Der Zorn des Himmels

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  • Kapitel 69: Dress up


    Mit dem Verlassen des Konferenzsaals waren die drei noch nicht gänzlich der medialen Aufmerksamkeit befreit. Schon am Ende des Flures, den sie auf dem Hinweg schon entlanggekommen waren, sah man weitere Männer in Anzügen oder mit Notizblöcken, sowie laminierten Ausweisen um den Hals. Einige wenige unter ihnen sprachen bereits mit anderen Turnierteilnehmern, doch die meisten warteten auf die großen, auf das Spitzentrio. Kaum hatte man die Presse vom Hals, schon kamen die Sponsoren an. Die genossen zugegebenermaßen einen weniger befleckten Ruf, da in der Regel beide Parteien von einer Zusammenarbeit profitierten. Es gab nur wenige bekannte Fälle von schlechten Sponsorings, in denen manche Firmen versucht hatten, das Gesicht bekannter Trainer und Trainerinnen schamlos für die eigene Publizität auszunutzen und ausschließlich sich selbst zu bereichern. Da man es sich in so einem Fall aber rasch mit der gesamten Trainerszene verscherzte, scheuten die Firmen, beziehungsweise deren Vertreter, kaum eine Mühe für ein korrektes und seriöses Auftreten sowie eine faire Behandlung der jeweiligen Partner.

    Ryan verließ den Flur als erstes, wurde von einem breiten Ein- und Ausgangsbereich empfangen, ähnlich dem, den die Zuschauer nutzten. Doch war diese Halle weit abgelegener und daher völlig frei von Zuschauern, von denen der Großteil das Stadion mittlerweile eh verlassen haben sollte. Sofort erspähte er Sandra, Audrey und Melody, die geduldig auf ihn und Andrew warteten. Sein süßer, Rotschopf hielt noch den Blumenstrauß, den er ihr vorhin zugeworfen hatte. Doch bevor er nur eine Chance hatte, sich seinen Freunden zuzuwenden, wurde er von einer Handvoll Menschen belagert, die um seine Aufmerksamkeit buhlten. Immerhin noch respektvoll und mit einem Höflichkeitsabstand, um ihn nicht zu bedrängen.

    „Wenn sie mir einen Augenblick ihrer Zeit schenken würden, Mister Carparso“, begann ein Mann um die vierzig und reichte ihm eine Visitenkarte. Er nahm sie entgegen, sah sie aber nicht an, sondern ihm stattdessen in die Augen. Das tat er immer, wenn er mit Sponsoren sprach, um sich einen äußerst raschen Ersteindruck zu verschaffen. Die glücklicherweise nicht allzu weit verbreiteten schwarzen Voltilamm, die sich bloß an ihn ranwanzen und ausnutzen wollten, erkannte man für gewöhnlich schnell. Gleichzeitig bewirkte diese Geste, dass sich die Person gegenüber trotz Karte anständig vorstellte, wie es sich gehörte.

    „Theodore Ross mein Name. Das ist meine Assistentin Miss Gwen.“

    Beide gaben ihm anständig die Hand, während die restlichen Männer geduldig warteten. Andrew erging es nicht anders. Auch er wurde gleich von einem Sponsoren-Trio empfangen und um die Erlaubnis gebeten, ihm ein Angebot zu unterbreiten. Mit einem halben Ohr lauschte Ryan aus deren Konversation heraus, dass Andrew sie schon nach wenigen Sätzen gehörig auf´s Korn zu nehmen begann.

    Es war nicht so, dass die beiden Johtonesen diese Werbung um ihre Person grundsätzlich ablehnten. Im Gegenteil. Nicht nur ließ sich das Trainerleben mit solchen Verträgen sehr gut finanzieren, sondern erlaubte gar einen gewissen Luxus. Wenn man sich den denn leisten wollte. Das taten vorausschauende Trainer jedoch tunlichst nicht, da man schließlich nie ahnen konnte, wie lange man den Erfolg am Leben erhalten und mit weiteren Sponsorings rechnen konnte. Mit etwas Pech wäre in zwei, drei Jahren die Karriere im Sinkflug und dann saß man da. Hart auf den kalten Boden der Realität zurückgeholt. Und selbst wenn man sich länger so weit oben in der Szene behaupten konnte, war es ja immer noch nicht so, dass man mit Ende zwanzig ausgesorgt hatte. So viel Geld lag dann doch nicht im Trainerdasein vergraben.

    Während Ryan und Andrew sich die Angebote anhörten, schaffte es Bella irgendwie, dem Trubel fast vollkommen zu entgehen. Sie hatten es selbst nicht einmal bemerkt, wie sie überhaupt an ihnen sowie ihren Verhandlungspartnern vorbeigekommen war. Ganz zu schweigen von dem vollen Dutzend Menschen, die es scheinbar nur auf sie abgesehen hatten. Es war wenig verwunderlich, dass die Turniersiegerin auch die begehrteste Imageträgerin war und die Mehrzahl es eben auf jene abgesehen hatte. Aber irgendwie war sie denen entwischt. Geschickt und unauffällig, wie ein schleichendes Raubtier. Da kamen ihre arbeitsbedingten Fähigkeiten zum Vorschein.

    Erst als doch noch ein Team aus zwei Männern sie geradeso abfangen konnte, bemerkten Ryan und Andrew sie, aber da befand sie sich schon außer Hörweite. Sie hatten Bella seit dem Verlassen den Konferenzsaals nicht wirklich beachtet. Was eigentlich töricht, geradezu dämlich war, wenn man bedachte, was sie ihnen auf diesen paar Metern hätte antun können. Vielleicht hatte sie es mit ihrer Offenheit und der simplen Art, wie sie die letzten zwei Tage über aufgetreten war, die beiden zur Nachlässigkeit verleitet. Aber vielleicht hatten sie auch ganz einfach verstanden, dass selbst sie noch Prinzipien besaß. Ein eigenes Kredo, sozusagen. Und dass es Dinge gab, die sich unter ihrem Niveau befanden. Erst wenn sie in den kommenden Stunden darüber nachdenken würden, sollten die beiden Trainer erkennen, dass Bella in diesem Moment nicht einmal erwogen hätte, sie anzugreifen – und sie dies bereits zu jeder Sekunde gewusst hatten. Doch anstatt zu grübeln, was man mit der Gewissheit anfing, dass Bella nicht ganz und gar durchtrieben und kein völliger Unmensch war, beschwor sich Ryan stattdessen, nicht nachlässig oder sorglos zu werden. Sheila hätte ihm so einiges zu erzählen, wenn sie davon wüsste.

    Während er und Andrew also einige Fragen zu ihren jeweiligen Angeboten abklärten und verhandelten, konnten nur Audrey, Melody und Sandra verfolgen, was denn der Turniersiegerin für ein Anliegen unterbreitet wurde. Wobei lediglich letztere das Interesse aufbrachte, auch wirklich zuzuhören. Die Arenaleiterin ließ Bella nicht eine Sekunde aus den Augen. Die vielen Stimmen in diesem weiten Raum machten es nicht leicht, eine einzelne herauszufiltern und dem Gespräch zu folgen. Die Agentin lächelte die beiden Männer fast an, wie kleine Kinder. Sie sah förmlich auf sie herab, was entweder nicht bemerkt oder nicht beachtet wurde. Von ihrem Anliegen ließen sie sich jedenfalls nicht abbringen. Der lange, schmale Typ in Hintergrund schien sogar schon seine Kamera vorzubereiten.

