Schritt so einfach wie nur irgendwie möglich zu machen. Können Sie mir folgen?“ Wieder nickte Eagle, auch wenn etwas ungehaltener. Was sollte das? Was sollte dieser Vortrag? Das wusste er doch alles. Warum kam er nicht zum Punkt? „Der nächste Schritt ist es, ein neues Verantwortungsbewusstsein zu entwickeln. Darum simulieren wir in der Safari-Zone ...“
    „Simulieren?“, unterbrach Eagle.
    Der Lehrer nickte bestätigend. „Die Safari-Zone simuliert eine natürliche Umgebung, in der Pokémon aufwachsen und gedeihen können. Aber bei näherer Betrachtung ist und bleibt es eine von Menschen geschaffene und kontrollierte Umgebung. Sie ist künstlich. Nicht echt. Und so auch die gemachten Erfahrungen. Nur eine Simulation. Zugegeben: Sie ist sehr realistisch, aber nicht das, was sie in der wirklichen freien Wildbahn finden werden.“
    „Es war ein Fake?“, brachte es Eagle auf den Punkt. Er spürte den eben noch kalten Schweiß auf der Stirn köcheln.
    „Kein Fake. Nur nicht wirklich echt.“
    „Also verkaufen Sie uns für dumm!“
    „Der Lehrkörper würde sehr verantwortungslos handeln, würden wir die Grundstufe nach nicht einmal einem Jahr einfach nach dem Motto ‚Jetzt seid ihr da, seht zu, wie ihr zurechtkommt’ in der freien Wildbahn aussetzen. Wie lange, glauben Sie, würde es dauern, bis man uns sämtliche Behörden auf den Hals hetzen würde? Ganz zu schweigen, dass der gesunde Menschenverstand schon allein den bloßen Gedanken daran verbietet. Um also Ihren Einwurf zu beantworten: Die Pokémon in der Safari-Zone sind frei, gewissermaßen wildlebend. Aber sie befinden sich immer unter menschlicher Aufsicht. Ein derart unzugängliches Pokémon wie Panzaeron werden Sie dort nicht finden, sondern Pokémon, die nicht wie Staralili auf ihren Charakter abgestimmt, dafür aber genau ihrem Bildungsstand entsprechen. Und leugnen, dass Sie wertvolle Erfahrungen gemacht haben, und vielleicht sogar noch ein Quäntchen Spaß dabei hatten, vielleicht sogar den Nervenkitzel genossen haben, können Sie sicherlich nicht.“
    Eagle hatte sich schon eine ganze Weile resignierend zurückgelehnt. Es widerstrebte ihm, zuzugeben, dass sein Lehrer in allen Punkten recht hatte. Und er unrecht. Was wiederum bedeutete, dass sie wieder dort angekommen waren, wo sie angefangen hatten zu diskutieren. Er hatte kein Anrecht auf Panzaeron. „Nein“, sagte er tonlos, „kann ich nicht.“
    „Sie verstehen also, dass die jüngsten Vorfälle nicht das widerspiegelt, was die Schule ihren Schülern zumutet.“
    „Ja.“
    „Und Sie verstehen dann gewiss auch, warum wir Ihnen auch nicht gestatten können, für Panzaeron zu sorgen.“
    Eagle antwortete nicht. Sein „Ja“ blieb ihm im ausgetrockneten Hals stecken. Was konnte er anders tun, als zuzustimmen. Professor Armadis hatte in allen Punkten recht.
    „Ich darf Ihnen eine Frage stellen, Malcolm. Was glauben Sie besitzt Panzaeron für einen Charakter?“
    Eagle zögerte. Was war das für eine Frage? Er erinnerte ihn unangenehm an eine typische Eigene-Meinung-Feststellung am Ende einer Buchbesprechung. Er hasste solche Interpretationen. Was wusste er schon, was der Autor sagen wollte? Vielleicht eben genau das, was auf dem Papier stand. „Er ist ... kämpferisch.“ Eagle überlegte. Wie Panzaeron kampfeslustig dem legendären Pokémon trotzte. Sich von seiner Niederlage erholte und wie ein gefallener Phönix aus der Asche stieg. Dem nächsten Kampf hinterher jagte, als bestünde sein einziger Lebensinhalt der Sehnsucht, sich starken Gegnern zu stellen. Und wie er die Jagd genoss. „Stur, territorial, fanatisch“, reimte sich Eagle zusammen.
    „Gut, sehr gut“, lobte Armadis. „Panzaeron weist alle Aspekte einer sehr stolzen Persönlichkeit auf. Er ist für Höheres auserkoren, strebt nach den Sternen, sucht die Herausforderung. Rückschläge wirken auf ihn wie eine neue Erfahrung, an der er nicht zerbricht, sondern reift. Die Konsequenz solcher Verhaltensmuster ist allerdings allzu häufig ein rücksichtsloses, despotisches, herrschsüchtiges Auftreten. Seine Interessen überwiegen, was Andere denken, kümmert ihn nicht. Er ist voreingenommen. Geblendet von seinen eigenen Fähigkeiten, dass er wie blind die Welt betrachtet. Vielleicht erkennen Sie gewisse Parallelen zwischen Ihnen und Panzaeron.“
    „Jeder denkt, er wäre etwas Besseres. Außer vielleicht Sonja ...“, meinte Eagle.
    „Und Sie suchen nach Stärke.“
    „Wer tut das nicht? Jeder will besser werden“, sagte Eagle mit einem abweisenden Zucken seiner Schultern.
    „Und die jüngsten Ereignisse machen deutlich, dass Sie sich nicht scheuen, für Ihre eigenen Interessen auch über Leichen zu gehen. Das Ziel stets im Blick.“
    „Manchmal ist man sich eben selbst der Nächste, na und?“
    „Sie sinnen immer nach einer neuen Gelegenheit, Ihre Fähigkeit unter Beweis zu stellen.“
    „Wenn ich so sehr wie Panzaeron bin, wie Sie sagen, müssten wir uns doch prächtig verstehen, oder?“ Eagle wurde wieder zornig. Er hatte dieses lächerliche Frage-und-Antwort-Spiel satt, bei dem er sich wie in die Ecke gedrängt fühlte. Seine Hände ruhten zittrig auf den Armlehnen seines Stuhls.
    „Man sagt, Gleich und Gleich geselle sich gern, das stimmt. Aber es bedarf schon mehr, dass man so einfach Freundschaft schließt, sonst wären Sie und Rico wohl schon lange die besten Kumpel.“
    „Ich hab nichts mit dem Penner ... Rico gemeinsam!“
    Als ob er den letzten Kommentar überhört hätte, fuhr Armadis fort: „Sie haben Panzaerons Respekt nicht verdient. Darum wird er Sie nicht als seinen Trainer akzeptieren. Wenn Ihre Schilderungen zutreffend sind, ist es auch nicht verwunderlich. Mit Ihrem Verhalten haben Sie Panzaeron sogar noch bestätigt. ,Ich bin stark! Es braucht schon mehr, um mich in die Knie zu zwingen!’ Sie nahmen vor ihm Reißaus, dann erlangten Sie nur einen knappen Punktsieg, indem Ihr Freund Ray für Sie in die Presche sprang.“
    Eagle fuhr auf, als stünde er unter Strom. Der Funke des eben noch erloschen geglaubten Zorns brannte hell auf seinem Gesicht. Professor Armadis starrte ihn verdutzt an. „Dann ist Ray schuld! Er ist schuld! Hätte er nicht sich nicht eingemischt ... hätte er nicht ...“ Seine Eingeweide verkrampften. „Nein ...“ Resignierend sackte der Raikou zurück auf den Stuhl, das Gesicht hängend nach unten gerichtet. „Ich bin schuld. Ich ... Ich war schwach.“
    „Rein menschlich gesehen müsste ich vehement widersprechen, aber aus Sicht als Pädagoge trifft in diesem Fall leider zu: Ja, Sie waren schwach. Und wäre Ray Valentine nicht gewesen, säßen Sie heute vielleicht nicht einmal mehr vor mir. Darüber sollten Sie dankbar sein. Wir alle“, ergänzte er nickend. „Sie besitzen einen starken Willen, Malcolm, aber Willensstärke allein wird in diesem Fall nicht genügen.
    Allmählich hege ich sogar die Befürchtung, wer Panzaerons gesamtes Wesen zu begreifen versucht, wird an der Last dieser Bürde zerbrechen.“
    „Wie meinen Sie das?“
    „Nicht wichtig. Vergessen Sie es. Ich werde wohl allmählich philosophisch auf meine alten Tage. Wichtig ist, dass wir den Punkt geklärt hätten. Noch etwas?“
    Professor Armadis lehnte sich rückwärts gegen die nicht vorhandene Rückenlehne. Er wirkte müde. So auch Eagle. Wie lange waren sie mittlerweile hier? Ein kurzer Blick aus dem Fenster verriet: es war bereits dunkel. Doch da gab es noch etwas.
    „Was ist mit Zapdos?“
    „Zapdos?“ Der Lehrer tippte die Fingerspitzen beiläufig gegeneinander und zuckte die Schultern. „Da gibt es eigentlich nicht viel zu sagen. Wie Sie sich vielleicht anhand meiner Reaktion mittlerweile denken können, wissen wir über Zapdos bestens Bescheid. Es ist auch kein gehütetes Geheimnis, das Zapdos hin und wieder unsere Insel besucht, so auch umliegende Inseln. Von ihm geht keine Gefahr aus, falls es das ist, auf das Sie hinauswollen. Noch etwas?“
    „Das ist alles?“, fragte Eagle verunsichert.
    „Das ist alles“, antwortete Armadis.
    Ein langes Schweigen setzte ein. Ruhig und gelassen schaute der Lehrer seinen in sich selbst versunkenen Schüler an. Draußen vor dem abgeschlossenen Büro waren entfernte Stimmen zu hören. Es würde einige Zeit dauern, bis der Alltag wieder einkehren würde, aber schon jetzt ging das Leben weiter. Mit einem tiefen Einatmen und einem noch tieferen Seufzer unterbrach Professor Armadis die Stille. „Ich interpretiere Ihr Schweigen, dass Sie keine weiteren Fragen haben; womit wir nun leider zum letzten unangenehmen Teil des Abends kommen.“
    Mit einer leisen, einer sehr bösen Vorahnung hob Eagle den Kopf. Tonlos sagte er: „Noch unangenehmer?“
    Professor Armadis erhob sich. Der Mann wirkte, als hätte er mit einem Mal seinen wärmenden Mantel abgeworfen und gegen eine schwarze Robe getauscht: die des Richters und des Henkers zugleich. Ein gewaltiger Schatten ergoss sich über den Schüler, ertränkte ihn regelrecht. „Für den Rest des Schuljahres, Malcolm, werden Sie Ihren freien Samstag nutzen, um in der Pokémon-Pension der Johnsons auszuhelfen.“
    „Das ganze Jahr?“ Eagle war speiübel. Das musste wohl ein Witz sein. Zu seiner Seite steckten die Professoren Cenra und Finch ihre Köpfe zusammen und flüsterten. Eagle hatte bereits völlig ausgeblendet, dass die anderen beiden Hauslehrer auch noch im Raum waren.
    „Das ganze Jahr“, bestätigte der Professor für Überleben in der Wildnis eisern. „Und Sie werden einen dauerhaften Vermerk in Ihren Schulakten erhalten. Ich werde die Schulleiterin über alles Weitere informieren. Sie können gehen.“


    Für den Rest des Abends mied Eagle jedweden Kontakt mit seinen Mitschülern, sogar mit seinen Hausbewohnern. Ray kehrte gegen 8:00 Uhr mit zwei weiteren Wochen auf seinem Nachsitz-Konto von Professor Armadis’ Büro zurück. Eagle kam es gelegen, dass sein Mitbewohner für dessen Verhältnisse ungewöhnlich schweigsam war. Bereits um 9:00 Uhr ging bei beiden das Licht aus. Es war das Ende eines missglückten Tages, der in die Ruhmeshalle der dreistesten Missetaten in die Schulgeschichte eingehen würde. Und für Eagle war es der Beginn einer weiteren schlaflosen Nacht, geplagt von Schuldfragen und Gewissensbissen.
    Hätten sie mich bloß rausgeworfen ...

  • Was bislang geschah


    Die Tage werden immer kürzer auf Celebi-Island. Kein Wunder, wenn man bedenkt, wie viel Zeit bereits ins Land gezogen ist, seitdem Ray Valentine, notorischer Zuspätkommer, Nachsitzkönig und dunkle Gewitterwolke für jeden Notendurchschnitt, den Campus unsicher macht. Mittlerweile haben alle Schüler der Grundstufe nicht nur in ihrem Partner-Pokémon einen Seelenverwandten gefunden, sondern wurden auch mit der Aufzucht eines jüngst aus der Safari-Zone gefangenen Pokémons beauftragt. Während sich manche Schüler - wie der Klassenclown Ray Valentine und der Vollwaise Skip Faksen - bislang bei dieser Aufgabe mit Bravour behauptet haben, tun sich manche ihrer gleichaltrigen Klassengefährten noch schwer oder beißen sogar noch die Zähne aus, so unter anderem der Hausdrache des Raikou-Hauses Malcolm (Eagle) Granger oder die eher pragmatische Sonja Lynn.


    Die letzte Woche hatte auf dem ganzen Schulgelände hohe Wellen geschlagen. In Zweiergruppen mussten die Schüler der Grundstufe in die Rolle von Leiheltern schlüpfen. Eier wurden ausgebrütet und den geschlüpften Pokémon die ersten Schritte in diese neue, aufregende Welt geebnet. Geebnet wurde bei dieser Aufgabe leider auch das Schulmobiliar. Es wird wohl noch eine Weile dauern, bis der Mehrzweckraum II und die Mädchen-Toilette im zweiten Stockwerk wieder für den regelmäßigen Alltag freigegeben werden können. Ray jedenfalls hatte seinen Spaß dabei. Sein Zimmerkamerad Eagle dagegen, der von diversen Rückschlägen frustriert von einem Tag in den nächsten lebte, zog es in der vergangenen Woche in die steilen Höhen des verbotenen Kihen-Gebirges. Sein Bestreben: Einen neuen, unvorstellbar mächtigen Streiter für seine Sache gewinnen. Zwar gelang es ihm sogar, das Pokémon Panzaeron in einen unerlaubt entwendeten Pokéball einzuschließen, doch ließ dieses sich nicht unter die Knute des unerfahrenen Menschen stellen. Nicht nur verweigerte Panzaeron den Gehorsam, sondern zerstörte in blinder Zerstörungswut außerdem einen Teil des Schulgebäudes. Eagle musste daraufhin vor dem Lehrkörper zu Kreuze kriechen und entging - dank der großen Nachsicht seines Hauslehrers - nur knapp der vorzeitigen Exmatrikulation.

    Der Schulalltag aber sollte weitergehen. Und im Dunklen würden sich Ereignisse rühren, die alles bislang Geschehene in den Schatten stellen sollten ...






