Characters

Wir sammeln alle Infos der Bonusepisode von Pokémon Karmesin und Purpur für euch!

Zu der Infoseite von „Die Mo-Mo-Manie“
  • Externer Inhalt www.youtube.com
    Inhalte von externen Seiten werden ohne Ihre Zustimmung nicht automatisch geladen und angezeigt.
    Durch die Aktivierung der externen Inhalte erklären Sie sich damit einverstanden, dass personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu haben wir in unserer Datenschutzerklärung zur Verfügung gestellt.

    Meine Augen werden von dem, was sie sehen, wie magisch angezogen. Ich kann den Blick nicht abwenden. Wie in Zeitlupe neigt sich der Kopf nach rechts, weiter und weiter, bis er von den Schultern der Frau rollt und einfach zu Boden fällt.


    Arrr, oder besser: Happy Halloween! Da heute exakt der 31. Oktober ist, kam mir die Idee, extra für Halloween zwei Werke nacheinander vorzustellen, die sich mit dem Thema befassen. Das erste der beiden ist jetzt fast exakt ein Jahr alt und stellte meinen Beitrag zum damaligen 20. Wettbewerb der Saison 2014 dar, in dem man eine freie Kurzgeschichte schreiben sollte. Der zweite Text stammt aus dem 19. Wettbewerb der bald beendeten Saison. Ich hoffe, ihr habt viel Spaß und schöne Schauer beim Lesen.


    Nummer 13: Das Halloween-Special Teil 1


    Trick or Tweet


    [tabmenu]


    [tab=Kommentar: Bei Vollmond]


    Zuerst möchte ich mich jedoch bei Novocaine für das Feedback zu "Bei Vollmond" bedanken, auf dem Weg zur Vollendung des Werks sind deine Ansichten ziemlich hilfreich. Ich brauche allerdings immer ein wenig Zeit, um die Ratschläge, die ich hier bekomme, umzusetzen, ich hoffe, das ist kein Problem.


    „Es ist der Avatar!“, ruft eine Männerstimme oben auf dem Deck.

    Kurz vormerken-


    „Asami. Ihr habt da eine Seeschlange am Heck. Ich dachte, ich schneie mal vorbei und helfe euch!“, rufe ich

    Das auch-


    Ich finde es sehr gewagt, aber sehr interessant und freue mich, dass du so eine Kurzgeschichte geschrieben hast.

    Naja, ich habe mich an den Blog von Michael Dante DiMartino gehalten, der bestätigt hat, dass Korra und Asami romantische Gefühle füreinander hegen und tatsächlich beim Eintritt in die Geisterwelt am Ende von Buch 4 ein Paar geworden sind. Falls du damit eher auf die gesellschaftlich etablierten Normen anspielst, und wie man sich in der heutigen Zeit mit ihnen befassen sollte, so stimme ich dir voll zu.


    Vielleicht hättest du darauf noch ein bisschen mehr eingehen können

    Das ist wahr, ein Leser, der keine Ahnung von Avatar hat, wird sich schon fragen, wie genau das Bändigen denn aussieht, vor allem, da man ohne das Bildmedium nicht weiß, dass jeder Bändigungsstil auf einer chinesischen Kampfkunst basiert und darum einzigartig aussieht. Das musste ich rausstreichen, weil es der 1500 in die Quere kam, aber ich baue das demnächst wieder ein.


    Einige Metaphern bzw. Vergleiche hätte ich an der Stelle sehr passend gefunden.

    Da bin ich wiederum unsicher. Metaphern und Vergleiche wirken immer sehr poetisch, und ich hatte nicht das Gefühl, dass Korra in einer solchen Situation ihr Bändigen mit irgendetwas vergleichen würde, vor allem, da sie recht grob ist, was Auftreten und Gefühle allgemein angeht. Du hast Recht damit, dass es schön klingen würde, aber es wäre ein wenig "out of character". Bändigen ist für sie alltäglich, normal, so wie für uns Gestik und Motorik normal ist, was es unwahrscheinlich macht, dass sie diesem Vorgang poetisch gegenübersteht. Ich sehe mir trotzdem mal an, wo sich das anbieten würde.


    Ich meine, klar, natürlich schreien sie, aber wenn du es nicht so beschreibst, stelle ich mir das ganze ziemlich monoton vor

    Das war doof gelaufen, viele dieser kleinen Details sind ebenfalls der "1500" zu Opfer gefallen. Ich habe eben an drei Stellen die passenden Verben hinzugefügt, aber dass Korra brüllt, dass ein Wachmann ihr etwas zuruft, und dass es auf dem Schiff laut zugeht, das hatte ich schon drin. Ich schaue mal, wo ich da noch rangehen kann, natürlich hat nicht jeder den kleinen "Film" im Kopf, den ich immer habe, da muss ich aufpassen. An einer Stelle "ruft" Korra zu Asami hoch, und irgendwie ging ich davon aus, dass diese Stelle nach dem ganzen Editieren noch ausreicht, um dem Leser einzutrichtern, dass es auch genauso dann weitergeht.


    Ob dabei aber laut oder leise, geschrien oder gebrüllt, gerufen oder gesprochen wird, lässt du irgendwie fast immer außen vor.

    Ja, ich weiß, was du mit der Aggressivität meinst. Da hatte ich mich wohl zu sehr auf die Ausrufezeichen und die Stelle mit dem gebrüllten Dialog verlassen, so wie es aussieht. Ich nehme an, dass man den Text zweimal lesen müsste, damit das verständlicher wird.


    Schneidet sie sich ihre Haare ab um einen neuen Lebensabschnitt zu „kennzeichnen“, ein Abschnitt, den sie mit Asami verbringen möchte?

    Das ist eine schöne Interpretation. Da Korra zu jener Zeit auch nur Asami Briefe geschrieben hat und sonst niemandem, ist es möglich, dass ihre Gefühle für sie schon zu diesem Zeitpunkt romantischer Natur waren, vielleicht baue ich das auch ein. Eigentlich wollte ich damit den Kontrast zu Korras neu gefundenen Frieden darstellen und die Reise verdeutlichen, die sie machen musste, um da hin zu gelangen, wo sie jetzt steht. Dieses Abschneiden der Haare ist im chinesischen Kulturkreis eine Art Ritual für den Beginn eines Lebensabschnitts...ach, weißt du was, ich glaube, die Interpretation klaue ich mir mal. Das gefällt mir. Da kann man noch was draus machen. Ich weiß natürlich nicht, was genau in Korra vorging, als sie sich in Buch 4 die Haare geschnitten hat, aber das, was man in der Serie sah, habe ich so gut es geht in diesem Absatz umgesetzt. Die Vollmondnacht ist erfunden, aber das Flashback gab es wirklich.


    Ich habe das Gefühl, dass es auf jeden Fall zu viel Dialog war, weswegen die von Novocaine angesprochenen Verben zu kurz kamen und einige Zeilen in Thrawn Unbehagen auslösten. Gerade mit der Wortgrenze hätte ich das knapper halten sollen. Da die jetzt allerdings egal ist, kann ich mit den Verbesserungen fortfahren. Weiter geht's.


    [tab=Kommentar: Trick or Tweet?]


    Die Kommentare waren überwiegend positiv, diejenigen, die mir damals keine Punkte gegeben haben, gaben keine Begründung an, was es mir natürlich sehr erschwert, die Entscheidung nachzuvollziehen. Der Einzige, der mir damals einen Verbesserungsvorschlag brachte, war Rusalka.


    Zitat von Rusalka


    So nett die Geschichte auch geschrieben ist - ich mag deinen Stil und dass du eine Banshee eingebunden hast -, so fehlt hier irgendwie eine Sache, das sie besonders macht. Etwas, das den Text besonders hervor scheinen lässt und ihm abseits eines normalen Halloween-Abends die nötige Würze gibt.


    Ich habe jetzt schon sehr lange überlegt und eine Menge Ideen gesammelt, komme aber zu keinem ordentlichen Ergebnis. Meine Idee war, einen schönen kleinen Halloweentext zu verfassen, wichtig dabei waren mir 1. der Gruselfaktor, und 2. die doch recht lockere Atmosphäre. Es ist ein normaler Halloween-Abend, auf Magie und dergleichen habe ich verzichtet, was vielleicht der Fehler war. Vielleicht kann ich ja einen Einbrecher oder sowas mit einbauen, der dann von Fen und der Protagonistin verjagt wird, mal schauen. Das wird nicht einfach.


    Zitat von Shiralya


    (Hätte mal Abgabe dreizehn sein sollen. ^^")

    Immerhin ist es hier jetzt Abgabe 13, das ist doch aus was :P


    [tab=Trick or Tweet?]


    Ein Wassertropfen zittert im Hahn. Beinahe schüchtern löst er sich und fällt ins Waschbecken. Das stetig tropfende Geräusch in sonst vollkommener Stille verleiht dem Raum eine unheimliche Atmosphäre. Ich atme tief ein und sehe in den Spiegel. Ein bleicher Totenschädel starrt mir entgegen. Wenn ich nicht wüsste, dass sich darunter eine junge Frau befindet, wäre ich sogar erschrocken. Ihr weißes Haar ist auf der Höhe ihres Kinns glatt abgeschnitten. Dunkelblaue Augen taxieren mich. Eine Kerze flackert neben dem Waschbecken vor sich hin und verstärkt den gruseligen Eindruck.
    Weißes und schwarzes Make-Up haben mein Gesicht in eine Fratze wie aus einem Horrorfilm verwandelt. Die Farbe in meinem Haar werde ich vermutlich eine Weile lang nicht los, aber sie erfüllt ihren Zweck. Halloween kann beginnen.
    „Bist du fertig?“, ruft mir eine Stimme jenseits der Tür zu.
    „Gleich“, antworte ich. Dann zupfe ich ein wenig an dem schwarzen Kleid herum, welches ich mir angezogen habe, und lächele mein Spiegelbild an. Durch das Spiel meiner Gesichtsmuskeln verzieht sich der unheimlich grinsende Totenschädel. Mein Kostüm ist perfekt. Ich sehe oft, wie sich die Mädels bei der Wahl ihrer Kostüme darin zu übertrumpfen versuchen, wer den meisten Sexappeal ausstrahlt. Für mich ist das nichts. An Halloween ist es Brauch, seine Mitmenschen zu erschrecken, und nicht, sie zu verführen. So sehe ich das. Darum ist mein Kleid eher altmodisch gehalten.
    Ich öffne die Badezimmertür und stoße beinahe mit Fen zusammen. Die Chinesin schaut zu mir hoch und klatscht bewundernd in die Hände.
    „Du siehst toll aus! Dieses Make-Up steht dir.“ Sie ist ein Fan von allem, was normale Menschen gruselig finden.
    „Danke. Und das Kleid? Nicht zu...verklemmt?“
    „Nein.“
    „Okay. Du bist dran. Und wehe dir, wenn du wieder dieses schreckliche Nachthemd anziehst.“ Sie streckt mir als Antwort nur die Zunge heraus. Die Tür knallt zu. Ich erzittere kurz. Im letzten Jahr hatte sie sich eine schwarze Langhaarperücke aufgesetzt, dazu ein weißes Nachthemd angezogen und dann im Dunkeln auf mich gewartet. Dieses beinahe schon kindische Verhalten ist typisch für sie. Die Kinder, auf die sie nach ihrer Ausbildung zur Erzieherin losgelassen wird, tun mir jetzt schon leid.
    Schaudernd mache ich mich auf den Weg in die Küche, wo ich die Cupcakes zum Abkühlen hingestellt habe. Das Schwierigste an der Herstellung der kleinen Biester waren die Kürbisgesichter aus Schokoladensoße. Nun, wo ich das Resultat sehe, wird mir warm ums Herz. Mein Aufwand hat sich ausgezahlt.
    „Ha. Perfekt“, entfährt es mir. Die Jungs auf der Feier werden sich freuen. Ein Blick auf die Uhr zeigt mir, dass wir noch anderthalb Stunden Zeit haben. Ob das ausreicht, ist trotzdem unklar. Fen braucht immer sehr lange im Badezimmer.
    Nachdem die Cupcakes in einer Plastikbox verstaut sind, greife ich nach dem Handy und stelle mich ans Fenster unserer geräumigen Küche. Draußen ist es stockdunkel. Nebelschwaden wabern über den Gehsteig. Unten auf der Straße sehe ich eine kleine Gruppe Kinder vorbeikommen. Ich muss an meine eigene Kindheit denken. Früher habe ich mich auch gerne auf den Weg gemacht, um Süßigkeiten zu sammeln. Meine beiden Brüder hatten jedes Mal weniger Beute als ich. Mir kommt wieder in den Sinn, wie sehr die zwei das immer aufgeregt hat. Ein Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht.
    Als die Kinder sich dem Haus nähern, in dem wir unsere Wohnung gemietet haben, trete ich schnell einige Schritte zurück. Hoffentlich haben sie mich noch nicht gesehen. Ich raffe das Kleid ein wenig, um nicht über den Stoff zu stolpern.
    „Fen, ich gehe kurz runter, da kommen welche zu uns“, rufe ich durch die Badezimmertür, und laufe das Treppenhaus herunter. Fens Antwort höre ich nicht mehr. Auf der letzten Treppenstufe steht ein kleiner Plastikeimer mit Süßigkeiten. Ich öffne langsam die Tür.
    Vier glückliche Kindergesichter machen in wenigen Sekunden mehrere Stadien purer Angst durch und starren mich an, als wäre ich Satan persönlich. Lediglich das fünfte Kind, ein blondes Mädchen mit Engelskostüm, bleibt entspannt. Sie hat mich sofort durchschaut.
    „Trick or Tweet!“, ruft sie. Süßes oder Saures. Den englischen Ausruf hat sie wahrscheinlich von ihren Eltern – und sie spricht ihn falsch aus. Ich unterdrücke das Grinsen. Sie kann nicht wissen, dass Halloween nichts mit dem Zwitschern der Vögel zu tun hat. Ihre Freunde erringen nach und nach ihre Fassung wieder.
    „Süßes oder Saures!“, schallt es mir vierstimmig entgegen. Ich beuge mich vor und sehe jedem Kind nacheinander ernst in die Augen. Mein Vater hat das früher bei mir genauso gemacht. Er trug allerdings eine Maske und kein Make-Up. Die Prüfung des Totenschädels, so nannte er das. Nur jene, die keine Furcht mehr zeigen, bekommen etwas Süßes.
    Zu ihrem Glück bestehen die fünf Kinder meinen kleinen Test. Erstaunlich.
    „Ihr zeigt Mut. Das soll belohnt werden“, sage ich mit dunkel klingender Stimme.
    „Danke“, freut sich das Mädchen.
    „Haben sich deine Freunde heute noch nicht erschrocken? Oder bin ich die erste, die sich verkleidet hat?“
    „Nein, das nicht. Aber Ihr Kostüm ist so...“ Die Kleine sucht nach Worten und findet keine. Ich nicke leicht.
    „Verstehe. Vielen Dank für das Kompliment. Ich wünsche euch weiterhin viel Spaß.“ Als die Kinder mich verlassen, sind ihre Beutel ein Stück schwerer. Fens Begeisterung für dieses Gruselzeug scheint langsam auf mich abzufärben. Immerhin leben wir schon ein Jahr lang zusammen hier. Ich erschrecke mich zwar selbst ziemlich schnell, aber es macht auch viel Spaß, anderen dabei zuzusehen.
    Ich steige die Treppe wieder hinauf. Besonders viel Dekoration haben wir hier nicht, lediglich eine Kürbislaterne, die im Hauseingang baumelt, und einige kleine Geister aus Stoff. Mein Vater ist da ganz anders. An Halloween und an Weihnachten verwandelt er mein Elternhaus immer in ein wahres Schloss aus Licht und Festlaune. An der Türschwelle unserer Wohnung halte ich inne. Etwas stimmt nicht.
    „Fen?“ Ich komme am Badezimmer vorbei. Die Tür steht offen. Es ist stockfinster im Inneren. Ich spüre, wie sich die Härchen in meinem Nacken aufrichten. Nur die vier Reiter der Apokalypse würden mich jetzt dazu bringen, da reinzugehen. Ich mache einen kleinen Bogen um die offene Tür.
    Doch auch, nachdem ich die Küche und unsere Schafzimmer durchsucht habe, bleibt meine Mitbewohnerin verschwunden. Hat sie sich irgendwo versteckt? Lauert sie mir womöglich auf? So, wie ich sie kenne, ist das sogar sehr wahrscheinlich. Mein schlechtes Gefühl verstärkt sich. Ratlos stelle ich mich wieder ans Fenster. Sie kann die Wohnung nicht verlassen haben, da ich unten an der Haustür stand, als die Kinder eben hier waren.
    Mir soll es recht sein. Solange sie früh genug wieder auftaucht, dass wir uns auf den Weg machen können, gönne ich ihr den Spaß. Wir treffen uns später mit einigen Freunden und gehen dann gemeinsam zu einer nahen Kostümparty.
    Ich weiß nicht, wie lange ich meinen Gedanken nachhänge, spüre aber irgendwann eine leichte Bewegung hinter mir. Dann streicht irgendwas ganz sanft um meine Beine. Zarte Finger streicheln meinen Nacken. Gleichzeitig ertönt ein schreckliches Gurgeln genau hinter meinem Rücken.
    Mit einem Aufschrei fahre ich herum. Der Gedanke, das besser bleiben zu lassen, kommt zu spät. Vor mir steht eine Frau, die so groß und so dünn ist wie ich. Ihr Gesicht ist vollkommen blutleer und ihre Augen starren leblos an mir vorbei. Aus ihrem offen stehenden Mund dringen diese gurgelnden Geräusche, die ich eben gehört habe.
    Meine Augen werden von dem, was sie sehen, wie magisch angezogen. Ich kann den Blick nicht abwenden. Wie in Zeitlupe neigt sich der Kopf nach rechts, weiter und weiter, bis er von den Schultern der Frau rollt und einfach zu Boden fällt. Mein Puls schießt so schnell in die Höhe wie der Tacho eines guten Formel-1-Wagens.
    Ich höre erst auf zu schreien, als sich der Brustkorb der Frau öffnet und Fens Gesicht darin zum Vorschein kommt.
    „Verdammt!“, keuche ich, presse mir eine Hand auf die Brust, und versuche, mich zu beruhigen. Sie lacht mir ins Gesicht.
    „Gut, oder? Hat ewig gedauert, den Kopf zu basteln!“ Ich sehe auf den Boden. Mein Atem geht immer noch sehr schnell.
    „Du hast dir sogar die Mühe gemacht, die Ränder mit Kunstblut einzuschmieren. Ich fasse es nicht.“ Kopfschüttelnd setze ich die Attrappe wieder an ihren Platz zurück.
    „Klar! Und was bist du? Ein Geist?“, fragt Fen.
    „Nein. Eine Banshee aus Irland. In den dortigen Sagengeschichten heißt es, dass eine Banshee die Seelen der Sterbenden mit ihrem Weinen begleitet.“ Fen hängt mir förmlich an den Lippen.
    „Was du alles weißt! Ich jedenfalls bin eine Kopflose, wie du schon gemerkt hast.“
    „Ich glaube, wir sollten dann langsam los“, sage ich. Es ist bereits neun Uhr. Mittlerweile hat auch das Gliederzittern aufgehört.
    „Sehr schön. Ich bin fertig!“
    „Wie machst du das eigentlich, dass der Kopf auf Befehl abfällt?“, hake ich nach. Meine Freundin aber wedelt nur mit einer Hand vor meiner Nase herum und greift mit der anderen nach dem Haustürschlüssel.
    „Berufsgeheimnis. Du findest das schon noch heraus.“ Fen blickt mich schelmisch an. Wir verlassen das Haus und treten hinaus auf die dunkle Straße. Wie Knochenhände ragen die kahlen Bäume vor uns auf. Der Vollmond im Hintergrund macht die Nacht perfekt.
    Ein besseres Halloween kann ich mir nicht vorstellen.


