Information | Vote
Ähnlich wie im letzten Jahr gibt es auch dieses Jahr wieder eine bestimmte Anzahl an Punkten, die ihr den Texten geben könnt. Dazu findet ihr weiter unten eine Schablone die ihr zum Voten nutzen könnt. Begründungen sind keine Pflicht, aber können geschrieben werden sofern man möchte.
Der Vote läuft bis zum 29.12.2012 um 23:59 Uhr.
Ein letztes Mal wurde der schwarze Kapuzenumhang am Körper geglättet und er betrachtete sich im Spiegel. Unerkannt wollte er bleiben, denn er musste fliehen. Es zwang ihn zur Flucht, die Angst. Die vor ihm, der überall auftauchte, wo jenes Pokémon ging und stand.War es die richtige Entscheidung? Konnte er alles zurücklassen und auch hinter sich lassen? Er zögerte, ehe er den zugeschnürten Beutel nahm, auf dem der Staub ruhte. Er pustete ihn weg und er nieste durch die Nase. Es erinnerte ihn an seine Kindheit, als er gerne alte Bücher vom Staub befreite. Solche, die lange in einem Regal standen und nicht mehr beachtet wurden. Oder nur so lange da gestanden hatten in der Absicht, dass sie eines Tages gelesen werden.
Hätte er nur die eine Tat nicht begangen, so wäre er noch am Leben. Sein Bruder, der ihn damals beschützt hat. Für einen Augenblick setzte er sich auf das Bett wieder. Ihm fiel der wurmstichige Bumerang auf, der damals eigens für ihn aus frischem Holz herausgearbeitet worden war. Er erinnerte sich an den Duft des Waldes, der mit Pilzen, Morast und Tieren erfüllt war. An den sanften Windhauch, der in diesen Wäldern seine Nase kitzelte. Und dazu war er dagewesen, der Bruder, der ihm die Kunst des Schnitzens beibrachte. Der ihm beibrachte, einen Bumerang auf die angemessene Art zu werfen. Der ihm beibrachte, niemals aufzugeben. Der dieses freundlichste Gesicht der Welt hatte. „Er liebte seinen kleineren Bruder … er liebte … mich …“, flüsterte er. Sein Blick galt dem Boden und nur der sollte diesen die nächsten Minuten lang ertragen.„Wieso?“, fragte er sich.
Hatte er die Verbannung verdient? Wurde er zu Recht verurteilt, obwohl er das Leben mehrerer retten wollte? Er empfand nicht derartig, er war unschuldig in dem Sinne. Er war schuldig an dem genannten Verrat, doch hatte er keine Wahl gehabt. Er sollte die Tradition wahren. Er tat, was ihm geheißen wurde. Es war unrecht, dass er nun deswegen verurteilt wurde. Man rief ihn als Verräter aus, er wäre es nicht wert, Teil dieses Stammes zu sein. Ein Feigling wäre er gewesen, dass er ihm nicht zu Hilfe kam, als er sie brauchte.
„Er selbst sprach sich gegen mein Einmischen aus!“, rief er laut aus. Der Boden glitzerte. Das Bett bebte. Er konnte es nicht mehr ertragen, die Last war zu groß. Auch wenn dies nicht stimmen sollte, so sprach er aus: „Wir, die Snibunna, sind zum Einsam-Sein verdammt!“
Er stand auf und schritt etwas ängstlich zur Wasserlache. Er erblickte sein unversehrtes Gesicht und sah im Kontrast dazu das seines Bruders. Er schloss schnell die Augen. Er wollte es nicht sehen. Nicht schon wieder. Niemals wieder.„Bruder …“, hauchte er aus und hob die Kralle. Er starrte sie mit trüben Augen an. Sie war mit spitzen Nägeln seiner drei Finger versehen. Sie waren nie so scharf wie die seines Bruders gewesen. Wieder sah er ihn vor seinen Augen, unversehrt jedoch. Sein Bruder wurde von allen gefeiert. Er selber stand im Schatten eines Hauses, welches hinter seinem Bruder lag.
In dem Moment sah er sein Spiegelbild als das Antlitz seines Bruders an. Er biss die Zähne zusammen. Er knirschte mit den Zähnen und bebte. Er atmete heftig ein und aus: „Tu es endlich!“ Er schlug zu. Der Schmerz auf seinem rechten Auge dauerte zwar an, aber er war froh, endlich ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht zu haben.
„Ich werde nie so sein wie du, denn ich bin ein Niemand, der immer ein Niemand hinter dir war. Und trotzdem liebte ich dich …“, sprach er bestimmt aus, nahm sich den Beutel, betrachtete sein neues Selbst im Spiegel. Er zog sich die Kapuze über und verschwand in die Nacht. „Es tut mir Leid!“
Vorsichtig lugte Ashling am Stamm einer alten Eibe vorbei und lächelte zufrieden, als sie das schwebende, blaue Licht einige Schritte entfernt sehen konnte. Sie drückte sich mit dem Rücken an die beschuppte Borke und atmete einige Male tief ein und aus. Die Übung begann mit der Sichtung des ersten Irrlichts und sie musste sich jetzt vollauf konzentrieren. Ihr weißes Kleid war am unteren Teil bereits feucht von dem Tau, der sich auf dem Moos in winzigen Perlen niedergelassen hatte, welches an vielen Stellen den Waldboden bedeckte. Ihre grünen Haare hatte sich das Trasla selbst über dem Gesicht kürzer geschnitten, damit sie ihre Umgebung besser im Auge behalten konnte.
„Dann mal los”, meinte sie leise, aber entschlossen und trat hinter dem breiten Stamm hervor. Sie ging auf das schwebende Irrlicht zu und konzentrierte sich darauf, dieses mit ihrer Konfusion umschließen zu können. Das war nicht einfach, denn es war äußerst instabil, da es bei der ersten Berührung Verbrennungen auslösen sollte. Ashlings Aufgabe bestand darin, die Energie mit ihrer Konfusion gefangen zu nehmen und somit die Kontrolle darüber zu erlangen. Im besten Fall fand sie alle sechs Irrlichter, die ihr Meister hier im Wald zurückgelassen hatte und brachte diese auch zu ihm zurück.
Ihre Konfusion legte sich wie gewünscht als Mantel über die blaue Flamme, die in doppelter Höhe des Trasla über dem Boden schwebte, und hielt die Energie gebündelt. Sie löste sich nicht sofort auf, was für Ashling einen Triumph darstellte, aber es war noch nicht vorbei. Es musste ihr auch möglich sein, dass Licht nun mithilfe ihrer Konfusion zu bewegen. Vorsichtig ließ sie es nach unten sinken, sodass es direkt vor ihr schwebte. Das Irrlicht bestand aus einem kleinen weißen Kern, in dem sich die meiste Energie konzentrierte, der von einer blauen Flamme umgeben war. Sie ließ es noch eine Weile vorsichtig hin und her schweben. Als sie feststellte, dass es stabil schien, versuchte sich auch etwas schnellere und ruckartigere Bewegungen, denen die blaue Flamme folgte.
„Nummer eins. Nur noch fünf”, stellte sie zufrieden fest und ließ ihren Fang hinter sich her schweben; auf dem Weg zum nächsten.
Sichtlich enttäuscht und verärgert erreichte Ashling schließlich die Lichtung, die als Treffpunkt mit ihrem Lehrmeister ausgemacht war. Hinter ihr schwebten drei blaue Flammen, die übrigen hatten sich bei dem Versuch die Energie mit ihrer Konfusion zu stabilisieren aufgelöst. Besonders über die Anzahl war sie sehr verstimmt, am Tag zuvor hatte sie zumindest vier zurückbringen können.
Die Lichtung war nicht besonders groß und kurzes Gras bedeckte den Boden. In der Mitte befand sich ein großer, breiter Baumstumpf - einst stand hier die größte und älteste Eiche des Waldes. Inzwischen war aus diesem Platz der Treffpunkt von ihr und ihrem Lehrmeister geworden. Wie sie es gewöhnt war schwebte Meallán in geringer Höhe über dem Baumstumpf und hatte sie bereits erwartet.
Unter dem schwarzen, eisernen Schirm, blickten zwei gelbe Augen heraus, zwischen ihnen eine sich stetig bewegende, bläuliche Flamme die im gläsernen Kopf des Laternecto unablässig brannte. Seine beiden Arme hingen entspannt und an den Enden leicht eingerollt herab. Es war dem Trasla unangenehm, dass er durch die erhöhte Position sofort sehen konnte, wie viele seiner Irrlichter sie mitgebracht hatte. Er schwebte bei ihrem Anblick herab und auf sie zu.
„Drei von sechs ist doch gut! Warum siehst du so enttäuscht aus?”, fragte er direkt. Seine Stimme hallte etwas und während er sprach, bewegte sich die Flamme noch stärker.