    ~Kapitel 14: Trübe Tage~


    Part 1: Stimmungsbarometer



    Im Nebel dieses Herbstmorgens bewegten sich zwei Silhouetten in einem fast exotischen Tanz. Heißer Schweiß glänzte in der nasskalten Luft, Muskeln traten hervor, Kiefer bebten. Widerwillig setzte Geckarbor einen Schritt zurück. Seine schräg erhobenen Hände waren fest mit denen seines Konkurrenten verkeilt. Dessen Gegenüber, Machollo, ein Pokémon so durchtrainiert wie ein zu kurz geratener Bodybuilder und mit Armen so dick wie Oberschenkel, machte einen energischen Schritt nach vorne. Mit einer bemerkenswerten Leichtigkeit hielt er das grüne Pokémon vor ihm in Schach. Sein Kopf rutschte etwas zur Seite, von wo aus er Geckarbors zum Zerreisen gespannten Bizepsmuskeln spöttisch belächelte.
    „Lass dich nicht verarschen! Feg ihn von den Beinen!“
    In einer halbkreisförmigen Bewegung raste Geckarbors Schweif heran. Die Peitsche erwischte Machollos stramme Waden. Der granitblaue Kämpfer verlor den Halt unter den Füßen, kappte somit die Verbindung ihrer beiden Hände und ging mit einem Fluch auf den Lippen rücklings zu Boden, so wie es sein Trainer geplant hatte. Geckarbor nutzte die Gelegenheit und brachte mit einem weiten Sprung nach hinten etwas Distanz zwischen ihm und seinem Kontrahenten. Mit einem mitgenommenen Gesichtsausdruck massierte er seine Muskeln, begegnete gleichzeitig Machollo, der sich gerade wieder aufrappelte, mit einem souveränen Augenzwinkern.
    „Astreines Manöver, Ray! Also da hast du die ganze Zeit gesteckt.“
    Ray warf einen Blick über die Schulter, wo er die näherkommenden Mit-Raikous Andy und Sarah erspähte.
    „I wo! Mir blutet jetzt noch der Arsch vom Nachsitzen. Oder glaubst du, ich habe am Wochenende echt nichts Besseres zu tun, als freiwillig in der Schule zu hocken und Hausaufgaben zu machen? - Hey, Danny, warte einen Moment, ja?“
    Der Suicune Daniel Seel, Machollos Trainer, winkte als Zeichen, dass er verstanden hatte und mit dem vorläufigen Waffenstillstand einverstanden war.
    Andy und Sarah tauschten kurz Blicke.
    „Stimmt“, sagte Andy, „du hast ja noch ’ne Strafe abzusitzen.“
    „Wie lange noch?“, fragte Sarah, wobei diese nicht ganz so mitfühlend klang wie deren Begleitung.
    „Ist bald ausgestanden. Inklusive morgen sind es noch“ - Ray zählte an den Fingern die Restschuld ab - „vier Tage. Eagle ist da weitaus schlimmer dran. Mit dem möchte ich echt nicht tauschen. Heute hat er seine erste von noch unendlich vielen Sitzungen.“
    Sarah betrachtete die westliche Fassade des Schuldgebäudes. Eigentlich müsste man meinen, dass das große, unansehnliche Stahl-Gerüst den Blick auf die Celebi High verschandelte. In diesem Fall aber wirkte es sogar verschönernd, denn die Konstruktion lenkte von der ramponierten Außenwand mit seinen zerstörten Fenstern ab. Da der heutige Tag auf einen Samstag lautete, ruhten die Arbeiten bis zum Anbruch der nächsten Woche.
    „Wenn man es so betrachtet, hattet ihr beiden echt Glück. Da würde ich mich nicht beschweren“, meinte sie nachdenklich, während sie Andys Blick suchte.
    „Finde ich auch“, stimmte dieser zu.
    „Glück? Vielleicht. Aber nächstes Mal wird’s noch besser!“, grinste Ray.
    Die drei führten noch einen kurzen Wortwechsel, dann zog es Andy und Sarah in das Schulgebäude. Ray verblieb. Der Kampf konnte weitergehen.
    „Und los!“


    * * *


    Sonjas moralischer Kompass zeigte nach wie vor unnachgiebig in die entgegengesetzte Richtung. Trotzdem hatte ihr „kleiner Krimi“ - wie sie es nannte - zwischenzeitlich den Besitzer gewechselt. Eine halbe Seite der Schülerzeitung maß ihr Artikel; eine halbe Seite, die einzig und allein für das Szenario in der Safari-Zone herhalten sollte. Es war ihr fremd, warum sie überhaupt eingewilligt hatte, Zorua derartig in den Fokus zu rücken. Weder für sie noch für ihn schien es vorteilhaft. Fühlte sich so waschechter Journalismus an?
    Nun saß sie eingeschüchtert auf ihrem Platz. Die Fingernägel waren abgekaut, die Hände verschwitzt. Zum zweiten Mal glaubte sie, dass Professor Liva anerkennend über den Rand des Artikels geschaut hatte. Sonja versuchte, sich zusammenzureißen. Gleichgültig, welche Vorbehalte sie noch hatte, wie schlecht sie ihre eigene Arbeit doch insgeheim fand, oder dass fast die ganze Plackerei an ihr hängengeblieben war: Die Beurteilung der Direktorin, die gleichzeitig das Amt der Chefredakteurin bekleidete, war das Einzige, was in diesem Moment zählte. Bald musste die Leserin soweit sein, denn die von Zeile zu Zeile huschenden Augen waren fast am Textende angelangt.
    „Nun gut, Miss Lynn. In die Presse damit, würde ich sagen.“
    Kaum merklich klappte Sonja der Kiefer herunter. Es kam so schnell wie unerwartet. Oder hatte sie sich verhört? Die Professorin hatte doch gerade erst zu lesen aufgehört. So schnell konnte sich doch niemand ein Urteil erlauben!
    Die Chefredakteurin fing die Skepsis bei ihrer Schülerin auf.
    „Haben Sie Vorbehalte?“
    Sonja überlegte. Am Ende blieb es bei einem knappen Kopfschütteln.
    „Nein, Professor.“
    „Aber?“, hakte die Schulleiterin nach.
    Darauf wusste Sonja keine zufriedenstellende Antwort, sonst hätte sie ja bereits bei dem ersten Nachhaken die Karten auf den Tisch gelegt. Also schwieg sie mit leicht gesenktem Haupt.
    „Ich glaube, der Philosoph Spinoza war es, der einst meinte, Bescheidenheit sei eine Art des Ehrgeizes. Dem kann ich nicht widersprechen. Ergänzen kann ich allerdings, dass Sie, Miss Lynn, bei aller Bescheidenheit Ihr Licht dennoch nicht unter den Scheffel stellen sollten. Oder benötigen Sie eine Form von Bestätigung?“
    Professor Liva flog kurz über das Blatt.
    „Gleich zu Beginn gehen Sie auf alle wichtigen W-Fragen ein und sortieren somit die Fakten auf den Artikelanfang. Der Leser ist gleich zu Beginn im Bilde, zudem vermeiden Sie somit einen zähen Start. Auch im Mittelteil lassen Sie keine Langeweile aufkommen. Mir persönlich gefällt Ihre Analogie des zerschlagenen Spiegels als Parallele zu Zoruas wahren Erscheinungsbildes.“
    „Freut mich, dass es Ihnen gefällt“, murmelte Sonja tonlos. „Es ist nur ...“ - Sonja atmete tief ein - „glauben Sie, dass es nicht ... na ja, Wichtigeres gibt?“
    Die Professorin legte das Blatt zur Seite, faltete ihre Hände und begegnete Sonjas Blick mit mütterlichem Verständnis.
    „Tatsächlich gäbe es da ein, zwei Dinge, die zurzeit großes Interesse unter Ihren Mitschülern genießen. Ich denke, Sie wissen sogar, worauf ich anspiele. Allerdings vermute ich, dass weder Ihr Klassenkamerad Mr. Granger sonderlich von der Idee begeistert wäre, seine Eskapade derart in den Fokus zu rücken, noch der Lehrkörper - mich eingeschlossen - es gutheißen würde. Vielleicht wäre es unsere Aufgabe als Journalisten, gerade das zu tun: Persönliche Gefühle zur Seite kehren und knallharte Fakten liefern.“ Die Professorin seufzte. „Aber in diesem Fall sollten wir vielleicht eine Ausnahme machen. Mr. Granger hat es auch so sicherlich bereits schwer genug, was meinen Sie?“
    „Ja, wahrscheinlich“, nickte Sonja.
    „Was uns zurück zu Ihrem Artikel führt, Miss Lynn. Sie haben sicherlich das ehrliche Interesse der Schülerschaft um Ihr aufregendes Abenteuer bemerkt. Ich sehe keinen Grund, diese Informationen den Lesern vorzuenthalten, zumal in diesem Fall niemand zu Schaden kommt.“
    Professor Liva stoppte kurz. Ihre Schülerin blieb die erhoffte Zu- oder Absage schuldig, also ergriff die Direktorin erneut das Wort.
    „Ich darf Ihnen einen Vorschlag unterbreiten: Sicherlich gibt es unter Ihren Mitschülern noch weitere erzählenswerte Vorfälle in der Safari-Zone. Wenn Sie möchten, können Sie in den nächsten Ausgaben noch weitere Berichte verfassen - zu jedem Haus einer. Was halten Sie davon?“
    „Das klingt toll!“, antwortete Sonja wahrheitsgemäß.
    Plötzlich strahlte die Raikou über beide Ohren. Wieso war sie selbst nicht auf diese Idee gekommen? Dann profilierte sie sich halt in dieser Ausgabe - na und? Dafür standen in den kommenden zwei Drucken andere im Rampenlicht. Über sie und Zorua würde dann bestimmt längst Gras gewachsen sein. Außerdem musste sie dann Professor Liva nicht mit einem Veto enttäuschen. Sonja konnte nicht anders, als der Empathie ihrer Rektorin tiefen Respekt zu zollen.
    „Dann ist ja alles geklärt“, lächelte nun auch Professor Liva. „Gut, Miss Lynn, ich sehe Sie und Mr. Valentine dann kommenden Donnerstag in der Redaktion. - Oh, jetzt fällt es mir wieder ein! Eine Sache noch ...“
    Sonja hatte sich bereits erhoben. Ihr eben noch vor Freude glühendes Gesicht gefror binnen Sekunden zu Eis.
    „Nichts Schlimmes“, beruhigte Professor Liva, die den plötzlichen Temperatursturz bemerkt hatte. „Ich bekam eine Anfrage von Ihrer Klassenkameradin Miss Diana Rawkes: Sie möchte von der Kunst-AG zur Schülerzeitung wechseln. Ich sähe es gerne, könnten Sie und Mr. Valentine Ihrer Klassenkameradin etwas unter die Arme greifen. Geht das für Sie beide in Ordnung?“
    „Klar, kein Problem.“


    * * *


    „Sag das noch mal! Du hast was?!
    „Alter, chill!“
    In der Schulcafeteria schwebte noch ein latentes Restaroma von Käsemakkaroni. Viele der Bänke und Stühle waren verwaist, und wer noch etwas Zeit schindete, bevor der restliche freie Samstag in Angriff genommen würde, der streckte entspannt die Beine in die Länge. Doch an einem etwas abgelegenen Tisch keimte Unruhe. Billy und Nicholas tauschten eher ratlose Blicke, während Rico aussah, als stünde er knöcheltief im Matsch. Im Nachhinein bereute der Unzufriedene es, so überreagiert zu haben. Mit raschen Seitenblicken verschaffte er sich Gewissheit darüber, dass niemand ihr Gespräch verfolgte, bevor er mit verschwörerischer Stimme und gesenktem Kopf nach einer Wiederholung der letzten Information fragte.
    „Diabetes habe ich. Der Brief heute Morgen - da stand das drin. Na und?“, sagte Billy.
    „Mein Beileid“, meinte Nicholas und klang dabei wie üblich recht trocken.
    „Beileid? Das ist vollpanne! Welcher normale Mensch kriegt mit 14 Diabetes?“, schimpfte Rico.
    Billy funkelte böse in Ricos Richtung.
    „Heißt das, ich bin nicht normal?“
    „Jeder kann es bekommen. Hab gehört, das liegt sogar in den Familien. Manchmal würden allerdings Generationen übersprungen werden“, erklärte Nicholas.
    „Das kommt nur davon, dass du immer so viel fettes Zeug in dich reinstopfst, wetten?“, funkelte Rico zurück.
    „Das hat damit ...“, begann Nicholas, wurde aber von dem wütenden Billy unterbrochen.
    „Was kümmert es dich? Und warum ziehst du so ’ne Show ab? Ich bin der mit Diabetes, nicht du!“
    „Was kommt als Nächstes? Du hast Asthma?“, grollte Rico und sah diesmal Nicholas an.
    Nicholas hob eine Braue und antwortete kühl: „Und wenn es so wäre?“
    „Alter!“
    „Komm runter, Mann!“, fauchten jetzt Billy und Nicholas im Chor.
    Daraufhin wurde es tatsächlich so ruhig, dass man die Geräuschsfetzen von den anderen Tischen als undeutliches Summen wieder hören konnte. Auch der eben noch heftig vibrierende Tisch kam langsam zur Ruhe. Rico lehnte sich zurück und schlug eingeschnappt die Arme über Kreuz.
    „Aber ja: Ich muss wohl in Zukunft etwas mit dem Essen aufpassen. Das kotzt. Hab nachher noch einen Termin bei Joy wegen Erklärungen und so.“
    „Putzig“, sagte Rico, während er ins Leere stierte. Dann aber setzte er eine hämische Grimasse auf. „Aber immer noch besser, als mit Granger zu tauschen!“
    Und darin waren sich die drei Enteis endlich wieder einig; sogar so sehr, dass sie geschlossen in Gelächter verfielen.