    [/tabmenu]

  • Externer Inhalt www.youtube.com
    Inhalte von externen Seiten werden ohne Ihre Zustimmung nicht automatisch geladen und angezeigt.
    Durch die Aktivierung der externen Inhalte erklären Sie sich damit einverstanden, dass personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu haben wir in unserer Datenschutzerklärung zur Verfügung gestellt.

    "Heute wandeln die Toten auf der Erde." - Seren


    Hier ist der versprochene zweite Teil, in dem es um Seren geht, eine mutige kleine Keltin des ausgehenden achten Jahrhunderts. Diesmal wollte ich mich wirklich mit Samhain befassen, und darum musste natürlich wieder eine kleine Recherche her. Cliodhna ist eine Bansheekönigin der keltischen Sagenwelt, und für mich stand sehr schnell fest, dass die mit rein musste. Am wichtigsten waren mir hier die Beschreibungen des Waldes, Serens außergewöhnlicher Mut, und die Halloween-Atmosphäre. Seren sollte ein Wildfang sein, der sich im Wald verirrt und dabei ein kleines, schauriges Abenteuer erlebt. Wie auch immer, das Tabmenu zuerst.


    Nummer 14: Das Halloween-Special Teil 2


    Totentag


    [tabmenu]


    [tab=Kommentare: Totentag]


    Mal wieder Zeit für eine kleine Kommentarception. Ein großes Danke vorweg an die Voter für euer Feedback und vor allem für das Lob, ich versuche, die Fragen ausreichend zu beantworten. Viele der angesprochenen Verfehlungen hängen mit der 1500er-Grenze zusammen, weswegen sie jetzt nach dem Wettbewerb recht schnell getilgt werden können. Den meisten hat das Mystische an der Abgabe sehr gefallen, was mich umso mehr gefreut hat, da genau das geplant war.


    Seren muss definitiv mutig sein, wenn sie plötzlich bleibt und merkwürdiger weise weiß, dass sie später auch noch zurück kann. Ich würde erst denken, man könnte plötzlich nicht zurückkehren und mir Sorgen machen, ob ich nicht schon zu spät bin.

    Sie weiß es nicht, aber die Zweifel und das Abwägen, die sie ursprünglich gehabt hat, die passten nicht mehr. Darum habe ich das einfach rausgelassen und darauf gebaut, dass ihr Mut mich da rettet.


    Das Ende kommt beinahe unvermittelt – ich hätte gerne das Gespräch des Mädchens mit der Toten mitgelesen, aber da kam dem/der Verfasser/in wohl die Wortgrenze in die Quere.

    Exakt. Vieles musste weg, und darunter hat der Text sichtlich gelitten, wie man am Endergebnis sieht. Okay, ohne den Doppelpush auf 9 und 12 ganz am Ende hätte es trotzdem gereicht, dennoch ist es ärgerlich. Hätte ich besser kalkulieren sollen, als ich den Text geschrieben habe. Das Gespräch kommt später noch, versprochen :)


    ich könnte mich höchstens fragen, warum die Katze zunächst sich an diesen Ort verirrt und scheinbar gar nicht weg will und dann doch plötzlich Angst bekommt, ich meine, klar, die Frau taucht auf, bevor die Katze wegrennen will, aber hat sie sie denn nicht schon vorher gespürt?

    Also, ursprünglich hat Cliodhna Dian übersinnlich beeinflusst. Dass Cliodhna sichtbar war, lag am Síd. Nur dort kann man sie sehen, und nur dort sieht man auch diejenigen, die sie in die Anderwelt zieht. Bevor Seren dort ankam, spukte die Geisterfrau in ihrer Nähe herum, hatte aber Dian schon zum Síd geführt, um damit wiederum Seren anzulocken. Dann kamen die beiden gemeinsam bei Dian an, wodurch Cliodhna für beide wieder sichtbar war. Dass Dian erst dann ausrastete, war dem Umstand, dass sie immerhin keinen Gegner visuell wahrnahm, zu verschulden.


    sie zieht ja anscheinend bewusst das Mädchen in die Geisterwelt. Was, wenn sie sie nicht rechtzeitig wiedergefunden hätte? Dass sie sich unbedingt mit jemandem unterhalten will kann zwar ein Grund sein, aber darauf besteht sie nicht, es wird ihr ja angeboten. Nun ja, vielleicht war die erste Berührung auch irgendwie unabsichtlich, ich will nicht zu viel darüber nachdenken.

    Ja, genau das ist mein Problem. Also, die Erklärung ist folgende: Cliodhna will Gesellschaft einer Lebenden. Sie stellt dabei eine absolute Ausnahme dar, der Rest der Toten, denen Seren begegnet, hatte ursprünglich eine viel düstere Rolle und sollte verdeutlichen, wie bösartig die Geister eigentlich sind. Also lockt sie Seren mit Dians unfreiwilliger Hilfe zu ihrem Síd, dem Ort, an dem sie sozusagen selbst über Leben und Tod regiert, da es ihr eigener Grabhügel ist. Sie zieht Seren in die Anderwelt, merkt dann aber, dass es falsch war, das ohne ihre Zustimmung zu tun, und sagt "Komm zu mir", um sie wieder zu berühren und damit lebendig zu machen. Das ist absichtlich so formuliert, dass es genauso gut eine dunkle Absicht verbergen könnte, weswegen Dian und Seren sich aus dem Staub machen. Mit "irgendwie unabsichtlich" hast du dementsprechend ins Schwarze getroffen.


    Die Frage ist nur, wenn man so "einfach" zwischen den Welten wechseln kann, warum machen dann alle einen so großen Bogen um die Hügel? Und wie kam es, dass Dian Seren überhaupt dahin geführt hat? Alles nur, weil sie die Toten spürte?

    Das habe ich auch nur noch in dem Nebensatz "wer hätte gedacht, dass eine Tote so menschlich ist" unterbringen können. Jeder andere Tote hätte Seren danach nicht wiederbelebt sondern sie in der Anderwelt umherwandeln lassen, ohne Aussicht auf Rettung. Wäre Cliodhna hier nicht die große Ausnahme, hätte das für Seren übel ausgesehen. Dian hingegen wurde von Cliodhna dort hin gelotst, übersinnlich oder so. Geister können das. :P


    Man bekommt nur das Gefühl, dass relativ wenig passiert und auch gegen Ende hin, als sich Seren und Cliodhna unterhalten, kommen gerade diese Gespräche wieder zu kurz und welchen Eindruck sie bei Seren hinterlassen haben.

    Stimmt leider auch, da sollte noch wesentlich mehr hin, ging aber nicht mehr. Ich werde das in den nächsten Tagen wieder aufarbeiten, sodass auch das Ende besser rüberkommt.


    Wieso hat Cliodhna Seren nichtvorgewarnt, dass sie ein Geist ist? Sie konnte mit ihr schon kommunizieren,bevor sie Seren zum Geist gemacht hat.

    Dann wäre der Schrecken ja kaum so gruselig gewesen. Das "Komm zu mir" nach der Berührung sollte eigentlich dafür sorgen, dass Cliodhna Seren erneut berühren und damit wieder lebendig machen kann. Wollte es nur spannender machen.


    So, einige kleine Verbesserungen habe ich bereits vorgenommen, und in den folgenden Tagen werde ich die Erklärungen und ein paar Zeilen Dialog wieder hinzufügen, damit das Werk komplett wird.


    [tab=Version 1]


    Der Wind fährt in mein Haar, als ich die erdige Straße entlang renne und dabei unentwegt nach Katzenspuren Ausschau halte. Nur wenige Menschen sind noch unterwegs, und denen, die mir im Weg stehen, kann ich schnell ausweichen.
    Irgendwo muss sie doch sein! Ich habe jetzt bestimmt schon das halbe Dorf abgesucht. Nicht, dass das eine besondere Herausforderung wäre, immerhin ist unser Dorf nicht wirklich groß, aber trotzdem hat das ganz schön Arbeit gemacht. Vor allem, weil der alte Petyr mich zuerst nicht in seinen Kornspeicher rein lassen wollte. Ich sei ein „wildes Gör“, hat er gesagt, also musste ich ihm den Schlüssel klauen. Natürlich hat er ihn danach wieder bekommen, aber von meiner Katze fehlt nach wie vor jede Spur. Dafür allerdings habe ich ordentlich eine von ihm gescheuert bekommen. Meine Wange tut sogar jetzt noch weh.
    „Komm raus, komm raus. Miau, miau!“, rufe ich aufmunternd, dann sehe ich, dass meine Mutter mir entgegenkommt, und ich werde langsamer.
    „Suchst du immer noch?“, fragt sie erstaunt. Dem Korb in ihrer Hand nach zu urteilen war sie noch kurz bei unserem Fischer und hat sich dort ordentlich eingedeckt. Ich nicke ihr zu und halte kurz an, hüpfe aber ungeduldig auf und ab.
    „Ja. Ich verstehe das nicht. Normalerweise ist Dian bei Sonnenuntergang immer zu Hause.“
    „Sie wird sich irgendwo einen sicheren Ort gesucht haben, an dem sie übernachten kann. Katzen spüren den Samhain, denk daran.“
    „Ich muss sie finden“, erwidere ich. Dian ist mehr als nur eine Katze für mich. Sie ist meine Freundin.
    „Ich will, dass du bei Einbruch der Dunkelheit zuhause bist. Hast du mich verstanden, junge Dame?“
    „Och, Mom! Ich bin kein kleines Kind mehr!“ Auf meine Worte hin lächelt meine Mutter mich ein wenig zu verständnisvoll an.
    „Das weiß ich doch. Aber an Samhain wandeln die Toten unter uns, und du willst doch nicht von ihnen in die Anderwelt verschleppt werden, oder?“
    „Nein. Ich werde vor Einbruch der Nacht wieder zuhause sein.“
    „Viel Glück bei deiner Suche, mein Engel. Ich kümmere mich derweil um den Fisch.“
    Samhain ist das Fest der Toten. In der heutigen Nacht wird die Grenze zwischen der Anderwelt und unserer verwischen. Aus diesem Grund stellen wir heute einen Teller voller Essen vor die Tür. Das beruhigt die Toten.
    Natürlich sucht sich Dian ausgerechnet diesen Tag aus, um auf einmal zu verschwinden.
    Ein paar Minuten später bin ich am Rand des Dorfes angekommen. Vor mir erheben sich die Berge. Was, wenn Dian diesmal endgültig abgehauen ist? Wir sind nicht arm, aber wir haben auch nicht das beste Essen der Welt. Vielleicht wollte sie etwas Besseres. Vielleicht ist sie zu Lady Ceinwyn gerannt. Bei der Lady gibt es immer viel zu essen. Allerdings müsste Dian sehr weit rennen, weil Lady Ceinwyns Burg mindestens einen Tagesritt von hier entfernt liegt.
    „Verflixt.“ Ich lasse noch einige herbere Flüche raus, die ich von den Kriegern in der Taverne gehört habe, und mache mich dann auf den Weg nach Hause.
    Auf einmal höre ich eine Stimme. Sie ist leise, beinahe unhörbar, und sie klingt wie eine junge Frau.
    Seren“, flüstert sie, „Seren, folge mir.“ Ich sehe mich um, doch die Wiese, auf der ich stehe, ist leer. Mir läuft ein Schauer den Rücken herunter. Jedes andere Mädchen, das ich kenne, wäre jetzt nach Hause gelaufen, aber ich spüre auch eine wachsende Neugier und will wissen, wem die Stimme gehört.
    Außerdem muss ich noch immer meine Katze finden. Meine Schritte führen mich in Richtung Wald.


    Das hier hatte ich zuerst geschrieben, dann fiel mir allerdings auf, dass das die 1500 noch übler gebrochen hätte, als es jetzt ohnehin schon passiert ist. Dachte aber, ihr findet vielleicht Gefallen daran, zu lesen, wie Seren ihre Suche beginnt.