„Weil ich gestern wenigstens vier hatte. Ich dachte, heute könnte ich alle sechs wieder hierher bringen …”, antwortete sie und blickte verärgert zu Boden. Dabei verlor sie die Konzentration und ihre Konfusion hielt die Lichter hinter ihr nicht mehr fest. Die Verbindung wurde so schnell gelöst, dass alle drei blauen Flammen sofort mit einem zischenden Geräusch verpufften, was Ashling dazu brachte sich ruckartig umzudrehen.
„Auch das noch”, kommentierte sie ihre Nachlässigkeit.
„Du solltest nicht so streng mit dir sein. Denn dies war gar nicht die wirkliche Lektion.”
„War sie nicht?”, stieß Ashling überrascht hervor und fragte sich, warum Meallán sie die letzten zwei Wochen nichts anderes hatte tun lassen.
„Nein, aber es sollte dir helfen, dich gegen einen Angriff zu verteidigen”, begann er zu erklären. „Sollte dein Gegenüber dich mit Irrlicht angreifen, so hättest du dank dieser Übung die Möglichkeit die Attacke zu deinem Gunsten gegen ihn einzusetzen. Falls es fehlschlägt und du die Energie nicht unter deine Kontrolle bekommst, so würde dein Fehlschlag dich genauso schützen.”
„Das heißt, diese Übung hatte mit dem eigentlichen Erlernen von Irrlicht gar nichts zu tun?”
„Doch, indirekt. Ich wollte dir die Angst vor dieser Attacke nehmen. Du solltest, wenn du sie selbst ausführst, keine Angst vor der Energie haben, die du heraufbeschwören und bündeln musst. Aber dazu werden wir jetzt gleich kommen”, meinte er und schwebte einige Meter zurück. Ashling war gespannt, was er ihr nun zeigen würde, gleichzeitig aber auch sehr unsicher, ob sie für die nächste Aufgabe überhaupt noch die Kraft hatte. Sie war seit Sonnenaufgang mit dem Suchen der sechs Irrlichter beschäftigt gewesen und nun zogen die Bäume bereits lange Schatten über die Lichtung.
„Irrlicht kann man auf verschiedene Arten hervorrufen”, hob er an und ließ um sich herum die sechs blauen Lichter erscheinen, die ihn vertikal umringten. „Wenn man sehr geübt ist, schafft man es - so wie ich -, dass sie um einen herum auftauchen. Die Energie lässt sich leicht steuern”, dabei ließ er die Flammen ihn umkreisen, „sodass man auch einzelne Lichter kontrollieren kann. Je geübter man ist, desto effektiver ist die Attacke einem Angreifer gegenüber, weil dieser nie weiß, wo und wie ihn die Irrlichter treffen werden. Die große Flexibilität hat aber auch einen Nachteil, da sie lediglich verbrennt und somit keinen Schaden im ersten Moment auslöst, dafür aber im folgenden.” Er ließ die sechs Lichter stillstehen und eine nach der anderen im Uhrzeigersinn verpuffen.
„Außerdem hat Irrlicht noch weitere nützliche Eigenschaften. Man kann sie gut als Lichtspender in der Dunkelheit verwenden und in Ermangelung an trockenem Holz kann man wesentlich leichter ein Feuer mit ihnen anzünden”, fügte er zwinkernd hinzu.
Ashlings rote Augen weiteten sich, als sie darüber nachdachte, wie nützlich ihr so eine Attacke auch außerhalb eines Kampfes wäre.
„Allerdings”, fuhr Meallán fort, „ist es für Feuer-Pokémon wesentlich einfacher derartige Energie, die sofort die verbrennende Eigenschaft besitzt, hervorzurufen als für Pokémon die nicht diesem Typ angehören. Deshalb wirst du zuerst lernen die Energie zu konzentrieren und ihr eine Form zu geben. Hast du das bewerkstelligt, werden wir ihr die Aufgabe zuweisen zu verbrennen.”
Für das Trasla klang das recht kompliziert und sie zweifelte, ob sie das schaffen konnte. Sie war recht geübt mit ihrer Konfusion und hatte bereits erfolgreich Doppelteam, sowie Teleport gemeistert, aber das waren alles Attacken die zu ihr als Psycho-Pokémon passten und ihr deshalb weniger Probleme bereiteten.
„Warum der skeptische Blick? Es ist nicht so schwer, wie es klingen mag, du wirst es bestimmt schaffen”, meinte das Laternecto aufmunternd und kam wieder etwas näher. Er streckte seine flachen, eisernen Arme aus und hob Ashlings Arme hoch, bis diese sich auf ihrer Brusthöhe befanden.
„Für den Anfang versuch die Energie zwischen deinen Handflächen zu erzeugen. Eine Hand oben, eine unten - genau so!”, meinte er, als sie die Position eingenommen hatte. „Wenn du die Energie kugelförmig zwischen deinen Händen hast, dann versuch ihr die Form einer Flamme zu geben. Halte diese eine Weile und lass sie anschließend wieder verpuffen. Du musst dich langsam herantasten und darfst dich nicht übernehmen. Versuch das eine Weile, bis es dir keine Schwierigkeiten mehr bereitet. In einer Stunde erwarte ich dich in der Hütte.” Mit diesen Worten drehte er sich um und verschwand geradeaus über die Lichtung.
„Also gut, mal sehen”, murmelte sie vor sich hin, während sie sich darauf konzentrierte zwischen ihren Handflächen die Energie hervorzurufen. Durch ihre Konfusion, war es ihr ein Einfaches durch Konzentration die Energie zu erhalten, aber es war schwer diese festzuhalten. Sie verflüchtigte sich sofort wieder, ehe Ashling die Gelegenheit hatte sie zu bündeln.
„Das gibt’s doch nicht!”, schimpfte sie und senkte ruckartig die Arme. „Das kann doch nicht so schwer sein.” Eine Weile lief sie herum, um die aufgestaute Wut irgendwie loszuwerden. Ihre impulsive Art war Gift für ihre Konzentration.
„Einatmen - Ausatmen - Einatmen - Ausatmen”, sagte sie sich vor, während sie ihre Lungen mit Luft füllte und diese wieder ausstieß. Sie musste ruhig sein und durfte sich nicht in ihre Rückschläge hineinsteigern. Sie setzte sich auf den Baumstumpf und versuchte es erneut. Zwischen ihren Handflächen erschien nach einer kurzen Konzentrationsphase die Energie in Form einer kleinen leuchtenden Kugel. Sie ließ diese eine Weile in der Form, bis sie sich sicher war, dass sie stabil genug war, damit sie damit beginnen konnte, ihr die Gestalt einer Flamme zu geben. Sie schloss die Augen und versuchte sich so genau wie nur möglich eine Feuerflamme vorzustellen. Sie konzentrierte sich darauf, das Bild auf die Energie zwischen ihren Händen zu übertragen. Als sie sich sicher war, dass sie es geschafft hatte, öffnete sie ihre roten Augen und betrachtete ihr Werk. Die Flamme zwischen ihren Händen war nicht besonders anmutig und wirkte etwas plump, aber die Form war zufriedenstellend.
„Wie schafft es Meallán nur, in so kurzer Zeit, sechs von ihnen einfach in der Luft erscheinen zu lassen? Ich bekomme ja nicht mal eine hin und brauche vier Mal so lange”, seufzte sie. Sie blickte in den Himmel und bemerkte, dass sie nicht mehr viel Zeit hatte, bevor sie zur Hütte musste. Diese Zeit wollte sie noch nutzen.
„Möchtest du eine Tasse Tee, Ashling?”, fragte das Laternecto nachdem sie die hölzerne Tür hinter sich geschlossen hatte.
„Ja, gerne”, erwiderte sie und setzte sich an den kleinen, aber massiven Holztisch, auf dem in einem Glas ein einzelnes Irrlicht mit seinem Schein die Umgebung erleuchtete.
„Bitte sehr”, meinte Meallán, als er ihr die Tasse mit dem heißen Getränk reichte.
„Danke.” Vorsichtig nippte das Trasla an dem Früchtetee, stellte ihn aber schließlich vor sich auf den Tisch, da er noch zu heiß war. Das Laternecto hatte seinen Platz ihr gegenüber eingenommen und schwebte mit leicht geschlossenen Augen entspannt über dem Boden.
„Meallán?”
„Hm?”
„Wie sagt man dem Irrlicht, dass es verbrennen soll?”
„Nun, das ist etwas schwierig zu erklären”, begann er und sah sie an. „Da gibt es unterschiedliche Methoden, viele entwickeln ihre ganz eigene Art.”
„Wie machst du es?”
„Ich verknüpfe es mit der Flammenform. Wenn ich die Energie um mich herum zu Irrlichtern formen will, dann ist für mich klar, dass Feuer verbrennt und somit entsteht die Energie bereits mit dieser Aufgabe. Allerdings ist das für viele nicht so einfach, ich hab anfangs versucht meinen Schülern es auf die Art beizubringen, aber viele hatten damit Schwierigkeiten, weil es schon Herausforderung genug war, eine Flamme zu formen.”
„Aber, wenn ich die Flamme habe, wie sag ich ihr, dass sie brennen soll?”, bohrte Ashling weiter nach und nahm einen Schluck von dem Tee.