    * * *


    Der Radau an dem benachbarten Tisch währte nur kurz, trotzdem reichte es aus, dass Sora flüchtig in die Richtung ihrer Hauskameraden schaute. Auf Ricos Gesicht stand deutlich Ärger geschrieben. Was ihn wohl so erregte? So verstohlen wie er, Billy und Nicholas daraufhin die Köpfe zusammensteckten, mussten sie ein ganz heißes Eisen anfassen. Aber was kümmerte es Sora überhaupt? Es gab Wichtigeres!
    „Er muss also Strafdienst verrichten?“, hakte sie nach.
    „Wenn es wahr ist“, nickte Jenny, „und zwar bis zum Schuljahresende auf dem Hof der Johnsons. Das hat mir zumindest Rawkes geflüstert.“
    „Dann stimmt es also. Ich hab nämlich was Ähnliches gehört.“
    Die beiden Freundinnen tauschten kurz Blicke, dann ging Sora tief in sich. Diese Information war Gold wert! Malcolm Granger ohne sein lästiges Anhängsel.
    „Interessant, interessant ...“


    * * *


    Das Formular war typisch behördlich aufgebaut: Oben gab es kurze Reihen für die Personalien mit wenig Spielraum für Spekulation: Name des Schülers, Alter, Adresse und so weiter. Das gleiche Spiel mit den Eltern, auf der nächsten Seite, wobei hier bereits der Magen bei Phrasen wie „Besteht bei den in Feld 22 und 32 genannten Personen eine bedarfsgedeckte Haushaltsgemeinschaft?“ alarmierend rebellierte. Dieses Geschwür hatte Galan Armadis glücklicherweise gerade noch so ausmerzen können. Doch dies war nur der Anfang, das Vorgeplänkel sozusagen. Schon auf Seite drei läutete die nächste Kampfglocke, und nach nur fünf Minuten mit dem voll ausgewachsenen Bürokratenirrsinn im Boxring fühlte sich der Raikou-Hauslehrer, als hätte er mindestens einen Uppercut zuviel eingesteckt. Sein Blick huschte an das obere Ende des Blattes, wo er bei der Frage nach dem Vergehen des Schülers unter anderem „Unrechtmäßige Besitzumstruktierung“ angekreuzt hatte; neben „Sonstiges“ das Einzige, was er mit viel Müh und Not hatte entschlüsseln können. Warum nannten sie das Kind nicht einfach beim Namen? „Diebstahl“ - war das denn so schwer? Aber was zum Donnerwetter wollte das Formular, wenn es von „Obliegenheitsressort des Antragstellers“ sprach? „Nächste Subsidiaritätsinstanz“? Mit was nur hatte er diese Niedertracht verdient ...?
    „Sie machen ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter, Galan. Was schlägt ihnen auf den Magen?“
    Adriana Cenra trat näher an ihren Kollegen heran. Sie beugte sich etwas nach vorne und überflog kurz das Formular. Verwundert runzelte sie die Stirn.
    „Ich dachte, Sie hätten bereits einen ausführlichen Bericht vorgelegt?“
    „Der war für die Schulleitung, und auch soweit in Ordnung. Aber dem werten Schulamt waren meine Zeilen offenbar nicht ordentlich genug. Und jetzt darf ich mich hiermit rumärgern. - Glauben Sie, ich bin Lehrer geworden, um an meinem freien Sonnabend Formulare auszufüllen?“
    Adriana schüttelte den Kopf.
    „Gewiss nicht. Warum gehen Sie mit dem Schreiben nicht ins Sekretariat? Lydia würde es Ihnen sicherlich auf Anfrage ausfüllen.“
    Galan antwortete mit einem matten Lächeln: „Mit unserer lieben Mrs. Jenkins hatte ich in der Vergangenheit ... so meine Differenzen. Deshalb hatte ich eher auf Zarins Mithilfe gehofft.“
    Überflüssigerweise ließ Adriana Cenra ihren Blick kurz über das ausgestorbene Lehrerzimmer schweifen. Tische und Stühle waren verwaist, die Kaffeemaschine noch den ganzen Tag unbenutzt. Am Wochenende gehörte dieser Zustand zur Regel. Selbst Professor Cenra war nur auf einen kurzen Sprung hier, wie der Stoß Papiere in ihrer rechten Hand belegte.
    „Wie Sie sehen, ist er nicht hier. Warum gehen Sie nicht in sein Büro?“
    Galan knipste sein diplomatischstes Lächeln an, was ihm angesichts des durchdringenden Gesichtsausdrucks seiner Kollegin nur äußerst miserabel gelang.
    „Das wäre mir irgendwie peinlich.“
    „Also bitte!“, schnarrte Adriana unwirsch.
    „Wenn Sie Zarin jemals offen um eine Gefälligkeit gebeten hätten, verstünden Sie meine Vorsicht, Adriana. So sehr ich ihn als Kollegen schätze und achte, aber Zarin neigt bei solchen Anlässen gerne etwas zu sehr, mit seiner charmanten gönnerhaften Seite zu brillieren.“
    „Mag sein. Aber einen Knick in Ihrer Logik sehen Sie hierbei nicht? Wo bitte liegt der Unterschied, wenn Sie ihn hier ansprechen oder in seinem Büro?“
    „Ich setze mich freundschaftlich zu ihm, wir schwadronieren etwas über das Wetter, das Schulgeschehen, das Mousse au chocolat von vorgestern, und ganz beiläufig bitte ich um seine fachkundige Meinung zu“ - Galan suchte das Formular nach einem von vielen unausgefüllten Feldern ab - „,Vorstellig werdender Kurator’ in meiner Angelegenheit. So einfach ist das.“
    Adriana schmunzelte.
    „Eine solche Verschlagenheit erwarte ich eigentlich von Laurence oder Valentine. Respekt.“
    „Tja“, warf sich Galan breit lächelnd in die Brust.
    „Apropos Schulgeschehen: Was ist mit Emolga?“
    „Es bleibt bei einzelnen Sichtungen und ein paar gestohlene Päckchen Kaugummi, nichts Ernstes. Ich würde der Angelegenheit kein besonderes Interesse widmen. Wahrscheinlich erübrigt es sich irgendwann ganz von alleine“, schulterzuckte Galan.
    „Nun, wenn Sie das sagen ...“
    Adriana Cenra sah kurz in den nebligen Herbsttag außerhalb des Fensters hinaus. Daraufhin wollte die Professorin bereits die Tür anpeilen, als sie dann aber doch kehrt machte und mit einem Seufzen die Unterlagen auf den Tisch klatschte.
    „Es ist zwar auch nicht mein Metier, aber ich werde Ihnen etwas unter die Arme greifen, beziehungsweise es versuchen. - Möchten Sie derweil einen Tee, Galan? Brennnessel?“
    „Gerne! Danke!“


    * * *


    Es herrschte ausgelassene, unbekümmerte Stimmung im Suicune-Haus, wo das Wochenende voll im Gange war. Der Duft von frischgebackenen Brezeln hing in der Luft, man verschleppte noch etwas den Gedanken an den Stapel Hausaufgaben, der auf einen wartete, tauschte Pokémon-Sammelkarten und feierte natürlich den jüngsten Zuwachs in die Familie der Blaujacken: die vormalige Entei Kathy Torres. Mittlerweile war allen bekannt, dass Skip Faksen eine leitende Rolle bei dieser Transaktion gespielt hat; und dass die beiden miteinander gingen.
    „Die einzig richtige Entscheidung“, bestätigte Amy Radik jetzt zum x-ten Mal kopfnickend.
    Kathy sah noch etwas verlegen drein. Die Couch, auf der sie zwischen Skip, Beatrice, Miles, Marco und Hannah saß, fühlte sich irgendwie viel zu groß an, dass es schien, sie müsste jeden Moment in dem Kunstleder untergehen. Ihre Wangen glühten vor lauter Freundlichkeit, mit der man sie zuschüttete.
    „Irgendwie war mir von Anfang an nicht wirklich wohl bei den Enteis. Keine Ahnung, woran es lag“, schulterzuckte Kathy.
    „Bei dem Haufen von Spinnern würde ich mich auch nicht wohlfühlen“, sagte Miles, wobei er die Stimme etwas senkte.
    Marco und Beatrice nickten stumm, nur Skip zog die Stirn kraus.
    „Ich versteh ehrlich gesagt diese Anfeindung nicht. Klar gibt’s Unterschiede, aber was soll’s? Gibt’s doch überall. Mittlerweile komm ich sogar ganz gut mit Malcolm von den Raikous aus - ihr kleiner Hausdrache“, fügte er hinzu, wobei nicht wenige Blicke - teils anerkennend, teils mitfühlend - ausgetauscht wurden. „Außerdem tut’s bei Sturm jeder Hafen.“
    „Lucy ist ja ganz nett“, sagte Kathy, „aber verdammt neunmalklug und redet ohne Punkt und Komma.“
    „Die hängt in letzter Zeit viel mit der pummeligen Rawkes von den Raikous rum. Da haben sich echt zwei gefunden“, sagte Beatrice und imitierte mit ihrer schnell aufeinanderfolgend auf- und zugehenden Hand einen recht regsamen Mund. „Laber, laber, laber ...“
    „Ich würde echt aufpassen, wovon ich rede, Gruice, oder wie nennst du deine Speckröllchen? Hüftgold?“
    Mit einer breiten Grimasse zog Fabien an der Couch vorbei. Julia und Marina folgten ihrer Freundin unter leisem Kichern.
    Beatrice, die eben noch eine von Hannahs gebackenen Brezeln greifen wollte, beließ es bei dem Versuch und rutschte mit geröteten Wangen auf das Sofa zurück.
    Marco wandte sich direkt an Kathy.
    „Ist leider auch kein Paradies bei uns. Gestatten: die Gräfin Rotz von Popelsburg mit Anhang.“
    Alle lachten, selbst Beatrice und Kathy.
    „Halten wir fest: Wir haben die Gräfin, die Enteis ihre Labertasche und die Raikous ihren Hausdrachen. Am Ende doch nicht so verschieden, was?“, sagte Skip in die Runde.
    „Wo ist eigentlich Daniel?“, fragte Marco beiläufig.
    „Ich glaube, der wollte kurz in die Bibliothek. Lässt sich aber echt Zeit“, antwortete Miles.
    Beatrice, jetzt wieder etwas mutiger, schaute gierig auf die Schüssel auf dem Tisch.
    „Wenn er sich nicht beeilt, sind die Brezeln bald alle.“
    Passend dazu, als ob der Zufall mithörte, ertönte plötzlich ein „Bing“ aus der Küche.
    Hannah erhob sich unter erwartungsvollen Blicken.
    „Von wegen! Die nächste Fuhre rollt an.“


    * * *


    Die bloße Versuchung, seiner Bestrafung etwas Positives abzugewinnen, betrachtete Eagle als blanken Hohn. Schlimmer aber war, dass er insgeheim tatsächlich damit sympathisierte - gewissermaßen. Immerhin ging er den halben Samstag so seinen Mitschülern aus dem Weg, die ihn mehr als je zuvor schnitten. Ihn, den „üblen Missetäter“, der in einem perfiden Rachefeldzug ausgezogen war, sich dermaßen dreist über alle Regeln hinweggesetzt hatte und nur durch verdammtes Glück noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen war. Nicht, dass es ihn sonderlich kümmerte, was die anderen über ihn dachten, nein. Allerdings fühlte sich Eagle in seiner Rolle als mürrischer, kampferprobter Einzelgänger wesentlich wohler. Doch was kümmerte es ihn überhaupt, was die anderen über ihn dachten. Sollten sie ihm doch aus dem Weg gehen. Besser so! Und hier endeten bereits die Annehmlichkeiten. Von nun an hieß es, jeden Samstag in Herrgottsfrühe aus dem Bett zu kriechen und Frondienst leisten. An diesem Morgen hatte er sogar noch früher aufbrechen müssen, schließlich nötigte ihn dieses neue, unbekannte Terrain ein wenig zusätzliche Orientierung. Eine grobe Wegbeschreibung hatte er bekommen: An der Schule vorbei immer nordwärts. Verfehlen könne er es nicht, solange der dem Wege folge und die Abzweigung nicht verpasse. Eagle wusste, dass jenseits der Schule das Örtchen Green Ville liegt, von den Schülern auf dem Campus auch einfach nur Green genannt. Und davor befindet sich irgendwo die Ranch der Johnsons, wo junge Pokémon aufgezogen werden, die irgendwann bei den Schülern der Celebi-High ein neues Zuhause finden. Eagle fragte sich bloß, ob auch ungezogene Pokémon wie Panzaeron dort landeten. Er würde es sicher gleich erfahren ...

  • Part 2: Pädagogik mal anders



    Ein hölzernes Eingangsportal markierte den Beginn der hiesigen Grundstücksrechte: drei Meter hoch und fast genau so breit. An zwei rostigen Ketten befestigt baumelte ein Schild in der Luft. „Johnson“ hieß es in großen Lettern darauf. Der leicht steinige Feldweg führte direkt darunter hindurch. Links und rechts grenzten Holzzäune das offene Grasland ein. Sie verliefen weit; weiter als das Auge reichte, was zumindest an diesem Morgen angesichts des starken Nebels nicht verwunderte. So wie es eine Motte nachts zu einer Straßenlaterne und ein Schiff zu einem Leuchtturm zieht, hielt Eagle auf das künstliche, matte Licht zu, das hinter den verschlossenen Fenstern der Farm gegen die trübe Witterung ankämpfte. Es hatte etwas Magnetisches. Wärme und Geborgenheit waren spürbar, selbst aus der Distanz. Sogar die wenigen Haare auf den Fingerknöcheln reckten sich dem Ziel erwartungsvoll entgegen. Und dennoch verfinsterte sich Eagles Blick zunehmend. Ein Zurück war ausgeschlossen, und das wusste er. Die ganze Nacht hatte er in Gedanken Vorkehrungen für das Kommende getroffen. Trotzdem: Was gäbe er nur dafür, wären die Dinger anders für ihn gelaufen. Besser. Es half nichts …
    Unter Eagles Turnschuhen gab der sandige Boden knirschend nach. Der vorgegebene Weg führte an einer einsamen Fichte vorbei, um den man einen künstlichen Steingarten gelegt hatte, direkt zu einer Blockhütte. Zumindest von außen wirkte das Haus weitaus weniger rustikal, als es seinen ersten Gedanken entsprach; jedenfalls keine heruntergekommene, schäbige Bruchbude. Man mochte sogar fast von modern reden. Stufenweise schälten sich aus dem einstöckigen Bungalow mit dem granitfarbenen Flachdach weitere Anbauten. Mit mäßigem Erfolg hatten die Bauherren versucht, die Farbe des Hauptgebäudes beizubehalten. Stattdessen aber wechselten die Brauntöne auf den Holzpaneelen wie in einem bunten Mischwald. Der gesamte Komplex stand auf einer Bodenplatte, ebenfalls aus Holz, knappe 50 Zentimeter über dem Erdboden und durch eine kleine Treppe erreichbar. Sie führte direkt zu einer langen Veranda, die durch ein ebenso langes rotes Holzgeländer gesichert war. An warmen Tagen luden die Tische und Stühle darauf sicherlich zum Sonnenbaden ein. Jetzt aber, wie sie so verwaist auf dem Holzdielenfußboden dastanden, erweckten sie das Gefühl von Trostlosigkeit. In Gedanken strich Eagle über einen der Tische und zerrieb die Feuchtigkeit zwischen seinen Fingern. Alles wirkte in einem tipptopp Zustand. Kein Verfall, wenig Verschleiß. Es hing sogar noch eine Note frischer Lasur in der nasskalten Luft. Das kam unerwartet …
    Schwere Schritte polterten, ein Schatten hinter den Vorhängen, dann sprang die Tür auf. Es zählte nicht zum ersten Mal, dass Eagle mit der Leiterin der Pokémon-Pension zu tun hatte. Mit ihr und Pichu hatte der Schlamassel schließlich seine schicksalsträchtigen Anfänge genommen. Doch nie hatte er ihr ohne Begleitung gegenübergestanden. Jetzt war es allerdings ganz anders. Jetzt stand sie vor ihm, überragte ihn wie ein steiles, unheilvolles Massiv, das ihn schon allein mit ihrem gewaltigen Schatten zu erdrücken drohte. Mrs. Johnson trug an diesem Morgen eine knallig bunte Kittelschürze, die so groß war, dass man sie als Bettbezug hätte zweckentfremden können; passend dazu ein rosarotes Kopftuch mit Blumenmuster.
    „Granger? Malcolm Granger? Natürlich bist du Malcolm. Sonst wärst du jetzt nicht hier und würdest wohl noch im Bett liegen. Hahaha! Dann nur immer rein in die gute Stube!“