    [tab=Totentag]


    Wenn Freiheit einen Geschmack hätte, dann würde sie nach Honig, Tau und Blättern schmecken. Ich weiche einem Baum aus, stolpere beinahe über eine Wurzel, fange mich, und renne weiter. Weit über mir schreit eine Eule den ersten Gruß der Nacht heraus, dabei ist die Sonne noch nicht einmal untergegangen.
    „Komm raus, Dian!“, rufe ich laut, wende mich dann nach rechts, und halte nach Spuren Ausschau. Sogut hat sie sich noch nie versteckt, dabei spielen wir beinahe jedenTag hier. Zugegeben: Der Wald ist gigantisch, weswegen es vermutlichnoch viele Verstecke gibt, die ich nicht kenne.
    „Dian!“ Sie antwortet nicht. Ich bleibe kurz stehen, stütze die Hände auf die Knie und schnappe nach Luft. Dann streiche ich mir die braunen Locken aus der Stirn. Wo kann sie nur sein? Wir hatten doch abgemacht, dass wir vor Einbruch der Dunkelheit wieder zuhause sind. Mutter macht sich sonst unnötig Sorgen. Sie hat mir vorhin extra gesagt, dass ich an Samhain nicht raus gehen soll. In ihren Augen bin ich noch ein kleines Kind, dabei bin ich 14 Sommer alt und kann auf mich aufpassen.
    Im nächsten Moment höre ich eine Stimme, die meinen Namen flüstert. Sie klingt nach einer jungen Frau. Das ist seltsam, weil ich im Dorf eigentlich das einzige Mädchen bin, das noch nicht verheiratet wurde.
    Seren“, flüstert sie, „Komm zu mir.“ Ich sehe mich um, kann jedoch niemanden erkennen.
    „Wer ist da?“
    Ich warte.“
    Ein normales Mädchen wäre jetzt sofort nach Hause gerannt. Statt Angst verspüre ich jedoch nur die für mich typische Neugier. Ich muss wissen, wem diese Stimme gehört. Als ich mich erholt habe, renne ich weiter. Eine unsichtbare Macht scheint meine Schritte zu lenken.
    Meine Suche führt mich in einen Teil des Waldes, in dem es viele Felsen und Klippen gibt. Neben mir plätschert ein kleiner Bach vor sich hin. Die Bäume hier sind ziemlich hoch, außerdem gibt es keine tief hängenden Äste, weswegen ich nicht auf einen davon hinaufklettern und von da aus suchen kann. Der Boden ist ziemlich hügelig und von Gras und Moos bewachsen.
    Irgendwann gelange ich an eine Art Felsvorsprung und klettere die groben Steine herauf. Etwa auf halber Höhe rutscht mein Fuß ab, mein Bein schrammt am Gestein entlang, gleichzeitig ertönt ein reißendes Geräusch. Nur meinen Reflexen ist es zu verdanken, dass ich im letzten Moment umgreifen und mich abfangen kann. Danach klettere ich bis ganz nach oben und finde mich auf einem Hügel wieder, den ich von der anderen Seite aus auch ohne Kletterei hätte betreten können. Ich habe mir mein Kleid also grundlos zerrissen. Mutterwird sich mal wieder freuen. Im Dorf bin ich als die „Wilde“bekannt, weil ich mich immer verhalte wie ein Junge. Es macht einfachmehr Spaß, nur versteht das niemand. Puppen und Nähzeug langweilenmich.
    „Dian!“ Ich sehe meine Katze in der Mitte des Hügels sitzen. Sie blickt mich aus ihren wunderschönen Augen an und scheint auf mich zu warten.
    „Du hast schon wieder verloren. Wenn du lieb fragst, lasse ich mich vielleicht zu einer Revanche überreden“, sage ich großspurig. Dian maunzt mich an, regt sich aber nicht. Ihr Verhalten ist seltsam. Vielleicht ist sie müde. Ich laufe zu ihr herüber und knie mit einem aufmunternden Lächeln vor ihr nieder. Nun merke ich, worauf sie sitzt: Es ist kein Flecken nackter Erde, wie ich vorher dachte, es ist eine kreisrunde Steinplatte mit merkwürdigen Symbolen darauf. Jetzt fallen mir auch erst die drei Steinblöcke auf, die im Abstand von einigen Schritten um uns herum stehen und allem Anschein nach ein Dreieck bilden.
    „Was ist das denn“, murmele ich. Ich spüre, wie mir kalt wird. Mein Lächeln erlischt. Das ist kein normaler Hügel. Es ist ein Síd, ein Elfenhügel, und Elfenhügel sind magisch. An Samhain sollte man sich nie auf einem Síd aufhalten. Ein Teil von mir will zwar sehen, wie die Toten wandeln, ein anderer aber will sich in Sicherheit bringen.
    „Na los, komm. Wir müssen nach Hause, bevor es dunkel wird. Es ist gefährlich, heute draußen zu sein. Komm schon.“ Doch egal, wie sehr ich sie zum Gehen animieren will, es klappt nicht. Stattdessen faucht Dian mich an und kratzt mich sogar, als ich sie auf den Arm nehmen will. Die Sonne sinkt immer tiefer.
    Hab keine Angst, Seren“, flüstert die Stimme von vorhin plötzlich. Eine Hand berührt meine Schulter. Ich zucke zusammen. Dians Fell sträubt sich, sie macht einen Buckel. Was auch immer da hinter mir ist, es macht ihr große Angst. Mit gewaltiger Willensanstrengung drehe ich mich um.
    Eine Frau steht vor mir und lächelt mich an. Ihr Gesicht ist bleich, sie trägt einen indigofarbenen Mantel mit goldener Kordel. Ihr schwarzes Haar reicht ihr bis zum Hintern. Mein Blick fällt auf ihre Hand. Ich kann durch ihren Körper hindurchsehen. Mutters Worte kommen mir in den Sinn. Heute wandeln die Toten auf der Erde.
    Ich unterdrücke meinen Schrei, krieche aber hastig rückwärts, um von der Frau wegzukommen.
    „Wer seid Ihr? Was wollt Ihr von mir?“, frage ich und merke dabei, wie meine Stimme höher klingt als sonst. Mein Atem geht schneller.
    Komm zu mir.“ Ihre Stimme ertönt in meinem Kopf, ohne dass sie die Lippen bewegt. Sie lächelt mich traurig an. Die Toten beneiden uns um unser Leben beneiden und wollen es uns rauben, so heißt es in den Geschichten. Mir wird schlecht.
    Sie macht auf einmal einen plötzlichen Schritt in meine Richtung. Das ist mein Zeichen, hier zu verschwinden. Was auch immer sie will, es kann nicht gut für mich sein.
    Ich sehe, wie Dian loshetzt, und folge ihr, so schnell ich kann. Auf der einen Seite geht der Hügel in einen sanften Abhang über, den wir herablaufen. Als wir das Dreieck der Steine verlassen, fühle ich eine merkwürdige Kälte durch mich hindurch fließen, ignoriere sie aber. Ich erlaube mir nicht einmal einen Blick über meine Schulter, so sehr bin ich darauf fixiert, die bleiche Frau hinter mir zu lassen. Die Bäume und Sträucher fliegen geradezu an mir vorbei.
    „Weiter, Dian, wir müssen ins Dorf zurück“, keuche ich, als ich sehe, wie meine Katze Anstalten macht, sich umzudrehen.
    Zu meinem Entsetzen sehe ich auf einmal ein bleiches Gesicht zu meiner Rechten. Es gehört zu einem alten Mann, der mich düster anblickt. Ich kann das Grün der Sträucher hinter ihm durch seinen Kopf hindurch sehen. Er ist ebenfalls tot.
    „Mutter, hilf mir!“ Ich schluchze beinahe. Der Wald scheint sich mit Toten zu füllen. Je länger ich renne, umso mehr von ihnen sehe ich. Hier eine Mutter mit zwei Kindern, dort einen Krieger mit Schwert und Schild. Ich vergehe beinahe vor Erleichterung und Freude, als ich endlich den Waldrand erreicht habe und hinunter auf unser Dorf sehen kann. Die Holzhütten werfen lange Schatten auf die grasigen Ebenen zwischen Dorf und Wald.
    Ich hebe den Arm, um mir den Schweiß von der Stirn zu wischen, doch mitten in der Bewegung bleibt mir beinahe das Herz stehen.
    Mein Arm ist durchsichtig.
    „Oh, nein.“ Panisch sehe ich an mir herab, doch das Ergebnis bleibt das gleiche. Das Gras schimmert durch meinen Körper hindurch.
    Seren. Du musst umkehren.“ Als die Stimme erneut erklingt, widerstehe ich dem Drang, sofort ins Dorf herab zu rennen, und wirbele herum.
    „B-bin ich tot?“, stammele ich fassungslos. Die Frau nickt und sieht mich besorgt an.
    Die Grenze zwischen eurer und unserer Welt verschwimmt. Meine Berührung hat dich in unsere Welt gezogen. Du musst noch einmal in den Runenkreis, nur dort kann ich dich zurückbringen.“
    Nun wird mir klar, wieso ich die Toten schon vor Einbruch der Dunkelheit sehen konnte.
    „Was habt Ihr mit mir vor?“, will ich panisch wissen.
    „Nichts, Seren. Bitte glaub mir. Ich wollte nur Gesellschaft. Gesellschaft, die lebt“, entgegnet sie mit einem seltsamen Ausdruck auf ihrem Gesicht. Ich beruhige mich langsa.
    „Also werdet Ihr mich wieder in meine Welt gehen lassen?“
    „Ja. Das verspreche ich. Aber das geht nur im Runenkreis.“
    Ohne ein weiteres Wort folge ich der Frau zurück in den Wald.


    Während wir denselben Weg entlang laufen, erfahre ich, dass die Frau Cliodhna heißt und bereits seit fünfzig Jahren tot ist. Ihre Knochen liegen in dem Feenhügel, auf dem ich Dian fand. Die Geisterfrau scheint mit jedem Schritt bedrückter zu werden. Meine Angst schlägt immer mehr in Erleichterung um, denn ich habe gemerkt, dass Cliodhna anscheinend eine Ausnahme unter den Toten darstellt. In den Geschichten heißt es immer, dass die Toten einen Lebenden nie mehr gehen lassen, sobald sie ihn in ihr Reich gezerrt haben. Ich habe unglaubliches Glück.
    „Kann Dian uns sehen?“, frage ich. Meine vierbeinige Freundin wurde nicht von Cliodhna berührt und folgt uns trotzdem.
    Nein. Sie spürt uns. Katzen sind empfänglich für die Schwingungen unserer Welt. So konnte ich sie zu meinem Grab leiten“, erwidert Cliodhna.
    „Woher kennt Ihr eigentlich meinen Namen?“
    Deine Katze hat ihn mir verraten, als sie sich verirrte. Du brauchst mich übrigens nicht so höflich anzusprechen. Ich bin keine Adlige mehr.“
    „Verstanden.“
    Wenig später haben wir ihr Grab erreicht. Ich stelle mich in den Kreis der drei Steine und sehe Cliodhna an.
    Danke dafür, dass du heute bei mir warst, Seren“, sagt sie. Das Lächeln, welches sie mir schenkt, wirkt mehr traurig als fröhlich. Mir kommt ein ungewöhnlicher Gedanke. Ist sie womöglich einsam? Cliodhna legt ihren Mantel ab und legt ihn um meine Schultern.
    Das ist eine kleine Wiedergutmachung für dein Kleid. Ohne mich wäre es nicht zerrissen.“
    „Vielen Dank, Cliodhna.“
    Als sie dann die Hand ausstreckt, um mich zurück zu bringen, weiche ich ihr aus.
    Stimmt etwas nicht?
    „Weißt du...ich würde doch lieber noch ein bisschen hier bleiben. Ich habe so viele Fragen!“, sage ich. Cliodhna sieht zuerst überrascht aus, dann aber lächelt sie, und diesmal ist es ein echtes Lächeln. Ich hatte nicht erwartet, dass eine Tote so menschlich ist. Sie ist tatsächlich einsam.


    Ich bin froh, dass meine Neugier stärker ist als meine Angst, andernfalls hätte ich nie Freundschaft mit einer Toten geschlossen. Wir reden die ganze Nacht lang. Erst als die Sonne aufgeht, kehre ich in die Welt der Lebenden zurück.



    [/tabmenu]

  • [tabmenu]
    [tab=x]
    So, da du scheinbar zu einigen Kommentaren von mir bei den jeweiligen Votes noch Fragen hattest bzw. Unklarheiten vorhanden waren, wollte ich mich dazu noch äußern. Vorweg muss ich wohl zugeben, dass ich stellenweise unfair war und ich hoffe, dass die Re-Rekommis nicht in eine Art Rechtfertigung ausarten. Da es aber auch langweilig und möglicherweise gar nicht mal so hilfreich ist, sich nur in der Hinsicht zu äußern, verbinde ich es mal mit Kommentaren zu zwei anderen Geschichten. Wobei gerade "Die Rückkehr der bemalten Lady" für mich interessant war und das aus zwei Gründen: Einerseits habe ich mal angefangen, die Serie systematisch zu gucken (wobei mein grober Ersteindruck nebenbei bemerkt positiv ist) und habe daher vielleicht mittlerweile zumindest ein bisschen Ahnung von den Charakteren und andererseits bin ich zu der zugrunde liegenden Folge zwar noch nicht vorgedrungen, sie zählt jedoch zu den Folgen, die ich quasi "zufällig" mal irgendwann vor ein paar Jahren gesehen hatte, deswegen stach mir deine Geschichte da ins Auge.
    [tab=Re-Rekommis]
    Okay, bezüglich Nemo:


    Wie auch immer, ich habe im Titel nicht die Intention gehabt, aggressiv zu klingen. Fury from the deep hat einen sehr schönen Klang,

    So meinte ich es jetzt nicht unbedingt, das heißt, ich redete jetzt so nicht wirklich von einem möglichst aggressiven, sondern, naja, bedrohlichen Klang. Allerdings muss ich wohl, was den Vergleich der puren Ästhetik angeht, zustimmen und habe offenbar trotzdem die Intention nicht deuten können.


    Das ist ein Proto-Kyogre, eine der stärksten Lebensformen überhaupt. Einer der größten Mäkel der Pokémon-Spiele ist der Umstand, dass man die nach einer Weile nicht mehr ernst genug nimmt. So wie beschrieben würde ein Kampf eben laufen, oder nicht? Nemo hätte Elektroattacken benutzen können, aber dann hätte sie sich gleich mit gegrillt. Lanturn war mehr für das Licht und für den späteren Kampf in der Höhle gedacht. Der Rest ihres Teams sind Starmie, Impoleon und Golking. Von denen hat auch keiner eine wirkliche Chance, darum erschien es mir das Beste, Kyogre auf der Stärkeskala nach oben zu balancen.

    Hier meinte ich auch nicht, dass es locker-flockig besiegt werden und am Ende im Ball landen sollte, ich meinte lediglich, dass die Konfrontation etwas länger hätte dauern können, auch wenn sie einseitig gewesen wäre. So ein bisschen wie der Kampf Fliege gegen die vom Menschen geführte Fliegenklatsche, auch wenn das jetzt blöd klingt. Das hängt natürlich auch davon ab, wie schnell und flächendeckend man sich Kyogres Attacken vorstellt. Ansonsten hätte aber, auch wenn du den Punkt meiner Ansicht nach deutlich genug gemacht hast, eine längere, etwas verzweifelte Auseinandersetzung dazu beigetragen, Nemos Hartnäckigkeit zusätzlich zu unterstreichen, im Sinne von: Keine Chance haben, aber trotzdem weitermachen.
    Es mag jetzt richtig peinlich sein, wenn ich das auch nach wiederholten Malen überlesen habe, aber du hattest ihre anderen Pokémon doch gar nicht erwähnt, oder?
    Ansonsten vertrete ich in der Tat die Ansicht, dass legendäre Pokémon zwar recht stark, aber letzten Endes auch nur Pokémon sind, die besiegt und gefangen werden können (aber wie gesagt, verlangen wollte ich das jetzt nicht). Das ist sicherlich durch die Spiele beeinflusst und möglicherweise sollte ich es mal überdenken.


    Ich habe jetzt auch keine Stelle gefunden, an der das irgendwie schwer wäre, aber vielleicht liegt das auch nur an mir. Wo genau hattest du Probleme?

    Und an der Stelle muss ich wohl wirklich eingestehen, dass das rückblickend unbegründet war. Nachdem ich die Geschichte noch einmal gelesen hatte, kann ich nicht mehr sagen, wo ich Probleme hätte haben sollen, da passt in der Hinsicht alles. Vielleicht hatte ich sie unaufmerksam gelesen, war an dem Tag schlecht drauf und unkonzentriert oder hatte Kopfschmerzen, tut mir jedenfalls Leid. Die einzige Stelle, bei der ich mich noch erinnern kann, dass ich da wohl irgendwie dieses Problem hatte, war diese:


    „Man lebt schließlich nur einmal“, erwidere ich mit einem frechen Grinsen, und ziehe meinen Regenmantel aus. Darunter trage ich lediglich einen Neoprenanzug. Den brauche ich, denn jetzt geht es in die Tiefe. Die Angst, die ich bisher unterdrücken konnte, krallt sich in meine Eingeweide. Noch kannst du umkehren, sagt sie mir. Aber das könnte ich mir nie verzeihen. Die letzten Stunden habe ich wie im Traum verbracht, eingeschüchtert von meinem eigenen Mut, und ich würde nie im Leben jetzt aufgeben.
    Also setze ich mir die Tauchmaske auf, stecke meine Pokébälle an die kleinen Halterungen aus Hartgummi, die sich am Gürtel befinden, und ziehe die Schwimmflossen an, bevor ich mich auf die Reling des Boots setze.
    „Das ist wohl wahr.“

    Ich glaube, es war so, dass ich im ersten Moment keine Ahnung hatte, wer den letzten Satz jetzt gesagt hatte, aber eine Änderung ist an der Stelle echt nicht notwendig.