    „Perry Quint vom Hoenn Trainermagazin. Ich darf ihnen zunächst gratulieren, Miss Déreaux. Sie haben mich und meine Kollegen heute wirklich begeistert. Das sage ich ganz offen“, beteuerte der Mann und legte eine Hand auf seine Brust, neigte sich obendrein leicht nach vorne, als wolle er sich bedanken. Keine dieser Gesten wurde jedoch als Anlass genommen, etwas zu erwidern. Bella wartete einfach ab, dass der Mann zum Punkt kam und lächelte verträumt vor sich hin.

    „Wir würden uns freuen, wenn sie einem ausführlichen Interview zustimmen könnten. Es soll eine kleine Reportage werden über den neuen, aufstrebenden Star der Trainer-Szene werden, wenn sie verstehen. Dafür…“

    „Das meint ihr doch nicht ernst“, unterbrach sie lachend und mit einem fassungslosen Griff gegen ihre Stirn. Sie musste geklungen haben, als sei sie geschmeichelt und fasse ihr Glück kaum. Anders konnte sie sich das eifrige Lächeln und Kopfnicken Quints nicht erklären. Sandra hatte jedoch den Spott herausgehört. Der arme Trottel wäre besser dran, wenn er sich einfach umdrehen und gehen würde, aber er missverstand ihre Worte als willkommen.

    „Glauben sie es ruhig, Miss Déreaux. Mit Sicherheit wird das für sie bald zur Gewohnheit und wenn sie uns gestatten, die ersten zu sein…“

    Bella schüttelte bereits den Kopf und schnitt ihm das Wort erneut ab.

    „Nein, nein, ich meine das wörtlich. Das kann nicht euer Ernst sein! Wie kommt ihr auf die Idee, dass ich bei so einem Zirkus mitmachen würde?“

    Dem Mann blieb im wahrsten Sinne der Mund offenstehen. Auch der Lulatsch an der Kamera hinter ihm mach ein perplexes Gesicht. So hatte wirklich noch niemand auf eine Anfrage für ein Interview reagiert. Nicht einmal, wenn sie – sehr bewusst! – zu aufdringlich um eines gebeten hatten. Bella sah zwischen den beiden hin und her und machte ein Gesicht, als wäre diese Schnapsidee, ausgerechnet sie interviewen zu wollen, für sie absolut unnachvollziehbar. Beinahe als müssten die Typen um ihre wahre Identität wissen, obwohl das natürlich Schwachsinn war. Sie schüttelte fassungslos den Kopf und machte einen ersten Schritt fort von den beiden, Richtung Ausgang.

    „Fragt einen der anderen Teilnehmer. Jeder ist dafür besser geeignet als ich“, winkte Bella ab und wandte sich völlig desinteressiert zum Gehen. Die Männer sahen einander nur planlos und irritiert an. Andere, die in angemessener Distanz auf das Ende der sogenannten Verhandlungen gewartet hatten, versuchten sie noch vor der Tür abzufangen oder riefen ihr nach. Natürlich machte sie keine Anstalten, zu warten oder umzudrehen. Und mit der schweren Tür, die hinter ihr zufiel, war die sonst so berüchtigte Hartnäckigkeit der Sponsoren gebrochen, sodass sie enttäuscht oder verärgert nur noch ihren Rücken durch das Glas anstarrten. Allerdings nur für wenige Momente. Es gab schließlich noch andere Trainer, die man anwerben konnte.

    Sandra schnaubte verdächtigend und sah der abgewanderten Turniersiegerin aus verengten Augen noch lange hinterher. Die Siegerehrung hatte sie offenbar noch ehrlich genossen, wie es Sandras Beobachtung verraten hatte. Auf die Aufmerksamkeit einzelner Personen schien sie jedoch völlig zu pfeifen. Vielleicht hatte sie aber auch nur Vorbereitungen zu treffen. Die Warnung durch den Informationshändler Pete, schwirrte ununterbrochen durch ihr Unterbewusstsein. Und egal, was sie geplant hatten, Bella würde garantiert eine Rolle dabei spielen. Vermutlich sogar eine tragende.

    Neben ihr machte Melody plötzlich einige eilige Schritte nach vorn und fiel Ryan hemmungslos um den Hals. Endlich hatte sie ihn wieder. Nach den Kämpfen und der Siegerehrung fühlte es sich an, als sei es ewig her. Und dabei hatte sie ihm etwas Dringendes zu sagen.

    „Mir egal, wer Gold hat. In meinen Augen bist du Nummer eins“, wisperte sie ihm ins Ohr. Ein bisschen schön geredet für seinen Geschmack und außerdem etwas kitschiger, als er von ihr erwartet hätte. Dennoch rang es ihm ein Lachen ab und er drückte sie herzallerliebst, hob sie sogar kurz vom Boden hoch. Dann sah sich das Pärchen einen Moment lang verträumt in die Augen. Sandra und Audrey war es offensichtlich, dass sie hier gerade eigentlich störten. Andererseits hatten sie hier eh keine Zeit für Techtelmechtel. Sie alle – Melody ausgeschlossen – mussten sich für den Sommerball fertig machen. Milas Plan – von dem Audrey natürlich als einzige nichts ahnte – sah nämlich vor, im Rahmen jenes die Agentin von Team Rocket endgültig auszuschalten.

    Wie es danach weitergehen sollte, wusste allerdings auch nur die Drachenpriesterin selbst. Vielleicht nicht einmal die. Aber Bellas Auftreten hier beim Summer Clash sowie der Tatsache, dass sie die Öffentlichkeit keineswegs scheute, hatte ihnen klar gemacht, dass nichts vorwärtsgehen konnte, solange sie da war. Und es war dieses Umstandes geschuldet, dass Ryan nicht wirklich ausgelassen sein konnte. Obwohl das Turnier nun hinter ihnen lag. Obwohl er Melody im Arm hatte. Er konnte mit seinen Gedanken nirgendwo anders sein als beim Ball. Wie schön würde der doch werden, wenn Melody dort sein könnte und weder Team Rocket noch Krieg wie das berüchtigte Damoklesschwert über ihnen hängen würde? Ja, noch lagen solche Wünsche in der Zukunft. Aber die erfüllten sich nicht von selbst.

    Audrey löste den angespannten Moment zufällig, indem sie Andrew heranwinkte, dessen Gespräche mit den Sponsoren ebenfalls beendet waren. Er wirkte wenig zufrieden.

    „Und, wie lief´s?“

    Wie er die Lippen schürzte, verriet eigentlich schon alles.

    „Nichts zu machen. Die wollten mich für einen Werbedreh, hier vor Ort. Aber Drehtag wäre erst in vier Wochen.“

    Fast alle ahmten seinen Gesichtsausdruck nach. Das war in der Tat unmöglich. Nicht, dass man den Planern einen Vorwurf machen konnte. Ein Termin dieser Sorte musste normalerweise noch weiter im Voraus festgelegt werden. Aber so lange würden sie auf keinen Fall mehr in der Stadt bleiben. Und, dass sie rechtzeitig – oder überhaupt – zurückkehrten, war ebenso unwahrscheinlich. Dennoch hatte er die Visitenkarte behalten sowie Kontaktdaten für künftige Anfragen hinterlassen. Damit die aber nicht in irgendeiner Schublade in Vergessenheit geriet, würde Andrew auch als bald mal ein Turnier gewinnen müssen.

    „Und bei dir?“

    Ryan redete wenig über solche Geschäfte. Aber es kam ja auch selten vor, dass er bei Anfragen von so vielen Freunden umringt war. Er wäre an ihrer Stelle nicht weniger neugierig.