„Wissbegierig wie immer, was?”, scherzte Meallán und ein hallendes Lachen erklang, was seine Schülerin grinsen ließ. Er erhob sich und öffnete den großen Schrank hinter sich. Neugierig versuchte das Trasla zu erspähen, was er darin tat, aber sie konnte nichts erkennen. Schließlich drehte er sich um und hielt eine Kerze in einem eisernen Halter in den Händen. Meallán stellte ihn direkt vor Ashling auf den Tisch.
„Ich denke hiermit wird es dir einfacher fallen.”
„Eine Kerze?”, erwiderte sie verwirrt und betrachtete die hohe, beigefarbene Wachsstange mit einem völlig unbenutzten Docht.
„Ja. Ich möchte, dass du sie anzündest”, meinte das Laternecto und schlagartig erlosch das Irrlicht auf der Mitte des Tisches.
„Was?”, entwich es ihr erschrocken, als das Licht wich und nur noch Mealláns Gesicht leuchtete. Aber sie erkannte, dass er den Schein seiner Flamme unterdrückte.
„Und wie soll ich das machen?”, fragte sie leicht gereizt. Warum musste er sie ständig ins kalte Wasser werfen, um ihr zu zeigen, wie man schwamm?
„Benutze Irrlicht”, war die simple Antwort und sie erkannte an seinem Tonfall, dass er keine weiteren Worte zu der Aufgabe verlieren würde. Sie war auf sich gestellt. Ashling atmete tief durch, bevor sie ihre Tasse beiseite schob und sich darauf konzentrierte, die Energie zwischen ihren Handflächen zu erzeugen. Tatsächlich erschien die kleine, leuchtende Kugel und das Trasla versuchte diese so stabil wie möglich zu halten. Zuerst flackerte diese noch ein wenig, aber nach wenigen Augenblicken war sie stabil und Ashling versuchte die Flamme daraus zu formen. Innerlich ärgerte sie sich schon, wie lange sie dafür brauchte. Doch sie schob den Gedanken beiseite und konzentrierte sich lieber darauf, mit der Form auch gleich die Aufgabe zu verknüpfen. Das Ziel war das Entzünden der Kerze und um das zu erreichen, musste die Energie aus dem das Irrlicht bestand dazu in der Lage sein.
Plötzlich hatte sie das Gefühl, dass das Irrlicht, welches vorher weder kalt noch warm war, zwischen ihren Handflächen eine Hitze entwickelte. Kurz schien der Kern rot aufzuleuchten, wie eine Flamme die entzündet wird, nahm aber sogleich wieder das weiße Leuchten an. Ashling konnte sich nicht erklären was passiert war, aber nun hatte sie deutlich das Gefühl, dass dieses Irrlicht verbrennen konnte. Obwohl sie nicht genau wusste, wie sie diese Energie nun bewegen sollte, damit sie die Kerze entzünden konnte, schien das von ihr erzeugte Irrlicht leichter zu reagieren, als die, die sie mit ihrer Konfusion eingefangen hatte. Kaum dachte sie daran, dass sich das Irrlicht zu dem Docht bewegen sollte, schwebte die blaue Flamme bereits lautlos auf die Kerze zu. Mit einem Zischen fing die Schnur Feuer und warmes Licht erfüllte den Tisch.
„Sehr gut”, lobte Meallán fröhlich, während Ashling immer noch nicht ganz verstand, was eigentlich passiert war.
„Wie habe ich das gemacht?”, wollte sie verwirrt wissen und blickte von der Kerze auf.
„Ich weiß es nicht”, gestand ihr Meister. „Aber das ist unwichtig, wichtig ist, dass du es geschafft hast und somit einen ganzen Schritt weiter bist. Die Grundkenntnisse hast du nun, jetzt geht es ans Verfeinern und Ausbauen dieser Fertigkeit. Und damit beginnen wir gleich morgen.”
„Ich bin mir unsicher, ob ich das noch einmal schaffe”, gab sie zu, da sie nicht das Gefühl hatte die Kontrolle über die Attacke zu haben.
„Wirst du, mach dir keine Gedanken. Erinnere dich daran, wie sehr dir der Teleport Angst gemacht hat, weil du nicht das Gefühl hattest zu kontrollieren wie und wo du am Ende dich materialisierst. Keine Sorge, ein Stück weit musst du dir selbst vertrauen.”
„Wenn du das sagst …”
„Ja, sage ich. Und jetzt sage ich, dass es Zeit ist Schlafen zu gehen. Wir haben noch viel vor”, erwiderte er mit einem bestimmten aber freundlichen Tonfall. Ashling lächelte, stand auf und stieg die Treppenstufen zu ihrem Zimmer nach oben. Sie blickte in der Mitte noch einmal nach unten und meinte: „Gute Nacht, Meallán.”
„Schlaf gut, Ashling”, erwiderte er und löschte mit seinen beiden Händen die Kerze. Kurz darauf erleuchtete wieder ein einzelnes Irrlicht den Raum.
Misako folgte schweigend dem Priester, der sie durch den ausgestorbenen Bambuswald führte. Für gewöhnlich wurde dieser Ort, der, eingekesselt von verschneiten Bergen, nur durch einen Pass mit der Außenwelt verbunden, ein nahezu kreisrundes Tal bildete, Frühlingstal oder auch Immergrüner Hain genannt. Diese farbenfrohen Beschreibungen spotteten der tatsächlichen Schönheit, die den Wald normalerweise erfüllte.
Doch jetzt war er tot, erstickt von einer Macht, die ihm alles Leben entzogen hatte. Die Bambusrohre waren grau und spröde wie sonnengebleichte Knochen, knarzten leise und Unheil verkündend in der milden Brise, die von den Bergen herabkam. Nur eine etwas stärkere Böe, und sie würden stürzen wie von einer scharfen Axt gefällt. Blätter und zarte Äste waren zu Asche zerfallen, die nie ein Feuer gesehen hatte und den Boden mit einem grauen Schleier bedeckte, wo sonst junge Sprosse dem Sonnenlicht lechzten.
„Wann hat das Waldsterben begonnen, Takeda?“, fragte Misako. Sie sprach den alten Mann mit seinem Familiennamen an, wie es der natürliche Respekt jedem Menschen gegenüber verlangte.
„Es ist nicht ganz ein Mond her“, antwortete der Tempelherr, der sich beim Gehen auf einen abgegriffenen Bambusstab stützte, den schon viele seiner Vorgänger besessen hatten. Seit sie sich in dem behelfsmäßigen Dorf am Pass zum Frühlingstal getroffen hatten, stierte Takeda immer wieder verstohlen zu Misako herüber. Ganz offensichtlich behagte ihm ihre Gesellschaft nicht, wie den meisten Menschen, wusste aber, wie unentbehrlich sie für ihn war. „Zuerst hielten wir es für eine Krankheit, die den Bambus befiel; als dann aber auch die Pokémon, die untrennbar mit der Energie der Welt verbunden sind, Schwächen zeigten, suchten wir die Wahrheit tiefer.“ Er zog die Augenbrauen zusammen, sein Blick verfinsterte sich. „Der Wald starb immer weiter ab, sodass ich mich gezwungen sah, die Pokémon, Tiere und Tempeldiener zu evakuieren.“ Plötzlich füllte sich sein Gesicht mit erwartungsvoller Hoffnung, als er zu Misako aufsah. „Ihr werdet es doch schaffen, unseren Schutzpatron zu heilen?“
Sie sah ihn lange an, bis er den Blick abwandte. Dem Starren ihrer Augen, deren Iris am oberen Teil rot, zum unteren hin weiß gefärbt war, widerstanden nur wenige Menschen. „Ich bin nicht umsonst ausgebildete Akashiro“, betonte sie ihren hochgestellten Rang innerhalb des Militärs, zu dem nur mit ihrer ungewöhnlichen Augenfarbe Geborene zugelassen waren.
„Verzeiht, Misako“, stammelte der alte Mann und schickte sich an, weiterzuhinken. Dass er sie nicht mit ihrem Familiennamen anreden durfte, schien ihm zu missfallen. Als Akashiro hatte Misako ihre Eltern nie kennengelernt, sondern war in Gesellschaft dieses vom Schicksal auserkorenen Menschenschlages aufgewachsen. Familiäre Bande hatten für sie nie bestanden.
Sie und Takeda erreichten den Schrein, in dem der Schutzpatron des Frühlingstals residierte. Der Schrein war, anders als der Rest des umliegenden, zur Zeit unbewohnten Tempelbezirks, kein Gebäude, sondern ein uraltes Bambusrohr von enormem Durchmesser, das jedoch kaum höher war als der Wald ringsum. Die ursprüngliche Pflanze stand seit Menschengedenken nicht mehr, doch aus den Wänden des Rohres waren jüngere, frische Triebe gesprossen. Jetzt war der einst lebende Kultplatz, wie auch der Hain, grau und tot.