    Okay, dann weiter:


    "Habe ich: Angreifen!" kommt meines Wissens nach nur in den Avengers vor, an der Stelle, als Loki und Thor sich bekämpfen. Was "Rettung in letzter Sekunde" angeht, so werde ich mal schauen, ob das auch anders geht, aber für die Situation und in Bezug auf den angriffslustigen Charakter Korras sowie Asamis Erleichterung schienen mir diese Sätze recht passend.

    Und ich muss wohl zugeben, dass mir an Stellen zum konkreten Wortlaut der ersten Phrase jetzt auch nur die von dir erwähnte Stelle einfällt,

    aber eigentlich geht es mir hier mehr um den Gedanken, der hinter solchen Aussagen steht und in der Hinsicht ist diese Aussage effektiv fast nichts anderes als "Angriff ist die beste Verteidigung" in Neuauflage. Und die Sache ist auch immer ein bisschen der Kontext: Kann man denn einen anderen Plan machen bzw. braucht man das angesichts Korras Fähigkeiten überhaupt? Ich hatte den Eindruck, nein, und so fand ich es ein bisschen konstruiert mit dem Zweck, diesen Satz da hineinzubringen. Der Kontext ist es schließlich auch, der mich an "Rettung in letzter Sekunde" stört: Der Satz ist meiner Meinung nach unmittelbar nach der Rettung angebracht, wenn man keine Chance hatte, sich vorher zu unterhalten, weil keine Zeit dafür war, da es nun einmal die wirklich "letzte Sekunde" ist. Dies ist nun hier nicht der Fall, wobei ich anmerken möchte, dass das auch nur meine persönliche Meinung ist. Aber es ist nun einmal auch so, dass ich die Charaktere noch nicht kenne (auch wenn ich an dem Thema dran bin) und wenn die Sätze dir zweckmäßig erscheinen, um diese auszudrücken, so will ich das keinesfalls kritisieren.


    Auch ist die Szene mit dem Schleim sehr an den Avatar-Humor angelehnt(#korraface), und es ging immerhin darum, den Charakter so darzustellen, wie er wirklich ist. In dem Vote wäre es wichtig gewesen, darauf einzugehen.

    Und nachdem ich mittlerweile ein paar Kostproben dieses Humors genießen dürfte, scheint er wohl zutreffend zu sein. Ansonsten ein netter Seitenhieb an mich. ;) Aber im Grunde hast du ja recht.


    Ich glaube, dafür muss man die Serie kennen. Korra reflektiert über ihre 3 Jahre in Abwesenheit, das ist der Knackpunkt. Der Krieg gegen Kuvira, die Antagonistin, ist vorbei, und Korra kann sich endlich mal ausruhen, weswegen sie kurz abdriftet. Soll ich diesen Krieg noch kurz einbauen, damit deutlich wird, wie ausgelaugt sie ist, oder was genau störte dich da? Der Bezug zur Handlung ist durch das friedliche Gefühl und die Freundschaft zu Asami dargestellt, diese Rückblende soll nur zeigen, wie weit ihr Weg war, und wie sehr Korra zwischendurch einstecken musste - steht also im direkten Kontrast zur sehr friedlichen Anfangs- und Schlussszene.

    "Stören" ist da das falsche Wort. Ich konnte nur wenig direkten Bezug zu der eigentlichen Geschichte erkennen oder vielmehr schien es mir so, dass Korra über ein bestimmtes Ereignis oder einen bestimmten Zeitpunkt reflektierte? Und da lautete einfach nur die Frage für mich: Warum gerade dieses Ereignis oder gerade dieser Zeitpunkt? Es ist halt so, dass ich bei einem Flashback meistens irgendeine Verknüpfung erwarte, also dass sich in der Geschichte irgendetwas direkt darauf bezieht. Es mag natürlich sein, dass mir das entgangen ist, weil ich die Serie nicht kenne und in dem Fall tut es mir Leid. Gesetzt dem Fall, dass du einfach einen Zeitpunkt gewählt hast, der exemplarisch dafür steht, wie viel sie durchmachen musste, hat der Flashback natürlich seinen Zweck erfüllt und da musst du andere Sachen nicht zusätzlich ausformulieren, auch wenn eine Aufzählung von ebenso anderen wichtigen Ereignissen (im Sinne einer Art Zusammenfassung) diese Bedeutung zusätzlich unterstreichen könnte.
    [tab=Die Rückkehr der bemalten Lady]
    Schöne Geschichte, muss ich sagen. Wie du sicher bemerkt haben dürftest, suche ich immer gerne nach Logiklöchern und hänge mich daran auf (was ich übrigens nicht ablegen werde, doch werde ich mal in Zukunft verstärkt versuchen, auch andere Substanz in Votes und Kommentare zu bringen) und hier glaubte ich auch eins gefunden zu haben, zunächst jedenfalls.


    „Mir ist gerade eingefallen, dass ich auch einfach selbst da unten reingehen könnte.

    Denn genau den Gedanken hatte ich direkt auch. Nun schaffst du es aber, das auf ziemlich pfiffige Art und Weise aufzulösen.


    „Weil die Banditen, die das Dorf jeden Monat überfallen, dann wissen, dass sie nur deine Abwesenheit abwarten müssen, um den nächsten Überfall zu wagen. Nein, die bemalte Lady ist das Symbol dieser Region. Wenn denen klar wird, dass ein Flussgeist das Dorf beschützt, werden sie sich hüten, erneut anzugreifen.

    Was soll man dazu noch sagen? Ist halt einfach logisch und passt.
    Insgesamt also ist die Geschichte schlüssig und fügt sich gut in die Hintergründe ein. Die Idee mit dem Plan, um das Dorf auch dauerhaft vor weiteren Überfällen zu bewahren, ist durchaus kreativ. Könnte ich mir sogar gut als Folge vorstellen, auch wenn man dafür vielleicht noch das eine oder andere ergänzen, also die Geschichte etwas ausreizen müsste.
    Auffällig ist natürlich der Perspektivenwechsel. Es ist meiner Ansicht nach unzweifelhaft die richtige Entscheidung, beim Kampf aus der Sicht des Banditen zu schreiben, auch wenn die Passage irgendwie ein wenig merkwürdig auf mich wirkt. Aber das liegt vielleicht einfach nur daran, dass mir die Kombination Er-Perspektive+Präsens nicht so oft begegnet, konkret etwas daran bemängeln kann ich da nicht dran. Wobei, wenn ich es mir recht überlege... Nun, an manchen Stellen hätte es vielleicht in Bezug auf den Banditen etwas persönlicher sein können, was jetzt aber auch nur mein eigener Eindruck ist. Ich will dir nicht vorschreiben, wie du zu schreiben hast, aber wenn ich es jetzt konkret an einem Beispiel erläutern müsste:


    Er hat es wirklich mit einem Geist zu tun.

    Klingt halt für mich ein bisschen neutral. Ich hätte an der Stelle wahrscheinlich so etwas geschrieben wie "Er muss es wirklich mit einem Geist zu tun haben (!)", weil sich das etwas mehr nach seinem Eindruck anhört, aber wie gesagt, ich will dir nichts vorschreiben, ich will es nur mal erwähnen.
    Positiv ist auf jeden Fall auch zu vermerken, dass ich die Charaktere im Wesentlichen auch "heraushören" kann, du schaffst es also durchaus, sie plausibel darzustellen.
    Insgesamt also eine schöne Geschichte, die ich gerne gelesen habe.
    In der Rechtschreibsektion:


    Als ich ihn damals kennen lernte, was er nicht mehr als ein verspieltes Kind, das sich mit seiner Rolle als Avatar nicht recht anfreunden konnte.

    war


    Und das war es damit dann auch schon.


    Ansonsten noch kurz: Ich weiß nicht, ob du es als eine bewusste Anspielung darauf eingebaut hast oder einfach so, aber hierüber musste ich dann doch ein wenig schmunzeln (nicht böse gemeint):


    „Lebt lang und in Frieden“

    :D
    [tab=Verfolgt]
    Wird jetzt schwierig, ich werde mal versuchen, mich besonders auf die Baustelle und deine Anmerkungen zu beziehen.
    Nun, die Wettbewerbsaufgabe scheint ja erfüllt zu sein und das auf eine einfache Weise. Ist natürlich fast schon zu simpel, aber andererseits frage ich mich auch, wie man es sonst groß anstellen soll. Hat man ja auch beim Sommer-Special ganz ähnlich gesehen, so ziemlich jedes Mal hat jemand das Gedicht vorgelesen oder geschrieben und hier hört Maria einfach das Lied.
    Nun, deine Idee ist folgende: Maria hat diesen Abenteuerurlaub gebucht und es sind dabei ihre Freunde ums Leben gekommen, woraufhin sie zwar entkommen, aber traumatisiert ist. Zum Ende hin stellt sich dann eine leichte Besserung ein und gibt dem ganzen so zwar kein vollkommenes Happy End, aber zumindest eine optimistischere Wendung. Und damit wirkt es auch realistischer, wäre ja blöd, wenn sich alle Probleme einfach so in Luft auflösen würden. Nun kann man vielleicht einwenden, dass es dann doch ein ziemlicher Sprung von Suizidgedanken zu diesem Ende ist, aber da bin ich wohl der Letzte, der das sagen sollte, wenn man meine freie Geschichte aus dem letzten Wettbewerb bedenkt, die dieser hier komischerweise in vielen Belangen ähnelt (aber ich schwöre, dass ich diese hier erst heute gelesen habe). Es ist nur eine winzige Änderung, die ich da vielleicht vorschlagen würde:


    Als ich hier ankam, hatte ich daran gedacht

    Vielleicht könnte man ein "flüchtig" einbauen, weil es dadurch kein absolut konkreter Suizidgedanke wäre, von dem man eben schwerer loskommen würde. Nur als kleiner Vorschlag.
    Jedenfalls ist die Geschichte schön düster, aber hat sozusagen "ein Licht in der Dunkelheit", was mir persönlich gefällt.


    Ansonsten konzentriere ich mich jetzt mal auf die Anmerkungen von dir und versuche mal, ein paar Anregungen zu geben, die du natürlich nicht übernehmen musst.
    Du überlegst also, die Sekte durch einen Serienkiller zu substituieren, wenn ich nicht irre? Nun, ich denke, da kommt es auch auf die Ausführung an. Die Sache ist dabei ein wenig, dass ich jetzt nicht genau weiß, in welchem Sinne du "gebucht" meinst. Wenn eine Reise offiziell gebucht wird, dann sollte derjenige, bei dem man bucht, eigentlich wissen, das auf der Insel ein Haufen Irrer lebt und sie damit eigentlich nicht empfehlen dürfen (es sei denn, er hängt mit der Sekte zusammen). Bei einem Serienkiller wird das Szenario meiner Ansicht nach in Hinblick darauf sogar wahrscheinlicher, da ein einzelner Mensch schwerer zu bemerken ist. Dann kommt es natürlich auf das Konzept des Killers an: Hat er eine vielleicht eine fixe Idee, nach der er jeden töten will, der sich auf die Insel begibt oder hat er sich zurückgezogen und will nur einfach nicht entdeckt werden, sodass er Besucher als Gefahrenquelle betrachtet? In Hinblick darauf könnte man es auch so anlegen, dass es eben ein paar düstere Gerüchte gibt, die sich um die Insel ranken und somit könnte gerade das ein Grund sein, der sie für die Protagonistin erst attraktiv gemacht hat.


    Anmerkung: In Kroatien gibt es beispielsweise Wege, die nicht gesichert sind, weil dort Landminen aus einem Krieg vergraben sein könnten. Macht sich Marias Gruppe auf eigene Faust auf den Weg und ignoriert eine solche Warnung? Todesursache könnte dann ein Erdrutsch sein, ein wegbrechende Klippe, irgendwas.
    Andererseits ist das Schuldgefühl wichtig, und ja, Maria kann sich auch für eine wegbrechende Klippe die Schuld geben, sofern sie diejenige ist, die den "Ausflug" vorschlug, aber ich weiß nicht recht.

    Meinst du so eine Warnung wie "Wege nicht verlassen - Gefahr von Tagesbrüchen"? Da müsste man sich für die Insel natürlich etwas Passendes aussuchen und vielleicht auch einen Hintergrund einbauen, der wiederum zusätzlich erklären könnte, warum die Insel als attraktives Ausflugsziel erschien. Konkret in Bezug auf Landminen und Krieg könnte man die Insel beispielsweise als ehemalige Militärbasis oder so schreiben, wobei dann vielleicht beim Abzug das eine oder andere vergessen wurde. Bergbau wäre auch eine Möglichkeit. Ansonsten brechen Klippen natürlich auch mal so weg.
    Nun, das mit dem Schuldgefühl ist ein bisschen so eine Sache, die ich gerade auch in einem Seminar zu Kausaltheorien lerne. Wenn man eine Kausalkette hat nach dem Schema "Ereignis A führt zu Ereignis B, B zu C, C zu D", dann ist C zwar die Ursache von D, aber man kann es ja auch so sehen, dass A oder B die Ursache von D war. A ist in dem Fall dann die Buchung der Reise und D der Tod der Freundin durch die wegbrechende Klippe. Nun kann man A als Ursache von D sehen und somit Maria die Schuld geben bzw. kann sie es selber tun. Da spricht so gesehen erst einmal nichts gegen, es kommt darauf an, unter welchem Blickwinkel man es betrachtet. Und wenn Maria nun einmal ein Charakter ist, der sich dafür die Schuld geben würde, auch wenn sie nichts dafür kann, dann ist daran nichts falsch, das kann man so machen. Natürlich kann man es auch so schreiben, dass Maria sozusagen auch an Ereignis C direkt beteiligt ist, also Ereignis C darin besteht, dass sie entscheidet, welcher Weg genommen wird und das sich als falsche Entscheidung herausstellt.


    Ist jetzt ziemlich lang geworden, aber ich will dir nicht reinreden. Nur da du geschrieben hast, du seist für Vorschläge zur Hintergrundgeschichte offen, dachte ich, ich mache mal ein paar und hoffe, ich bin da nicht über deine ursprüngliche Vorstellung davon hinausgeschossen. Vielleicht hilft es dir, vielleicht nicht.
    [/tabmenu]
    Und hör auf, dauernd etwas Neues zu posten, wo ich doch so langsam schreibe. :(

  • Externer Inhalt www.youtube.com
    Inhalte von externen Seiten werden ohne Ihre Zustimmung nicht automatisch geladen und angezeigt.
    Durch die Aktivierung der externen Inhalte erklären Sie sich damit einverstanden, dass personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu haben wir in unserer Datenschutzerklärung zur Verfügung gestellt.

    "Ich bringe euch das Licht." - Harue


    Ahoy Mateys,
    Es ist mal wieder ein wenig Zeit ins Land gegangen, und ich habe mich dazu entschieden, meine Beiträge zum letztjährigen Saisonfinale mit euch zu teilen. Das Saisonfinale ging über drei Runden, und meine Abgaben könnten unterschiedlicher kaum sein. Eine war mäßig gut, litt aber an Überrecherche meinerseits und einem daraus folgenden Klumpen an Wissen, der sich am Ende anfühlte wie nur unsauber ausgerollter Teig: Lecker, aber nicht der Gipfel der Schönheit. Die zweite war trotz genauer Planung eine Katastrophe, was die Votes angeht, und die dritte ist meiner Meinung nach der beste Text, den ich im ganzen Jahr geschrieben habe, wenn man von "Die letzte Chowanok" und "Orcan" mal absieht. Wie auch immer, zuerst folgen einige Kommentare, und dann geht es mit Runde 1 los. Ich war mehrmals in diversen Büchereien, habe mir so ziemlich die gesamte Entstehungsgeschichte und viel Folklore aus Japan angelesen, wovon ich am Ende natürlich alles mit einbringen wollte, was nicht funktioniert hat. Immerhin kam die Stimmung gut rüber. Viel Spaß!