    „Könnte was werden. Einer will mit seinem Unternehmen nach Johto expandieren und sucht ein Gesicht für seine Plakate. Und dann kam noch ein Ausstatter für Outdoor Kleidung.“

    Angeblich speziell angefertigt für Reisende, wie eben auch Trainer. Ryan kannte die Marke sogar und war von dem Angebot durchaus angetan.

    „Ich soll mich in ihren Klamotten zeigen. Die schicken mir was zur Anprobe nach Hause. Von beiden hab ich die Nummer.“

    Im Gegensatz zu Andrews Angebot, unterlagen diese keinen zeitlichen Einschränkungen. Beide planten weit voraus, sodass das Thema nicht in ein paar Monaten wieder vom Tisch sein würde. So zumindest das Versprechen der Herren. Die Zeit würde zeigen, wie viel Wahrheit darin steckte.

    „Boah, die hätte ich auch gern als Sponsor, ganz ehrlich. Die greifen tief in die Tasche für ihre Werbung“, gestand Audrey mit etwas Neid, als sie die Karte des Ausstatters begutachtete. Verlockender als die Höhe der Summe wäre die Tatsache, dass sich die Aussicht auf einen langfristigen Deal bot und Ryan ein regelmäßiges Einkommen winken könnte. Sowas konnte man sich als Trainer nur wünschen. Solange man solche Verträge am Laufen hatte, brauchte man sich um Geld echt keine Sorgen machen. Audrey selbst konnte allerdings höchstens davon träumen. Da man eben noch die meiste Aufmerksamkeit in den regionalen Ligen erregte und sie in selbigen nicht antrat, war ihr Name bei weitem nicht so bekannt. Und auch heute war sie recht früh ausgeschieden, weshalb auch keiner der Sponsoren an sie herangetreten war. Aber das war schon okay so. Sie liebte die Leichtigkeit und Einfachheit in ihren Reisen und würde diese für kein Geld der Welt eintauschen. Weder dieses noch der Ruhm einer großen Trophäe waren der Grund gewesen, warum sie ihre Heimat einst verlassen hatte. Primär wäre es ihr in diesem konkreten Fall sowieso mehr um die Klamotten gegangen. Die machten nämlich echt was her.

    „Was ist mit dir, Sandra? Irgendwelche Angebote?“

    Die Drachenmeisterin hatte sich völlig im Hintergrund aufgehalten und gerade erst ihre Gedanken von Bella losreißen können, sodass sie ein wenig überrascht war und einen Moment verdächtig still blieb. Sie bemühte sich sofort um Lockerheit und Banalität, doch befürchtete sie, dass dieser winzige Ausrutscher bereits genügte, damit Ryan sie durchschaute. Er war sehr sensibel für sowas geworden.

    „Ich habe mit der Arena mehr als genug zu tun. Das haben diese Leute schon lange begriffen.“

    Sie log, ohne rot zu werden. Nicht, was ihre Beschäftigung anging. Mit ihrer Arena sowie ihren bestehenden, langjährigen Werbedeals und Partnerschaften hatte sie ausreichend um die Ohren. Und auch auf dem Konto. Dennoch waren zwei Firmen an sie herangetreten, aber sie hatte deren Anliegen sofort im Keim erstickt. Hier und jetzt konnte und wollte sie sich nicht mit Geschäften auseinandersetzen. Und wenn sie ganz ehrlich war, wünschte sie sich auch, dass Ryan und Andrew ebenfalls mit den Gedanken bei ihren Hauptproblemen bleiben würden.

    Sie behielt das allerdings für sich und konnte sie auch nicht so wirklich für ihre Offenheit gegenüber der Sponsoren verurteilen. Die Beiden leiteten schließlich keine Arena und mussten immer ein offenes Ohr für mögliche Geldquellen haben. Und ein wenig freute es sie für Ryan, weshalb sie sogar ein leichtes Lächeln beibehielt. Sie tolerierte das Gesprächsthema also weiterhin, während die Gruppe gemeinsam die breite Glastür ins Freie durchschritt. Besonders Melody war sehr wissbegierig, wie das mit solchen Deals und Verträgen grundsätzlich so ablief. Bei ihr daheim gab es eigentlich nur eine Möglichkeit, mit dem Training von Pokémon wirklich Geld zu verdienen. Als Arenaleiter nämlich. Und selbst davon hatten sie sowohl in der Anzahl als auch im Ansehen weniger als jede große Region mit einer Liga. Auf dem Festland aber waren die erfolgreichen Trainer echte Stars. Das kam ihr wie ein irrer Traum vor.

    Als sie sich dann aber den Pforten des Pokémoncenters näherten, nahm Andrey dies zum Anlass, das Thema zu wechseln.

    „Ich schätze, du gehst noch nach ihnen sehen?“, fragte sie mit einem Kopfnicken in Richtung des Centers an Ryans Adresse. Er bejahte das mit Selbstverständlichkeit. Sie bemerkte glücklicherweise nicht, wie er kurz an ihr vorbei sah. Ein schlanker Mann in Barista Uniform erregte seine Aufmerksamkeit. War immer noch komisch, ihn in diesem Fummel zu sehen, wo er doch keinen Kaffee in seiner Bar anbot.

    Audrey fuhr unbeirrt fort und ging gar schon einige Schritte voraus, redete im Rückwärtsgehen. Rasch sah sie an ihr Handgelenk und checkte die Uhrzeit.

    „Dann treffen wir uns hier wieder für den Ball. Sagen wir in 'ner Stunde?“

    „Schaffst du das?“, entfuhr es dem Blonden augenblicklich und er musste schuldbewusst lachen. Melody hatte den Wink durchaus kapiert und sah ihn ein klein wenig entsetzt an, konnte ein Grinsen aber ebenfalls kaum verstecken. Audrey war in vielen, ach was, den allermeisten Dingen einfach und locker gestrickt. Aber wenn sie sich mal aufbrezelte, war sie dann doch manchmal das verschriene Frauenklischee. Ryan wäre in der Vergangenheit echt froh gewesen, hätte er mal bloß eine Stunde warten müssen, bis ihr Styling und ihr Makeup saßen.

    Sie lachte ein wenig schuldbewusst, mimte aber die entrüstete Zicke.

    „Abwarten. Am Ende geh ich ohne euch los“, scherzte sie, woraufhin sie ihre Sonnenbrille hochschob, um ihnen allen zuzuzwinkern. Selbst Sandra und Andrew hatten längst begriffen, dass es verschwendete Zeit war, sie auf die Tageszeit hinzuweisen. Mittlerweise musste sie mit dem Ding auf der Nase fast blind sein.

    Letztlich ließ sich die Gruppe sogar ein wenig fallen, sodass die Trainerin aus Rosalia City gar nicht mehr bemerkte, wie der schwarzhaarige Mann am Eingang auf sie zuging. Pete wirkte angespannt. Ein wenig zumindest. Und ihm das anzusehen, erinnerte auch die zwei Jungen daran, welche Stunde es geschlagen hatte. Andrew war inzwischen selbstverständlich ebenfalls über den Plan in Kenntnis gesetzt worden. Er hatte ihn mit sehr gemischten Gefühlen aufgenommen. Zögern würde er nicht, so viel war gewiss. Der Eifer, den er beim Erhalt des Langdolches von Mila gezeigt hatte, war keineswegs verschwunden oder abgeflaut. Er hatte Bella schließlich im Stillen schon Schlimmeres gewünscht, als den Tod – in emotionalen Momenten, in denen die Wut einfach hochgekocht war, musste man anmerken, da Andrew Warrener eigentlich ein sehr friedlicher Mensch war. Zweifel und Hemmungen waren durchaus noch in ihm vorhanden, doch war er absolut überzeugt, diese zu überwinden, wenn die Situation es verlangte. Er war fest entschlossen dazu. Selbst wenn es bedeutete, den Mord an einer jungen Frau zu billigen und zu unterstützen. Allein, er fühlte sich furchtbar dabei. Doch auf seine Gefühle konnte weder die Gruppe im Allgemeinen noch er im Speziellen Rücksicht nehmen. Es stand zu viel auf dem Spiel.