Takeda führte Misako durch einen eingeschnittenen Eingang ins Innere des Schreins. Hier bot sich ihr ein schreckliches Bild: Die dem Eingang gegenüberliegende Wand des sakralen Bambusrohrs war zerstört, wie von einer mächtigen Faust niedergeschlagen. Misako trat näher heran und erkannte, dass das jedoch nicht ganz stimmte: Es waren viel weniger splittrige Bruchkanten zu sehen als solche, die vom schärfsten Katana des Kaiserreiches geschnitten schienen.
„Hier hat Shaymin gelebt und bis vor einem Mond über das Tal Wache gehalten“, flüsterte der Priester, wie um die vernichtete Heiligkeit des Ortes nicht zu stören. „Von hier aus hat es dann dem Wald seine Lebensenergie abgezogen. Als sein kleiner Körper all diese Macht nicht mehr halten konnte, hat es sich verwandelt. Wir vermuten, dass es als Legende, die bereits zwei verschiedene Formen hat, besonders anfällig für eine weitere Gestalt war.“
Die Akashiro nickte und brach ein Stück toten Bambus, sehr zum Missfallen des Alten, aus der Wand. Es zerfaserte trocken in ihren Fingern.
Ohne ein Wort ließ Misako den Tempelherren im Schrein stehen und folgte der Schneise der Verwüstung, die von der eingerissenen Wand in den Wald führte. Wo sie vorbeikam, zeigte sich ihr dasselbe Bild: Spröde, eingestürzte Bambusrohre zu beiden Seiten des Weges, viele von ihnen in verschiedener Höhe zerschnitten. Das tote Holz knirschte unter ihren Schritten, die sie so vorsichtig wie möglich setzte. Es war so still, wie es nur an einem Ort sein konnte, der alles Leben verloren hatte.
Misako gelangte auf eine kleine Lichtung, die nicht natürlichen Ursprungs war: Überall ragten die Stümpfe umgestürzten Bambus aus den Trümmern, der sich hier einst dem unendlichen Azur des Himmels entgegengestreckt hatte. In der Mitte dieses Kreises kauerte eine Gestalt, deren genaue Umrisse sich Misakos Blick unter all dem skelettartigen Holzschutt entzogen.
Als sie näher trat, erwachte das Wesen zu plötzlich bewegtem Leben und entrollte seinen schlangenhaften Körper. Geschmeidig wie ein Kranich hob es das schmale Drachenhaupt, von dessen Schnauze zwei sich wie Würmer windende Barteln herabhingen. Aus den dunkelgrünen Augen blickten die Kriegerin senkrecht stehende Reptilienpupillen an, doch in ihnen war die Seele zu sehen, die sich hinter der riesenhaften Erscheinung verbarg: Der Schutzpatron des Immergrünen Hains. Shaymin.
Das Drachenwesen brüllte, als es Misako gewahr wurde, drückte sich zu Boden, um sich gleich darauf davon abzustoßen. Von einer Kraft getragen, die keine Flügel brauchte, erhob sich Shaymin elegant kreisend in den Himmel und entschwand Misakos Blicken.
Die Akashiro fluchte. Der Dämon kam mit dem neuen Körper bereits besser zurecht, als sie befürchtet hatte.
Sie hob den linken Arm, atmete tief ein und rief: „Tauboss, erscheine!“ Von dem magischen Ruf gelockt, erglühte eine der Tätowierungen an ihrem Arm, die das stolze Vogelpokémon darstellte. Ein weißes, stoffliches Licht löste sich davon und materialisierte sich vor Misako. Tauboss breitete befreit die Flügel aus und begrüßte seine Herrin mit einem kurzen Zwitschern. Schnell sprang Misako auf seinen Rücken. Mit dem mentalen Band zwischen ihnen, das weder Worte noch Gedanken bedurfte, befahl sie ihrem Pokémon, sich in die Lüfte zu erheben und Shaymins Verfolgung aufzunehmen.
Tauboss war schnell, und der Dämon in der vorausfliegenden Legende doch noch nicht ausreichend Meister über den ungewohnten Drachenkörper. Er taumelte immer wieder, drehte Spiralen anstatt der anmutigen Schlängelbewegung, die seinem schlanken Leib würdig gewesen wäre. Weiße und zartrosa Blütenblätter umwehten Misako und Tauboss. Es waren Schuppen, die sich aus dem dichten Kleid des Drachen lösten und hinter ihm einen Schleier bildeten.
Was Takeda über Shaymins neue Gestalt gesagt hatte, war nicht ganz richtig, enthielt aber einen Teil der Wirklichkeit, die mit der sonst so sanftmütigen Legende geschehen war. Viele alte, weise Akashiro, die nicht mehr für die Reise durch das Kaiserreich taugten und sich den Studien des Wissens widmeten, vermuteten, dass alle Legenden einst Drachen gewesen waren, so wie die mächtigsten unter ihnen noch immer. Als sie zur Erde herabgestiegen waren, hatten sie einen Teil ihrer ursprünglichen Macht an den Weltenschöpfer Arceus abgegeben, damit dieses sie verwalte, und das daraufhin eine noch höhere Existenz erreicht hatte. Die in die sterblichere Gestalt verwandelten Legenden trugen noch alle das alte Drachenerbe in sich, das geweckt wurde, wenn ihre einstige Macht zurückkehrte. Und das schien sich der Dämon, der Shaymin wie ein Pilz einen Baum befallen hatte, zunutze zu machen.
Die Jagd führte über die Berge hinweg, die das Frühlingstal umgaben. Misako merkte schnell, dass das besessene Shaymin auf Sonoto zuhielt, die Stadt, die seit ihrer Errichtung mit dem Hain und seinem Schutzpatron in enger Verbindung stand. Wenn der Dämon sie erreichte, das erkannte Misako, würde es viele Opfer unter ihren Einwohnern geben. Das zu verhindern und Menschen vor wildgewordenen Pokémon zu beschützen, war ihre Aufgabe als Akashiro.
Sie bedeutete Tauboss, Shaymin sofort aus dem Himmel zu holen, bevor Sonoto für es in Reichweite kam. Der große Vogel legte die Schwingen an und begann, sich um seine eigene Achse drehend, auf den weißen Drachen zuzuschießen. Misako klammerte sich an das Nackengefieder und drückte sich an den breiten Rücken ihres Gefährten, um nicht von ihm geschleudert zu werden. Himmel und Erde tanzten um sie einen wilden Reigen, der abrupt endete, als Tauboss mit einem mächtigen Stoß gegen den mit Blütenblättern geschuppten Schlangenleib krachte. Derart aus der Bahn gebracht, schaffte es der Dämon nicht mehr, seinen Flug stabil zu halten, und stürzte ab, während der Wiesenadler mit den Flügeln schlagend sein Gleichgewicht wiederfand.
Sofort stieß er hinab, dem drachenhaften Shaymin hinterher. Der mehrere Shaku lange Körper landete in einem verschneiten Wald und riss etliche Birken, Maulbeerbäume und Ulmen um. Misako ließ Tauboss auf diesem freigeräumten Gebiet landen, in sicherer Entfernung zu dem weißen Ungetüm. Das riesige Wesen schüttelte benommen den Kopf. Seine Mähne, die den Hals hinter dem Schädel zierte und aus weichen, lebendig grünen Bambuspflanzen mit goldgelben Lanzettblättern bestand, klapperte hölzern. Drei violette Ziegenhornpaare, die vorderen kürzer als die hinteren, ragten davor auf.
Die Kriegerin nutzte die kurze Paralyse und rief aus einer weiteren Tätowierung ihr Arkani herbei. Auch wenn der Dämon nicht Herr über den Körper war und keine Kontrolle über seine Kraft hatte, war Tauboss allein gegen ihn doch im Nachteil. Sich selbst umgab sie mit einem Bannkreis, der sie vor den Angriffen der Pokémon schützen sollte.
Shaymin hatte die Verwirrung abgeschüttelt und fixierte wütend seine Widersacher. Es zischte in blindem Zorn, riss das reißzahnbewährte Maul auf und schoss einen Strahl gebündelten Sonnenlichts auf seine Kontrahenten ab. Tauboss schwang sich sogleich in die Luft und entging somit der schlecht gezielten Attacke, Arkani sprang pfeilschnell aus dem Weg. Frustriert grollte der weiße Drache und wollte sich ebenfalls in den Himmel erheben, doch der braune Vogel schoss auf ihn zu und schnitt ihn mit dem Flügel. Das war Misakos Taktik: Solange Shaymin am Boden blieb, wäre es leichter, es zu besiegen und von seinem Dämon zu befreien.
Jetzt knurrten der Bambusdrache und der Tigerwolf um die Wette, welche Arkani durch Lautstärke und Tiefe seiner Stimme klar gewann. Die Flugechse schwang den kräftigen Schweif und schlug mit der von einem messerscharfen Blatt bestückten Spitze nach Arkani. Dieses wich jedem Hieb gewandt wie eine Libelle aus; wo die Klinge stattdessen auftrat, spaltete sie Holz wie ein Beil. Das besessene Shaymin beendete diesen fruchtlosen Angriff und setzte stattdessen wieder dazu an, in die Lüfte zu steigen, doch das Feuerpokémon lenkte es mit einem Schwall heißer Flammen davon ab.