    Nummer 15: Saisonfinale 2015, Teil 1

    Harues wundersame Reise zum Berg der Götter




    Erlebe die Schönheit der Natur und lerne dich dabei selbst kennen. So sagt man in meinem Dorf. Eigentlich dachte ich, ich hätte den Sinn dieser Weisheit verstanden, doch jetzt, da ich die Weite des Waldes unter mir sehe, weiß ich, dass ich eine Unwissende war. Pfirsichfarbenes Licht fällt auf die sich endlos aneinander reihenden Baumwipfel. Die Stunde des Drachen neigt sich dem Ende zu, die Zeit, in der die Sonne aufgeht und uns ihren goldenen Schimmer schenkt. Beinahe kommt es mir so vor, als würden mir die Bäume Geschichten aus längst vergangenen Zeiten zuflüstern. Ich schließe für einen Moment die Augen und lasse mir den frischen Wind ins Haar fahren.
    „Wunderschön“, sage ich hingerissen.
    „Das ist meine Familie“, fügt die Stimme eines Kindes hinzu.
    „Ihr habt wirklich eine stolze Familie, o großer Kiki“, erwidere ich und sehe nach rechts. Neben mir steht ein kleiner Junge, der einen sehr schlichten braunen Kimono trägt. Ich kenne den Waldgeist nicht, und er zieht es vor, seine wahre Gestalt nicht zu offenbaren, aber er folgt mir, seit ich den Bergwald betreten habe. Offenbar sieht er es als seine Aufgabe an, mich sicher zum Berggipfel zu bringen. Man muss den Waldgeistern viel Respekt entgegenbringen, sonst wirken sie einen Fluch. Zumindest heißt es in den Geschichten so.
    „Ja, die habe ich“, sagt er laut, und ich muss lächeln, weil mich der kindliche Stolz in seiner Stimme an meinen kleinen Bruder erinnert.
    „Wenn es Euch nichts ausmacht, würde ich gerne weitergehen“, schlage ich vor.
    „Schreite voran. Ich schütze dich!“
    Ich nicke und wende mich dann ab. Ein weiter Weg liegt vor mir. Wir verlassen die Klippe und werden von dichten Baumreihen empfangen, durch die sich, einer Schlange gleich, ein kleiner Pfad windet. Die Dunkelheit des Blätterdickichts umschließt uns. Dank Kikis Gesellschaft fühle ich mich auf meiner Reise sicherer, denn der Soldat, den mir unser Dorfältester zum Schutze mitgab, hatte sich verletzt und musste in einem der Dörfer bleiben, die wir passierten. Allein habe ich gegen böse Geister keine Chance. Mein letztes heiliges Seil habe ich vor einer Woche im Yamato-Königreich benutzt, um Takashi und mich vor einem Fuchsgeist zu beschützen. Es stellte sich heraus, dass der Fuchsgeist uns nur helfen wollte. Mit einem unguten Gefühl erinnere ich mich an die Worte des Dorfältesten: „Eine weise Priesterin handelt vorausschauend und niemals überhastet.“
    Beinahe kann ich seinen durchdringenden Blick auf mir spüren. Ich weiß, dass ich noch eine Menge zu lernen habe. Umso wichtiger ist es mir, dass ich die mir gestellte Aufgabe erfülle, vor allem, da die Zukunft des Dorfes von meinem Erfolg abhängt. Kikis Stimme reißt mich aus meinen Gedanken.
    „Menschenfrau, das Metall auf deinem Rücken ist gefährlich“, sagt er ernst und ohne jeden Zusammenhang. Ich sehe den kleinen Waldgeist verdutzt an. Das Schwert ist mit Stoff umwickelt und damit vor seinen Blicken verborgen. Kann er fühlen, was ich bei mir trage?
    „Nein, ist es nicht. Es ist eine Opfergabe“, sage ich beruhigend, „Und bitte sagt Harue zu mir, Ihr kennt meinen Namen doch.“
    „Es verbrennt dich“, murmelt er leise und ignoriert meinen Einwand. Mein Herz sagt mir, dass ich auf Kiki hören soll. Waldgeister sind für ihr großes Wissen bekannt. Andererseits ist er noch ein sehr junger Waldgeist. Das habe ich festgestellt, als ich kurz nach unserem Aufeinandertreffen meine sonstige Zurückhaltung aufgab und ihn nach den Geheimnissen der Geister fragte. Er wusste nicht viel zu sagen. Außerdem muss ich das Schwert der Großen Sonnengöttin opfern. Die Legende besagt, dass es im Königreich Ise einen Schrein der Großen Sonnengöttin gibt, und nur sie kann mein Dorf retten. Nur darum bin ich hier.
    „Erlaubt mir die Frage, ist das Metall der Grund, wieso Ihr mich beschützt?“, frage ich. Über uns krächzt eine Krähe im Blätterdickicht. Krähen sind die Boten der Götter. Ein gutes Omen.
    „Ja“, erwidert Kiki schlicht. Danach schweigen wir uns eine Weile an, und ich habe das Gefühl, es wäre besser, das Thema zu wechseln.
    „Wie alt seid Ihr eigentlich?“ Er antwortet nicht sofort. Stattdessen sieht er sich um, als würde er etwas suchen.
    „So alt“, sagt er dann, und zeigt auf einen Baum, der am Wegesrand steht. Die Eiche ist in etwa zweimal so hoch wie ich.
    „Ihr seid älter als ich dachte.“
    „Ja“, bestätigt er. Wir setzen unseren Weg fort. Nach kurzer Zeit aber verhält Kiki sich merkwürdig. Er wirbelt herum, die grünen Augen blicken wachsam in die Richtung, aus der wir gekommen sind. Kiki hebt einen Arm und bedeutet mir still zu sein.
    „Gefahr ist im Verzug. Wir müssen uns beeilen. Rasch!“, drängt er und schubst mich weiter voran. Meine Haut fängt dort, wo er mich berührt hat, an zu kribbeln, doch ich achte nicht weiter drauf. Wir laufen wieder ins Unterholz hinein. Da der Weg sich schon nach wenigen Metern im Wald verliert, sehe ich die Gefahr nicht. Außer den Vögeln und dem Wind höre ich auch nichts.
    „Wer kommt?“, frage ich beunruhigt. Das ungute Gefühl in meinem Magen kehrt wieder. Falls uns ein böser Geist verfolgt sieht es schlecht aus, denn meine verbliebenen Talismane sind nicht stark genug. Mit jedem Schritt schlägt das Schwert gegen meinen Rücken.
    „Ich weiß es nicht genau, aber die Grashalme berichten von Verfolgern. Kannst du nicht schneller rennen?“, ruft Kiki in vollem Lauf.
    „Nein“, keuche ich. In meinem Dorf helfe ich ab und zu bei der Ernte, aber davon abgesehen kam die körperliche Ertüchtigung zu kurz. Ich bin keine Kriegerin. Die Hetzjagd durch den Wald wird immer anstrengender. Wir rennen durch einen Tunnel aus Blättern, Zweigen und Schatten. Plötzlich schlägt mir der tief hängende Ast einer Buche ins Gesicht, den ich nicht kommen sah. Ich kann nicht rechtzeitig ausweichen. Mit einem Aufschrei stürze ich zu Boden und spüre, wie ein schwerer Gegenstand gegen meinen Hinterkopf prallt. Das Schwert hat sich von seinem Band gelöst.
    „Rasch!“, ruft Kiki mit angespannter Miene, also beiße ich die Zähne zusammen, packe das Schwert und kämpfe mich auf die Beine.
    „Könnt Ihr die Verfolger nicht verfluchen... a... auf dass sie uns in Frieden ziehen lassen?“, frage ich, nun völlig außer Atem. Schmerz frisst sich durch meine Brust, doch ich renne weiter, um nicht zurück zu bleiben. Meine Kehle trocknet aus.
    „Dafür brauche ich Zeit“, entgegnet Kiki.
    „Verwandelt mich in einen Vogel, damit ich wegfliegen kann“, schlage ich vor. Ich bin fast am Ende meiner Kräfte.
    „Das kann ich noch nicht.“
    „Wie... wie... wollt Ihr mich denn dann beschützen?“
    „Indem wir weglaufen.“
    Der Waldgeist erinnert mich wirklich immer mehr an meinen Bruder. Dennoch zügele ich meine Zunge, denn ich will nicht selbst diejenige sein, die er verflucht. Unser Weg führt uns tief in den Wald hinein. Ein paar Vögel fliegen erschrocken davon, als wir sie passieren, und ich glaube, in der Ferne einen Hirsch zu sehen, der uns beobachtet. Kurz darauf laufe ich an einem Baum vorbei und verliere ihn aus den Augen.
    „Sie sind schneller als wir“, vermeldet Kiki irgendwann. Um Kraft zu sparen gehen wir wieder im normalen Tempo. Weiter konnte ich beim besten Willen nicht rennen.
    „Wie haben die uns gefunden? Der Wald ist so dicht, dass man keine zwanzig Schritte weit sehen kann“, keuche ich erschöpft.
    „Ich weiß es nicht“, erwidert der kleine Geist. Wir verlassen den Schatten des Waldes und gelangen auf eine Lichtung, auf der ein riesiger Baum steht. Er überragt die umstehenden Bäume, seine Blätter funkeln smaragdgrün. Es ist beinahe totenstill hier.
    „Ist das der Herr des Waldes?“, frage ich Kiki. Mein Begleiter ist stehen geblieben und hat eine Hand an den Stamm des Baums gelegt. Er schüttelt den Kopf.
    „Nein, der ist noch größer. Von hier an bist du allein. Meine Aufgabe ist erfüllt. Ich muss gehen.“
    Ich glaube, mich verhört zu haben.
    „Ihr wolltet mich doch beschützen“, sage ich mit schwacher Stimme.
    „Das Licht wird dir den Weg weisen, Menschenfrau.“ Mit diesen Worten verwandelt Kiki sich in einen Wolf und rennt davon. Am Rande der Lichtung dreht er sich noch einmal kurz um und nickt mir zu. Dann ist er verschwunden. Einfach so.
    Kraftlos sinke ich zu Boden. Habe ich ohne Kiki überhaupt noch eine Chance? Ein kleiner Teil meines Geistes hofft, dass Kiki sich einfach geirrt hat. Vielleicht kommt ja auch niemand.
    Bevor ich allerdings irgendetwas tun kann, bricht ein kleiner Trupp Reiter aus dem Unterholz hervor. Ich weiß nicht, mit was für einer Gefahr ich gerechnet hatte, aber mit gut ausgerüsteten Kriegern sicher nicht. Sie alle tragen bronzene Brustpanzer, auf ihren Köpfen sitzen runde Helme aus Eisen. Der Anführer besitzt einen wallenden roten Umhang, der seine Position kennzeichnet. Jeder der Männer ist mit Schwert und Bogen bewaffnet. Ich richte mich hastig wieder auf und versuche, mich würdevoll gerade zu halten. Zeit für ein wenig Diplomatie.
    „Seid gegrüßt, o Samurai. Mein Name ist Harue und ich komme von weit her. Was ist Euer Anliegen?“
    „Übergib uns das Schwert und zieh von dannen“, befiehlt der Anführer ohne jeden Funken Anstand. Eine lange Narbe durchzieht sein Gesicht. Mir wird kalt, aber ich lasse mir nichts anmerken.
    „Ich weiß nicht, wovon Ihr redet“, erwidere ich fest.
    „Ich rede von dem Schwert auf deinem Rücken. Gib es heraus, Mädchen, sonst muss ich Gewalt anwenden.“
    „Das hier ist heiliger Boden, o Samurai. Wer hier Hand an mich legt, erfährt die Strafe der Götter!“ Es ist ein gewagter Bluff, aber ich sehe nun Unsicherheit in den Augen meiner Verfolger aufblitzen.
    „Hört nicht auf ihre Lügen“, knurrt der Anführer und zieht sein Schwert. Die Pferde schnauben beunruhigt. Unauffällig schiebe ich mich ein Stückchen weiter nach rechts. Vielleicht kann ich am Baum vorbei und dann ins Unterholz rennen. Ich muss mir irgendwie Zeit kaufen.
    „Mit Verlaub, wir greifen sie nicht wirklich an, oder? Sie ist eine Priesterin“, sagt einer der Männer. Der Anführer wendet verärgert den Kopf. Das ist meine Chance.
    Ich hechte nach links. Im selben Moment höre ich ein scharfes Sirren, dann bohrt sich ein heißer Schmerz in meine Wade. Mein Bein trägt mich nicht mehr, ich stürze erneut und stoße mir den Kopf an einem Baumstamm.
    „Wenn sie so selbstsicher wäre, wäre sie nicht gerannt“, brummt eine tiefe Stimme.
    „Verflucht seid Ihr!“ Ich wälze mich herum und packe das Schwert. Der Pfeil ist halb durch meinen Unterschenkel gefahren. Ein dünnes, rotes Rinnsal läuft meine Haut herab.
    Mein Dorf. Ich darf mein Dorf nicht im Stich lassen.
    Die Männer steigen von ihren Pferden ab und kommen näher. Als ich hoch sehe, stockt mir der Atem. Ich habe den großen Baum nur von einer Seite gesehen, jetzt aber sehe ich ihn von vorn. Der Stamm ist in der Mitte geteilt und bildet ein Oval, durch welches das Sonnenlicht direkt auf mich hinab scheint.
    Ein Sitz der Götter.
    Das Licht wird dir den Weg weisen.
    Erlebe die Schönheit der Natur und lerne dich dabei selbst kennen.
    Erkenntnis flammt in mir auf.
    Mit zitternden Gliedern erhebe ich mich und strecke das Schwert mit beiden Armen hoch in die Luft. Der Stoff fällt herab und offenbart das glänzende Metall. Es ist ein zweischneidiges Schwert, uralt, und in den Griff sind kleine Edelsteine eingearbeitet. Mein Bein schmerzt ungeheuerlich, und es kostet mich viel Mühe, aufrecht stehen zu bleiben.
    „O große Amaterasu, nehmt dieses Schwert als mein Opfer an und erlöst mein Dorf von dem Sturm, den Euer Bruder entfesselt hat!“, rufe ich laut. Danach gehe ich in die Knie und lege das Schwert vor mir auf den Boden, schließe die Augen und klatsche zwei Mal in die Hände. Der scharfe Klang durchschneidet die Stille der Lichtung. Ich bin zwar nicht am Berggipfel angekommen, aber die Götter kommen durch Bäume wie diese auf unsere Erde, das muss genügen.
    „Glaubst du wirklich, dass du jetzt von deiner Göttin gerettet wirst?“, fragt der Samurai mich. Ich öffne die Augen und sehe ihn direkt vor mir stehen. Ich sehe ihm trotzig in die Augen. Dann packe ich den Pfeil, der in meinem Bein steckt, und ziehe ihn mit einem Ruck heraus. Kein Ton kommt über meine Lippen. Innerlich krümme ich mich.
    „F-fasst das Schwert nicht an. Es ist der Göttin geweiht“, rufe ich.
    „Deine Mühen waren umsonst, Priesterin.“ Seine Hand packt den edelsteinbesetzten Griff.
    Licht.
    Die Welt versinkt in einem alles überstrahlenden, überirdischen Licht, das aus dem Göttersitz kommt. Ich kneife geblendet die Augen zusammen und wende mich mit einem Aufschrei ab. Vor mir rufen die Samurai durcheinander. Pferde wiehern in Panik. Das Geräusch von sich entfernenden Hufen erfüllt die Lichtung. Dann wird es wieder still.
    Als das Licht wieder verschwindet, wage ich einen Blick in die Richtung, aus der es kam. Was ich sehe, raubt mir den Atem. Eine Frau, schöner als alle, die ich je gesehen habe, steht vor den Samurai und lächelt sie an. In ihrer Hand befindet sich das Schwert, das ich eben noch in der Hand hielt. Sie trägt einen blutroten Kimono mit goldenen Stickereien darauf. Ihr schwarzes Haar reicht ihr bis zur Ferse. Lange Perlenketten sind darin eingeflochten.
    „Dieses Schwert gehört mir, ihr Samurai“, sagt sie. Ihre Stimme klingt wie eine leise Melodie. Die Samurai aber sind verschwunden, stattdessen sehe ich fünf weiße Tauben, die sich in schnellem Flug entfernen. Die Göttin richtet den Blick ihrer golden strahlenden Augen auf mich. Ich verbeuge mich so tief, dass meine Stirn den Boden berührt. Das Gras kitzelt meine Nase. Mein Herz pocht so schnell wie nie zuvor.
    „Erhebe dich, junge Priesterin“, gebietet Amaterasu mir. Ich gehorche sofort und versuche, den Schmerz zu ignorieren.
    „Erhabene Amaterasu-ohomikami, Herrscherin des Hohen Himmels, bitte hört mich an: Mein Dorf wird von einem fürchterlichen Sturm heimgesucht, und ich fürchte, dass Susa-no-wo-no-mikoto, der Windgott, dahinter steckt“, sage ich und achte darauf, so respektvoll wie möglich zu sprechen.
    „Ich habe dich gehört. Und ich muss dir danken. Das Schwert von Kusanagi war viel zu lange schon verschollen. Wie bist du in seinen Besitz gelangt?“
    „Mein Dorfältester hat es mir gegeben, auf dass ich es Euch opfere und mein Dorf rette.“
    „Ich verstehe.“ Als sie sich mir nähert, fühle ich einen Kraftstrom durch mich hindurch fließen. Ich kann meinen Blick nicht von ihrem Gesicht abwenden. Diese reine Haut, diese ebenmäßigen Züge, alles an ihr ist von einer Schönheit, wie ich sie noch nie zuvor sah. Sie wartet, bis ich mit einiger Mühe aufgestanden bin, und wendet sich zum Gehen.
    „Nun denn, es ist an der Zeit, meinen Bruder zur Vernunft zu bringen.“
    Bevor ich ihr folge, knie ich vor dem großen Baum nieder und lege die Hand an die Rinde.
    „Danke, Kiki“, flüstere ich leise, und ich bin sicher, dass er mich hört. Der Wind wird stärker und zerzaust mein Haar, als ich mich umdrehe und Amaterasu nachlaufe.
    Haltet durch. Ich bringe euch das Licht.