    „Beim nächsten Mal verlang ich für solche Botengänge Geld“, versprach Pete etwas schnippisch. Wenn es bedeutete, dass er eine Bitte ohne Nörgelei erfüllte, hätte keiner von ihnen gezögert, ihn schon diesmal zu bezahlen.

    „Hast du alles?“, umging Ryan die zynische „Begrüßung“ und wurde nun wieder ernst. Jetzt war Schluss mit lustig. Und Nachsicht. Und Anstand. Ab jetzt würden sie sich schmutzig machen.

    „Liegt auf euren Zimmern.“

    Sandra und Melody neigten sich beide etwas nach vorn, um die beiden Trainer anzusehen. Letztere hielt trotzdem noch immer Ryans Hand fest.

    „Um was geht´s?“

    Ryan hatte Pete mit einer kurzen Nachricht per Handy kontaktiert, weshalb niemand sonst davon Wind bekommen hatte. Genaugenommen hatte er Mila kontaktiert, da er bloß ihre Nummer besaß. Weil er und Andrew bis über beide Ohren in wichtigeren Dingen steckten als einem Sommerball, hatten sie es völlig verschwitzt, angemessene Kleidung dafür zu besorgen. So hatte er sich erinnert, dass Pete ja angebliche so viele Kontakte besaß.

    „Neue Garderobe.“


    Andrew betrachtete sich in der Spiegelung derselben Eingangstür, durch die sie das Prime Stadium zuvor verlassen hatten. Austragungsort des Balls war ein Anbau auf der Nordseite, den man nur von innen erreichen konnte. Er strich sich ein letztes Mal die Haare zurecht und prüfte den Sitz seines Hemdes.

    „Eins muss ich Pete lassen. Den Zwirn hat er gut ausgesucht.“

    Ryan hatte dem Barbesitzer lediglich ihre Kleidergrößen mitteilen können, da keiner von beiden die genauen, eigenen Maße kannte. Auch das Outfit selbst hatten sie sich nicht aussuchen können. Pete hatte einfach was Passendes zum Dresscode, aber nichts Schwerfälliges organisieren sollen. Und trotz der Widrigkeiten hatte er in beiden Punkten zwei absolute Volltreffer gelandet. Dies befand auch Melody, die ihre Arme seit Minuten um Ryans Nacken geschlungen hatte und ihn anscheinend gar nicht mehr hergeben wollte. Wieso auch? Sie hatte ihn zwei Tage lang fast ausschließlich aus der Ferne beobachtet und musste ihn nun zu diesem verfluchten Ball ziehen lassen, dem die Agentin Team Rockets beiwohnen würde. Zuzüglich weiterer, getarnter Mitglieder, von denen sie nichts wussten. Davon sollten sie zumindest ausgehen. Es wäre naiv, zu glauben, Bella würde alleine dort aufschlagen.

    „Ich überlege noch immer, wie ich mich da rein schleichen kann.“

    Sie scherzte nur zur Hälfte. Ryan dagegen zu hundert Prozent.

    „Wenn ich eine Möglichkeit finde, geb ich dir ein Zeichen.“

    Leider war es den geladenen Teilnehmern – jenen, die es in die K.O. Phase geschafft hatten – nicht gestattet, in Begleitung zu erscheinen. Aber selbst wenn, würde er nicht tun. Nicht, wenn Sheila ein Attentat zu begehen plante. Und wer wusste schon, was Team Rocket auf der anderen Seite im Schilde führte?

    „Es ist einfach unfair, dass ich heute Abend nichts von dir habe, wo du doch so schick aussiehst“, nörgelte sie und zupfte an seinem Kragen. Sie hätte ihn nicht besser einkleiden können. Er empfand genauso. Aber ihre Sicherheit stand weit vor ihren persönlichen Wünschen nach gemeinsamer Zeit.

    „Sobald alles vorbei ist, kannst du mich damit so oft haben, wie du willst“, flüsterte er in ihr Ohr, unternahm einen Versuch, sie aufzuheitern und von der verpassten Gelegenheit abzulenken. Zumindest brachte der Gedanke daran sie zum Schmunzeln. Mit einer verschmitzten Note, so erkannte Ryan und wurde daher nur wenig von dem Kuss überrascht, den sie keck von seinen Lippen stahl.

    Hinter ihm erklang gerade der Klang gleichmäßiger Schritte, die von hohen Absätzen in seine Richtung getragen wurden. Sandra hatte etwas länger gebraucht, weshalb auch Audrey, wie angekündigt, bereits vorgegangen war. Selbst Melody fand jedoch, dass das Ergebnis die extra Zeit wert gewesen war. Eigentlich schade um den heutigen Anlass, welcher die Bühne für dieses Outfit darstellte. Sie war fast schon zu perfekt für diesen Abend.

    „Dass gerade du jetzt am meisten starrst“, neckte die Arenaleiterin sie und lachte trocken auf. Es lag jedoch nicht daran, dass Ryan und Andrew gar nicht staunten. Aber ihre Münder blieben wenigstens geschlossen, was man von Melody nicht behaupten konnte. Wenn sie nicht so viel Vertrauen in Ryan besäße, würde sie sich nun glatt sorgen, dass er der Drachenmeisterin verfallen und sie links liegen lassen könnte. Und Audrey gab es ja auch noch. Sie schüttelte sich kurz. Sie sollte rasch zu Pete und sich ablenken. Ryan war nicht so oberflächlich. Ein Funken Neid blieb dennoch bei ihr zurück.

    Andrew stieß schließlich in die Runde dazu und klatschte einmal die Hände zusammen.

    „Wollen wir?“

    Er versuchte gar nicht, was vorzumachen. Auch er war nervös. Fühlte sich bei solchen Veranstaltungen oft fehl am Platz, obwohl ihm die Klamotten sogar gefielen. Ihm waren Bälle zu steif, zu fein, boten ihm einfach keine Unterhaltung. Die stand heute aber ohnehin nicht im Vordergrund.


    Die Gänge und Flure des Prime Stadiums waren nicht wiederzuerkennen. Vor nicht einmal zwei Stunden waren hier noch Menschenmassen hindurchgeströmt, hatte Lärm und Tumult geherrscht. Nun war fast alles leer und dunkel. Lediglich der Weg zur Nordseite war beschildert und ausgeleuchtet. Andere Trainer traf das Trio aus Ryan, Andrew und Sandra auf dem Weg nicht. Draußen hatte es noch ein paar Fans gegeben, die sie aus der Ferne beobachtet und gestaunt, sich zum Glück jedoch nicht nah an sie herangetraut hatten. Zum jetzigen Zeitpunkt hatte echt keiner mehr irgendwelche Nerven für Fans übrig. Vielleicht waren die auch einfach nur anständig gewesen und hatten ihnen an diesem Abend nicht auf die Pelle rücken wollen. Sie hatten mehr als genug von ihnen sehen und bestaunen dürfen. Der Rest dieses Tages gehörte den Trainern unter sich.

    Nach einer Minute kam eine große Flügeltür aus poliertem Holz in Sicht. Der Teppichboden verschluckte den Klang ihrer Schritte fast vollkommen und führte sie auf einem nachtblauen Weg heran. Davor wartete eine adrette junge Frau, scheinbar ungeduldig. Die Hände waren in die Seiten gestemmt und die Hüfte rausgestreckt. Und als Audrey sie alle kommen sah, verschränkte sie gar entrüstet die Arme. Wirklich schade, ruinierte diese Haltung doch völlig ihr umwerfendes Outfit.