    Schweigsam und gefügig folgte Eagle seiner Gastgeberin durch die sauberen Flurgänge in das Gebäudeinnere. An den Wänden hingen viele eingerahmte Bilder. Selten waren es Landschaftsporträts. Meist strahlten Menschen jeglichen Alters und Nationalität in die Kamera, gelegentlich auch nur Pokémon oder auch bunt gemischt. Nur eines fand man nie auf den Bildern, nämlich Verhaltenheit. Überschwänglich grinsend erwiderte eine junge Mrs. Johnson - sie war noch nicht ganz so in die Breite gewachsen - den Händedruck mit einem Krawattenträger, während sie von dem Mann eine silbergerahmte Plakette gereicht bekam. Dasselbe Emblem hing gleich daneben, ebenfalls daneben: ein Zeitungsartikel, der von diesem Ereignis spricht. „Ein Stern wird neu geboren: Johnson Ranch zum dritten Mal in Folge ,Silbernes Relaxo’-Preisträger“.
    In der angekommen atmete Eagle erstmals eine deutliche Brise von Antiquiertheit ein - ein krasser Kontrast zu den übrigen Zimmern, die er gesehen hatte. Es schien so, als ob dieser Ort in der Zeit stehen geblieben war. Dafür, dass die Küche ziemlich klein war, war sie zu allem Überfluss noch völlig überladen. Viel Stellraum beanspruchten ein großer, brauner Tisch mit den dazu passenden Stühlen und ein mit dunklem Eisen verkleideter Ofen aus Urgroßmutters Zeiten; richtig altbacken. An der in flaschengrün gestrichenen Wand hingen Siebe, Pfannen, Schöpflöffel und andere Kochutensilien aus Metall. Die Regale und der größte Schrank im Raum waren vollgepackt mit Keramikgeschirr, darunter viele Krüge und Backformen. Von der einfachen Deckenlampe, die einen knappen Meter über dem Tisch baumelte, ging ein altersschwaches Glühen aus.
    „Setz dich. Ich mache dir was zu essen.“
    Als Mrs. Johnson einen Blick über die Schulter warf, bemerkte sie, dass sich ihr ausdruckslos dreinblickender Gast keinen Zentimeter von der Türschwelle bewegt hatte. Sie lächelte ihm zu.
    „Da ist der Tisch.
    „N-nicht nötig.“
    Dem Anflug von Widerworten zum Trotz packte Mrs. Johnson Eagles Unterarm und führte ihn sanft aber bestimmend zum Esstisch.
    „So, setz dich! Ein Junge in deinem Alter muss doch etwas essen!“
    „Ich habe keinen Hunger.“
    „Papperlapapp!“
    „Ich bin hier um … zu arbeiten!“
    Eagle biss sich auf die Lippen, während er mit leicht bebenden Händen die Stuhllehne umklammerte. Fast wäre ihm „… eine Strafe zu verbüßen“ herausgerutscht. Selbst er fand das seiner aufdringlichen Gastgeberin mehr als pietätlos gegenüber. Die aber reagierte gelassen lächelnd.
    „Natürlich bist du das. Und deinen Eifer in allen Ehren, aber um ordentlich anpacken zu können, muss man am Frühstückstisch gründlich zulangen. Du hast heute Morgen bestimmt noch keinen Bissen gegessen, stimmt’s? Also, was darf ich dir bringen? Toast? Brot? Brötchen? Rührei? Waffeln? Brownies? Corn Flakes? Müsli? Streuselkuchen? Ich habe außerdem …“
    „Dann nur Toast, danke.“
    Eagles Einsicht kam einer Kapitulation gleich - für beide Seiten. Sichtlich enttäuscht senkte Mrs. Johnson Pfanne und Kochlöffel, mit denen sie sich schon in Ekstase bewaffnet hatte.
    „Nur Toast also …“


    Zwei opulent gebutterte Toastscheiben und viele gute Wörter später roch es in der kleinen Küche dann doch nach Waffelteig, Rührei kochte in einer Pfanne und frische Sahne wurde geschlagen. Ihren überdurchschnittlichen Proportionen zum Trotz bewegte sich die kräftig gebaute Frau beachtlich geschickt durch ihr Heiligtum. Kein Tropfen ging daneben, kein Möbelstück wurde angerempelt, jeder Handgriff saß. Bloß das Geschirr stapelte bald recht schnell und alarmierend hoch. Von einer Spülmaschine fehlte jede Spur geschweige denn von einer Spüle. Also landeten schmutzige Teller, Pfannen und Besteck dort, wo gerade Platz war. Eagle fühlte das Rührei im Magen rebellieren. Nicht, weil es ihm nicht schmeckte - im Gegenteil. Vielmehr aus Schuldbewusstsein. Und mit jedem Bissen gärte dieses unangenehme Gefühl weiter. Er hasste es. So höflich wie kleinlaut bot er seine Hilfe beim Abwasch an, Mrs. Johnson aber winkte ab.
    „Ach was! Das bisschen Haushalt macht mir doch keine Arbeit! Du solltest mal sehen, wenn hier auf dem Hof Saison ist! Da fühlt sich das hier wie Urlaub an.“
    „Saison?“
    „Urlaubssaison. In guten Jahren fängt das bereits Mitte Ende März an. Vor zwei Jahren - was hatten wir da die Bude voll! Schon allein ein ganzes dutzend Rucksacktouristen aus Stratos City. Die wollten gar nicht mehr weg, so gut hat das denen bei uns gefallen. Städter halt. So deftige Hausmannskost und frische Luft bekommt man eben nicht in ihrem Betondschungel. Das kriegt man nur bei uns!“
    „Ich hab gedacht, sie ziehen hier Pokémon auf?“
    „Aber doch nicht nur, wo denkst du hin?“, machte Mrs. Johnson ihrer Entrüstung Luft und stemmte ihre Hände tadelnd in die Hüfte. Am Ende schüttelte sie dann einsichtig den Kopf. „Na, ich schätze, so was gehört eben nicht unbedingt zum typischen Lernstoff …“
    „Sorry“, antwortete Eagle knapp.
    „Also, du musst wissen, mein Mann hat den Hof bereits sehr früh von dessen Vater übertragen bekommen. Mein Schwiegervater war schon einige Jahre Witwer und mit dem Hof und der wachsenden Bürokratie völlig überfordert. Andere Kinder gab es nicht und verkaufen stand niemals wirklich zur Debatte. Also wurde ein Vertrag aufgesetzt, Stempel aufgedrückt und Unterschriften daruntergesetzt. Zumindest auf Papier gehörte der Hof dann uns. Wo es allerdings was zu bereden und bestimmen gab, hat sich mein Schwiegervater immer noch ordentlich eingemischt, aber genau so bei der Arbeit mit angepackt. Das war noch eine hart arbeitende Generation, musst du wissen; wahrscheinlich ist er deswegen schon so früh gestorben.“
    „Sorry.“
    „Es war noch alles viel kleiner als heute, richtig urig eben. Wir betrieben hauptsächlich Landwirtschaft, um über die Runden zu kommen. Was bei uns nicht selbst auf den Tisch kam, haben wir verkauft, um so die laufenden Kosten zu decken, halt alles, was noch so anfällt: Strom, Wasser und so weiter. Schon damals bestand bereits ein verbindlicher Vertrag zwischen deiner Schule und dem Hof. Ursprünglich war die Pokémon-Aufzucht eigentlich ja nur als kleiner Nebenerwerb gedacht, die Nachfrage stieg allerdings jährlich, also expandierten auch wir. Wir bekamen sogar Fördermittel vom Staat, sodass wir den Löwenanteil der Landwirtschaft stilllegen konnten, ohne am Hungertuch nagen zu müssen.“
    „Okay.“
    Mittlerweile bereute Eagle es, nachgefragt zu haben, war aber in dem Bezug zu höflich, nach einem Pflaster für seine blutenden Ohren zu fragen. In Wirklichkeit hasste er dieses Erwachsenengeschwätz. Langeweile pur und kein Ende in Sicht. Er war eingesperrt, konnte weder vor noch zurück, der eigenen Freiheit beraubt. War das Teil seiner Bestrafung?
    „Hin und wieder kamen in den Ferien Schüler; manche nur zu Besuch, um die Zeit etwas totzuschlagen, manche, um uns unter die Arme greifen, ganz freiwillig. Da sagen wir natürlich nicht Nein. Ein paar helfende Hände sind bei uns immer gerngesehen. Jedenfalls war es irgendwann mal später Abend geworden, und wir hatten noch drei oder vier Schüler im Haus - ich weiß schon gar nicht mehr. Es war in den Herbstferien, und deswegen bereits recht früh dunkel. Am Anfang hatten sie noch Witze darüber gemacht, hier zu übernachten, und ich meinte so, warum eigentlich nicht? Also habe ich einen kurzen Anruf beim damaligen Schulleiter abgesetzt und dessen Einverständnis bekommen - ich musste ihn allerdings ganz schön bearbeiten, kannst du mir glauben Hahaha! Wir hatten zu wenig Betten im Haus, aber das war gar kein Problem, weil ohnehin jeder im Heu schlafen wollte. Natürlich hat das am nächsten Tag in der Schule schnell die Runde gemacht, ob jetzt wegen der etwas außergewöhnlichen Übernachtung, oder des deftigen Frühstücks, oder weil jeder von ihnen einen Zögling heimlich ins Nachtquartier geschmuggelt hatte, das sei jetzt mal dahingestellt. Gleich am nächsten Tag wollten weitere Schüler bei uns übernachten. Das gab dann allerdings doch Probleme mit der Schulleitung. Wir konnten insoweit einen Kompromiss schließen, dass wir nur während der Ferien Kinder einquartieren durften, nicht über die Woche und nicht am Wochenende während der regulären Schulzeit. Und wir mussten natürlich für die Sicherheit der Schüler bürgen. Aber das … pff! Was soll schon passieren?“, winkte Mrs. Johnson mit einer schnellen Handbewegung ab. „Etwa ein halbes Jahr später, kurz vor den großen Sommerferien, kam dann die Überraschung: Sophie Grey - sie war eine der Ersten, die bei uns übernachtet hatte, - fragte an, ob sie mit ihrer Familie Ferien bei uns machen könne. Natürlich hatten wir uns darüber wahnsinnig gefreut und auch gleich zugesagt. Was wir zum damaligen Zeitpunkt nicht wussten: Ihr älterer Bruder Steven machte zu dieser Zeit ein Volontariat bei der Johtos Tägliche. Wir blieben bis zur letzten Sekunde im Ungewissen, bis dann plötzlich - ich glaube, es war eine Dienstagsausgabe kurz vor Ende der Sommerferien - ein riesiger Artikel über uns veröffentlicht wurde. So kam eines zum anderen. Plötzlich war unser kleiner Hof in aller Munde und wir konnten uns vor Anfragen überhaupt nicht mehr retten. Es schlug ein wie eine Bombe, kannst du mir glauben! Nach und nach haben wir angebaut und modernisiert. Na ja, das Meiste jedenfalls. Ich mag’s ja eigentlich lieber gemütlich. Hahaha! Und der Rest ist Geschichte, wie man so schön sagt.“
    Der Stolz spielte Dudelsack mit Mrs. Johnsons Lungen, so sehr schwoll der Frau die Brust. Eagle zwang sich lediglich zu einem höflichen Lächeln, so wie er es schon die ganze Zeit über getan hatte. Es war Rechtfertigung genug, um den Teller des Gasts, trotz Widerspruchs, noch einmal aufzufüllen. In genau diesem Moment ging die Küchentür auf und der Hausherr betrat den Raum.
    Mit seinen grünen Latzhosen und der üblichen Statur für einen Mann dieses Alters stellte Mr. Johnson einen deutlichen Kontrast zu dessen Frau dar. Das einzige Außergewöhnliche - wenn man es überhaupt so nennen durfte - an ihm war sein schütterndes, graues Haar, das ihm die Illusion des Alters auferlegte, und die Tatsache, dass er mehrere Rollen Toilettenpapier unter den rechten Arm geklemmt hatte.
    „Hertha, ich …“, begann er, dann erst fiel sein Blick auf den fremden Jungen in der Küche. „Oh, hallo! Du kommst von der Schule?“
    Die Begrüßung war nicht ganz so herzlich und deutlich distanzierter als die zuvor. Mrs. Johnson übernahm das Sprechen.
    „Malcolm isst eben noch fertig, dann schicke ich ihn zu dir raus.“
    „Er kann heute Alfons helfen“, überlegte Mr. Johnson laut, während er das Toilettenpapier unter seinen Armen gerade rückte.
    Mrs. Johnson runzelte die Stirn.
    „Wozu brauchst du das?“
    „Das willst du nicht wissen“, schüttelte er den Kopf. „Ich brauche noch zwei Gläser Honig Hertha. Wir haben doch noch welchen, oder?“
    Hatten. Bis vorgestern.“
    „Kein Honig mehr im Haus?“, stöhnte er. „Was ist passiert? Was hast du gemacht? Wo ist der hingekommen?“
    „Das willst du jetzt nicht wissen.“
    „Also gut, ich lass mir was einfallen“, seufzte Mr. Johnson und schüttelte resigniert den Kopf. „Diese Bauz bringen mich noch um den Verstand. Und noch ein Dreivierteljahr … Was bin ich froh, wenn die nicht mehr mein Problem sind.“
    Er stapfte wieder hinaus. Hinter der verschlossenen Tür war ein dumpfer Laut zu hören, dem ein leiser Fluch folgte. Eagle schlussfolgerte, dass ihm wohl gerade eine Rolle Klopapier heruntergefallen war - für was auch immer er die brauchte.
    Mrs. Johnson lächelte ihren Gast breit an.
    „Das ist Douglas, mein Mann.“
    „Hab ich mir schon gedacht.“
    „Bist eben auf Zack!“, lachte sie. „Na, dann iss mal schnell auf. Danach kannst du raus zu Alfons. Ich glaube, der weiß noch gar nicht Bescheid. Haben wir total verschwitzt. Macht auch nix. Ihr werdet euch bestimmt prächtig verstehen … solange du ihm nicht den ganzen Streuselkuchen wegisst. Hahaha!
    „Wer?“
    „Alfons, das ist unser Hofknecht“, erklärte Mrs. Johnson. „Ich weiß schon gar nicht, wie lange der bei uns ist. Kann mir den Hof gar nicht mehr ohne ihn vorstellen. Was der schon alles für uns gemacht hat … Ach, was rede ich da! Einpacken könnten wir ohne ihn! Unverzichtbar! Jedenfalls hilft er bei uns schon ewig aus. Er kommt aus Greene Ville, hat es also nicht besonders weit zu uns, verbringt bald mehr Zeit bei uns als bei sich zuhause. Er gehört deshalb richtig zur Familie. Wir haben ihm sogar mal angeboten, dass er und seine Frau zu uns auf den Hof ziehen könnten. Das hat er dann aber doch abgelehnt. - Oh, du bist schon fertig?“
    Eagle hatte demonstrativ den Teller nach vorne geschoben und sich ganz weit hinten an den Stuhlrücken gelehnt. Ihm war richtig warm und voll zumute, keine Situation, in der er noch großartig arbeiten oder überhaupt noch vor die Tür gehen wollte. Ein warmes weiches Bett - viel mehr brauchte er in diesem Moment nicht, um völlig glücklich zu sein. Doch dafür, das wusste er, war er dummerweise nicht hier.
    „Ich hatte eigentlich keinen Hunger“, log er.
    „Dafür hast du aber ordentlich zugeschlagen!“, lachte Mrs. Johnson.
    Sie räumte das Geschirr ab und stapelte es wenig grazil auf einer Ansammlung von Schüsseln und Pfannen. Irritiert spähte Eagle ein weiteres Mal durch den Raum. Eine Spüle schien tatsächlich keine zu existieren. Gerade als er noch einmal Hilfe beim Abwasch - wie auch immer das in diesem Haus funktionierte - anbieten wollte, ging zum zweiten Mal in nur kurzer Zeit die Tür auf.
    Abermals trat ein Mann ein. Er mochte vielleicht im gleichen Alter sein wie der Hausbesitzer, womöglich sogar ein, zwei Jahre darüber, doch war es nicht Mr. Johnson. Er besaß ebenfalls bereits graue Haare, die aber zum größten Teil von einer blau-schwarz karierten Schiebermütze verdeckt wurden. Sein leicht faltiges Gesicht fand erst die Hausherrin, dann den jungen Schüler, dann wandte er sich wieder der einzigen Frau im Raum zu.
    „De Doug hat’s mer grad verzehlt. Isser das?“
    Der Mann machte eine schnippische Kopfbewegung in Eagles Richtung. Der wiederum schaute verständnislos. Wer hat was?
    „Das ist Malcolm“, antwortete Mrs. Johnson lächelnd. „Er wird samstags bei uns aushelfen.“
    Jetzt lächelte auch der Mann, bei dem es sich allem Anschein nach um den Hofknecht Alfons handeln musste. Seinem Gesichtsausdruck allerdings fehlte das Warme und Mütterliche, war stattdessen eher belustigt und spöttisch.
    „Hasche was ausgefress oder warum musche dei Zeit jetzt bei uns abhocke?“ Im selben Moment winkte er wieder ab. „Kansche mer aach noch später verzehle. Bische dann soweit? Hann genuch Erwet.“
    In stiller Not schaute Eagle zu dem einzig verbliebenen menschlichen Wesen im Raum, denn wer oder was auch immer die Küche gerade betreten hatte, konnte unmöglich zur gleichen Rasse wie er gehören. Irgendwie verstand er einige Brocken … irgendwie dann aber auch nicht. Es war ein grausames Kauderwelsch, das weit über sein Verständnis hinausging.
    „Kannst ruhig mitgehen“, sagte Mrs. Johnson freundlich. „Ich mach das schon mit dem Geschirr. Und heute Mittag bleibst du noch zum Essen. Ich rufe euch, wenn es soweit ist. Viel Spaß!“
    Eagle erhob sich nur langsam. Seine Beine zitterten. Er fühlte sich plötzlich deutlich schwerer als zuvor. Hatte man ihn etwa gemästet, um ihn jetzt diesem … was auch immer zum Fraß vorzuwerfen? Ein letztes Mal schaute er Hilfe suchend durch den Raum, fand dort aber nur den beipflichtenden Blick von Mrs. Johnson und den unruhigen Gesichtsausdruck von Alfons.
    „Nemsch dir de Terribark un zwäi vun de Kläine un gehsch Keschde lese. Die sinn immer froh, wenn se emol vum Hof runner komme un was vun de Geschend siehn. Hobb, uff was wartschde dann? Uff besser Wedder oder schwätz ich Suaheli? Kenscht schun längscht wedder do sinn!“
    Eagle seufzte ein letztes Mal und folgte dem Knecht nach draußen. Es musste wohl so sein …