  • Ahoy Mateys,
    Was nun folgt, ist vermutlich das einzige Gedicht, bei dem ich wirklich einen Plan hatte, den ich durchziehen wollte. Es handelt sich um die Abgabe der zweiten Runde vom FF-Finale 2015, und wir sollten ein Gedicht zum Thema "Prophezeiungen" schreiben. Meine Einstellung zu Gedichten hat sich im Zuge dessen nicht wirklich geändert, denn man erreicht offenbar nicht einmal etwas damit, wenn man ein paar versteckte Symbole einbaut, aber was solls, das Saisonfinale wäre nicht komplett, wenn diese Runde nicht wäre. Viel, äh, Spaß (?) beim Lesen.


    Nummer 16: Saisonfinale 2015, Teil 2


    X, Y und Z



  • [Blockierte Grafik: http://i1244.photobucket.com/albums/gg580/LarsEpic/dom_v_aussen-rieger565_zpsndlulac3.jpg]
    "Man braucht nur die richtigen Farben und eine sichere Pinselführung, um aus einer leeren Leinwand ein Kunstwerk zu machen." - Katha


    Ahoy, Mateys,
    Hier ist, wie versprochen, auch mein Beitrag zur dritten Runde des Saisonfinales 2015, der Beitrag, der mir damals den Sieg gebracht hat. Die Protagonistin, Katharina, ist wohl von allen meinen Protagonisten diejenige, die mir am nächsten kommt, was ihren Traum angeht. Lustiger Fakt: Bei ihr sind es 234 Seiten, bei mir waren es gegen Ende 237. Mal schauen, wie viele davon der Lektor am Ende noch herausnimmt.
    Es ist ein wenig mehr Zeit ins Land gegangen als ich dachte, vor allem, da mir einige sehr seltsame Dinge in diesem Jahr passiert sind, und ich lange nicht imstande war, aktiver ins Board zu schauen. Die Aufgabenstellung in der dritten Runde war, eine kurze Geschichte zum Thema Traum und Realität zu schreiben, und seht selbst, was dabei heraus gekommen ist. Viel Spaß.


    Nummer 17: Saisonfinale 2015, Teil 3


    Hör nicht auf zu träumen



  • Externer Inhalt www.youtube.com
    Inhalte von externen Seiten werden ohne Ihre Zustimmung nicht automatisch geladen und angezeigt.
    Durch die Aktivierung der externen Inhalte erklären Sie sich damit einverstanden, dass personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu haben wir in unserer Datenschutzerklärung zur Verfügung gestellt.

    "Ohne Innovation gibt es kein Morgen." - Leben


    Arrr, zwei Beiträge an einem Tag, da ist doch arrrg was faul.
    Oder auch nicht, denn diese Story wird keine Kommentare in dem Sinne haben, da sie die erste ist, die nicht aus einem Wettbewerb kommt. Vielmehr sitzt sie momentan im Gastbeitragsthema des Saisonfinals 2016, und lustigerweise greift sie direkt eine Idee aus dem letzten Jahr auf, in der ebenfalls von einer Leinwand des Lebens die Rede ist. Überdies ist dies die dritte aus einer Reihe von Stories, die im selben Universum spielen. Mal schauen, wer die Verbindung sieht.
    Viel Spaß.


    Nummer 18: Eine kurze Geschichte zum Thema Farbe schreiben


    Lebensmalerei


  • Externer Inhalt www.youtube.com
    Inhalte von externen Seiten werden ohne Ihre Zustimmung nicht automatisch geladen und angezeigt.
    Durch die Aktivierung der externen Inhalte erklären Sie sich damit einverstanden, dass personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu haben wir in unserer Datenschutzerklärung zur Verfügung gestellt.

    "Take nothing but photos. Leave nothing but footprints." - Frances Novak


    Ahoy, Mateys. Hier folgt nun mein Einfall zur dritten Runde des Saisonfinals 2016, wieder nur ein Gastbeitrag, und gleichzeitig die Erweiterung zur Kurzgeschichte "Orcan" aus der BBO 2015. Frances Novak ist vielleicht einigen sogar noch ein Begriff, und hier sieht man, was passiert, wenn man es mit seiner Neugier zu weit treibt.
    Anmerkung: Entschuldigt mein Latein. Ich hatte die Sprache nie.


    Nummer 19: Eine kurze Erzählung zum Thema "Unendliche Weiten" schreiben


    Die Hexe der Luft


    Was fühlst du, wenn du vor einem alten, verlassenen Haus stehst, und dich fragst, wie viele Generationen darin wohl einst lebten? Neugier? Vorfreude? Etwas Anderes?
    Ich fühle jedes Mal aufs Neue Ehrfurcht. Die Zeit ist ein unbezwingbarer Gegner, der nur darauf wartet, auch den wertvollsten Schatz zu vernichten, wenn man ihr nur lange genug freie Hand gewährt. Genauso war es auch bei dem alten Theater in den Außenbezirken von Seattle, das ich am Abend des siebten Mai 2011 besucht hatte. Vermutlich fragst du dich jetzt, was zum Teufel ich in alten, verlassenen Häusern verloren habe, und darauf kann ich nur eines antworten: Abenteuer. Es war mein Hobby. Ich untersuchte Ruinen. Für dich klingt das bestimmt furchtbar bescheuert, aber für mich war es aufregend. Spannend. Ich musste wissen, wie es da drinnen war, musste die Luft riechen und sehen, was die Menschen hier einst gesehen hatten.
    Als ich also vor dieser Fassade stand, konnte ich den Glamour der Vergangenheit spüren. Das Gebäude war aus hellem Stein gebaut, auf dem sich an vielen Stellen Moos ausgebreitet hatte. Insgesamt bestand die Fassade aus drei Teilen: Dem Erdgeschoss mitsamt Eingang und Flügeltüren, darüber kam das Mittelgeschoss, durch das sich ein riesiges, vertikales Fenster zog, und ganz oben wurde das Ganze von symmetrischen Stufen und einem Rundbogen abgeschlossen, der zu beiden Seiten mit kleinen Säulen verziert war.
    Der wahre Schatz aber fand sich im Inneren. Oder eher: Die wahre Gefahr. Denn als ich dort stand, die Hand erhoben, bereit, die verrostete Klinke herunter zu drücken, da wusste ich noch nicht, was mich erwartete.


    Ich fiel. Ich stürzte. Ich starb. Das Sterben folgt immer auf solch einen Fall, vor allem, wenn man sich in vielen hundert Metern Höhe befand und keinen Fallschirm dabei hatte. Himmel und Erde tauschten immer wieder die Plätze, als ich mich mitten in der Luft überschlug und umher gewirbelt wurde wie ein Blatt im Wind. Das Einzige, worauf ich mich konzentrieren konnte, war das dicke Buch in meinen Armen, das ich wie einen Säugling an mich drückte.
    Es war ein Sturz ohne Ende. Immer wieder kam der Erdboden näher, aber dann ergriff mich die nächste Sturmbö und katapultierte mich wieder in luftigere Höhen. Der Wind spielte förmlich mit mir. So musste es sich anfühlen, wenn man verflucht war, dachte ich, aber ich schrie schon seit einiger Zeit nicht mehr.
    Eigentlich hätte ich schon vor einer halben Stunde in der High School sein sollen, um einen Vortrag in English AP zu halten. Leider hatte ich mein kleines Problem noch nicht beheben können. Die Ironie an meiner Situation war, dass mir seit meiner Kindheit immer wieder gesagt wurde, ich trüge den Kopf in den Wolken, auch wenn ich physisch mit beiden Füßen auf dem Boden stand – und nun war dieses Sprichwort Wirklichkeit geworden.
    Denk logisch, Frances, sagte ich mir. Du hast so ziemlich alle Romane über Magie gelesen, die es gibt, und das, was mit dir hier gerade passierte, war bestimmt Magie, also streng deinen Kopf an!
    Leichter gesagt als getan. Ich hatte panische Angst. Gleichzeitig aber wusste ich, dass ich etwas Unbeschreibliches erlebte. Ich flog. Ich hatte die Grenzen der Welt überwunden und war in eine Sphäre vorgedrungen, die sonst nur Vögeln und Flugzeugen vorbehalten war. Ich flog durch den unendlichen Raum über der Erde.
    Denk LOGISCH!
    Wann hatte mein Albtraum begonnen? Im alten Theater, ja, genauer: Nachdem ich im Buch gelesen hatte. Wenn ich also davon ausging, dass es so etwas wie Magie wirklich gab, dann müsste auch meine Lösung im Buch zu finden sein.
    Unter Aufbietung allen Mutes nahm ich eine Hand vom Buch weg, schlug den Deckel auf, und begann, durch die Seiten zu blättern.
    Dabei war der Tag anfangs so ruhig verlaufen.


    Urban Explorer, oder kurz: Urbexer, sind Verrückte wie ich, die sich die Zeit damit vertreiben, in alten Ruinen herum zu streunen, und dabei Dinge zu entdecken, die verloren waren. Verlassene Häuser kamen für mich Büchern gleich, die unbedingt gelesen werden wollten. Lost Places – vergessene Orte – waren mein Revier, und es gab nur eine Regel. Take nothing but photos, leave nothing but footprints. So hielt ich es auch in dem verlassenen Theater.
    Oder besser: So hätte ich es halten sollen.
    Ganz unten im Keller, wo schon seit Jahrzehnten niemand mehr gewesen war, fand ich eine eingestürzte Wand. Normalerweise hätte ich nur einmal kurz in das klaffende Loch gespäht, hätte ein Foto gemacht, und wäre wieder abgehauen, aber dann sah ich die Kiste. Sie war halb versteckt von einer zweiten eingestürzten Wand innerhalb des ersten Loches, und es kam mir so vor, als würde eine Art grünes Licht aus ihrem Inneren kommen.
    Natürlich war ich sofort neugierig. Ich war schon immer sehr neugierig gewesen, aber das Gefühl, das sich nun in meinem Bauch ausbreitete, war anders. Es war ein Drang, diese Kiste zu öffnen. Ich musste sehen, was sich darin befand, und nichts auf der Welt würde mich davon abhalten können, auch nicht, nein, schon gar nicht die leise Stimme in meinem Hinterkopf, die mir sagte, dass dies eine ganz fürchterlich dumme Idee wäre.
    Mit einem Kopfschütteln kniete ich vor der Kiste nieder und legte meine Hand auf das Holz. Es war morsch, brüchig, vermutlich war diese Kiste hier seit Jahrhunderten versteckt gewesen. Und was auch immer sie beinhaltete, es musste verdammt wertvoll sein, immerhin hatte sich irgendjemand einst mächtig Mühe gemacht, sie zu verstecken.
    Es brauchte nur wenig Anstrengung, die Kiste zu öffnen. Im Inneren lag ein Buch, das sogar noch älter aussah als die Kiste. Dennoch war es keineswegs zerstört oder brüchig, vielmehr strahlte es eine ungewöhnliche Kraft aus. Der Buchdeckel glomm förmlich. Nun wusste ich, woher das grüne Leuchten eben gekommen war. Ich streckte fasziniert die Hand nach dem Buchdeckel aus.
    Take nothing but pictures, leave nothing but footprints.
    Hätte ich mich bloß an meine einzige Regel gehalten.
    In dem Moment, in dem mein rechter Zeigefinger das Buch berührte, veränderte sich mein Leben. Es war wie ein Stromstoß, der durch meinen Finger in meinen Körper fuhr. Ein statisches Knistern erfüllte meine Ohren, und ich spürte ein Brennen, das in meinem Kopf anfing und sich bis zu meinen Füßen fortpflanzte.
    Kurz darauf verschwand das Brennen, und auch der Stromstoß versiegte. Lediglich das Gefühl von Leichtigkeit blieb mir. Ich sah kurz über meine Schulter, dann öffnete ich das Buch. Als ich so durch die Seiten blätterte, wurde mir klar, dass das Buch aus Europa kommen musste. Jede einzelne Seite war gleich aufgebaut: Ganz oben war ein kleines Bild, und der Rest war in lateinischen Buchstaben beschrieben. Auf der dritten Seite war ganz oben die primitive Zeichnung eines Menschen zu sehen, unter der eine seltsame, geschwungene Linie gezeichnet war. Die lateinische Inschrift war sehr kurz.
    Fac auraque mobilius ita ut volucres caeli volant“, las ich leise vor. Dabei fiel mein Blick auf meine Hand, welche die Seite festhielt. Ich stockte. Mit wachsendem Schrecken sah ich, dass sich auf meiner Haut etwas veränderte. Nein, nicht auf der Haut – unter der Haut. Es waren meine Adern. Sie waren auf einmal deutlich zu sehen, jede einzelne Verästelung, jede Vene, sie alle leuchteten. Hell und weiß leuchteten sie unter meiner Haut hervor, die feineren Adern glommen dabei eher nur, während die Hauptadern und Venen heller strahlten als eine Schreibtischlampe.
    Meine Hand griff hastig zu meinem Ausschnitt. Das Leuchten pflanzte sich fort, erreichte meine Brust, verschwand im BH, und eine Sekunde später hatte es meine Unterschenkel erreicht. Innerhalb weniger Augenblicke hatten sich meine Adern in ein Netzwerk aus übernatürlichem Licht verwandelt.
    Doch damit fing mein Terror erst an.
    In meiner Brust schien eine Blase aus Luft zu entstehen, sie schwoll an, immer weiter und weiter, und es fühlte sich an, als würde sie die Grenzen meines Körpers sprengen. Die Luft um mich herum geriet in Wallung.
    „Was ist hier los“, entfuhr es mir, und ich stand auf. Die Neugier wurde langsam von Angst abgelöst. Das Gefühl in meinem Bauch konnte nicht normal sein. Irgendetwas stimmte hier nicht. Anstatt einfach normal loszulaufen, fühlte sich jeder einzelne Schritt an wie ein Sprung, und ich hüpfte herum wie eine Astronautin auf dem Mond. Eine Windbö, die durch die verlassenen Korridore zischte, ergriff mich und trug mich mit sich.
    Ich wollte nur noch aus diesem verrückten Gebäude heraus. Es musste das Haus sein, das diese seltsamen Dinge mit mir tat. Eine andere Quelle für das, was hier passierte, fiel mir zuerst nicht ein. Als ich dann durch die Vordertür heraustrat, wurde mir bewusst, dass es an mir lag, und nicht an dem Haus. Ich hatte tatsächlich kein Eigengewicht mehr, und jede kleinste Bö war wie ein Sturm. Der Wind trug mich fort, hoch in die Luft, und ich konnte nur hilflos zusehen, wie die Bäume und das alte Theater immer kleiner wurden. Ich schrie mein Entsetzen und meine Angst heraus.
    So war ich dort gelandet, wo ich nun war – ein Spielball der Elemente.