    „Wieso hab ich gewusst, dass ihr mich warten lasst?“

    Die Entrüstung war vorgegaukelt. Sie strahlte über beide Ohren, in freudiger Erwartung dieses Abends. Wie gerne sich der Rest dem doch anschließen würde.

    „Daran bin aber allein ich schuld“, bekannte sich Sandra rasch, um jedem Vorwurf an die beiden entgegenzuwirken. Und obwohl sie nicht am Wahrheitsgehalt dieser Worte zweifelte, wollte Audrey sie nicht akzeptieren, sondern ihr Spielchen weitertreiben.

    „Kein Grund, sie in Schutz zu nehmen, Sandra.“

    Andrew warf Ryan einen Blick zu, der still danach fragte, ob das immer so mit ihr lief. Der ignorierte die Faxen jedoch völlig und sah einmal an der Trainerin herunter. Nicht dieselbe elegante Note wie Sandra, aber definitiv ein Hingucker. Das hatte er von ihr auch nicht anders erwartet.

    „Gut siehst du aus.“

    „Schmeicheleien sind ein armer Ersatz für eine Entschuldigung.“

    Hier lachten sie beide nur noch und schüttelten den Kopf, verkniffen sich den Hinweis, dass sie auch keine Entschuldigung aussprechen wollten. Wenn sie mal wen veralbern wollte, ließ sie sich echt von niemandem den Wind aus den Segeln nehmen. Die Reaktion stellte sie glücklicherweise bereits zufrieden und sie lächelte noch ein wenig breiter. Ab hier wollte sie den Moment genießen.

    „Na jetzt seid ihr ja da“, winkte sie auf einmal ganz die alte, lässige Audrey ab und reckte Ryan sodann eine Hand entgegen. Die Finger waren gestreckt und nur ein klein wenig voneinander gespreizt. Diese Geste wusste er jedoch nicht sofort einzuordnen. Er hob bloß eine Braue, als es ihm dämmerte und fragte somit, ob es Audreys Ernst sei.

    „Stell dich nicht so an. Tu einfach, als wäre ich Guardevoir.“

    Einer seiner Mundwinkel zuckte nach oben. Audrey war trotz ihrer kumpelhaften Art eine sehr feminine und aufreizende Person. Die Eleganz und Sanftheit von Guardevoirs Bewegungen und Berührungen würde jedoch keine Frau jemals erreichen. Aber ihm gefiel die Anspielung, sodass er ihre Hand so ergriff, wie die der Psychodame. Er merkte gleich, dass sie etwas rauer und deutlich kräftiger war. Dennoch führte er sie genauso mit sich und schließlich vor die Tür. Nun hakte sie sich ganz bei ihm ein. Andrew wollte bei dem Anblick erst lachen, doch wurde er von einem behandschuhten Arm überrascht, der sich mit einem unerwartet kräftigen Griff um seinen eigenen legte.

    „Komm schon, rein mit uns.“

    Sandra führte eher ihn, als dass er sie führte. Gemeinsam stießen die vier die beiden Türhälften auf.

    Sie wurden von weißem und goldenem Licht empfangen. Für eine Sekunde grell und fast ein wenig ausladend. Doch überstrahlten sie die Raumbeleuchtung rasch mit ihrem Auftreten. Zumindest ließen die Blicke der Leute darauf schließen. Jeder in der Nähe der Pforte staunte ähnlich begeistert, wie Melody es bei Sandra getan hatte. Die strich sich gerade ihr himmelblaues Haar zurück, dass sie zu einem weiten Zopf geflochten hatte und über ihrer linken Schulter lag. Ihr Kleid war eine elegante Hommage an ihre alltägliche Kleidung. Sicherlich eine Sonderanfertigung, nur für sie. Gehalten in denselben Blautönen und gar fast demselben Muster spannte es sich wie eine zweite Haut an ihren Körper. Erst am Schienbein erlaubten Schlitze an den Seiten etwas Bewegungsfreiheit. Die Träger waren hauchdünn und es wurde viel Dekolletee enthüllt. Am Rücken war das Kleid gar völlig offen, doch verhüllte sie ihn dennoch zumindest teilweise durch eine Stola. Eine Seite Schwarz, die andere blutrot, genau wie ihr Umhang, den sie sonst trug. Silberne Ohrringe blitzen im Licht auf, welche an das Design des Ordens ihrer Arena erinnerten. Um ihren Hals lag eine Kette aus makellos rundgeschliffenen Steinen, deren Farbe fast im Einklang mit dem Teppichboden war. Zudem deckte sie sich perfekt mit den eleganten Lackschuhen, durch deren Absätze sie Andrew sogar um ein winziges Stück überragte.

    Der ging trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, stramm und stolz, um ja nicht von ihrer Ausstrahlung in den Schatten gestellt zu werden. Er selbst war in ein schwarzes Hemd mit braunem Saum und Kragen gekleidet. Das sonst so wilde Haar war mit Gel nah hinten gekämmt worden und nur ein paar der Blonden Strähnen hingen ihm charmant ins Gesicht. Breite Lederriemen spannten sich über seinen Oberkörper und über die Schultern. Ihm war egal, ob Hosenträger out waren oder nicht. Er fand sie schick und sie verliehen seinem Outfit etwas Rustikales. Ein bisschen zumindest. Pete hatte ein Sakko dazu gepackt, auf welches er wegen der – selbst am Abend herrschenden – sommerlichen Temperaturen verzichtet hatte. Sollte er sich auf die Tanzfläche verirren, würde er darin eh nur eingehen. Dass dies geschehen würde, stufte er gar nicht mal als unwahrscheinlich ein. Nur weil er ein leichtlebiger Spaßvogel voller Flausen im Kopf war, bedeutete das nicht, dass er nicht auch einige feinere Seiten besaß. Sein Aufzug war der Beweis dafür.

    Ryan kam im weißen Hemd, allerdings ohne Hosenträger. Dafür spannte sich eine enge, schwarze Stoffweste über seinen Körper und betonte die sportliche Figur. Seine Hände steckten in gleichfarbigen Halbhandschuhen – dünner und leichter als das abgenutzt Leder, das er gewohnt war, aber durchaus passend. Die Ärmel waren ordentlich bis zum Ellenbogen hochgekrempelt und er trug seine Halskette mit dem Silberflügel offen statt unter der Kleidung, wie er es sonst die meiste Zeit tat. Auch er hatte seine Frisur mit Gel zurechtgemacht und alles was ging auf die rechte Seite geworfen, sodass eine Gesichtshälfte etwas verdeckt wurde.

    So entging ihm das süffisante Lächeln Audreys, die seinen Unterarm überraschend fest umklammert hielt. Sie genoss den Moment wohl sehr, strich sich mit einem unbemerkten Seitenblick eine Strähne aus dem Gesicht. Ihr Kleid war farblich ihrer Frisur angepasst. Matter Stoff in Nachtschwarz, allerdings mit roten Rüschen am Saum und an den Trägern. Auch an ihren Handgelenken trug sie Rüschen bestückte Bänder und synergierten perfekt mit den schwarz lackierten Nägeln. Sowie mit dem Outfit insegesamt. Eine Corsage aus schwarzem, allerdings weniger mattem Stoff war in das Kleid eingenäht und mit roten Bändern eng zu gezurrt worden, was ihr eine beeindruckende Taille verpasste. Nicht, dass die nötig gewesen wäre, da ihr der Reifrock schon einen beachtlichen Bonus an Hüftumfang bescherte. Der reichte etwas über die Knie und präsentierte ein Paar wunderschöner Beine, die in schwarzen Absatzschuhen mit gebundenen Schlaufen um die Knöchel endeten. Allerdings nicht so hoch, wie bei Sandra und sicher weniger unangenehm beim Tanzen. In ihrer üblichen Kluft hätte man diese makellosen Konturen wohl kaum vermutet.