Die Bestie stürzte sich schlängelnd auf Misakos Partner, die goldenen Klauen der vorderen Gliedmaßen voranstreckend. Arkani duckte sich, dem Gedankenbefehl seiner Herrin folgend, und spannte die mächtigen Hinterläufe. Als Shaymin ganz nahe war, sprang der Tigerwolf ihm entgegen und warf es mit der schieren Kraft seines massigen Körpers zurück. Die spitzen Fänge tief in der weichen Reptilienhaut vergraben, verhinderte Arkani, von seinem Gegner abgeworfen zu werden. Dieser schrie vor Schmerz und traktierte seinen Widersacher mit den blitzenden Krallen, riss das dichte Raubkatzenfell bis aufs Fleisch auf.
Misako erkannte, dass eine direkte, körperliche Konfrontation mit der verwandelten Legende zu riskant für Arkanis eigenes Leben war. Doch bevor sie ihm den Befehl zum Rückzug geben konnte, schwang eine der wurmgleichen Barteln vor und traf den Tigerwolf mit ungeheurer Gewalt. Arkani wurde zurückgeschleudert und prallte gegen einen Buchsbaumstumpf. Seine Herrin knirschte mit den Zähnen. Der Dämon gewann immer mehr Kontrolle über den Körper. Sie musste handeln, bevor er ihr hoffnungslos entwischte.
Über das Gedankenband befahl sie Arkani, das sich wieder aufgerichtet hatte, Shaymin Flammen entgegenzuschicken, was der Tigerwolf sogleich ausführte. Zu ihrer Überraschung traf auf jenen Feuerstrahl eine Wand violetten Infernos, das aus dem Maul der Bestie quoll. In kürzester Zeit heizte sich die Luft ringsum auf, es roch nach Kiefernholzrauch und Blütennektar. Misako, froh, von dem Bannkreis beschützt zu sein, blinzelte gegen Ruß an, der ihr in die Augen trieb, und erkannte, dass Arkani Shaymins urzeitlichem Drachenfeuer deutlich unterlegen war.
Plötzlich stürzte sich von oben Tauboss herab und verkrallte sich in den dunkelgrünen Schlangenaugen. Pflanzensaftähnliches Drachenblut spritzte auf, als beide Feuer verloschen, und Shaymin brüllte vor Schmerz. Als Tauboss seine Augen ausreichend zerschlitzt hatte, flatterte es zu Misako und Arkani herüber.
„Wir müssen das beenden!“, befand die Kriegerin und deutete mit jeweils einer Hand auf Tauboss und Arkani. Die beiden lösten sich in ihre weiß leuchtende Essenz auf. So wie Misako die Handflächen zueinanderführte, bewegten sich auch die Lichterscheinungen aufeinander zu, verbanden sich. „Fusion: Jäger der Flammen!“, sprach Misako den Bannspruch.
Das weiße Licht erlosch, und ein Mischwesen wurde sichtbar, das den Körper und die Kraft des Tigerwolfes mit den Schwingen und der Eleganz des Wiesenadlers in sich vereinte. Aufgrund der Unbeständigkeit der Fusion war der Greif ganz Feuer und Wind. Er duckte sich, breitete die lodernden Schwingen aus und schoss wie ein Brandpfeil auf den blinden Drachen zu. Es folgte eine nahezu lautlose Explosion, die heiß und brennend über den winterlichen Wald hinwegfegte, Schnee und Eis schmelzen ließ. Misako beschirmte die Augen vor der Glut.
Als sie den Blick wieder heben konnte, war sie umgeben von Bambus mit goldgelben Blättern und kleinen, rosafarbenen Lilienblüten. All die Energie des Frühlingstals, die Shaymin in sich aufgenommen hatte, war ihm entwichen und hatte sich dergestalt manifestiert. Rasch rief Misako ihre Pokémon zurück, die sich in rot leuchtende Essenz wandelten und in den Tätowierungen verschwanden. Nach der Fusion waren sie zu rasend und konnten Shaymin oder gar ihre Herrin unwillentlich verletzen.
Die Akashiro ging auf einen der Klumpen zu, die an die Stelle des weißen Bambusdrachen getreten waren. Das unstete Wabern bereitete ihr Übelkeit, doch sie verstand sich darauf, es zu unterdrücken. Die Dämonen, die Pokémon immer wieder befielen und noch schlimmer unter den Menschen wüteten als zornige Pokémon allein, waren eigentlich eine Unterart der Ditto. Aus irgendeinem Grund konnten sie ihre wandelbare Struktur nutzen, lückenlos mit ihren Opfern zu verschmelzen und Kontrolle über sie zu erlangen.
Misako zog das Katana, mit dessen Hilfe sie bislang jedes ihrer Pokémon gefangen hatte – eine Fertigkeit, die nur Akashiro beherrschten. Sie stieß es vor dem Dämon in die lehmige Erde. Ein leuchtender Kreis bildete sich, über zwei Speichen mit einem kleineren in seiner Mitte verbunden, der das Ditto umschloss. Die eine Hälfte des so entstehenden Ringes irisierte rot, die andere weiß – ganz so wie die Augen der Akashiro. Unter Misakos Willen zog sich der Bannkreis zusammen und löste die jammernde Kreatur in Essenz auf, die vor ihr auf Augenhöhe schwebte. Aus einer Tasche holte sie eine kleine, bauchige Glasflasche hervor und hielt sie darunter. Wie durchsichtiges, leuchtendes Blut floss die Essenz in den kristallenen Tiegel. Als auch der letzte Tropfen sich der Hauptmasse angeschlossen hatte, Misako den Deckel aufsetzte und das Katana zurücksteckte, verschwand der Bannkreis.
Diese Essenz konnte sie sich nun, mit Farbe vermischt, unter die Haut spritzen lassen, wie zuvor bei ihren anderen Pokémon. Doch bei dieser Ausgeburt böser Mächte würde sie das ganz sicher nicht tun.
Die Kriegerin ging zu Shaymin, das nun seine Igelgestalt zurückgewonnen hatte. Es zitterte, die Augen vor Entsetzen aufgerissen über das, was es unter der Schreckensherrschaft des Dämons dem geliebten Frühlingstal angetan hatte. Misako hob den Schutzpatron vom Boden auf und streichelte sanft das moosweiche Fell, das im Schatten des umstehenden Bambus gelblich lumineszierte. Als Akashiro war ihre Aufgabe nicht nur das Kämpfen, sondern auch, verzweifelten Seelen Trost zu spenden.
Und so tröstete sie Shaymin auf dem Rückweg in seinen Immergrünen Hain.
Unter dicken weißen Decken schliefen die riesigen Häuser von Stratos City. Na ja, jedenfalls taten sie, als würden sie schlafen, denn nur so sollte der Weihnachtsmann kommen können. Völliger Blödsinn. Selbst wenn es einen Weihnachtsmann gäbe, würde er niemals in diese Stadt kommen, da die verzogenen Kinder in den Hochhäusern bestimmt nicht artig genug waren. Und doch bekamen sie jedes Jahr Geschenke.
Und ich, die ich schon seit Monaten durch die viel zu große Metropole irrte, bekam niemals meinen Wunsch erfüllt.
Ich schaute zurück. Im Kerzenlicht, welches aus so gut wie jedem der bestimmt hundert Fenster drang, glitzerte der unberührte Schnee. Fast unberührt. Nur meine Pfotenabdrücke durchbrachen dieses Meer aus weißen Kristallen. Mit meinem Schwanz fuhr ich ruckartig hindurch und ließ die Flocken um mich wirbeln. Nicht, dass ich es nicht mochte, hier draußen zu sein, die Natur - auch nur das Bisschen, das es hier in der Stadt gab - deutlich um mich herum zu spüren… doch ich ersehnte mir, mehr als alles andere in der Welt, eine Familie. Eine richtige, echte Familie, bei der es gemütlich warm war und die mich aufnahm, wie es zuvor noch niemand getan hatte. Nirgendwo hatte ich bisher ein Zuhause gefunden, überall wurde ich weggejagt. Und ich kannte noch nicht einmal den Grund.
So kam ich damals nach Stratos City; weil es hieß, dass man hier alles erreichen könne. Dies kam mir bisher allerdings noch nicht so vor. Die Menschen in dieser Millionenstadt beachteten mich gar nicht, sondern fühlten sich eher noch gestört durch meine Anwesenheit.
Ich seufzte. Mein Herz wurde mir schwer bei den Gedanken an meine Vergangenheit. Aber heute würde noch irgendetwas passieren; das redete ich mir fest ein. Es war schließlich Heilig Abend.
Schwer wog der schwarze Himmel über der Stadt. Es würde bestimmt bald noch schneien, weshalb ich mir einen Unterschlupf suchen sollte. Aber wo konnte ich hin? Ich befand mich jetzt schon seit einer gefühlten Ewigkeit in Stratos und wusste immer noch nicht, wo ich war und wie ich irgendwo anders hinkam. Vor ein paar Wochen hatte ich, zwischen den Häusern versteckt, ein kleines, parkähnliches Stück Land gefunden, auf dem sogar Bäume und Büsche wuchsen. Wo war das bloß gewesen?