    Glaub mir, es ist alles andere als leicht, in 500 Metern Höhe ein Buch durchzulesen, vor allem, wenn besagtes Buch ungefähr so groß war wie mein Brustkorb, und ich außerdem immer noch umherwirbelte wie ein Blatt im Wind. Es dauerte etwa fünfzehn Minuten, bis ich einen Spruch fand, der vielleicht mein Gewicht wiederherstellte, aber in dieser Höhe wollte ich das nicht. Vielmehr brauchte ich etwas, um mich langsam zu Boden gleiten zu lassen.
    Oder?
    Sei's drum. Ich wollte nur noch hier weg. Runter auf die Erde.
    Abstulit illud negare eaque corporis pondus“, las ich. Ich wusste, dass negare aufheben bedeutete. Hoffentlich wurde das Richtige aufgehoben und nicht in etwa meine Fähigkeit, zu denken, oder so ähnlich.
    Der Buchdeckel leuchtete kurz auf, zumindest kam es mir so vor, und gleichzeitig erstrahlten meine Adern, bevor sie wieder erloschen. Einen Augenblick später fühlte ich mich so schwer wie noch nie, schwer wie ein Fels, und der Erdboden raste mir entgegen.
    Ich unterdrückte den Schrei. Immer näher rückte der tödliche Aufprall, und dann, kurz bevor ich als rote Soße endete, las ich den ersten Zauber noch einmal vor, und mein Körper wurde erneut federleicht.
    Ich schwebte nur wenige Fuß über einer weiten Graslandschaft. Bevor mich der Wind hinfort reißen konnte, negierte ich den Zauber schon wieder. Meine Stiefel landeten endlich wieder auf festem Boden. Ich sprang einige Male auf und ab, um mich zu vergewissern, dass alles wieder beim Alten war, und nickte dann zufrieden.
    „Bon. Das hat funktioniert“, seufzte ich, und dann merkte ich, dass ich zitterte. Ich ließ mich auf den Boden sinken. Mein Atem ging schnell und flach, doch ich zwang mich, mich zusammen zu reißen. Wo auch immer dieses Buch herkam, es konnte seiner Besitzerin – mir – unbeschreibliche Macht verleihen. Heute hatte ich Glück gehabt, dass das stufenweise Herabstürzen funktionierte, aber wer wusste schon, wie es in der Zukunft aussehen würde?
    Eins stand fest: Ich brauchte Hilfe. Und ich kannte genau eine Person, die sich mit lebensverändernden Ereignissen hervorragend auskannte.
    Ich zückte mein Handy und wählte die Nummer meiner besten Freundin. Während ich mir so das Handy ans Ohr hielt, sah ich mich um, und suchte nach bekannten Landmarken. Ich fand keine. Um das Problem würde ich mich später kümmern.
    „Frannie! Was läuft?“, fragte eine aufgekratzte Mädchenstimme vom anderen Ende. Mein Atem hatte sich endlich wieder beruhigt.
    Bonjour. Lex, ich habe da ein Problem. Eins mit Magie.“
    Während Lex anfing, wie ein Wasserfall drauflos zu sprudeln, starrte ich in den Himmel.
    Und irgendwie war ich nun froh, meine Regel gebrochen zu haben.

  • Hallo Pirat,


    ich war ja nach der neuesten Geschichte versucht, nochmal in Orcan reinzulesen, weil ich Frances Namen nicht so gut in Erinnerung hatte (und mal ehrlich, du erwähnst den genau einmal im gesamten Text, während sie sonst mit Orcan angesprochen wird). Aber von der Namenssache abgesehen schaffst du es wirklich makellos, das Gefühl und die Atmosphäre der älteren Geschichte beizubehalten. Nämlich etwas Unvorhergesehenes entdecken, Abenteuer zu erleben und generell dieses Gefühl von Freiheit zu verspüren. Und da gefällt es mir, dass du trotz des alten verlassenen Hauses gar nicht den Fokus darauf hattest, sondern viel mehr nur auf einem einzelnen Objekt, das dann für Chaos sorgt; vor allem, weil ersteres schon sehr oft irgendwie verarbeitet wurde. Dabei erwähnst du im Verlauf der Geschichte auch alles Wichtige, was wissenswert ist und nötig ist, damit am Ende keine Fragen offen bleiben. Gut, was es mit dem Buch auf sich hat, damit könnte man wahrscheinlich ein ganzes Buch füllen, aber das stand ja gar nicht im Vordergrund.
    Die einzige nicht nachvollziehbare Sache war aber, dass Frances das Buch so gut halten konnte, obwohl sie so sehr in der Luft herumgeschleudert wurde. Ich weiß ja nicht, wie sie sonst vorgeht, aber besonders im ersten Moment neigt man wohl eher dazu, das einfach fallen zu lassen und irgendwie in der Luft zu rudern, um wieder zum Stillstand zu kommen. Eine Erklärung dafür gab es nicht und die hätte sich hier schon angeboten.


    In diesem Sinn: Wir lesen uns!

  • Hallo shiprekt!


    Beim Durchsehen durch den Bereich bin ich über dein Topic gestolpert und hab beim Durchblättern erfahren, dass du der Autor einiger Werke bist, die ich mal in Wettis kommentiert hab. :D Na, da musste ich doch gleich mal schauen, was es hier sonst noch gibt, aber die Entscheidung, was ich nun kommentiere war echt nicht leicht. Letztendlich hab ich mich für heute mal dafür entschieden:


    Lebensmalerei


    Wow.
    Das muss ich jetzt erstmal sacken lassen, weil das war SO GUT! Mann, ich fühl mich direkt schlecht, dass ich hier nicht schon früher mal kommentiert habe, srsly.
    Aber zurück zu deiner Kurzgeschichte.
    Als ich den Titel gelesen hatte, hatte ich wirklich nicht so eine deutliche Interpretation des Wortes „Lebensmalerei“ erwartet, eher etwas im übertragenen Sinne. Aber hier ging es wirklich um Gemälde, die Leben darstellen, was ich umso faszinierender fand.
    Hier hat im Grunde alles gestimmt, das Setting, die Charaktere, alles. Weiß gar nicht, was ich hier dazu sagen soll, ich bin immer noch so … begeistert! Aber, von Anfang an.
    Ich mochte den Einstieg hier sehr, weil er nicht so visuell war, sondern sich mehr aufs Hören bezog. Fällt in vielen Geschichten unter den Tisch, weil alle so auf die Augen konzentriert sind, dabei haben wir ja auch noch andere Sinne und die lassen sich genauso gut in Geschichten einbringen. Deshalb mochte ich es, weil ich so ebenfalls das Gefühl hatte, die ganzen Geräusche wahrzunehmen. Die kleine Begebenheit mit dem Pärchen war hier auch passend, um die Hauptperson ein wenig einzuführen, die hier nicht darüber urteilte. Die Frage, ob es Spaß gemacht hat, war natürlich schon sehr direkt in dieser Situation, aber jetzt wo ich so drüber nachdenke … hat das Leben gefragt, weil es von dem Spaß weiß oder weil es nichts davon weiß? Komisch, dass mir gerade so etwas in den Kopf kommt, aber das spricht nur für deine Charakterisierung hier.
    Man weiß eigentlich erst durch die Aufzählung, dass sich hier Leben — in Form einer jungen Frau — und Tod — in Form eines Mannes — gegenüberstehen. Was ich interessant fand, weil du hier ja die Ich-Perspektive gewählt hast und das deshalb sehr natürlich wirkte. Die Szene, wo der Tod die Hand des Lebens hält und diese daraufhin in rasender Geschwindigkeit verwest, hat mir wahnsinnig gut gefallen. Man hätte ja annehmen können, dass dem Leben so eine Berührung wenig ausmacht, aber gerade das machte die beiden ein Stückweit auch „menschlich“. Soweit man das hier sagen kann. Sie wirkten jedenfalls nicht zu übermächtig, obwohl sie natürlich sehr viel Macht besitzen, keine Frage.
    Ich war auch sehr angetan von der Darstellung, wie das Leben ihre Bilder malt, was sich hinter den Pinselstrichen verbirgt und überhaupt der ganze Prozess. Wenn ich mir das so vorstelle … frag ich mich glatt, wie mein Gemälde wohl aussehen würde. Ein spannendes Gedankenspiel!
    Mir gefällt auch, wie du den Umgang zwischen den Beiden darstellst. Dass der Tod manchmal dem Leben ein Bild beinahe aus der Hand reißt und sie deshalb so froh ist, dass er sie dieses Mal hat so lang malen lassen. Bei der Beschreibung fielen mir dann auch gleich Kinder ein, die viel zu früh sterben und gleich im Satz danach kommst du selbst darauf zu sprechen. Irgendwie kommt da einem der Gedanke, dass Leben eigentlich schwächer ist, als der Tod und trotzdem müssen sie doch ebenbürtig sein. Immerhin scheint Tod niemals alle Gemälde auf einmal zerstören zu können, also ist das Leben doch nicht im Nachteil. Wirklich faszinierend.
    Schön waren hier die Randomfacts zum Eiffelturm — das wusste ich alles gar nicht, muss aber sagen, dass ich allgemein nicht besonders viel über Paris oder Frankreich weiß. Reizt mich irgendwie nicht so. Entweder bist du also sehr gebildet was das betrifft oder du hast gut recherchiert. In jedem Fall: gut gemacht! Und ja: Kunst ist wirklich immer im Wandel und wenn man sich mit den einzelnen Epochen beschäftigt ist es wirklich ärgerlich zu sehen, wie neue Strömungen von den alten Meistern niedergemacht wurden, nur weil sie nicht in ihr Bild passten. Oder weil sie schlichtweg den Stil selbst nicht beherrschten. Bin ja auch jemand, der findet, dass Kunst Kunst ist — vielleicht versteht man’s nur nicht immer und alles gefallen, muss einem ja auch nicht. Aber darüber urteilen, ob eine Kunst gut oder schlecht ist … das maße ich mir nicht an. Ich kann nur sagen, ob sie mir gefällt oder nicht, das ist alles.
    Im Grunde hat man nach dem Gespräch der Beiden eigentlich nicht mehr viel erwartet, aber du kommst noch mit einer Szene, die nicht nur Leben überrascht, sondern auch den Leser: der Tod verliert die Kontrolle. Und da ringen also Tod und Leben um ein Gemälde — der Tourist war hier schön eingestreut um noch einmal zu zeigen, dass die beiden nicht in einem Vakuum sind: um sie herum ist das ganz normale Leben, ganz normale Menschen, die die beiden natürlich nicht in ihrer wahren Gestalt erkennen sollen und dürfen. Ich war im Übrigen sehr froh, dass Tod schließlich seine Fassung zurückfand, auch wenn ich nachvollziehen kann, dass eine Unsterbliche — und mehrere — ihm natürlich etwas gegen den Strich gehen. Wenn das so weiter geht, hat er ja irgendwann nichts mehr zu tun, könnte man die Sache weiterspinnen.
    Es ist schon seltsam, wenn man die beiden sich dann in einer Umarmung vorstellt. Ja, Leben und Tod könnten Feinde sein, müssen aber nicht und ich find den Gedankengang sehr interessant, dass sie es nicht sind. Dass sie ihre Rollen annehmen und eben das Beste daraus machen: das Leben mit ihrem Malen, der Tod mit dem Nehmen der Gemälde.
    Der letzte Abschnitt war hier noch mal besonders schön. Er ist so … wie sagt man: lebensbejaend. Denn es stimmt ja wirklich, wenn einem die Welt zu viel ist, dann hat man keine große Lust mehr aufs Leben, aber es kommt ja immer etwas Neues und es kann ja auch etwas Gutes sein. Deshalb ist es besser, wenn man das Leben anlächelt und das Beste daraus macht — man sagt ja nicht umsonst: es kann nur besser werden. (:


    Ach, das war jetzt wirklich schön, ich seh schon, ich muss hier öfter reinschauen — muss ich mir gleich mal vermerken!
    Obwohl der Tod in deiner Kurzgeschichte vorkam, war sie wesentlich weniger schwermütig, als das was ich vorher gelesen hatte — klassische deutsche Kurzgeschichten, Nachkriegsliteratur, schwere Kost, aber im Grunde führten die Nachkriegsjahre zum Aufschwung dieser Textgattung. Die Short Story ist ja eigentlich eine amerikanische Erfindung, sozusagen. Da war deine Kurzgeschichte eine richtige Wohltat!


    Bin gespannt, was man sonst noch hier lesen wird, bleib jedenfalls dabei! :D
    (Ein wenig Schleichwerbung an der Stelle: mein Getipsel findet man in GiF und ich freu mich immer über Feedback.)

  • [Blockierte Grafik: http://i1305.photobucket.com/albums/s548/oplystar/LAnght_zpskwf8n4vq.jpg]
    "Gib mir einfach noch ein bisschen mehr Saft." - Alexis Vipond


    Ahoy, Mateys.
    Das hier war mein Beitrag zu einem Literaturwettbewerb von Cluewriting, bei dem es darum ging, eine Geschichte zum Schlagwort "schmerzlos" zu schreiben. Erneut ist eine Protagonistin aus dem "Lebensmalerei"-Universum mit dabei. Womöglich habe ich das ganze Ding zu abstrakt angefasst, wer weiß, aber es hat Spaß gemacht. Und hier ist das Ergebnis. Aber zuerst kommen die Zitate.



    Nummer 20: Eine Kurzgeschichte zum Schlagwort "schmerzlos" schreiben


    Painless Steel


    Wenn du die Augen schließt und versuchst, an deine allererste Erinnerung zu denken, was siehst du da? Den kleinen Hund, den deine Eltern damals gekauft haben? Siehst du deinen ersten Schwimmversuch? Siehst du deine Schwester?
    Was ich sehe, willst du wissen? Das ist leicht. In meiner ersten Erinnerung sitze ich in einer Holzkiste. Vielleicht ist sie auch aus Pappe, das habe ich vergessen. Jedenfalls sitze ich da in dieser Kiste, und es regnet, und es ist kalt. Der Regen fließt in Strömen durch die verdreckte Gasse. Ich krieche aus der Kiste heraus, und meine Hand wird nass. Natürlich liegt da eine Pfütze, es kann ja immerhin nicht mehr schlimmer werden. Ich sehe herunter. Ein kleines Mädchen starrt mir durch das düstere Wasser entgegen. Es trägt einen weißen Kittel mit roten Flecken darauf. Ich weiß, dass es Blut ist, aber es kann nicht meins sein, denn ich habe nirgendwo Verletzungen. Außer mir ist niemand in der Gasse. Ich bin allein.
    Diese Nacht, die Nacht-in-der-Kiste, wie ich sie nenne, war meine erste Nacht in New York, und meine erste Nacht als Straßenkind. Ich war sieben Jahre alt (Angabe ohne Gewähr, mein genaues Alter kenne ich – wer hätte es gedacht – selbstverständlich nicht), und alle Erinnerungen an mein Leben vor dieser Nacht waren ausgelöscht.