    Für einen Moment blieb die Vierergruppe stehen und observierte den Raum. Vor ihnen lag die Tanzfläche. Der Boden blitzte im Licht des Kronleuchters darüber makellos auf, war aus demselben Holz wie die Eingangspforte. Weiße Säulen flankierten ihn links und rechts, bildeten sozusagen eine Begrenzung. Dahinter war eine breite Glasfront, welche fast die gesamte Außenwand einnahm. Lange Tische mit Speisen und Getränken, Bowle und Cocktails eingeschlossen, waren darauf ausgebreitet. Definitiv die feine, pompöse Küche, die Show und Präsentation über allem anderen priorisierte.

    „Hier braucht´s einen anderen DJ“, scherzte Audrey völlig unerwartet und erntete dafür ein, zwei Lacher. Ja, die Atmosphäre war eine gehobenere. Verklemmt und spießig, wie sie es bezeichnen würde. Aber nichts, was sie nicht zum Besseren wenden könnte. Immerhin war die Begleitung exzellent.

    Eine Frau in perlweißer Bluse und schwarzer Stoffweste kam mit einem Tablett an sie herangetreten und bot Sektgläser an. Hinter ihr bemerkte Ryan die Blicke einiger Gäste. Trainer, Sponsoren und Verantwortliche aus der gesamten Szene waren hier vertreten. Auch den Chief erspähte er an der Bar weiter rechts im Saal. Auf der linken Seite waren Stehtische mit feinen Decken darüber verteilt, an denen sich Menschengruppen bildeten und sich in geschlossener Runde niederlassen konnten. In dieselbe Richtung marschierten auch sie und ignorierten dabei die Blicke der anderen Gäste. Bella schien noch nicht eingetroffen zu sein.

    „Also,“, verschaffte sich Audrey die Aufmerksamkeit aller drei, als sie an einem freien Tisch angekommen waren und hob ihre Glas.

    „Auf uns. Die schneidigsten Verlierer im Raum.“

    Sie hatte schon immer gut über sich selbst lachen können. Allerdings war ihre Niederlage auch weit weniger bitter gewesen, als die von Ryan, Andrew und Sandra. Allein, da sie alle drei gegen denselben Gegner verloren hatten. Dennoch stieß die Arenaleiterin sofort mit an. Die jüngeren Trainer tauschten untereinander erst einen prüfenden Blick, stimmten aber mit ein.

    „Hoch die Gläser.“

    „Zum Wohl.“

    Der Sekt schmeckte sehr fruchtig und enthielt wohl nur einen geringen Anteil an Alkohol. Wenn überhaupt welchen. War ohnehin besser so. Dennoch überraschte es, dass Audrey ihres schon nach einem großen Zug geleert hatte.

    „Dann erklärt mal...“, setzte sie an und ihr Glas auf dem Tisch ab.

    „Wie laufen solche Abende in der Regel ab? Auf so einer Bonzen Veranstaltung bin ich zum ersten Mal.“

    Dessen erinnerte sich Ryan. Leider fiel ihm wenig ein, was ihre Hoffnungen für die nächsten Stunden hochschrauben würde.

    „Man redet, man tanzt, isst, trinkt. Manche machen auch nur ein oder zwei dieser Sachen.“

    „Ich kann euch jedenfalls sagen, was davon ich machen werde“, warf Andrew direkt ein und stahl sich davon. Direkt in Richtung Buffet. Wohl etwas Frust in sich hineinfressen. Nebst einiger viel zu teurer Delikatessen. Derweil wirkte Audrey, wie zu erwarten, etwas ernüchtert.

    „Ist das alles? Drei dieser Dinge können wir jederzeit machen.“

    Es war Sandra, deren Augenbrauen sich hier zusammenzogen und fragend in Richtung der Trainerin aus Rosalia starrte.

    „Was hast du beim Begriff 'Sommerball' erwartet?“

    Hierauf hatte sie ausnahmsweise mal keine Antwort parat. Ohne die Teilnahme von neuen sowie alten Freunden, wäre sie hier vermutlich gar nicht erst aufgekreuzt. Bekanntlich war die Party ja nur so gut, wie die Gesellschaft. Trotzdem – enttäuscht zu werden, obwohl man ohne Erwartungen hergekommen war...

    „Dafür, dass du mit solchen Festen keine Erfahrung hast, passt dein Dresscode aber überraschend gut.“

    Auf ihrem Gesicht breitete sich ein Grinsen aus, noch ehe ihr Blick zu Ryan gewandert war. Auf dem kurzen Weg blieb er jedoch an einem Mann mit dünnem Haar und Spitzbart um die fünfzig hängen, der gerade an die Gruppe herantrat. Hinter ihm verweilte eine Dame im Anzug mit einem Schritt Abstand. Scheinbar seine Assistentin, vielleicht Sekretärin. Sein Blick war müde, wirkte offen gesagt ein wenig schmierig. Aber er grüßte höflich, vorsichtig, verschaffte sich mit einer unerwartet hohen Stimme die Aufmerksamkeit des gesamten Tisches.

    „Verzeihung, wenn ich kurz stören dürfte?“

    Sandra, welcher die Anrede offenbar gegolten hatte, neigte verblüfft den Kopf zur Seite. Sie erkannte den Mann sofort.

    „Herr Nowak. Wie klein die Welt doch ist.“

    Sie stellte sogleich ihr Glas ab und reichte ihm die Hand.

    „Ich habe Sie hier nicht erwartet. Ruhen die Pflichten in Johto?“

    „Genau wie Ihre, so scheint es.“

    Dahinter könnte man eine fiese Spitze vermuten, doch der Mann hob gleich beschwichtigend eine Hand, bevor Missverständnisse aufzukommen drohten.

    „Keine Sorge, ich weiß, dass die temporäre Schließung ihrer Arena konform und genehmigt ist.“

    Wenn es einer wusste, dann er. Von all den Anzugträgern, mit denen eine so zentrale Figur wie eine Arenaleiterin verkehren musste, sprach Sandra mit keinem so oft, wie mit ihm. Aber sie tat es selten ungern. Der Mann war so angenehm umgänglich, wie eine geschäftlich bedingte Bekanntschaft nur sein konnte.

    „Darf ich vorstellen?“, wandte sie sich um und trat einen Schritt beiseite.

    „Herr Nowak vom Generalamt für Johtos Arenen. Vereinfacht ausgedrückt könnte man ihn meinen Boss nennen, sowie den jedes anderen Arenaleiters der Region.“

    Soweit Ryan wusste, arbeiteten Arenaleiter völlig selbstständig, mussten aber in regelmäßigen Abständen Berichte und Statistiken ihrer Kämpfe dem Generalamt vorlegen und sich ein bis zwei Mal im Jahr deren Routineprüfung unterziehen. Das Amt legte fest, wer die Lizenz für eine Arena erhielt, auf welchem Niveau sie offiziell eingestuft wurde, aber auch, welcher Leiter den Ansprüchen nicht länger genügte. So eine Lizenz konnte auch mal wieder eingezogen werden. Ein Wunder, dass dies bei der Pfeife in Faustauhafen noch nicht passiert war.

    „Herr Nowak – Ryan Carparso ist ihnen sicher bekannt“, führte Sandra die Vorstellung weiter.