Ich versuchte mich zu konzentrieren und mein Instinkt führte mich nach Westen. Ich war nur ein paar Straßen weit gekommen, als schon die ersten Flocken auf mich herabsegelten. Der Beginn eines Schneefalls war immer der schönste Teil. Die vereinzelten Flocken tanzten noch vor dem meist grauen Himmel, bevor sie langsam und doch unglaublich schnell zugleich auf die Erde sanken. Doch so dunkel, wie die Wolken schon der ganzen Tag gewesen waren, blieb dies wundersame Schauspiel nicht lange bestehen, sondern verwandelte sich in einen wahren Schneesturm, bei dem Flocken, fast so groß wie meine Pfote, schwerfällig auf den Boden fielen. Schon nach kurzer Zeit war mein ganzes Fell nass und kalt. Bibbernd lief ich weiter und sah kaum noch bis zur nächsten Ecke. Wie sollte ich in diesem Treiben nur irgendetwas finden?
Ich weiß nicht wie – meine Freunde nennen es heute ein Weihnachtswunder – aber ich fand zum Park. Die Büsche und Bäume waren kahl und völlig erschöpft, übermüdet und durchgefroren ließ ich mich unter einer der Bänke nieder, um wenigstens ein bisschen Schutz vor dem immer schlimmer werdenden Schneetreiben zu haben. Ich konnte nicht mehr denken, wollte mich nicht mehr bewegen. Sofort fielen mir die Augen zu.
Ein Schrei drang in mein Ohr. Aber ich konnte die Augen nicht öffnen.
Eine Stimme überschlug sich. Aber ich verstand sie nicht.
Etwas Warmes berührte mein Fell. Aber ich spürte es kaum.
Die gleiche Stimme redete mir gut zu. Und ich versank in Bewusstlosigkeit.
Das nächste, was ich spürte, war Wärme; eigentlich schon fast Hitze. Es war, als brannte das Fell an meinem kleinen, kalten Körper. Zunächst versuchte ich meinen Atem zu beruhigen. Ich konnte gar nicht brennen. Der Schnee hätte die Flammen sofort gelöscht. Oder?
Ruckartig öffnete ich die Augen und wurde von einem gleißenden, roten Licht geblendet. Ich brannte tatsächlich!
Erst da hörte ich den Piepton und die dumpfen Stimmen. Meine Augen schmerzten von dem hellen Licht, doch ich zwang mich dazu, sie offen zu lassen. Viel zu langsam gewöhnten sie sich an die Helligkeit. Das zuvor fast aufgeregt klingende Piepen beruhigte sich und ich erkannte, dass ich doch nicht brannte. Ich lag aber auch nicht mehr unter der Parkbank.
Die durch die Hitze verursachten Schmerzen wandelten sich langsam in ein Kribbeln um und so spürte ich etwas Weiches unter mir. Ich lag auf einem Bett, wie es die Menschen benutzten. Wie oft hatte ich an den Fenstern gestanden und mir gewünscht einmal selbst dort bei ihnen zu sein. Doch jetzt gefiel es mir irgendwie nicht annähernd so sehr, wie ich es mir immer ausgemalt hatte. Eigentlich wollte ich nur weg.
Als ich ein Klacken hörte, drehte ich den Kopf. Ein schwerer Fehler, denn plötzlich verschwamm alles vor meinen Augen und ich bekam höllische Kopfschmerzen, sodass ich sogar kurz aufheulte.
„Ist ja gut. Hab keine Angst.“ Ich erkannte die Stimme, die ich schon zuvor gehört hatte. Sie gehörte einem jungen Mädchen mit wunderschönen, hellbraunen Haaren und liebenswerten, braunen Augen, die mich sorgenvoll musterten.
Ich fühlte mich schwach und müde. Außerdem verstand ich immer noch nicht, wo ich war und was ich hier sollte. Das Mädchen sah nicht so aus, als würde sie noch etwas sagen und so blieb ich einfach liegen und erwiderte ihren Blick.
Nach und nach verschwand nun auch das Kribbeln aus meinem Körper, hinterließ eine wohlige Wärme und- jetzt erst spürte ich irgendetwas an meiner Brust. Da ich eben schlechte Erfahrungen mit dem Bewegen meines Kopfes gemacht hatte, versuchte ich das Ding jetzt mit meiner Pfote zu erreichen. Allerdings bekam ich es nicht zu fassen.
Da hielt das Mädchen meine Pfote fest und sagte mahnend: „Na, das solltest du lieber lassen, sonst kann Schwester Joy ihre Arbeit nicht machen und du wirst nicht wieder gesund.“
Was hatte sie da gesagt? Schwester Joy? Ich hatte einmal von ein paar Trainerpokemon gehört, dass Schwester Joy in den Pokemoncentern überall in der Region arbeitete und sich dort um verletzte Pokemon kümmerte. Als sie ihre Erzählung beendet hatten, hatten sie mich ausgelacht und gesagt, jemand wie ich würde niemals in ein Pokemoncenter kommen. Und jetzt war ich hier? War ich verletzt? Dass es mir nicht gut ging, konnte ich leider spüren, aber was war nur passiert?
Das Mädchen erkannte meinen fragenden Blick und schien ihn richtig zu deuten. Gebannt sah ich zu, wie sich ihr Mund öffnete, doch es war nicht ihre Stimme, die hinauskam. Diese war etwas tiefer, klang älter, war aber immer noch eine Frauenstimme. Außerdem schien sie nicht mit mir zu sprechen, als sie sagte: „Du hast wirklich Glück. Deine kleine Freundin wird bald schon wieder ganz gesund.“ Eine große Frau mit seltsam rosafarbenen Haaren tauchte in der Tür auf und sah nun mich an. „Was machst du auch bei diesem Schneesturm ganz alleine da draußen?“, fragte sie, als wäre ich noch ein Junges, das bei seiner Mutter hätte bleiben müssen. Dachte sie ernsthaft, ich wäre freiwillig einsam und alleine durch die Straßen gewandert?
„Melli!“ Die Tür sprang auf und mit einem Getöse, das ein Krakeelo nicht hätte besser machen können, stürmte ein kleiner Junge in das Zimmer, in dem ich lag und nun wieder mit stärkeren Kopfschmerzen zu kämpfen hatte.
„Sajan, bist du verrückt?“, fuhr das Mädchen, welches wahrscheinlich Melli hieß, den Jungen an. „Eneco geht es nicht gut.“
Jetzt sah Sajan auf mich. In seinen Augen schimmerte ein Ausdruck, den ich nicht deuten konnte. „A-aber Melli“, stotterte er, „warum ist das den weiß?“
Idiot! Ich bin eine stolze Dame und kein Ding, welches man mit ‚das’ bezeichnen könnte. Warum wollte ich noch mal zu den Menschen? Irgendwie kam es mir gerade sehr so vor, als wären sie alle sehr schwer von Begriff.
Statt Melli beantwortete die Frau seine Frage: „Dieses Eneco ist etwas ganz Besonderes, noch seltener als die sogenannten Shinys. Die werte Dame, die deine Schwester heute Morgen gefunden hat, ist ein Albino. Das bedeutet, dass bei ihr eine Störung in den Farbpigmenten vorliegt und ihr Fell dadurch keine Farbe hat.“
‚Werte Dame’. Na, geht doch. Warum denn nicht gleich so?
Sajan schaute die Frau, welche wahrscheinlich eine dieser berühmten Schwester Joy sein musste, mit großen Augen an. Melli allerdings interessierte sich herzlich wenig für die Ausführung, sondern wandte sich netter Weise an mich. Vorsichtig streckte sie mir die Hand entgegen und, ohne weiter über die Folgen nachzudenken, leckte ich einmal kurz darüber. In meinem Kopf drehte sich wieder alles, aber das war es wert. Meine Retterin lachte und kraulte mir hinterm Ohr. Dies war die Geburtsstunde einer wunderbaren Freundschaft.
Vielleicht war es wirklich ein Weihnachtswunder, vielleicht war es einfach nur Glück, aber an jenem Tag wurde mir mein Wunsch nach einer Familie endlich erfüllt.
Ich habe viel gesehen auf meiner Suche, viel gehört und vieles erlebt. Aber nichts kommt dem wunderbaren Gefühl nahe, das ich habe, wenn ich mit Melli zusammen in einer kalten Winternacht vor dem Kamin sitze und mir überlege, wie wir uns damals kennenlernten.
Nichts.
Ich öffnete langsam meine Augen. Schwindel erfasste mich und ein dumpfes Unbehagen breitete sich in mir aus – ich lag auf einer dicken Moosschicht, die ich mehrere Zentimeter tief hinabdrücken konnte. Über mir hörte ich ein entferntes, lautes, fast zwitscherndes Geräusch. Langsam schärfte sich mein Blick und ich erkannte, dass ich mich in einer Höhle befand, die säulenartig nach oben führte und einem von innen nicht gemauerten Brunnen ähnelte. Ich versuchte, mich aufzurappeln, doch ein heftiger Schmerz durchzog sogleich meinen Rücken, dann meinen Arm.