  • Part 3: Katerstimmung



    Trüb, kalt und regnerisch brach die nächste Woche an. Mit der Vorherrschaft des nasskalten Schmuddelwetters hielt die erste Erkältungswelle in diesem Schuljahr Celebi-Island in seinem erbarmungslosen Würgegriff. Für viele blieb es bei einer sehr langen Nacht mit nur wenig Schlaf. Statt Weckern klingelte ihnen ein grippaler Effekt in den Ohren, begleitet von einem vielstimmigen Stakkato aus Niesen, Husten und Schnäuzen aus benachbarten Zimmern. Regelrecht ein bizarrer Konkurrenzkampf entflammte noch am selben Morgen. In welch intensiven Rottönen die Nase leuchtete, die Anzahl vernichteter Taschentücher oder der schlaflosen Stunden in der letzten Nacht, wie durchweicht das eigene Kopfkissen oder wie dünnflüssig der Stuhlgang war - es gab absolut keine Hemmschwelle. Alles schien legitim und wurde in den Raum geworfen, um am Ende als uneinnehmbare Bazillenhochburg und als unanfechtbarer Herrscher des Schnodders dazustehen - mit allen schulfreien Privilegien, aber auch mit allen verrotzten Lastern.
    „Ich hab’s dir doch schon mal gesagt: Kastanien gesammelt! Jetzt geh mir nicht auf den Senkel, sonst setzt es gleich was!“
    Ray warf sein ganzes Können in die Waagschale, um Eagles sympathisches Wesen im vollen Ausmaß einzufangen - mit Erfolg. Einige der Mit-Raikous vor und hinter ihm warfen zum Teil verstörte Blicke in seine Richtung. Sie alle befanden sich auf dem Schulweg - oder auf dem Weg in den Krankenflügel, wie man es eben betrachtete. Von dem Imitierten fehlte allerdings jede Spur. Dieser hatte das Haus früher als sonst üblich verlassen.
    „Hab’s bei ihm jetzt wohl fürs Erste verschissen. Vielleicht kann ich ja ein paar Pluspunkte sammeln, wenn ich ihm anbiete, die Zwiebeln aus dem Essen zu pulen. Was meinst du?“
    „Glaub ich weniger, aber es wundert mich ehrlich gesagt nicht, sollte es stimmen, also diese Kastanien-Geschichte. Irgendwie wäre es schon logisch, dass sie ihn nicht gleich auf die Kleinen loslassen, so ohne wirkliches Wissen, und dann noch mit seinem Vorstrafenregister“, vermutete Sonja.
    „Ist doch langweilig … Kastanien sammeln … Wo bleibt da der Fun? Die Action? Außerdem würd ich gern wissen, was Riolu macht.“
    Sonja schaute Ray vorwurfsvoll an, was ihr angesichts der trüben Augen und roten Nase nur mäßig gelang.
    „Das ist eine Strafarbeit, kein Safaritrip! Er kann froh sein, dass sie ihn nicht rausgeschmissen haben - und du auch! Ich hab ja gleich gesagt, das geht in die Hose!“
    Den Unbekümmerten mimend, schlang Ray die Arme lässig um den Hinterkopf.
    „Die wievielte Gardinenpredigt zu dem Thema, Sonja? Ich hab aufgehört zu zählen.“
    In diesem Augenblick erreichten sie die Brücke. Das Knirschen des feuchten Schotters erstarb und wurde von den metallischen Klängen der Brückenbefestigung abgelöst.
    „Hast ja recht“, gab sich Sonja mit einem schweren Seufzen teilweise einsichtig, „aber es bleibt ja nicht bei dir hängen, oder bei Eagle.“
    „Dafür bei dir umso mehr“, konterte Ray belustigt.
    Passend dazu musste seine Gesprächspartnerin in genau diesem Moment niesen.
    „Es trifft immer die Falschen … Was hab ich bloß verbrochen?“
    „Sieh es doch als Geschenk! Das ist ein Freifahrschein für … na ja, halt einen freien Tag.“
    „Darauf kann ich verzichten, echt. Professor Joy will heute mit Klauen- und Schnabelpflege anfangen, schon vergessen? Ein Fehltag, dann weiß ich nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Außerdem hat es Zorua bitter nötig.“
    „Ich glaub, Joy hat heute ganz andere Sorgen. Unser halbes Schulhaus rennt ihr bestimmt gleich die Bude ein; Enteis und Suicunes nicht eingerechnet. - Können Pokémon eigentlich auch krank werden?“, überlegte Ray laut.
    „Kannst sie ja nachher selbst fragen. Wir haben sie in der achten Stunde. Da ist der Sturm längst vorbei.“
    „Und damit zu spät für meine Freistunden …“



    * * *


    Pünktlich zur Mittagszeit setzte ein wahrer Wolkenbruch ein. Noch die ganze Mittagspause schüttete es wie aus Eimern und auch danach war keine Besserung in Sicht. Passend dazu die Nachricht, mit der Professor Armadis die Suicune-Schulklasse der ersten Jahrgangsstufe im Anschluss an warmen Kartoffelauflauf und Backfisch schockte.
    „Camping?!“
    „Jetzt?!“
    „Geht’s noch?!“
    „Schon mal aus dem Fenster geschaut?!“
    „Was ein Quatsch!“
    „Vielleicht hat es bis dahin ja aufgeh…“
    „Halt die Klappe, Wesley!“
    Wie eine kalte Sinnflut schwappte die Hiobsbotschaft über die Suicunes hinweg. Tatsächlich war Marina plötzlich so bleich, als ob man ihre vor zwei Wochen abgesoffene, verquollene Leiche soeben aus dem Meer gefischt hätte. Selbst die sonst so ruhige, gefasste und zurückhaltende Evelyn Hobbs fuhr aus der Rolle. Mit bemerkenswerter Ruhe, fast schon mit Verständnis begegnete Professor Armadis derweil der aufgebrachten Schulklasse. Er ließ sich erst gar nicht aus der Fassung bringen. Das distanzierte Lächeln geschickt unter seinem Dreitagebart kaschiert, lehnte er gemütlich auf dem Lehrerstuhl am Pult zurück und wartete behäbig, bis nach und nach das Gezeter abflaute. Es dauerte etwas, aber irgendwann dann, nachdem Armadis dreimal geduldig auf seine Armbanduhr geschaut hatte, war das Gröbste überstanden, der Sturm im Klassenzimmer vorbei. Jetzt war es ein leises Wispern, das durch den Raum ging, die Blicke voller Neugier.
    „Das hat Tradition. Tja, ich schätze, dieses Jahr schuldet mir die gute Professor Cenra einen Nachtisch. Sie zaubert aber eine wunderbare Holunderquarkcreme mit Erdbeeren, müsst ihr wissen. Schade nur, dass es die falsche Jahreszeit ist.“
    „Tradition?“
    „Was fürn Nachtisch?“
    „Quatsch!“
    „Nicht Quatsch, Quark“, korrigierte Professor Armadis Kathrin. „Man wäscht Erdbeeren und schneidet die klein. Zwei oder drei Esslöffel Zucker, ich glaube außerdem noch Pistazien dazu, Quark, Sirup und Limettenschale …“
    Nicht wenige Suicunes schauten einander verständnislos an. Marco zeigte sogar Beatrice unter rollenden Augen den Vogel, die daraufhin leise kicherte.
    Hannah hob zaghaft die Hand.
    „Äh, Professor?“
    Professor Armadis schreckte auf.
    „W-was? Ihr braucht nicht mitschreiben. Ich habe bestimmt eh die Hälfte vergessen. Seit Jahren versuche ich, Professor Cenras kleines Geheimnis zu entlocken.“
    „Mein ich nicht“, nuschelte Hannah, wenn auch gleich eine eilige Notiz, die sie auf ihrem Schreibblock hinterlassen hat, nämlich Holunderquarkcreme mit Erdbeeren -> Schokolade raspeln? Cenra ausquetschen!!! auf etwas anderes schließen ließe. „Was für eine Tradition?“
    „Ach das“, lächelte Armadis. „Na, so wie es zu dieser Jahreszeit Tradition ist, mit der Grundstufe einen Samstagabend im Freien zu verbringen, ist es auch Tradition, dass ich mit meinen Kollegen wette, welche Klasse sich am lautesten darüber aufregt. Und, na ja, meinen Glückwunsch: Ihr habt gewonnen. Oder sollte ich sagen: verloren?“
    „Ich rall gar nichts mehr …“, brummte Miles.
    Einige nickten ihm beipflichtend zu.
    „Die Enteis und Raikous gehen auch?“, fragte Amy.
    Skip steckte Kathy den Kopf zu und murmelte, Ray habe tatsächlich diesbezüglich etwas erwähnt. Weitere Suicunes begannen zu tuscheln.
    „Natürlich gehen die ebenfalls. Oder glaubt ihr, ich schließe die anderen von dem Spaß aus, nur weil ich euch so gerne habe? Ganz im Ernst: Das habt ihr jetzt nicht gehört“, zwinkerte Armadis den Schülern verschwörerisch zu. Doch vergebens, denn Julias Nüstern nahmen trotz allem gefährliche Ausmaße an. Sie war es auch, die vorhin am lautesten gewettert hatte.
    Spaß? Spaß?! Was soll daran spaßig sein, da draußen bei dem Sauwetter zu krepieren?“
    Skip beugte sich etwas in Julias Richtung.
    „Es heißt Überleben in der Wildnis, oder?“
    „Halt dich da raus, Fischfresse!“
    „Was zickst du hier jetzt rum?!“, verteidigte Kathy ihren Freund.
    „Was willst du denn?! Kommst gerade rüber von Entei und markierst hier den Dicken!“
    „Und du spielst dich hier auf, als würde dir der Laden gehören!“
    „Genau!“
    „Recht hat sie!“
    „Und du ’nen Schatten!“
    „Aber vorhin noch die große Klappe riskiert!“
    „Gerade du! Du hast doch vorhin am lautesten geflennt! Wäh! Wäh!
    „Einbildung ist auch ’ne Bildung, sei froh!“
    „Stress!?“
    „Pfosten!“
    „Hackfresse!“
    „Puderquaste!“
    Die Beleidigungen flogen, auch mit Papierkügelchen wurde nicht gespart. Die Front war quasi überall, jeder gegen jeden, ohne eine klare Mehr- oder Minderheit. Wer nicht ein kategorisches Pro oder Kontra vertrat, der schaute zum gleichen Teil eingeschüchtert wie flehentlich zu dem einzigen Erwachsenen im Raum. Armadis aber, der so verträumt dreinschaute, als badete er gerade in Professor Cenras Holundererdbeercreme, krümmte keinen Finger, um den Streit zu schlichten; genau so, wie es bei den Raikous und Enteis vergangenen Freitag getan hatte, und schon die ganzen Jahre zuvor. Ein Kampf gegen Windmühlen: so lästig wie vergebens. Wieder wartete er; wartete, bis ganz von selbst Ruhe einkehrte.
    Diesmal dauerte es länger, auch war die Stimmung deutlich gereizter als beim ersten Mal. Noch immer warfen Kathy und Julia einander bitterböse Blicke zu, Daniel tuschelte aufgebracht mit Miles, und Madlene sah so aus, als wäre sie den Tränen nahe.
    „Also, Kiddos. Ich kann es leider nicht ändern, dass es herbstet. Folglich habe ich keinen Einfluss auf die Wetterlage.“
    Professor Armadis hatte sich erhoben und flanierte - unter den wachsamen Blicken der Suicunes - zum Fenster. Dort auf der Fensterbank stützte er sich ab und spähte nach draußen, wo das Unwetter unvermindert tobte.
    „Wir könnten es ja verschieben“, schlug Evelyn vor.
    Wieder steckten mehrere Schüler die Köpfe zusammen und begannen zu tuscheln. Professor Armadis blieb an dem Platz an der Fensterbank, doch schaute er über die Schulter. Dabei musterte er erst Evelyn, die das allererste Mal in seinem Unterricht überhaupt einen Ton hervorgebracht hatte; dann erst den Rest der Klasse.
    „Skip, Sie haben die Sache vorhin ziemlich gut erklärt. Können Sie das noch einmal wiederholen?“
    Der Suicune überlegte ein wenig, daraufhin sagte er: „Der Unterricht heißt Überleben in der Wildnis.
    „Kurz und bündig und genau auf den Punkt gebracht. Überleben in der Wildnis. Wahrscheinlich stiefelt niemand der hier Anwesenden gerne bei Wind und Wetter in der Weltgeschichte herum. Aber es lässt sich eben nicht immer vermeiden. Und ich will verdammt sein, wenn irgendwann auf einem Schundblatt einer meiner Schüler abgebildet ist mit dem Titel „Trainer von gefrorenem Kiefernzapfen erschlagen. Kann unsere Jugend nicht mal mehr ein Zelt aufstellen?“.
    Manch einer kicherte. Selbst Professor Armadis lächelte. Dann ging er zurück zum Pult, wo er auf der Tischkante Platz nahm und die Klasse taxierte.
    „Gott allein weiß, wer von euch letztendlich als Trainer, Koordinator, Beobachter oder was auch immer in die Welt hinausziehen wird. Aber ich denke doch schon, dass es einige sein werden. Dabei werdet ihr euch das Wetter, wenn ihr erst unterwegs seid, nicht aussuchen können. Genau so wenig werdet ihr darauf vertrauen können, im Fall der Fälle ein Dach über dem Kopf zu haben. Deshalb bereits jetzt der Rat, euch mit Instant-Nudeln anzufreunden und von dem Gedanken an komfortables Reisen mit Bett und Wärmflasche zu verabschieden.“
    Die meisten nickten einsichtig, nur wenige machten noch einen auf beleidigte Leberwurst.
    „Es gibt einen Ausweichtermin für den Ausflug - so wie jedes Jahr. Doch wie immer hoffe ich, dass ihn niemand wahrnehmen wird, was bislang immer der Fall war. Der Ausweichtermin ist nämlich am vorletzten Wochenende vor den Weihnachtsferien.“ Unbeeindruckt von halb geöffneten Mündern und entrüstet gehauchten Dezembern fuhr Professor Armadis - ein wenig lauter - fort. „Ansonsten bleibt es dabei: Diese Klasse zieht mit mir am Samstag in zwei Wochen aus. Bis dahin haben wir noch genügend Zeit, uns vorzubereiten.“ Er schaute auf die Uhr. „Wir haben heute noch gut zweieinhalb Stunden. Ich würde vorschlagen, nutzen wir sie.“