    „Sehr bekannt sogar. Es freut mich sehr, Sie einmal persönlich zu treffen, Mr. Caraprso. Zwar haben Sie bestimmt mit einer gewissen Enttäuschung zu kämpfen, aber ich darf Ihnen hoffentlich dennoch zu Ihrem beeindruckenden Turnier gratulieren?“

    Man schüttelte einander mit viel Anstand die Hände. Ryan musste gestehen, es erfüllte ihn mit Stolz, von einem Menschen in so hoher Position so viel Respekt zu empfangen. Nicht so viel, wie von Trainern oder anderweitig Gleichgesinnten, aber dennoch. Daher begrüßte er Herrn Nowak mit derselben Ehrerbietung.

    „Danke vielmals. Ich weiß Komplimente jederzeit zu schätzen. Und meine Bemühungen werden von hier an nur größer.“

    „Sicher werden sie sehr bald entlohnt.“

    Ryan glaubte, ehrliche Glückwünsche für all seine künftigen Matches in diesen Worten zu erkennen.

    „Und das ist Audrey Miller. Ebenfalls eine herausragende junge Trainerin aus unserer Heimat.“

    Sie sollte trotz früheren Ausscheidens keinesfalls vergessen werden, aber Herr Nowak schüttelte auch ihre Hand sehr eifrig.

    „Aber natürlich. Auch Ihre Kämpfe habe ich mit großem Interesse verfolgt.“

    Na, das konnte was geben. Auf diese steifen Floskeln konnte Audrey sicher bestens verzichten. Hoffentlich würde er dieses Gespräch nicht allzu weit in die Länge ziehen. Wer wusste schon, zu welchen Späßen sich Audrey hinreißen lassen mochte, wenn es ihr mit irgendeinem Anzugträger mal zu bunt würde?

    „Sie können sicher sein, das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite“, antwortete sie mit einem breiten, charmanten Lächeln. Ryan musste alle Mühe aufbringen, sich nicht verdutzt nach ihr umzudrehen. War das wirklich Audrey, die da geantwortet hatte? Sie klang wie ein anderer Mensch. Glücklicherweise hatte Herr Nowak keine Ahnung, wie sie üblicherweise auftrat und war daher keineswegs irritiert, bemerkte auch nicht die Verwunderung des Blondschopfes daneben.

    „Sie haben meiner besten Arenaleiterin wirklich einen spektakulären Kampf geboten. Meine Hochachtung.“

    Sie spielte die Bescheidene. Der Anblick war noch ungewohnter als der gehobene Jargon.

    „Sie schmeicheln mir. Aber es ist offensichtlich, wie viel Arbeit noch vor mir liegt.“

    Nowak ballte eine Faust und redete motivierend auf Audrey ein. Er wirkte trotz fortgeschrittenen Alters sehr schwungvoll und positiv.

    „Nur nicht verzagen. Die Leiter ganz nach oben ist lang und beschwerlich, aber nach dem, was ich gesehen habe, bin ich sicher, Sie sind dem Anstieg gewachsen.“

    „Und ich werde jede Sprosse mit Zuversicht nehmen.“

    Boah, war das schwierig hier die Kontenance beizubehalten. Hatte Audrey einen Schalter in ihrem Kopf umgelegt?

    Mit dieser Antwort schien der Mann sehr zufrieden. Sandra hatte daneben lediglich eine Braue sowie einen Mundwinkel verschmitzt angehoben. Im Gegensatz zu Ryan wirkte dies aber natürlich und keineswegs unter zwanghafter Beherrschung. Obendrein vermochte die Arenaleiterin, beides sofort abzustellen, als sich Nowak wieder an sie wandte.

    „Sandra, dürfte ich Sie für einen Augenblick entführen? Es gibt da ein Anliegen, über das ich gerne mit Ihnen sprechen würde.“

    Eine ungewöhnliche Art, jemanden zu siezen und gleichzeitig mit dem Vornamen anzusprechen, wie Ryan bemerkte. Die Drachenmeisterin war verwundert, was es denn ausgerechnet hier und heute zu diskutieren gäbe, willigte jedoch ein und entschuldigte sich für einen Moment.

    In dem Moment, als die Beiden sich samt der Sekretärin entfernten, drehte Ryan langsam, geradezu mechanisch den Kopf in Audreys Richtung. Sein Blick sprach Bände. Nein, schrie sie regelrecht. Er brauchte nicht das Geringste zu sagen.

    „Was ist?“, meinte sie allerdings bloß schulterzuckend. Sie war bereits wieder ganz sie selbst.

    „Noch nie 'ne scheinheilige Schleimerin gesehen?“

    Völlig unbehelligt griff sie beim vorbeigehenden Kellner nach einem neuen Glas Sekt und nippte daran. Richtig! Audrey hatte vor, irgendwann einmal selbst Arenaleiterin in Johto zu werden. Da war es alles andere als dumm, sich mit jemandem wie Herr Nowak gut zu stellen. Ganz egal, wie weit dieser Plan noch in der Zukunft lag. Diese Art war Ryan an Audrey allerdings neu und brachte ihn zum Lachen.

    „Ihr Frauen und euer verfluchter Charm“, meinte er mit einem fassungslosen Kopfschütteln und leerte sein Sektglas. Dies wurde von der letzten übrigen Person nebst ihm an diesem Tisch nur mit einem Zwinkern quittiert.

    „Würde gerne wissen, was er von Sandra will“, wechselte sie das Thema und lugte zu jener hinüber. Es war nicht leicht, in diesem großen Saal mit so vielen Menschen, eine einzelne Stimme herauszufiltern. Es klappte auch nur Bruchstückhaft, doch konnten sie beide sich den Satzbau anhand einiger Fetzen zusammenreimen.

    „Ich wollte mit dieser Nachricht eigentlich warten, bis Sie wieder in Johto sind, doch ich würde diesen glücklichen Zufall gerne als Anlass nutzen.“

    Schien also um die Arbeit zu gehen. Und das Anliegen war scheinbar ein positives. Das erleichterte die Beiden und genügte ihnen, damit sie nicht weiter zu lauschen versuchten. Sandras Geschäft ging sie nichts an und sie waren nicht so ungeduldig, dass die nicht warten konnten, bis sie es ihnen persönlich erläuterte – sollte sie dazu bereit sein.

    „Was ist mit den anderen Gästen? Du kennst doch sicher ein paar Leute wie den da?“, erkundigte sich Audrey stattdessen. Der erste sporadische Rundblick hatte Ryan nicht viel Übersicht verschafft, weshalb er seine Position am Tisch änderte, sodass er nun in den Großteil des Saals sah. Es war nicht so, dass er sich besonders gut auskannte. Zumindest behauptete er das nicht von sich. Aber die ein oder andere Visage sollte er sicher erkennen.

    „Mal sehen. Den Chief hast du bei der Siegerehrung schon gesehen.“

    Und er sah noch haargenau so aus, wie bei dieser. Das dünne, schwarze Haar mit Gel nach hinten gerichtet und immer schön eine Hand auf dem Rücken. Das Kinn trug hoch, wirkte aber nicht arrogant, sondern aufmerksam und aufgeschlossen. Sein Auftreten war dem eines Gentleman würdig.

    „Na den kenn' sogar ich“, beteuerte Audrey.

    „Spricht für den Namen des Turniers, wenn der Chef der PTG persönlich die Medaillen verleiht. Ich dachte der macht das nur bei den Ligen.“

    Was in der Tat wieder mal bewies, welchen Stellenwert der Summer Clash hatte. Nicht nur für Hoenn, sondern für die Szene im Allgemeinen.

