Part 6: Sinnesfreuden
Von dem einen auf den anderen Augenblick hatte sich die Zahl der Campingteilnehmer verdoppelt. Auf zwei oder auf vier Beinen, mit oder ohne Sohlen unter den Füßen, zu Lande und in der Luft - sie alle hatten das gleiche Ziel. Es ging westwärts; dorthin, wo gewaltige Bäume unheimliche Schatten warfen. Der Echwald war ein Moloch der Möglichkeiten, eine Bestie der Phantasien. Vom Raikou-Schulhaus genoss man den besten Blick auf die turmhohen Kiefern; ewige Wächter, deren Nadeln wie Schwerter und deren Zweige Schilde waren, das mysteriöse Innere bewachend. So jedenfalls sahen Träumer den Wald. Für Andersdenkende war er nichts weiter als ein Hort dornigen Gestrüpps, Brennnesseln und jeder Menge krabbelnden Ungeziefers. In einem gingen beide Parteien allerdings konform, nämlich, dass unterhalb des Gewirrs von Ästen und Zweigen und im Schatten moosbewachsener Felsen ein Paradies für Wald-Pokémon sein musste. Selbst den kühnsten Vorstellungen waren hier keine Grenzen gesetzt. Nicht selten machten sich darum Schüler höherer Jahrgangsstufen einen Spaß daraus, ahnungslose Grundstufler mit phantasievollen Abschlussprüfungen und exotischen Belohnungen aufs Kreuz zu legen.
„Warum sollte Dimitri lügen?“
„Weil er ein fetter Klebstoffschnüffler ist, der nur ans Fressen denkt,, darum! Echt jetzt, Topf voller Smarties - ziehst dir wohl dasselbe wie er durch die Nase, Valentine.“
„Umgangston, Linsey!“, mahnte Professor Armadis, wobei er nicht verhindern konnte, dass sich seine Lippen zu einem Anflug eines Lächelns kräuselten.
„Naah, ich brauch den Klebstoff für meinen nächsten Prank. Leihst du mir noch dein Tagebuch? Oh, never mind, hab’ schon.“
„Du Arsch! Gib das wieder her!“
Auch die zweite Warnung des Lehrers ignorierend, zweckentfremdete Linsey das eben aus Rays Händen entrissene Eigentum als Knüppel. Dieser ließ sie - breit grinsend - gewähren.
„Ich finde ja die Idee mit dem Bleistift interessanter. Wie nannte Dimitri ihn?“
„Rechtschaffender Bleistift der Wollust“, antwortete Sonja auf Millers Frage. „Gib einer gewöhnliche Sache ein Präfix und ein Suffix, um es außergewöhnlich zu machen.“
„Verwandelt uncoole Hausaufgaben in heiße Dampfnudeln mit Zuckergussglasur“, schwärmte Ray verträumt.
„Sag ich doch: Er ist ein Fresssack. - Nur ein Wort davon, und du bist totes Fleisch, Valentine“, drohte Linsey knurrend, während sie ihr Tagebuch brutal in ihren Rucksack stopfte (diesmal ganz nach unten).
Auf Anraten seines Lehrers hatte Ray die Hosenbeine hochgekrempelt, um nicht plötzlich darüber zu stolpern. Wie er zugeben musste, fühlte es sich auch gleich viel angenehmer an, viel natürlicher; ganz zu Schweigen davon, dass die unteren Enden seiner Hosen allmählich mit Tauwasser vollgelaufen waren. Inzwischen hatte Ray auch begriffen, was Professor Armadis damit meinte, ihm würde nur kalt werden, wenn er noch länger herumstünde. Nach den ersten 500 Metern hatte sich das Eis an den Füßen in ein angenehmes, warmes Kribbeln verwandelt, das wie ein brodelnder Vulkan langsam nach oben kochte. Doch statt Lava war sein Blut in Wallung geraten, das der Körper heiß durch die Adern pumpte. Nun schwitzte er so sehr, dass er auf Jacke und Pullover verzichtete. Ray hatte Spaß daran, das unterschiedliche Terrain zu entdecken. Jeder Grashalm, jeder Stein, jeder andere Untergrund waren neue Welten, die es nur unter Einsatz des Spürsinns neu kennenzulernen galt. Und an jeder dieser aufregenden Welten wollte er kompromisslos teilhaben. Auch dann, wenn es sich hierbei um eine schlammige Pfütze handelte, um die jeder andere im Normalfall einen Bogen gemacht hätte, und er nun sinnlich durchwatete. Und bereits nach wenigen Schritten hatte das feuchte Gras den Schmutz oberflächlich von der Haut geputzt. Die Natur wusste sich zu helfen.
„Das Geheimnis ist zu wissen, wohin man treten muss. Nichts hilft einem mehr, seine Umwelt bewusst wahrzunehmen. Man erlebt erst wahre Verbundenheit mit dem Partner, wenn man die gemeinsame Welt auch körperlich teilt“, hatte Professor Armadis Jake, Lisa und Ray erklärt.
Auf Rays Jux hin, ob dies bedeute, auch die restlichen Hüllen fallenzulassen, hatte der Naturkundelehrer dann aber doch lieber nur mit einem Lachen geantwortet.