  • Part 4: Luftpost


    Noch den ganzen Montag und den halben Dienstag zeigte der Herbst seine unangenehme schmuddelige Seite. Erst gegen späten Nachmittag gab der Himmel vereinzelte blaue Lücken frei. Insbesondere die Raikou-Grundstufe schöpfte Hoffnung auf ein trockenes Wochenende, denn sie waren die Ersten, die am Samstag ihr Nachtlager unter dem freien Himmelszelt aufschlagen sollten. Niemand von ihnen zweifelte tatsächlich den Erfolg der Aufgabe an, schließlich stand ihrer Klasse der eigene Hauslehrer zur Seite, und an ein paar Zelt-Heringen sollte es dann auch nicht mehr scheitern. Dagegen bereitete das unberechenbare Wetter deutlich größeres Kopfzerbrechen, als es die aktuell kursierende Grippewelle tun könnte. Von dem Ausweichtermin im Dezember wollte niemand etwas wissen. Selbst diejenigen, die sich zu Wochenbeginn krankgemeldet hatten, überlegten es sich zweimal, dem Ausflug am Samstag den Rücken zuzukehren. Dass Professor Armadis in dieser Hinsicht ausnahmsweise keine Possen machte, wurde von Schülern der zweiten und dritten Jahrgangsstufe bestätigt, die zu ihrer Zeit in der Grundstufe dieselbe Option erhalten hatten.
    „Andy hat gesagt, wir bräuchten nix Großartiges mitzuschleppen, wäre alles schon vorbereitet, halt nur das Notwendigste“, sagte Ray.
    Zusammen mit Sonja, Skip und Kathy saßen sie auf einer Bank vor dem Suicune-Schulhaus. Auf dem Schoß verwöhnte er Sheinux mit einigen Streicheleinheiten. Daneben blies Sonja Trübsal, die das eingesunkene Kinn auf dem Reißverschluss ihres gelben Anoraks stützte und lustlos an den Jackensenkeln kaute. Kathys Kopf lehnte an Skips Schulter, während dieser seine wettergegerbte Nase der untergehenden Sonne an dem heute wenig bedeckten Himmel entgegen reckte. Unregelmäßig kamen Suicunes aus dem Haus und machten sich auf den Weg zur Schule. Jetzt, wo die Tage immer kürzer wurden, verschob sich auch das Abendessen um eine Stunde nach vorne.
    „Ihr habt’s gut“, seufzte Kathy. „Ihr seid jetzt schon dran, wir erst in zwei Wochen. Wer weiß, wie dann das Wetter ist. Besser wird’s garantiert nicht mehr.“
    „Armadis wird euch schon nicht erfrieren lassen. Wenn es hart auf hart kommt, wird er bestimmt was aus dem Ärmel zaubern“, antwortete Ray.
    Skip neigte den Kopf in Kathys Richtung.
    „Ich find, er hat recht, als er zu uns gemeint hat, dass man sich das Wetter eben nicht immer aussuchen kann. Und nur mit dem Auto von Stadt zu Stadt düsen, ist bestimmt nicht, wie man sich das wahre Trainerleben vorstellt. Da muss man auch mal mit rauem Seegang rechnen.“
    „Ich reise ja schon gerne, aber Trainerin … Glaub, das will ich nicht werden“, meinte Kathy kopfschüttelnd. „Ich würd ja gern was von der Welt sehen, wollte aber eigentlich schon immer meine eigene Werkstatt aufmachen.“ Kathy überlegte kurz. „Vielleicht mach ich ja beides: reisen und Sachen reparieren. ’ne mobile Werkstatt. Klingt ziemlich cool. - Was ist mit dir?“
    Skip grinste.
    „Ich werd genau so ein Taugenichts, wie mein alter Herr, bevor er meine Ma getroffen hat: Mit der Flut auslaufen, vom Wind über die Wellen tragen lassen und in den Tag hinein leben. Verkaufen, was man so unterwegs findet, Wracks plündern, Fährmann für Reisende spielen und so interessante Leute kennenlernen.“
    „Sau cool!“, kommentierte Ray und strahlte mit Skip um die Wette.
    „Gell? Was ist mit dir? Trainer?“
    „Der allerbeste! Stand für mich nie zur Debatte. Ich will zuallererst nach Stratos City. Die Stadt soll mega sein und die Technik dort nur so boomen. Von dort aus geht’s dann irgendwie weiter. Keine Ahnung wohin. Hauptsache irgendwohin.“
    „Stratos hat einen großen Hafen, hab ich gehört. Kann dich ja an Land absetzen, wenn es soweit ist. Aber ansonsten soll die ganze Einall-Region ein ziemlich trockener Strich in der Landschaft sein, genau so wie Kalos. Schade irgendwie. Ich glaub, mich wird’s eher nach Alola verschlagen, oder zu den Orange-Inseln. Hoenn ist bestimmt auch recht nett. - Was ist eigentlich mit dir Sonja? Bist so still.“
    Sonja seufzte trübsinnig, blieb ihren Freunden eine Antwort aber schuldig. Kathy und Skip schauten Ray ratlos an, der wiederum rollte die Augen.
    „Immer noch angepisst wegen der Geschichte mit Diana.“ Jetzt drehte er sich direkt zu ihr. „Lass dich doch davon nicht so fertig machen, dass sie, ja, ähh …“
    „Sag es doch, wie es ist!“, sagte Sonja so laut, dass Sheinux aufschreckte und sie grimmig anschaute. „Sie verwandelt uns in eine Art Kampfgewerbe. Klatsch und Tratsch und Halbwahrheiten. Seriöser Journalismus ist was anderes!“ Sie atmete schwer aus und fuhr sich fahrig durch das blonde Haar. Dann schüttelte sie den Kopf. „Sorry, Leute. Ich bin einfach ein wenig schlecht gelaunt, das ist alles.“
    „Und Ohrensausen hat sie nach wie vor“, feixte Ray.
    „Ist bereits besser geworden. Bis Samstag bin ich bestimmt wieder ganz fit - hoffentlich“, erwiderte Sonja.
    „Siehst auch noch ziemlich blass aus“, attestierte Skip.
    „Nur die Nase - die ist schön rot.“
    Ein feuchter Wind griff um sich, landeinwärts, böig, ungezähmt. Die kalten Fänge leckten nach jedem Stückchen nackter Haut, zerzausten Haare und hinterließen ein unangenehmes Kribbeln auf den Gesichtern der Betroffenen. Obwohl es der wärmste Tag der Woche war und ausnahmsweise sogar mal die Sonne schien, erinnerte die Bö schmerzlich an das unausweichliche Näherkommen der kalten Jahreszeit. Dieser Gewissheit konnte auch ein Rudel Suicune-Zweitstufler nicht entfliehen, die just in jenem Moment ihr Haus verließen und sich erbost schüttelten, als ob man sie gerade mit frostigem Wasser übergossen hätte. Sonja machte einen Mund, als ob sie in eine Zitrone gebissen hätte; ob jetzt wegen Rays Seitenhieb oder der eisigen Brise, ließ sie offen.
    Zögerlich glitt Kathys Blick über den Horizont.
    „Kann man nur hoffen, dass das Wetter hält. Ich sehe da schwarz für uns in zwei Wochen.“
    Skip lächelte sie an.
    „Andernfalls schaff ich es vielleicht, Armadis dazu zu überreden, den Ausflug auf die offene See zu legen. Beste Bedingungen zum Auslaufen.“
    „Danke, mir ist schon schlecht“, würgte Kathy künstlich. Dann wandte sie sich mit kraus gezogener Stirn Sonja zu. „Was ist das eigentlich mit dir und Diana?“
    Die Raikou schnaubte.
    „Ich hab mich von Professor Liva breitschlagen lassen, sie in unsere AG-Gruppe aufzunehmen.“
    „Schülerzeitung“, fügte Ray gleichmütig hinzu.
    „Ja, Schülerzeitung … Dachte, ich könnte einige Bonuspunkte sammeln. Was war ich saublöd…“ Genervt zog sie eine Schneise durch ihr blondes Haar. Sheinux, der schon eine ganze Weile Sonjas unnatürliches Verhalten beobachtete, sprang auf ihren Schoß und sah sie zum gleichen Teil frech wie treuherzig an. Das zauberte zumindest ein kleines Lächeln auf das Gesicht des Mädchens. Sie vergalt es ihm mit ein paar liebevollen Streicheleinheiten. „Jedenfalls hat sie sofort das Zepter an sich gerissen. Meinte so, dass sie wahnsinnig tolle Ideen hätte, von wegen Gerüchte und reißerische Überschriften. Und treudoof wie ich bin, hab ich es stumm abgenickt.“
    „Du musst aber zugeben, sie hat ein Konzept und verdammt gute Quellen.“ Verschwörerisch beugte sich Ray in Skips und Kathys Richtung. „Habt ihr gewusst, dass Billy Finch Diabetes hat? Erst vor Kurzem dia…gnosti…ziert.
    Noch bevor die beiden aus ihren ungläubig geöffneten Mündern ein langes „O“ oder „Was“ bekommen konnten, ging Sonja fauchend dazwischen.
    „Ray! Das geht uns und niemanden sonst was an! So was gehört sich nicht! Oder wolltest du, dass jeder erfährt, wann du das letzte Mal Durchfall hattest?“
    Ray lehnte sich entspannt zurück, den Blick dem orangefarbenen Himmel zugerichtet.
    „Du nennst es ,Durchfall’, ich nenne es ‚ein Alibi’. Außerdem hab ich…“ Ray spähte plötzlich angestrengt, die Augen zu Schlitzen verengt, in den Himmel. „Was’n das?“
    Der Raikou sprang auf die Beine und tat einen eiligen Schritt vor. Dann machte er eine Handbewegung in die Luft, als wollte er eine lästige Fliege verjagen. Das Stück Papier, nach dem er tastete, glitt ihm durch die ausgestreckten Finger und schlitterte auf den Boden. Seine Freunde beugten interessiert nach vorne, als er das rosarote Blatt aufhob. Angewidert kräuselte er die Lippen. Es war ganz feucht und klebrig.
    Ohne weitere Vorwarnung schoss plötzlich aus heiterem Himmel ein weiß-schwarzes Etwas auf Ray herab, das der Wind nur so heulte. Der Mensch reagierte geistesgegenwärtig und duckte sich. Dann wieder: Erst von links, dann von rechts, immer wieder malträtierte der Schemen den Jungen mit Sturzflügen. Erst als Skip, Sonja und Kathy Ray abschirmten und bedrohlich mit den Fäusten in die Luft ballerten und auch Funken aus Sheinux’ Fell unheilvoll knisterten, ebbte endlich die Rage ab. Die Bewegung des Angreifers wurde langsamer und ging in etwas Fließendes über, in etwas Gleitendes, das knapp zehn Fuß über den Köpfen der Schüler kreiste. Diese spähten mit geöffneten Mündern in die Höhe, unfähig, mit den richtigen Worten auf das Geschehene zu reagieren.
    Sonja war die Erste, die schließlich die Sprache fand. Mit verunsichertem Blick murmelte sie: „Ist das …? Moment …“ Sonja zog angestrengt die Stirn kraus. Die anderen schauten abwechselnd Sonja und den Flieger am Himmel an. „Das kleine Pokémon … Ihr wisst schon, das aus Jakes Ei geschlüpft ist. Irgendwas mit ,ga’ hat Professor Joy gesagt. ,Olga’?“
    Ray und Skip schauten einander einen Augenblick an. Dann wie aus einer gemeinsamen Pistole geschossen: „Emolga?“
    Der Ruf der Jungen besaß die Wirkung einer Schulglocke. Plötzlich ging Emolga ein weiteres Mal in den Sturzflug über, diesmal aber etwas abseits der Schüler. Als der Boden näher rückte, stemmte das Pokémon seinen Rücken um fast 45 Grad nach oben. Die Gleitschwingen an den Armen federten und in einer schwungvollen, nahezu schwebenden Bewegung setzten die beiden winzigen Füße des Überfliegers anmutig auf dem Kies auf.
    Die Menschen starrten dem Luftikus mit offenen Mündern entgegen. Die kleinen Ärmchen waren protestierend in die Hüfte geschlagen, die pausbäckigen, gelben Wangen zuckten, der Blick aus den schwarzen Knopfaugen stand ungewöhnlich streng. Sheinux lugte neugierig zwischen Rays Beinen hindurch, doch Emolga zeigte kein Interesse an ihm. Stattdessen sah es so aus, als fixierte sie einzig und allein den Jungen mit dem Blatt Papier in der Hand.
    Kathys Blick machte die Runde.
    „Versteht das wer?“
    „Keine Ahnung“, schüttelte Ray den Kopf.
    Auch Sonja und Skip stimmten mit ein.
    Herausfordernd machte Emolga einen Schritt nach vorne. Aus Sicht eines Menschen war die Bewegung so wie das Pokémon selbst: winzig. Doch an der unerbittlichen Strenge des Blicks hatte sich nichts getan. Sheinux hatte mittlerweile schützend Stellung zwischen den Menschen und dem Störenfried bezogen, den Schwanz erhoben und die Krallen auf dem steinigen Untergrund schabend. Aber Ray hielt seinen kleinen Freund mit einer mahnenden Handbewegung zurück.
    Emolga zuckte. Die Augen in freudiger Erwartung schnellten nach oben, dorthin, wo Ray gerade das Stück Papier gerichtet hatte, um Sheinux zurück zu zitieren.
    Ray runzelte die Stirn.
    „Willst du das haben? Gehört das dir? Was ist das überhaupt.“ Er wedelte angewidert den Zettel im dünnen Wind, wobei Emolgas Augen aufgeregt mithuschten. „Bäh, ganz klebrig.“ Dann begann er, das Pergament zu studieren. Ein paar Zeilen und ein tiefer Seufzer später: die Gewissheit. „Ihh Mathe …!“
    Tatsächlich. Die Zahlen und Buchstaben waren teilweise durch Feuchtigkeit verschwommen, aber die Reihenfolge und Anordnung aller Schriftzeichen ließen keinen Zweifel offen, dass es sich hierbei um mathematische Formeln handelte. Auch der Rest der Gruppe beugte sich nun über den Fund.
    „Das sind unsere Hausaufgaben für morgen“, stellte Sonja überrascht fest. „Ich weiß das halt“, schnarrte sie Ray auf dessen verunsicherten Gesichtsausdruck unwirsch an, „weil ich im Unterricht eben nicht den Schlaf der letzten Nacht nachhole, und Finch die Sachen morgen auf dem Tisch haben will! Das ist ein Wink mit dem Zaunpfahl, Ray Valentine!“
    „Geschenkt“, winkte Ray grinsend ab. Wenn gleich ihn die kryptischen Ansammlungen von Buchstaben und Zahlen auch anekelten, beugte er sich tiefer, dem süßen Duft entgegen. „Riecht … nach Erdbeeren.“
    „Guck mal, da fehlt sogar ein Stück, da an der Kante“, gluckste Kathy amüsiert. „Sieht so aus, als ob Emolga etwas abgebissen hätte, und den Rest abgeschlabbert, wetten?“
    Ray wusste nicht, ob er laut lachen oder angewidert das Blatt in die nächstbeste Mülltonne stopfen sollte. Zum Schluss entschied er sich für ein Grinsen.
    „Wem gehört das?“, fragte Sonja. Beiläufig warf sie einen abschätzenden Blick zu Emolga. „Muss ja jemand aus der Grundstufe sein.“
    „Ich kenne ehrlich gesagt nur eine Person, die rosafarbenes Papier benutzt, das nach Erdbeeren riecht: Julia.
    Kathy sparte nicht mit Abfälligkeit in der Stimme, sondern spuckte den Namen förmlich aus. Ihre Meinungsverschiedenheit am Montagmorgen hatte sie noch gut in Erinnerung und die Narben brannten dementsprechend so heiß auf der Haut wie die Wut an jenem Tag. Ihre Züge nahmen plötzlich eine hässliche Fratze an, die kaum ihrer zurückhaltenden, liebevollen Art gerecht wurde. „Geben wir es ihr zurück“ - Kathys Zeige- und Mittelfinger formten eine Schere bei der Arbeit - „in Fetzen.“
    Sonja schüttelte protestierend den Kopf.
    „Ich würd sie auch nicht meine Blumen gießen lassen, aber das gehört sich einfach nicht.“
    „Aye“, stimmte Skip zu.
    Mit dem Veto ihres Freundes wurde Kathy widerwillig einsichtig. Enttäuscht atmete sie aus: „Also gut.“
    „Ändert aber alles kaum etwas an der Tatsache, dass wir noch immer ein kleines Problem haben.“
    Sonja schaute nach links, mit ihr auch der Rest ihrer Schulkameraden. Emolga hatte etwas von einem sturen Felsen. Keinen Millimeter hatte sie sich vom Fleck gerührt, den fordernden Ausdruck auf ihrem süßen Gesicht hielt sie ebenfalls eisern aufrecht. Auch wenn es sich bei Julias Mathematikhausaufgabe um widersprüchlich angeeignetes Beutegut handelte, drängte der kleine Luftikus verbissen um ihr „Eigentum“. Die Gruppe ahnte, dass ein Nein unzweifelhaft in eine Katastrophe münden würde. Man konnte gut darauf verzichten, noch einmal als Slalomstange für diese Luftshow herhalten zu müssen. Und dann war da natürlich noch das Problem, Julia die ganze Angelegenheit zu erklären, wo sie ohnehin nicht sonderlich gut auf irgendeinen der vier zu sprechen war.
    „Wenn Emolga es zurückbringen würde, am besten noch ganz heimlich, dann wäre die Sache ja geritzt“, schlug Ray vor.
    Mit einem spöttischen Lachen schnappte Sonja nach Luft. „Natürlich. Wovon träumst du nachts?“ Mit zusammengebissenen Zähnen wog die blonde Raikou die Möglichkeiten ab. Schwamm drüber und die Geschichte vergessen, schien angesichts der verqueren Situation gar kein so schlechter Gedanke, auch wenn es sich als moralische Niederlage anfühlte. Mit einem raschen Seitenblick spießte sie Emolga förmlich auf. „Erdbeerverrücktes Biest“, murmelte sie.
    „Wartet mal, mir kommt da ’ne Idee! Haltet Emolga mal bei der Stange.“ Skip eilte in das Suicune-Haus und kehrte nach zwei Minuten zurück. In den Händen hielt er eine Obstschale mit einer zartrosafarbenen Creme. „Professor Cenras Erdbeerholundercreme“, erklärte Skip freudenstrahlend und hob die Schale etwas in die Höhe. „Amy konnte ihr das Rezept abschwatzen und hat es gleich nachgekocht. Hab mitbekommen, wie sie vorhin Jannis auf Knien nach den gefrosteten Erdbeeren im Tiefkühlschrank angebettelt hat. Müssen die letzten auf der ganzen gottverfluchten Insel sein, so ’n Wucherpreis hat er ihr gemacht.“
    Skip ließ sich von Ray das Papier geben und näherte sich mit der Hausaufgabe in der einen und der Erdbeerholundercreme in der anderen Hand Emolgas Position. Die beobachtete das Geschehen skeptisch. Insbesondere aber pendelten ihre schwarzen Knopfaugen immer wieder zwischen dem Menschen und dem rosafarbenen Papier in dessen Hand.
    „Emolga“, flötete Skip mit süffisanter Stimme, „würdest du das wieder zurückbringen, wo du es gefunden hast?“
    Wie erwartet riss Emolga empört den Mund auf, gestikulierte feindselig mit ihren kurzen Stummelhändchen, die wie die Schweife zweier konkurrierenden Tauros durch die Luft peitschten, und sparte kaum an Verwünschungen in Pokémon-Sprache.
    Skip blieb gelassen und näherte sich weiter. „Auch nicht für ’ne Buddel hiervon?“, lächelte Skip und hob erneut demonstrativ die kleine Schalte in die Höhe.
    Zum ersten Mal wechselte Emolgas Interesse. Sie fokussierte nun deutlich das Angebot des Menschen, der sich neben ihr kniete. Der Größenunterschied war gewaltig. Dennoch ließ sich das kleine Pokémon wenig einschüchtern, sondern reckte begierig die Nase nach vorne und schnupperte. Dann plötzlich funkelten Emolgas Augen wie Sterne.
    „Na, haben wir einen Deal?“
    Skips Frage blieb unbeantwortet. So schnell konnte er gar nicht schauen, da hatte Emolga Skip gleich beides aus der Hand gerissen - Schale und Papier. Da sie aber mit dem Ballast unmöglich in die Luft steigen vermochte und ihre kurzen Beinchen nur bedingt zum Laufen geeignet waren, tauchte sie gleich das ganze Gesicht in die rosafarbene Creme ein. Belustigt murmelte Ray etwas von wegen „Will auch“ und auch die anderen prusteten bei diesem Anblick vor Lachen.
    Als Emolga ihren Kopf wieder hob, war sie wie an Fasching bemalt. Ihre Zunge schnalzte über den lippenlosen Mund und die Augen strahlten wie das Gelb der Sonne. Dann riss sie die Arme hinauf, machte einen kurzen Satz und schwang sich auf einen Luftzug, der sie in die Höhe beförderte. Eine Seitwärtsrolle später legte sie sich steil in eine Kurve und raste Richtung Schule.
    Ein verblüfftes Schweigen senkte sich über die Zurückgebliebenen. Die Schale mit Amys Erdneerholundercreme war ratzekahl leergeputzt und Emolga kaum noch mehr als ein winziger Punkt am Horizont wahrzunehmen.
    „Wundert mich, dass es sogar unter Pokémon so etwas wie Ehre gibt. Emolga könnte genau so gut auf die Abmachung spucken. Sie hat ja alles, was sie wollte. Aber es sieht wirklich so aus, als ginge sie darauf ein“, überlegte Sonja laut.
    Ray nahm die Schale in die Hand, bemühte sich allerdings, Abstand von Emolgas Schlabberflecken zu halten. Auch er schnüffelte daran.
    „Bei der Bestechung? Damit kriegst du sogar Finch butterweich, wetten? Und wo eine Belohnung winkt, da gibt es auch regelmäßig mehr. - Gute Idee, Alter“, lobte er Skip über den grünen Klee.
    Skip atmete erleichtert aus.
    „Bin nur froh, dass es geklappt hat, und dass Amy so ’ne Zauberin in der Kombüse ist. Was sonst passiert wäre, will ich gar nicht wissen.“
    Sonja und Kathy nickten beipflichtend.
    „So, ich hab jetzt auch Hunger. Entweder wir plündern eure Küche oder wir gehen in die Mensa“, verkündete Ray strahlend in die Runde.
    „Hört, hört!“