    „Die Blondine da hinten kennt man als Madam Genevieve.“

    Wasserstoffblondine, wollte man konkretisieren. Die aufgetorkelte Frau um die Dreißig hatte so viele Farben im Gesicht wie ein Clown. Trug obendrein ein pfirsichfarbenes Kleid, das von oben bis unten mit Rüschen überzogen war. Sie sah aus wie ein wandelnder Blumenstrauß. Wieso sie dennoch so aufdrängend von zahlreichen Leuten – und dann noch ausschließlich Männern – umgeben war, entzog sich Audreys Verständnis. Mit so einer Erscheinung konnte man doch nicht gesehen werden wollen.

    „Die hat es sich zur Mission gemacht, nicht die Trainer, sondern deren Pokémon groß rauszubringen“, erklärte Ryan weiter. Das meinte er jedoch keineswegs im positiven Sinne.

    „Und glaub mir, wenn deine Pokémon einmal in ihrem Salon landen, erkennst du sie selbst nicht wieder.“

    Auch das konnte man im falschen, da positiven Sinne verstehen. Also musste er es klipp und klar aussprechen.

    „Die sehen dann genau so verkorkst aus, wie die Frau selbst.“

    Die Medien schienen die Dinge gern anders zu sehen, als Trainer wie Ryan es taten. Aber die Frau verstand es eben, sich zu vermarkten und die Verlage fraßen ihr aus der Hand. Eine Berühmtheit ohne Talent, nannte Ryan sie gern. Denn die wenigsten ließen sich auf mehr als ein Treffen mit Madam Genevieve ein. Man konnte froh sein, wenn man sein eigenes Pokémon wiedererkannte, wenn es einmal in ihrer Maske gesessen war.

    Das wollte sich Audrey lieber nicht bildlich vorstellen. Am besten gar nicht lange mit solchen Menschen aufhalten. Ryan observierte den Raum weiter.

    „Der Greis und der nervöse Stift daneben...“, fuhr er mit einem Deut Richtung Bar fort, wo ein schlaksiger Mann Anfang zwanzig seine Krawatte richtete und sich wohl wegen seines unsauberen Auftretens eine Predigt des alten Herrn daneben einbrockte.

    „Sind Fletcher Borrs und Neffe. Zwei verschiedene Generationen aus der größten Firma für Pokémon Medizin der Welt. Vom einfachen Supermarkt bis zum Pokémoncenter wird absolut alles mit ihren Waren beliefert.“

    Die jüngere Generation schien sich wirklich zu bemühen, dem Anspruch der älteren zu genügen. Dem kritischen Blick nach zu urteilen, scheiterte er aber samt und sonders.

    „Alle Achtung. Kennst dich ja doch ein bisschen aus.“

    Ryan spürte einen neckischen Ellenbogen in seiner Seite und schob ihn mit einem schuldbewussten Schmunzeln weg.

    „Ein paar sind schon irgendwie hängen geblieben. Ist aber nicht so, dass ich mir das merke.“

    So ganz kaufte sie ihm das nicht ab.

    „Sonst noch jemand?“

    Das ständige Weiterfragen wurde nun mit einem durchschauenden Seitenblick quittiert.

    „Du bist richtig scharf drauf, dir etwas Vitamin B zur Seite zu legen, oder?“

    Diese Anschuldigung entlockte der Trainerin einen bestürzten Gesichtsausdruck, doch das Lächeln verriet sofort, dass sie nur wieder spaßte.

    „Ryan Carparso, ich muss doch bitten. Solche Vorwürfe in Richtung einer unschuldigen Dame?“

    Sie erntete darauf nur eine Grimasse, als wollte er antworte, sie könne sich das Getue sparen.

    Ein oder zwei weitere Gesichter erkannte Ryan noch, fand aber keine Hintergründe zu ihnen in seinem Gedächtnis. So schwieg er lieber, anstatt Audreys Vorwurf weiter zu bestätigen. Stattdessen gingen sie die Trainer durch, die sie im Laufe des Tages beobachtet hatten. Nicht alle aus den besten sechzehn waren anwesend. Da fehlte zum Beispiel Jamie Gregory, der Märtyrer, den Andrew im Viertelfinale ausgeschaltet hatte. Ryans eigene Gegnerin, Ann Trevors, war dagegen erschienen. Erneut in einer Kombination aus weiß und schwarz. Und ebenfalls erneut trug sie etwas extrem Figurbetontes. Die Frau musste an ihrem Körper noch mehr gearbeitet haben als mit ihren Pokémon. Mitch Morrow, Tina Fergison und Chester Rome standen gar in derselben Runde und wechselten locker einige Worte. Auch Amy Valentine, eine Freundin Audreys, war anwesend und tat sich gerade am Buffet gütig. Direkt neben Andrew. Für beide waren die Speisen offenbar interessanter als die Person daneben. Ryan stellte fest, dass ansonsten wohl nur Terry Fuller zu fehlen schien. Naja, eine Person wäre da noch.


    Als hätte er es heraufbeschworen, öffnete sich die Saaltür und zog mit ihrem Knarzen die Aufmerksamkeit der halben Besucherschaft auf sich. Der Anblick der eintretenden Person erregte gar noch weitere Aufmerksamkeit. Ein paar bernsteinfarbener Katzenaugen sah seelenruhig einmal von links nach rechts, von rechts nach links. Das wellige, schwarze Haar hing ihr ein wenig ins Gesicht und verhüllte sie beinahe. Sie warf es mit einer eleganten Handbewegung zurück und man könnte meinen, ein Dutzend Männerherzen zerflossen dabei gerade. Vielleicht auch noch das ein oder andere Frauenherz. Ein Träger ihres Kleides rutschte dabei herunter, doch sie ließ ihn dort am Oberarm hängen, als sei es beabsichtigt gewesen. Das Oberteil ihres nachtschwarzen Kleides saß so eng, dass es ohnehin wohl kaum verrutschen konnte. Es war zweigeteilt, offenbarte eine Schneise nackter Haut vom großzugigen Ausschnitt bis zum Bauch. Ein paar Kreuznähte hielten sie beisammen, ähnlich wie bei Audreys Corsage. Überzogen wurde es von einem Muster, das an gefallenes Herbstlaub erinnerte und um den Hals trug sie einen Choker im selben Stil. Der voluminöse Rock mit Einschnitt bestand ebenfalls aus zwei Teilen. Die untere Hälfte war, bis auf drei abgestufte Reihen aus mit Rüschen besetzen Satin, ein halb durchsichtiger Schleier, unter dem sich ein grazilen Beinpaar mit festen, strammen Schritten bewegte. Die unterste Reihe bildete den Saum, unter welchem nur gerade so noch ihre eleganten und selbstverständlich ebenfalls schwarzen Schuhe bei jedem Schritt hervorlugten. Ein überlegenes Lächeln mit dunklem Lippenstift lag breit auf dem ansonsten nur dezent geschminkten Gesicht.

    Mit zielstrebigen Schritten war der Chief sogleich bei ihr und rief hemmungslos in die weite Runde.

    „Unsere große Turniersiegerin ist eingetroffen. Miss Bella Déreaux, meine Damen und Herren!“

    Er brauchte nicht um Applaus zu bitten. Der kam ganz von selbst. Manche verhalten und lediglich aus Höflichkeit. Einige aber auch sehr frenetisch und begeistert. Selbst unter den anderen Trainern war sich kaum einer für diese Geste der Bewunderung zu schade.

    „Tja, das war´s wohl mit dem entspannten Teil des Abends“, murmelte Ryan nüchtern zwischen seinen angespannten Kiefern hervor.