Ich war hinabgestürzt. Im unteren Bereich bauchte sich die Höhle auf, sodass verglichen mit dem nur wenige Meter breiten Zugangsloch von oben doch noch recht viel Platz übrig blieb. Auch überraschte mich der breite Lichtschein, der das Innere dieses dunklen Lochs in angenehm warme Töne hüllte.
Nichtsdestotrotz beschlich mich das ungeheuer bedrängende und belastende Gefühl, irgendetwas vergessen zu haben. Obwohl ich eine Weile darüber nachdachte, fiel mir nicht ein, was das gewesen sein konnte. Auch der lästige Lärm von oberhalb lenkte mich ab, da sich das Geräusch immer weiter verstärkte.
Ich erinnerte mich aber bald wieder daran, dass ich auf der Suche nach einem Pokémon, das ich für meinen Bruder fangen wollte, heruntergestürzt war. Als mir dieser Gedanke kam, legte sich ein noch flaueres Gefühl in meinen Magen, doch es gelang mir nicht, die dazugehörige Erinnerung abzurufen.
Nach einer Weile bemerkte ich, dass mir die Kehle brannte vor Durst, sodass ich mich langsam zu der Wasserstelle aufmachte, die aus einer kleinen Einbuchtung am Höhlenrand austrat. Das Licht von oben reichte nicht aus, die Tiefe des Gewässers zu ergründen. Dennoch, vielleicht auch, weil ich von Filmen und Büchern verwöhnt war wie ein Seeigel vom Wasser, drängte sich mir der Gedanke auf, hier wohl einen möglichen Fluchtweg gefunden zu haben. Mir blieb wohl nichts weiter übrig blieb, als durch Tauchen einen weiteren Ausgang zu finden. Ich trug keine Pokémon bei mir, da ich sie in meinem Rucksack hatte liegen lassen, der noch oben an der Einsturzkante lag.
Plötzlich ertönte ein heftiges Flattern, das mich schmerzlich zusammenzucken ließ – dann ein Platschen. Das Geschrei von der Oberfläche brachte mich fast um den Verstand, bis ich ein Iksbat bemerkte, das sich durch den Eingang hindurch nach unten auf mich zubewegte. Ich konnte diesem Pokémon kaum mit meinem Blick folgen, so schnell war es, bis es sich schon über mich gebeugt und seine Zähne tief in meine Schulter gebohrt hatte. Ich schrie wie am Spieß und fuchtelte herum, sodass es noch einmal abließ, seinen Kiefer aber sogleich erneut in mich hineinbohrte.
Unvermittelt hörte ich ein lautes Sprudeln neben mir, dann wurde das Iksbat von einem harten Wasserschwall erwischt, der es bis gegen die gegenüberliegende Höhlenwand schleuderte. Das Kreischen nahm für einen Moment zu, das Flattern drückte gegen meine Ohren, bis ich erkannte, wie sich ein ganzer Schwarm von Zubat und Golbat wieder aus der Höhle entfernte – geräuschlos gefolgt vom angeschlagenen Iksbat.
Als ich mich nach der Quelle meiner Rettung umsah, blickte ich in ein steinernes, gleichgültiges Gesicht, das aus dem Gewässer hervorlugte.
»Ach du meine …«, entfuhr es mir, als ich erkannte, dass es sich bei diesem braunen, fischartigen Pokémon um ein Relicanth handelte. Ein so seltenes Pokémon – und das ausgerechnet hier!
»Du scheinst in Bedrängnis geraten zu sein«, sprach es seelenruhig, mit einer tiefen, honigzähen Stimme.
Einen Moment lang entgleisten mir die Gesichtszüge, dann brachte ich etwas gebrochen heraus: »Du kannst reden?!«
Es änderte seinen Gesichtsausdruck unmerklich, dann machte es einen kleinen Satz aus dem Wasser hinaus und begann, auf seinen Bauchflossen über das Moos zu kriechen.
Ich lachte ungläubig, als ich einen Fisch auf dem Boden gehen sah. »Natürlich. Laufen kannst du auch noch, klar.«
»So verwunderlich ist das wirklich nicht.« Es blieb stehen. »Wir Relicanth sind immerhin die ersten Pokémon überhaupt, auch wenn wir nicht weit kommen. Von uns stammen alle Landbewohner ab – wohl auch ihr Menschen.«
»Und wieso kannst du reden?«, fragte ich, und nach dem Verschwinden der Fledermäuse hallte meine helle Stimme nun klar in der Höhle wider.
»Ich lebe schon sehr lange, und nicht immer war ich hier unten. Man kommt herum, lernt Dinge, die anderen verborgen bleiben, die ein tristes Dasein fristen.«
Ich entschied, mich mit dieser lausigen Ausflucht wohl vorerst zufriedenzugeben.
»Ich bin Fidelia. Wie heißt du?« Er begab sich langsam zurück ins Wasser.
»Solus.«
»Nagut, Solus. Du hast recht. Ich bin in Bedrängnis. Kannst du mir helfen, hier wieder herauszukommen?«
Er musterte mich eine Weile, dann schwamm er ein wenig in seinem Bassin herum. »Was führt ein so hübsches Mädchen wie dich hierher? Du bist nicht einmal mehr in Hoenn.«
»Was hat das damit zu tun, wie ich hier rauskomme?«
»Alles. Ohne deine Motive zu kennen, deine Wünsche oder deine Fähigkeiten, wie soll ich dir dann helfen, hier hinauszufinden?«
Irgendwie kam mir der Fisch arrogant vor. Zumindest wusste ich nicht im Geringsten, inwiefern sich seine Vorschläge, mir hier hinauszuhelfen, ändern sollten, wenn er wusste, weshalb ich hier war.
»Ich bin hier, um ein Pokémon für meinen Bruder zu fangen. Ein Corasonn. Jedenfalls war ich gerade auf Futtersuche für mich und meine Pokémon – die übrigens oben am Höhleneingang liegen. Dabei bin ich abgerutscht.«
»Wie alt bist du?«
»Neunzehn.«
»Woher kommst du?«
»Bad Lavastadt.«
Diese Antwort gab ich mit einem Zähneknirschen. Das Relicanth nutzte meine Lage aus, um sich über mich lustig zu machen, oder sich die Zeit zu vertreiben – was weiß ich? Meine vorige Dankbarkeit war drauf und dran, zu vergehen.
»Deine Antworten sind sehr kurz«, erwiderte Solus nachdenklich. Ich reagierte darauf nur, indem ich den Blick von ihm abwandte. »Nun gut, wie du willst. Du möchtest wissen, was du tun kannst? Nun, nichts. Du wirst hier sterben. Du hast dir keinen besonders geeigneten Ort dafür gesucht, hinunterzustürzen.«
Ich wusste nicht, welche Gedanken oder Gefühle sich hinter dem steinernen Haupt des Pokémon verbargen, nur spürte ich, wie sehr mich seine Worte verletzten. Doch erst einen Moment später wurde mir die ganze Tragweite dessen, was er sagte, bewusst. Ich begann, schwerer zu atmen und drückte mir die Hände vor die Brust. Erst krümmte ich mich etwas, dann, wenig später, löste sich das erste, schneidende Schluchzen aus meiner Kehle. Ich weinte.
»Warte«, entgegnete das Relicanth, mit einer Bestimmtheit, die vermuten ließ, dass es tatsächlich glaubte, ich könnte diesem Befehl Folge leisten. »Lass uns einen Weg finden. Deswegen möchte ich ja mehr von dir wissen. Hast du gerade irgendetwas bei dir?«
Ich versuchte, mich von meinem Kummer zu lösen, und betrachtete Solus wieder, um zu merken, dass er aus dem Wasser heraus wieder an mich herangetreten war. Zögerlich begann ich, meine Taschen zu durchsuchen, fand dort allerdings nichts, das mir helfen könnte – was mich angesichts meiner zittrigen Hände und hektischen Suchbewegungen ohnehin verwundert hätte. Also gab ich schon nach Kurzem auf und saß nun resigniert meiner einzigen Gesellschaft in meinem Grab.
Und so begann ich, zu sterben. Doch, um ehrlich zu sein, fühlte es sich überhaupt nicht so an. Tage vergingen, in denen mir Solus zur Seite stand. Er brachte mir Seegras – etwas, von dem ich unmöglich ewig leben könnte, das aber zumindest ausreichte, das Hungergefühl zu besänftigen.
Was ich aber wirklich schätzte, waren die vielen, unzähligen Stunden des Gesprächs mit diesem faszinierenden Wesen. Er berichtete mir von seinem Leben, stellte aber gleichwohl viele Fragen über meines. Er äußerte ehrliches Interesse an mir und ich kam nicht umhin, mich geschmeichelt zu fühlen. Ein so liebes, selbstloses Wesen wie dieses Relicanth war mir noch nie begegnet. Er baute mich auf, hörte mir zu, zeigte Ehrlichkeit und Stolz.