  • Part 5: Schaumstoffsärge


    In den nachfolgenden Tagen klarte der Himmel wieder auf. Die angenehmen Temperaturen - jedenfalls für herbstliche Verhältnisse - sorgten auch bei den Schülern der Grundstufe für eine weniger triste Atmosphäre. Selbst Sonja konnte ihren Verdruss vergessen - der bizarren Begegnung mit Emolga gedankt. Zu heiß fieberte sie nun dem weiteren Artikel auf ihrem Noch-zu-erledigen-Stoß entgegen, als dass sie sich wegen des verpfuschten Wochenendes, Dianas Eskapaden oder ihrer Erkältung verrückt machen wollte. Ohne Sonja gab es eine Kritikerin weniger. Letztendlich blieb es aber bei einer überragenden Mehrheit der Null-Bock-auf-diesen-Scheiß-Bewegung, die die überschaubare Anzahl an Unparteiischen oder Befürwortern wie ein entmutigender Schatten verfolgte. Und kam es dann doch zu einem Schlagabtausch der unausgewogenen Fronten, nahm dieser Schatten rasch Form einer zänkischen Vortex an, die alle schlichtenden oder mildernden Argumente erbarmungslos verzehrte. Mit einem ausgerissenen Haarbüschel, einem aufgeschlagenen Knie und zwei Runden Nachsitzen endete der Freitag und damit der Höhepunkt der Feindseligkeiten.
    Am späten Freitagabend lag Ray unbeeindruckt im Bett, den Kopf auf den gefalteten Händen ruhend und auf die Zimmerdecke starrend. Der bevorstehende Ausflug gehörte zu den besonderen Dingen, mit der die Celebi-High bislang aufwartete, allerdings wollte er sich deswegen nicht verrückt machen. Aus einem exzentrischen Blickwinkel gesehen, würde es ein ganz normales Wochenende werden wie sonst auch - mit jeder Menge Fun und Action. Kein Anlass also zum Panikmachen. Zumindest redete er sich das ein. Doch als er so da lag, immer wieder den morgigen Tag vor dem geistigen Auge abspielte, musste er doch zugeben, dass er sich noch nie zuvor so sehr über ein „ganz normales Wochenende“ den Kopf zerbrochen hatte.
    „Vielleicht doch nicht so normal“, gähnte er, das Gesicht im Anschluss zu einem beipflichtenden Grinsen verzogen, welches rasch wieder einem nachdenklichen Ausdruck folgte.
    Er neigte den Kopf etwas zur Seite. Zu seiner großen Verwunderung hatte Eagle eine ähnliche Position eingenommen. Auch dessen Kopf ruhte auf gefalteten Händen und der Blick war schnurgerade zur Decke gerichtet. Ray kniff etwas die Augen zusammen - ein zum Scheitern verurteilter Versuch, in die verschlossenen Gedanken seines Zimmerkameraden einzudringen. Am Ende überließ er Eagle wieder dessen geistigen Intimsphäre, schaltete seine Nachttischlampe aus und schlief nach wenigen Minuten ein.