Kleinere und größere Grüppchen hatten sich zwischenzeitlich gebildet, jedes begleitet von den jeweiligen Partner-Pokémon. Lediglich drei Pokémon bildeten die Ausnahme, die mit akrobatischen Flugmanövern um die Vorherrschaft am Himmel konkurrierten. Mit anfänglicher Neugierde hatte Sheinux die ungewöhnliche Aufmachung seines Partners aufgenommen. So wie jede andere ihrer beiden Verrücktheiten hatte er Rays Auftreten letztendlich aber keiner großen Bedeutung zugeordnet. Mit sich und der Welt zufrieden, trottete er an der Seite seines Gefährten her, genoss das schöne Wetter und nutzte die Gelegenheit, mit ein paar seiner Artgenossen Geschichten auszutauschen. Besonderes Aufsehen erhielt Dian, Professor Armadis’ Partner, der mit seinen fast zwei Metern Höhe deutlich aus der Rolle fiel. Aus der Nähe erschien Dian noch viel imposanter und eindrucksvoller, als an dem Tag, als er Panzaeron beispiellos niedergestreckt hatte. Im schrillen Kontrast hatte er etwas Geruhsames, betont von seinem ausgehenden Geruch frischer Piniennadeln.
„Im Ernstfall kann Dian die Blätter an den Armen und am Schwanz hart wie Eisen werden lassen.“ Als Armadis noch davor warnte, dass ein Schlag mit seinem Schweif sogar Bäume fällen könne, distanzierten sich einige Schüler - teils respektvoll, teils beängstigt - von dem grünen Koloss. Im Normalfall aber sei es, als berühre man hohes Gras, fügte der Lehrer dann noch rasch hinzu. Als Beweis streckte Dian Arme und Schwanz geduldig aus. Ray strich über das Geflecht m Schweif. Es war biegsam und raschelte wie eine Wiese im Wind - ein tolles Gefühl. Während all dem hatte Dian die Augen geschlossen. Er reckte die Nase gen Himmel und atmete sinnlich durch, als badete er just seine Sinne in heißem Wasser.
Mit zunehmend zurückgelegter Distanz nahm das Landschaftsbild neue Formen an. Das Raikou-Schulhaus rückte in immer weitere Ferne und hatte nun mehr mit einem kleinen, schwach auszumachenden Punkt als mit einem Gebäude gemein. Dagegen schienen die Bäume am Waldesrand immer weiter an Höhe zu gewinnen. Die Wärme ging zurück, es wurde kälter. Holpriger, lehmiger Untergrund löste zusehends das üppige Grün ab, bis der Trampelpfad fast vollständig von einem schmutzigen Braun verschlungen wurde. Hier und da schob sich unebenes Geröll wie Pocken aus dem Untergrund, das mit Stolpermöglichkeiten nicht nur den Barfüßlern zu schaffen machte. Zwei Wackersteine, die wie nach einer Partie Riesenmurmeln dort versehentlich zurückgelassen worden waren, säumten den Wegesrand. Hoffnungsvoll schauten einige Schüler dem einladenden Granit nach, auf dem eine halbe Schulklasse bequem dort hätte Platz finden können.
Professor Armadis zog stattdessen Nutzen von der neuen Landschaft. Noch im Weitergehen lud er seine Schüler auf einen Exkurs in den Bereich der Herbst- und Winterkräuter ein. Problemlos erkannte und ließ man die Brennnessel links liegen. Sonja ordnete die zapfenartige Krone und die gelben Blüten dem Spitzwegerich richtig zu, Elli landete mit Sellerie einen Glückstreffer und Ray erinnerte sich an die abführende Wirkung von Schaumkraut. Beiläufig fiel Ray auf, dass man fast immer richtig lag, wenn man vorschlug, aus der Pflanze einen Tee zuzubereiten oder vor dem bitteren Geschmack warnte.
„Dafür reich an Vitamin C. - Wir sind da.“
Es war eine überflüssige Bemerkung des Professors, aber eine folgenschwere. Die Peripherie des Echwalds lag vor ihnen. Professor Armadis und seine Begleitung trafen als Zweites am Waldesrand ein. Schneller waren nur Staralili und ihre beiden gefiederten Konkurrenten, die sich jeweils einen eigenen Ast desselben Baums teilten und mit wachsamen Blicken die Nachzügler musterten. Bei genauerem Hinschauen registrierte man allerdings, dass selbst Eagles sonst so hitzige Partnerin sich weniger als sonst aufplusterte; ja, sogar ihr Schnabel wirkte angesichts des unheimlichen Forsts etwas blässer. Als Eagle endlich eintraf, kehrte sie sofort zu ihm zurück. So kurz wie liebevoll nahm sie dessen Zeigefinger in den Schnabel und thronte auf der menschlichen Schulter, von wo aus sie - wieder mit frischem Mut und wachsendem Ego - den Wald finster taxierte.
Es war noch kälter geworden, kälter und dunkler. Man wollte fast glauben, die gewaltigen Nadelbäume entzogen der Umgebung alles Licht und jegliche Wärme. Ray schüttelte es. Er spürte eine neue Saat Gänsehaut langsam an seinen Beinen aufkeimen. Jake und Lisa nutzte die kurze Verschnaufpause und legten ihr Schuhwerk wieder an. Die Wanderschuhe des Professors dagegen baumelten nach wie vor gut an dem Rucksack befestigt. Ray entschied sich für das Mittelmaß: Er streifte wieder seinen Pullover über, ließ die Füße aber unbekleidet.
Immer mehr Nachzügler trudelten ein, einige von ihnen schwer atmend und mit Schweiß auf der Stirn und nach einer Pause lechzend.
„Alle da? Jetzt nur keine Müdigkeit vortäuschen! Eine halbe Stunde noch, dann sind wir da.“
Manch einer ächzte, aber es half nichts. Mit Professor Armadis als Kopf setzte sich die Schlange wieder in Bewegung - hinein in den Echwald.