Gerade war er, nachdem er mir einige Stunden Gesellschaft geleistet hatte, wieder untergetaucht. Wo noch eben die Wellen seiner Bewegungen das Wasser beunruhigt hatten, blickte mir nun mein eigenes, klares Spiegelbild entgegen, ein junges, mitgenommenes Mädchen mit braunen, chaotisch gelockten Haaren und traurigem Blick.
Jetzt schrie ich nicht mehr. Am Anfang hatte ich das während der Abwesenheit meines Freundes getan, in der Hoffnung, jemand von oben würde mich finden und retten. Doch ich befand mich auf einer Insel östlich von Prachtbolis City – mitten im Meer. Hier kam niemand einfach vorbei, und niemand würde mich hier suchen. Solus hatte völlig recht, wenn er diesen Ort mein Grab nannte. Die amphorenartige Form der Höhle machte ein Hinaufklettern unmöglich.
Zudem sagte Solus, dass der Wasserweg nicht zu einer neuen Höhle führen würde, sondern eine Sackgasse darstelle. Ich merkte, dass er hier genauso gefangen war, wie ich selbst. Unser beider Grab lag hier unten, wenn er auch zugab, weit mehr Platz für sich zu haben.
Einige Stunden vergingen. Ich tat nichts weiter, als vor mich hinzuvegetieren, in der Zeit, in der er nicht da war. Ich hatte kaum die Kraft, aufzustehen und herumzulaufen, sodass ich meist nur trüb im Moos lag und wartete. Und wartete.
Doch meine Geduld zahlte sich jedes Mal aufs Neue aus. Wenn ich es nicht mehr aushielt, begab ich mich zum Wasser, beugte mich etwas vor und klopfte dreimal auf die Oberfläche. Er hörte das jedes Mal. Ich brauchte nie länger als eine Minute zu warten, bis er mir den Kopf entgegenstreckte.
»Ich will hier raus. Ich will, dass das vorbei ist. Sofort.«
Wieder einer der Momente, in denen ich die Geduld verlor und damit anfing, vor ihm herumzujammern. Ich hasste dieses Gefühl, mich ihm unterzuwerfen und ihm zu offenbaren, was ich fühlte, doch ich konnte nicht verhindern, dass ich immer wieder damit anfing. Viel zu viel Vertrauen weckte er in mir.
»Die Zeit vergeht, auch ohne, dass man auf sie wartet«, lautete seine Antwort. Ich hörte eine gewisse Wehmut in seiner Stimme mitschwingen, doch stach auch die klare Strenge hervor, mit der er sich äußerte.
»Das zu wissen …« Ich rang nach Worten. »Das zu wissen hebt die Langeweile nicht auf. Ich kann einfach nicht mehr. Es ist einfach, mir diesen Rat zu geben, weißt du? Aber es ist praktisch unmöglich für mich, nicht zu warten. Du verstehst das vielleicht nicht. Es ist viel leichter, einen solchen Rat zu geben, als zu befolgen.«
»Ich bezweifle, dass du etwas sagen kannst, das ich nicht verstehe«, antwortete er. Seine Arroganz belustigte mich eher, als dass sie mich verletzte. »Außerdem ist ein Ratschlag nur dann ein Ratschlag, wenn es leichter ist, ihn zu geben, als zu befolgen. Sonst wäre es kein Ratschlag.«
»Woher kann ich wissen, dass ein Ratschlag verlässlich ist, wenn es leichter ist, ihn zu sagen als zu befolgen?«
Das Relicanth lachte. Zumindest deutete ich das, was Solus tat, als Lachen. Anfangs hatte ich in seiner Miene nur die tonlose, in Stein gehauene Gleichgültigkeit gesehen, doch immer mehr lernte ich, seine Mimik zu lesen. Manche Spielereien der Partie über seinen Augen – wo ein Mensch wohl seine Brauen hatte – assoziierte ich schon stark mit Sarkasmus, andere mit Trauer und vielem mehr. Mit ihm zu sprechen oder mit einem Menschen … das stellte für mich kaum mehr einen Unterschied dar.
»Weißt du …«, begann das Relicanth, nachdem es über meine Worte eine Weile nachgedacht hatte, »... abgesehen davon, dass du Unrecht hast, finde ich es wundervoll, in dir jemanden gefunden zu haben, der mir etwas entgegensetzen kann.«
Ich lief an wie eine Tomate. Und ich schwieg, denn ich genoss die glückliche Seligkeit und Ruhe, in die mich seine Worte versetzt hatten.
Dann sah ich ein Glitzern. Am Rand der Höhle, an der Stelle, auf die ich gestürzt war, verdeckt von einem Stück Moos … lag ein Pokéball! Sofort stürzte ich mich darauf, überglücklich, und in der Hoffnung, darin etwas zu finden, das mir hier heraushelfen konnte.
Doch der Ball war leer. Erschöpft lehnte ich mich an die Höhlenwand.
»Wie wäre es, wenn du mich damit fängst?«, fragte Solus. Diese Worte lösten ein Feuerwerk in mir aus. Dieser stolze Fisch, der vor Lebenserfahrung nur so strotzte, wollte sich von jemandem wie mir fangen lassen? Der Gedanke gefiel mir und baute mich wieder auf. Ich kniete mich hin, setzte ein breites Grinsen auf, und holte mit dem Ball aus.
Dann brach es über mich herein.
Mein Bruder!
Mein Herz pochte wie ein Gewehr, als ich es realisierte.
»Mein Bruder war mit mir hier! Ich bin nicht alleine auf der Insel gewesen! Wie konnte ich das nur vergessen?«
Ich keuchte. Ging es ihm gut? Wo war er? Langsam beantworteten sich meine Fragen – er hatte auf mich gewartet, unterhalb eines Felsvorsprungs, weil er mir dorthin nicht folgen konnte. Mit Tauboss flog ich alleine hinauf.
Ich stürzte mich auf den einzigen Ausweg – an Solus vorbei ins Wasser. Entsetzt rief er mir nach, dass ich sterben würde, doch ich hörte nicht darauf.
Mehrfach schlug ich im dunklen Wasser gegen Steine, doch ich arbeitete mich weiter vor. Irgendwann entdeckte ich einen schlanken Durchgang, durch den ich mich mit Mühe hindurchzwängte, dann begegnete mir Licht. Hier war ein Ausgang! Ich blickte durch die Wassermassen nach oben. Hell leuchtete es herab, doch dann erkannte ich etwas über mir schwimmen. Ein Körper lag dort im Wasser, leblos und treibend.
Jetzt verstand ich es. Solus hatte nicht gewollt, dass ich meinen toten Bruder finde, auch wenn es mich zu meinem Ausweg führen würde. Er hatte angenommen, ihn so zu sehen, wäre für mich schlimmer als der Tod.
Er hatte recht.
Ich atmete aus.
Mein Magen war nicht mit mir einverstanden.
Speiübel fühlte ich mich, als ich meine Augen wieder aufschlug.
»Oh, du bist wach!«, hörte ich eine Stimme, die ich sehr gut kannte. Ich hörte Schritte. »Er hat dich gerettet, dich an Land gezogen, dann ist er aber wieder ins Wasser gesprungen. Habe ihn seitdem nicht mehr gesehen.«
Mein Bruder setzte sich zu mir, rüttelte mich sanft wach. »Tut mir leid, dass ich nicht mehr das Bedürfnis habe, dir an den Hals zu springen, ich habe dich schon ausgiebig umarmt, als du noch bewusstlos warst.«
Er lachte.
Mir war nun wirklich nicht nach Lachen zumute, doch ich zwang mich zu einem Lächeln. Wir verließen die Insel dann wieder, und nach einiger Zeit wurde mir auch klar, was geschehen sein musste. Mein Bruder war nie tot gewesen, sondern hatte sich nur im Wasser treiben lassen. Die ganze Zeit über hatten uns beide nur wenige Meter von einander getrennt. Das einzige, das uns davon abgehalten hatte, einander zu sehen, war Solus gewesen.
Dieser Fisch, der sein ganzes Leben lang anderen so viel gegeben hatte, der seine Zeit damit vergeudete, anderen zu helfen, hatte sich seinen letzten Wunsch erfüllt: auch einmal egoistisch zu sein. Jemanden bei sich zu behalten, der ihn von Grund auf versteht.
Deswegen hatte er uns beide belogen, weil er wusste, wir würden ihn verlassen. Und das schlechte Gewissen in ihm verhinderte, dass wir uns von einander verabschieden konnten.
Einige Tage später kehrte ich zurück. Noch nie zuvor hatte ich jemanden erlebt, der so gut zu mir passte, mir so viel bedeutete und mich so sehr verstand, wie Solus. Ich trat zum Wasserbecken, an dem ich ihn zuletzt gesehen hatte, und klopfte drei Mal.
Ich erhielt keine Antwort. Stumm und bestimmt band ich meine Haare zu einem Zopf, bereit, zu tauchen. Dann ließ ich einen leeren Pokéball ins Wasser fallen, in Hoffnung auf einen Lichtblitz.