    Schon um 13.30 Uhr, und damit eine halbe Stunde vor der verabredeten Zeit, fanden sich am darauffolgenden Tag die ersten Raikous vor dem gleichfarbigen Schulhaus ein. Wie Diana überflüssigerweise zum zweiten Mal erwähnte, hatte die Wettertante vom Rundfunk Johto Südwest (RJS) ausnahmsweise recht behalten und einen Glückstreffer mit klarer Sicht und neun Sonnenstunden bei bis zu zehn Grad gelandet. Nicht bei allen anwesenden Raikous spiegelte sich das gelungene Ausflugswetter jedoch wider. Linsey, die zu den härtesten Kritikern gehörte, versprühte den Charme eines Gewitters, das einem den lang geplanten Sonntagsparziergang verdirbt. Miller machte ebenfalls ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter und saß, den Kopf lustlos in die trichtergeformten Hände gestützt, auf der Eingangstreppe zum Schulhaus. Zu seiner Rechten saß Jake, deutlich entspannter dreinblickend aber aufgrund des angespannten Klimas der vergangenen Tage trotzdem dezent zurückhaltend.
    Immer mehr Raikous trudelten mit der Zeit ein. Ein Jeder hatte Professor Armadis’ ausdrückliche Warnung ernst genommen, und keinen „Harper gemacht“. - Harper, das war laut des Professors eine Entei-Schülerin, die vor sechs Jahren mit zwei Koffern, einer Handtasche und einem Rucksack den Ausflug hatte anpacken wollen. „Leichtes Gepäck“, hatte ihr Hauslehrer versichert, heiße, ein Minimum an Kleidung zum Wechseln, ein paar Körperpflegeartikel und vielleicht ein Päckchen Kaugummi, seien mehr als ausreichend, um nicht ins Gras zu beißen, oder durchzufallen, je nachdem, wo man seine Prioritäten setze. Weiterhin hatte Professor Armadis versichert, die restliche Ausrüstung wie Zelte und Schlafsäcke zu stellen, was er mit einem verschwörerischen Augenzwinkern besiegelt hatte. Zwar ging auch bei dieser Bemerkung die Meinungen zwischen den Schülern auseinander, doch hielten es die Meisten für unwahrscheinlich, dass es sich bei dieser Abmachung um eine Finte handelte. Zumal gab es keine Möglichkeit, in so kurzer Zeit an eine vollwertige Campingausrüstung zu kommen. Daher interpretierten viele diese Geste als eine vorweggenommene Warnung, dass zu einer echten Reise auch noch ein paar Kilo Reisegepäck auf dem Rücken gehören.
    Kurz vor 14 Uhr glich die Atmosphäre vor dem Raikou-Schulhaus einem geschäftigen Bienenstock. Gelb uniformierte Grundstufler, die ungeduldig auf der Stelle auf und ab gingen, den Eingang zum Schulhaus blockierten, tatendurstig oder wehmütig in die Ferne stierten, und - vor allem - sich mit dem Nachbarn unterhielten. Schaulustige anderer Jahrgangsstufen oder Häuser gab es keine. Zwei Raikous des zweiten Jahrgangs hatten es sich beim Anblick der Menge doch anders überlegt und eingeschüchtert wieder Richtung Schülertreff kehrt gemacht. Emma und deren beste Freundin Chloe bildeten kurz vor dem Ablaufen der Frist das Schlusslicht. Somit fehlte niemand. Ergo wollte sich keiner vor der Verantwortung drücken oder hatte Lust, den Ausweichtermin kurz vor den Weihnachtsferien wahrzunehmen.
    „Kneif mich!“
    Was zuvor ein unbeständiges Summen gewesen war, erreichte schlagartig die Ausmaße eines ausgewachsenen Schwarms. Ein zum gleichen Teil belustigtes wie bestürztes Raunen fegte wie ein einziger Windhauch aus den geöffneten Mündern. Die hinteren Reihen begriffen erst, als sie sich den Weg nach vorne kämpften oder auf die oberste Stufe der Treppe zum Schulhaus stiegen. Professor Armadis’ Aufmachung glich einem Tag an der Eisdiele im Sommer. Er trug ein quitschgelbes Bob-Marley-T-Shirt, dazu graue, dreiviertellange Trekkinghosen und eine himmelblaue Schirmmütze. Auf den ersten Blick schien es, als hatte der Flip Flops an den Füßen, doch verzichtete er gänzlich auf Besohlung - er lief barfuß. Auf dem Rücken - und das war das Einzige, was den weiteren Tagesablauf versinnbildlichte - stemmte er einen graublauen Wanderrucksack. Und zu guter Letzt war da noch sein dem Sonnenschein konkurrierendes Lächeln, das auch der heftige Sturm der Entrüstung, der sich von einzelnen seiner Schüler zusammenbraute, nichts anhaben konnte.
    Zwischen Linseys „Der hat doch ein Rad ab“, Rays „Sau lässig!“ und jeder Menge Dazwischenliegendes ließ er seinen Rucksack vom Rücken gleiten und sanft auf den Boden fallen und schaute in die Runde.
    „Also, wer fehlt?“
    Niemand sagte etwas. Man blickte umher, zum dämlich grinsenden Nachbarn, zum ungläubig dreinblickenden Nebenmann, irgendwohin.
    „Schuhe?“
    Auf einer Geräuschskala erreichte Eagles bissiger Kommentar kaum mehr als zwei sich leise unterhaltende Menschen. Da es aber zum selben Zeitpunkt fast allen Raikous die Sprache verschlagen hatte, schwoll Eagles Zynismus zu einem Gongschlag an, der das Leben wieder einläutete. Nicht alle lachten, aber die meisten. Eagle gehörte allerdings nicht dazu. Professor Armadis’ Lächeln dagegen wuchs noch etwas in die Breite. Wie ein goldgelockter, barfußiger Unschuldsengel schaute er kurz hinab auf seine entblößten Füße. Seine Zehen stemmten den Mann zweimal federnd in die Höhe, dann blickte er wieder in die Runde.
    „Unter Herbstgrau und Wintermatsch haben wir noch lange genug zu leiden. Da lässt sich der Natur liebende Freigeist die vielleicht letzte Gelegenheit für etwas Zehengymnastik nur äußerst widerstrebend entgehen. Optimale Bedingungen“, fügte er nach einem kurzen Blick gen Himmel hinzu. „Also, wer fehlt?“
    Es dauerte etwas, bis einer der Anwesenden die Sprache wieder fand. Eagle verzichtete auf seine nächste Breitseite und überließ Sonja das Feld. Diese hob schüchtern die Hand.
    „Professor, äh …“
    Sonja war es eigentlich gewohnt, im Unterricht Fragen zu stellen oder auf solche zu antworten. Doch Fragen persönlicher Natur stellte sie nur selten. Genau so selten hing ihr die ganze Klasse an den Lippen. Und zu guter Letzt war da noch die bizarre Situation sowie das exotische Klassenzimmer. Das alles war die Schwerkraft, die ihre Hand beklemmend niederdrückte, die Augen flattern und die Zunge taub werden ließ. Sie schluckte heftig. „Ist Ihnen … äh, nicht kalt?“
    „Noch nicht, aber wenn wir hier weiter Wurzeln schlagen, dann mit der Zeit schon“, gluckste Professor Armadis. Sein Blick schweifte umher. Leise begann er die Anwesenden von links nach rechts zu zählen. Am Ende nickte er stolz. „Alle da? Also, kann es losgehen?“ Mühelos hievte er den Rucksack in die Höhe und auf seinen Rücken. Keiner folgte seinem Beispiel.
    Alexa tadelte ihn mit strenger Miene. „Echt jetzt? Sie wollen so campen gehen? Im November?“
    „Erst einmal gehen wir zum Echwald. Dort schlagen wir unser Lager auf“, stellte Professor Armadis in sachlichem Ton klar, woraufhin sich anfangs wieder niemand zu Wort meldete, bis Alexa nachhakte.
    „Barfuß?“
    Professor Armadis rollte die Augen. „Warum stören Sie sich so daran?“ Resigniert atmete er aus. Ernsthaftigkeit löste nun das bislang eiserne Lächeln ab. „Ich darf Sie fragen, Alexa: Erkundigen Sie sich bei Ihrer Partnerin auch jedes Mal, ob sie barfuß in die Welt stapfen will?“
    Manch einer schnaubte bei dieser Analogie verächtlich. Nea und Serina hatten die Köpfe zusammengesteckt und fabulierten kichernd, wie wohl Eneco oder Yorkleff mit winzigen Pantoffelchen aussehen würden. Alexa, die stellvertretend als Sprechrohr der restlichen Klasse herhalten musste, kämpfte mit errötenden Wangen. „Das ist doch was anderes … Vulpix ist …“
    „Ein Wesen aus Fleisch und Blut. Wie Sie, ich und alle anderen hier“, beendete Professor Armadis den Satz. „Mit dem Unterschied, dass der moderne Mensch seine rudimentären Wurzeln über die Jahrtausende hinweg immer weiter abgelegt hat und sich ohne Schaumstoffsärge an den Füßen keinen Meter durch das hektische Hickhack bewegen kann; geschweige denn, einen simplen Waldspaziergang zurücklegen kann.“
    Zwischen zwei vor Grinsen überstrapazierten Backen presste Ray ein „Schaumstoffsärge!“ hervor. Nicht nur, dass er sich köstlich amüsierte, auch fand er seine Lehrkraft absolut im Recht. Das Gesamtbild der restlichen Klasse unterlag mittlerweile einem deutlichen Umschwung. Wer von der ganzen Diskussion nicht peinlich berührt war und den Rucksack überdrüssig aufgezogen hatte, der wirkte plötzlich nachdenklich. Eine schwindend geringe Minderheit hielt die Stellung auf dem verlorenen Posten der finster dreinblickenden Kritiker.
    „Alles geklärt?“, fragte Professor Armadis, jetzt wieder mit deutlich aufgeschlosseneren Stimme.
    „Äh“, machte Sonja, „Sie verlangen aber nicht, dass wir alle, na ja …“
    Einige Raikous erbleichten. Zeigleich warfen Linsey und Eagle Sonja einen vernichtenden Blick zu.
    „Verlangen?“, wiederholte Professor Armadis belustigt. „Nein.“
    „Gibt es dafür eine bessere Note?“
    Miller gab Jake für dessen Frage einen freundschaftlichen aber bestimmenden Klaps auf den Hinterkopf.
    „Auch das muss ich verneinen. Aber …“ Er zwinkerte geheimnistuerisch. „Es auszuprobieren schadet nicht.“
    Stille. Dann explodierte die Szenerie förmlich. Sonja protestierte aufs Heftigste, andere grunzten belustigt. Ray stolperte unbeholfen auf einem Bein herum, während er sich seines ersten Turnschuhs samt Socke entledigte. Als sein rechter nackter Fuß auf das feuchte Gras aufsetzte, richteten sich seine Nackenhaare vor kalter Empörung steil auf. Er fühlte sich wie in einer Gefrierkammer. Sein ganzer Körper kribbelte, sogar auf dem Gesicht schien sich eine Gänsehaut breitzumachen. Seine Haut wirkte so porös wie aufgelockerte Erde, durch die das Sickerwasser sich ungehindert den Weg bahnte, um seine Knochen mit einer Eisschicht zu imprägnieren. Doch für einen Rückzieher war es jetzt zu spät. Er kaschierte das unwiderstehliche Verlangen nach ein paar warmen Socken mit einem peinlich berührten Grinsen und schälte sich aus dem anderen Schuh. Diesmal verzichtete er auf den unbedarften Balanceakt und damit darauf, das Unvermeidliche lange hinauszuzögern. So barfuß, wie Gott ihn geschaffen hatte, stand er nun da. Es war nicht besser geworden. Zusehends verwandelten sich seine Füße in fünfzackige Eiszapfen, während die verschleierte Schamesröte das Gesicht in Brand steckte. Wie schaffte es Armadis nur, so cool zu bleiben? Fror er wirklich nicht? Der Mann musste Nerven aus Stahl und Eis in den Adern haben!
    „Du holst dir den Tod!“, hauchte Sonja.
    „Quark!“, stritt Ray ab. Ein schwaches, ihm unübliches Gegenargument. Hatte die Kälte bereits sein Hirn erreicht? Ihm wollte nichts einfallen, weder ein dummer Spruch noch einen Grund, warum er sich zu dieser Dummheit hatte hinreisen lassen. Auf der Flucht vor Sonjas maßregelnden Augen schielte er etwas zur Seite, wo er nur noch mehr Augenpaare fand, die auf ihn gerichtet waren. Dem Gesicht, das so heiß wie tausend Sommer war, schwappte plötzlich eine erfrischende Woge Realität entgegen. Auch Jake Foley hatte sich zwischenzeitlich seines Schuhwerks entledigt, und Lisa Moore öffnete gerade ihre Schnürsenkel. Über all dem strahlte Professor Armadis wie ein Sonnengott auf seine Kinder hernieder, der sich aus den Ruinen der eben eingerissenen Festung der Vorurteile erhob und Wärme und Güte spendete.
    „Nun denn, dann kann es ja losgehen! Rucksäcke umschnallen, und dann ab dafür!“ Abmarschbereit wippte Professor Armadis das Reisegepäck auf seinen Schultern einige Male auf und ab. „Ach, und lasst euren Partner bitte etwas frische Luft schnuppern. Machen wir uns ein gelungenes Wochenende!“

  • Hallo Jens,


    du glaubst garnicht, wie sehr ich mich freue, endlich die Fortsetzung dieser tollen Geschichte lesen zu können. :blush: Das letzte Kapitel ist ja nunmehr auch schon eine gefühlte Ewigkeit her. Die "Celebi High" ist nach wie vor meine absolute lieblings Fanfiction mit Bezug zu Pokémon, daher habe ich den neuen Part förmlich verschlungen.


    Wie geht es dir denn so? Wir haben ja schon eine ganze Weile lang nichts mehr voneinander gehört. Ich hoffe, bei dir ist alles im Lot und es ist toll zu sehen, dass du weiterhin an dieser wunderbaren Geschichte arbeitest.



    Nun aber zum Kapitel. Dir ist es wieder gelungen, die Szenerie und das Geschehen so gut zu beschreiben, dass ich mir alles vor dem inneren Auge bildlich vorstellen konnte. Besonders die wartenden Schüler hast du super dargestellt, nicht etwa als homogene Masse, sondern mit vielen kleinen Details der einzelnen Charaktere. Ich finde es verblüffend, wie du es immer wieder schaffst, auf so viele unterschiedliche Individuen (egal ob nun Haupt- oder Nebencharakter) einzugehen, ohne dass es unübersichtlich wird oder wie eine plumpe Aufzählung der Anwesenden wirkt.
    Ich liebe Professor Armadis einfach. Er verkörpert doch wirklich genau die Art von Lehrer, die man(n) sich in seiner Schulzeit auch immer gewünscht hat. Dass er mit dieser offenen, gelassenen und auch humorvollen Art gerade Ray sofort auf seiner Seite hat, ist ja quasi selbstverständlich. :D
    Vom ganzen Stil her liest sich das Kapitel genau so gut wie die vorherigen. Durch deine guten Beschreibungen der Umgebung, der Mimik und Gestik oder aber auch der Empfindungen der einzelnen Personen, ergibt sich dem Leser ein sehr schönes und rundes Gesamtbild, das, zumindest bei mir, sofort wieder Lust auf mehr macht. Grammatikalisch lässt sich absolut nichts bemängeln und auch so sind mir nahezu keine Fehlerchen oder Ungereimtheiten in dem Kapitel aufgefallen. Zu ein paar kleinen Punkten habe ich dir aber nochmal etwas geschrieben:


    den Eingang zum Schulhaus blockierten, tatendurstig oder wehmutig in die Ferne stierten,

    - das Adjektiv wehmutig gibt es so glaube nicht, ich konnte zumindest immer nur "wehmütig" finden.


    Eagle verzichtete auf seine nächste Breitseite und überließ Feld Sonja das Feld.

    - hier hat sich lediglich einmal "Feld" zu viel eingeschlichen.


    sich ohne Schaumstoffsärge an den Füßen keinen Meter durch das das hektische Hickhack bewegen kann;

    - hier hat sich ein zweites "das" dazu gemogelt.




    Ich hoffe, mein kleines Review macht dir Freude und vielleicht folgt ein weiteres Kapitel ja auch in nicht all zu ferner Zukunft. Auch für den Fall, dass ich mich wiederhole: es ist wirklich schön, wieder etwas von dir lesen zu können. :)


    In diesem Sinne, viele Grüße und lass es dir gut gehen-


    Chris