    Erde an Miss Vipond. Bitte melden.
    Ich öffnete die Augen und vertrieb die düsteren Bilder aus meinem Kopf. In der Realität sah es genauso dunkel aus wie in meiner Fantasie von eben, und das war keine Überraschung, immerhin ging es auf Mitternacht zu. Ich saß allein auf einer Autobahnbrücke irgendwo auf dem San Diego Freeway. Die Stimme, die mich angesprochen hatte, war die einer Frau, melodisch und doch irgendwie teilnahmslos, und sie kam aus meinem Kopf.
    „Ich hör dich, CYPRESS. Was gibt’s?“, fragte ich kurz angebunden. Ich war nicht in der richtigen Stimmung für Smalltalk.
    Nichts. Ich wollte nur sichergehen, dass Sie noch da sind. Ihre Hirnaktivität war beunruhigend gering, wobei ich zuerst unsicher war, ob das bei Ihnen nicht vielleicht doch der Normalzustand ist.“
    „Charmant wie immer, was? Tu mir einen Gefallen und halt die Klappe.“ Ich sah auf den Verkehr herab, der unter mir hinweg raste. Trotz der späten Stunde waren immer noch ein paar Leute unterwegs. Auch das war nicht weiter verwunderlich, denn immerhin war die Stadt der Engel nur etwa eine Stunde von hier entfernt.
    Ich bedaure es sehr, aber ich muss Sie dringendst darum bitten, sich nach Hause zu begeben und Ihren Schlaf nachzuholen. Sie sind nun seit etwa 60 Stunden nonstop auf den Beinen, und ich fürchte, Ihre Konzentration macht das nicht mehr lange mit.
    Ich stöhnte leise. CYPRESS war nicht etwa meine schizophrene zweite Persönlichkeit, falls du das vielleicht gedacht hast, vielmehr nannte sie sich selbst die modernste und am besten entwickelte künstliche Intelligenz der Welt. Am liebsten mit ein paar netten Superlativen dazu. Bescheidenheit war keine ihrer Stärken.
    Jedenfalls war sie eigentlich ein Computerchip, und dieser Computerchip saß hinten in meinem Gehirn. Aus diesem Grund musste ich mir alles anhören, was sie zu sagen hatte, und ich konnte nichts dagegen tun. Manchmal konnte das ganz schön anstrengend sein. Auf der anderen Seite hatten wir uns schon gut zusammen gerauft. Wenn ich daran denke, wie es kurz nach unserem Kennenlernen war … aber genug davon.
    „Mir geht’s gut, okay? Gib mir einfach noch ein bisschen mehr Saft. Es ist gerade so bequem hier“, grummelte ich.
    Wie Sie wollen. Aber beschweren Sie sich hinterher nicht bei mir.“ Ich fühlte einen warmen Schauer durch Brust und Bauch fließen, und meine einsetzende Müdigkeit schwand. CYPRESS´ Koffeinspritzen waren auf Dauer nicht gesund, aber für den Nachhauseweg brauchte ich noch ein bisschen Kraft.
    Ich lehnte mich zurück, stützte die Hände auf das Geländer, auf dem ich saß, und legte den Kopf in den Nacken. Es war warm, sogar so warm, dass ich auf meine Lederjacke verzichtet hatte. Darum trug ich nur eine weite Jogginghose und mein T-Shirt. Man merkte immer häufiger, dass der Sommer vor der Tür stand. Über mir funkelten die Sterne achtlos vor sich hin.
    Im Nachhinein konnte ich nicht mehr sagen, wie lange ich dort saß, aber länger als eine Stunde konnte es nicht gewesen sein. Viele Menschen mögen keine Einsamkeit. Ich verstehe nicht, wieso. Man kann wunderbar nachdenken, wenn man allein ist, und niemand stört einen dabei. Darum saß ich gern allein auf Brücken, auf Bäumen, auf Hausdächern. Alles war mir recht, solange keine Menschen in der Nähe waren.
    Miss Vipond.“
    „Was ist denn jetzt schon wieder?“
    Schauen Sie ein Stück nach links. Genau so.“ Diese so ruhig ausgesprochene Warnung riss mich endgültig aus meiner Kontemplation. Mein Blick suchte den Freeway ab. Ich folgte CYPRESS´ Rat und erblickte einen Lastwagen, dessen Fahrstil nicht wirklich normal aussah. Vielmehr schlingerte er von links nach rechts und wieder zurück. Nun hörte ich auch die ersten Hupen von den Autofahrern hinter ihm.
    Zu spät.
    Der Lastwagenfahrer verlor die Kontrolle, das Schlingern verstärkte sich, die Reifen auf der rechten Seite verloren nacheinander den Kontakt zur Straße, der Anhänger neigte sich gefährlich weit nach links, Bremsen kreischten durch die Nacht, und dann krachten fünfzehn Tonnen Stahl mitsamt Inhalt seitlich auf die Fahrbahn.
    Das war mein Stichwort. Ich stieß mich nach vorn ab, nahm die Arme hoch, um mich auszubalancieren, und sprang von der Brücke. Der Fall war vergleichsweise kurz, trotzdem spürte ich Schmetterlinge in meinem Bauch. Das musste das Adrenalin sein. Noch im Fall scannte ich die Straße hinter dem Lastwagen.
    Etwa ein halbes Dutzend Autos waren versetzt auf derselben Spur unterwegs. Auf der anderen Seite der Leitplanke war es noch leerer. Anscheinend wollten heute nicht viele Menschen aus Los Angeles raus. Allen voran fuhr ein dunkelblauer Kombi auf den umgestürzten Truck zu und konnte vermutlich nicht mehr rechtzeitig bremsen.
    Ein paar Sekunden lang hing ich in der schwarzen Unendlichkeit des Nachthimmels, dann kam die Straße, ich konzentrierte mich, breitete die Arme aus, kam zuerst mit dem linken Fuß auf, leitete die Energie um, und rollte mich über die rechte Schulter ab. Dann hechtete ich weiter. Das Führerhaus des Lastwagens hatte nun ebenfalls den Kampf gegen die Schwerkraft verloren und schlitterte gemeinsam mit seiner Fracht über die Straße.
    Der Anhänger hatte mehr Masse, dementsprechend riss seine aufgestaute Bewegungsenergie ihn schneller nach vorn als das Cockpit. Während ich noch den Anhänger umkreiste, zirkelte er um sein Führerhaus herum, überholte es, und zog dabei eine Spur aus leuchtenden Funken über den Asphalt.
    Das Heck schlitterte auf mich zu, und dann hatte ich mein Zeitfenster. Blitzartig wechselte ich die Richtung.
    Leite 110 % Energie in Ihre Beine“, sagte CYPRESS, die meinen Plan durchschaut hatte, und ein blauer Schleier senkte sich vor meine Augen. Ich wusste, dass sie nun in einem düsteren Blau glühten. Das passierte immer, wenn der Chip meine Limits überzog und mir übermenschliche Kraft schenkte.
    Ich holte mit rechts aus, verlagerte mein Gewicht, wirbelte mitten im Lauf herum, und verpasste dem Heck einen Roundhouse-Kick. Es krachte laut. Die Funken flogen nur so in den Nachthimmel. Ich spürte nichts. Zwar gingen mir am laufenden Band Turnschuhe kaputt, aber meine Beine hielten so etwas locker aus.
    Dieser Kick war verdammt gut berechnet. Ohne mich selbst loben zu wollen, natürlich, aber mal ernsthaft, wer hätte den Truck sonst auf den Meter genau über den Straßenrand befördern können? Tony Stark jedenfalls nicht, der hätte ihn eher in die Luft gejagt.
    Die beiden ersten Autos, die bereits heftig gebremst hatten, blieben fast auf der nun freien Fahrbahn stehen, dann realisierten die Fahrer und Fahrerinnen, dass das Hindernis fort war, und beschleunigten wieder. Mein kleiner Stunt hatte funktioniert.
    Auto Nummer drei aber war nach rechts ausgewichen, genau dahin, wo der Truck nun lag. Kennst du diese Situationen in der Fußgängerzone, wenn man genau auf einen Menschen zuläuft und beide in dieselbe Richtung laufen, um einander nicht auf die Füße zu treten? Ungefähr so fühlte ich mich gerade.
    „Oh, verdammt.“ So schnell ich konnte, rannte ich herüber, doch ich war nicht schnell genug. Es knallte erneut, diesmal aber mischte sich das Kreischen verbiegenden Metalls mit in das Geräusch. Der Wagen hauchte mit völlig verbeulter Motorhaube sein Leben aus.
    Ich brauchte nur wenige Momente, um die paar Meter zu überbrücken. Als ich mich dann zur zerbrochenen Scheibe herunterbeugte, sah ich, dass es eine junge Frau war, die dort leblos am Steuer saß. Ihr langes, dunkles Haar fiel ihr wie ein Vorhang ins Gesicht. Sie war blass, hübsch, doch als ich durch das Fenster langte, um ihren Puls zu fühlen, spürte ich nichts.
    Ich schluckte. Mit der rechten Hand zerriss ich zuerst den Airbag und dann den Sicherheitsgurt, als wären sie aus Papier. Danach wollte ich die Tür öffnen, doch sie klemmte, also überlegte ich es mir anders und brach sie aus ihrer Verankerung. Anschließend hob ich die junge Frau aus ihrem Wagen.
    Lebenszeichen gering. Ich empfehle Herzmassage und Mund-zu-Mund-Beatmung“, sagte CYPRESS.
    „Was du nicht sagst“, entgegnete ich, legte die Frau dann vorsichtig ins Gras, welches neben dem Freeway wuchs, und beugte mich über sie. Da ich nicht wusste, wie man eine Herzmassage durchführte, musste CYPRESS mir helfen, aber die Mund-zu-Mund-Beatmung schaffte ich allein. Als ich fertig war, fühlte ich mich wie eine Ärztin. Aber nur fast. Ich richtete mich wieder auf und wischte mir über den Mund. Die Augen der Frau öffneten sich. Zuerst blickten sie glasig an mir vorbei, doch dann fokussierten sie sich auf mich.
    „W-wer bist du“, flüsterte die Frau kraftlos, und ich lächelte sie an. Meine Sicht wurde wieder normal, und jetzt konnte ich sehen, dass sie grüne Augen hatte. Moosgrün traf auf Eisblau.
    „Lex“, sagte ich nur.
    „Dein Arm.“ Sie hatte einen Blick auf meinen rechten Arm geworfen, der im Licht der Straßenlaternen dunkelgrau schimmerte. Bevor ich aber antworten konnte, schlief die Frau wieder ein.
    Richtig. Das hatte ich dir ja noch gar nicht erzählt.
    Ich will dich nicht mit der ganzen Story langweilen, nur so viel: Als kleines Kind hatte ich mal einen Unfall gehabt, und dabei sind meine Beine und mein rechter Arm zerstört worden. Zerstört meine ich so wie ich es sage. Nicht nur gebrochen, nicht angeknackst, keine halben Sachen, sondern zerstört.
    Naja, danach hatte ich kybernetische Prothesen verpasst bekommen. Wobei das Wort Prothese natürlich im weitesten Sinne gestreckt werden kann. Tony Stark betrachtet seinen Anzug ja auch als eine Art Prothese. Fakt ist: Meine Beine und mein rechter Arm bestehen aus Karbostahl, sehen mit Ausnahme von ihrer Farbe beinahe aus wie echte Gliedmaßen, und außerdem sind sie die Quelle meiner Kraft.
    Ich beschloss, dass die Frau es hier nicht warm genug hatte, und hievte sie auf meinen Rücken. Ihr Atem ging wieder einigermaßen ruhig, also war die unmittelbare Gefahr wohl vorbei. Außerdem hatte ich keine äußeren Verletzungen gefunden.
    Mit der Frau auf meinem Rücken umrundete ich den Lastwagen und sah ins Cockpit hinein. Der Trucker blickte mich durch die Frontscheibe hindurch an und schrie irgendetwas, was ich nicht verstand. Als ich den Holm des Daches packte und es mit einem kräftigen Ruck abriss, schlug mir eine alkoholgetränkte Duftwolke entgegen. Ich verzog das Gesicht. Irgendwie gönnte ich ihm die Platzwunde an seiner Stirn.
    „Dem Herrn sei Dank! Hilf mir, Mädchen!“, rief er mit angsterfüllter Stimme.
    „Hast du gesoffen?“, fragte ich angewidert. Ich hatte keinerlei Respekt für Menschen, die ihre Umwelt so sorglos in Gefahr brachten.
    „Nur ein bisschen! Und jetzt hilf mir!“ Ich fuhr mir mit einer Hand durch den Bob und seufzte. Bitte und Danke waren deutlich unterbewertet.
    Sind Sie sicher, dass Sie ihn mitnehmen wollen?“, fragte CYPRESS mit der für sie typischen Anteilnahme.
    „Muss ich ja wohl. Ich rette alle, auch wenn sie bescheuert sind. Die Standpauke überlasse ich den Cops.“
    Beeilen Sie sich. Die Ladung dieses Trucks läuft aus.“
    Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Aufgrund der zylindrischen Form des Anhängers ging ich davon aus, dass der Inhalt flüssig war – und damit potenziell brennbar. Ich wollte nicht in der Nähe sein, wenn hier alles in die Luft flog.
    „Hey, kannst du laufen?“, fragte ich den Trucker. Er sah kurz an sich herab, dann nickte er, und ich half ihm dabei, das Cockpit zu verlassen. Der Kerl war recht groß, weswegen das gar nicht so leicht war. Sein Geruch hätte jede Destillerie neidisch gemacht. Ich wollte gar nicht wissen, wie viel er intus hatte. Zum Glück war er zugedröhnt genug, um sich nicht über meine enorme Kraft zu wundern.
    „Okay. Lass uns da rüber gehen, ich muss mal kurz einen Krankenwagen rufen“, sagte ich zu dem Mann. Seine Gesichtszüge entgleisten, als er die Frau auf meinem Rücken sah.
    „Ist sie … tot?“, wollte der Trucker wissen, als wir ein paar Meter zwischen uns und seinen Truck gebracht hatten.
    „Nein.“
    „Oh. Gut. Gut.“ Er machte eine kurze Pause, dann wandte er sich ab und wollte in den Wald hinein rennen, der direkt an den Freeway anschloss. Meine Hand schoss vor wie eine Schlange, die auf ihre Beute gewartet hatte, und schloss sich um seinen Oberarm. Ich drückte fest zu. Der Kerl keuchte erschrocken auf.
    „Hör mal gut zu, Kumpel …“, begann ich, doch dann explodierte der Truck. Eine Faust aus Hitze kam von hinten und warf mich beinahe um. Der Trucker fluchte drauflos, und ich machte einen Ausfallschritt nach vorn.
    Was für ein absurdes Bild wir abgeben mussten. Eine sechzehnjährige Halbasiatin mit Sportklamotten, eine bewusstlose Frau in Rock und Blazer, und dazu ein glatzköpfiger Riese in Jeans und Lederjacke, die alle drei von einer Explosion gebeutelt wurden und sich damit abmühten, nicht zu stürzen.
    Wie machen die Kerle in den Filmen das nur immer, dass sie mit einer hübschen Explosion im Rücken noch so cool aussehen? Absolut unmöglich.
    Jedenfalls machte die Explosion uns Beine. Ich brachte meine beiden Schäfchen in Sicherheit, vergewisserte mich, dass es der Frau gut ging, legte sie im Gras ab, und rief dann die Cops an.
    „Bitte, lass mich laufen! Ich bin ruiniert, wenn die mich schon wieder erwischen!“, rief der Trucker. Ich sah auf ihn herunter. Aus Sicherheitsgründen hatte ich mich auf seinen Bauch gesetzt und sorgte so dafür, dass er nicht türmte. In zwanzig Schritten Entfernung brannte der Truck vor sich hin und schenkte uns flackerndes Licht.
    „Vergiss es“, sagte ich nur ruhig, während das Freizeichen erklang.
    So war mein Job, und so war mein Leben. Es kam oft vor, dass ich eingreifen musste, obwohl ich nur irgendwo entspannen wollte. Die meisten Menschen sind zerbrechlich, fragil, und sie erleiden oft Schmerzen. Meine Aufgabe ist es, ihnen so viel Leid zu ersparen wie möglich. Ich fange Kugeln, springe von Brücken, werfe mich zwischen die Menschen und die Schmerzen – weil ich sie nicht spüren kann.
    Alexis Vipond – 50 % menschlich, 50 % painless steel. Das kleine Mädchen in der Kiste wäre bestimmt stolz auf mich.

  • Arrr Captain,


    dieses Lebensmalerei-Universum scheint ja richtig groß zu sein und irgendwie amüsiert mich diese "Nacht-in-der-Kiste". Das hat zum einen was Kindliches an sich und zum einen sagt es einfach alles aus, was man wissen muss, um die Intention des Namens zu verstehen.


    Gut. Nun finde ich die Konzeption der Geschichte einfach wirklich toll. Man bekommt zuerst einmal eine allgemeine Einleitung zur Vergangenheit der Erzählerin (was später noch vertieft wird) und wird schließlich an einen Punkt im Jetzt gesetzt, wo die erste Unterhaltung stattfindet. Dieses Mal mit einer AI. Ich find's originell und die Sprüche erinnern mich teilweise schon an das Spiel Blood Dragon, wo die AI ähnlich programmiert war. Jedenfalls ist dir hier der Übergang zum eigentlichen Geschehen wunderbar gelungen man erfährt, während Lex dem Lastwagen ausweicht, noch so einige weitere Dinge über sie. Beispielsweise, dass sie übermenschliche Kräfte besitzt und darüber hinaus lässt der Bewegungsablauf auch vermuten, dass sie Parcours beherrscht. Und ich weiß ja, wie sehr du Parcours magst, also muss diese Dynamik ja schon praktisch dabei sein.
    Zum Schluss folgt auch noch eine kurze Erklärung, warum sie das eigentlich tut. Eigentlich hätte ich mich schon damit abgefunden, dass das alles einfach zufällig passiert ist, aber schließlich gibt es Lex auch einen Grund, dass sie hier unterwegs war. Und es macht auch Interesse auf mehr. Dass dir die Charaktere und ihre Verhaltensweisen gelungen sind, zeichnet dich auch einfach aus.


    In diesem Sinn: Schöne Geschichte und gute Unterhaltung. Wir lesen uns!

  • Hallo shiprekt! (:


    Da bin ich wieder und schließe mich Rusalka beim Kommentieren an (wer weiß, vielleicht treten wir in Zukunft häufiger im Doppelpack auf?), weil ich musste doch unbedingt dieses Update lesen! An der Stelle auch gleich mal Respekt, dass du an einem Literaturwettbewerb teilgenommen hast. So was ist bestimmt eine aufregende Erfahrung.


    Painless Steel
    Schmerzloser Stahl also … interessanter Titel und ich bin schon sehr gespannt, worauf er sich bezieht.


    Mhm … eigentlich würd ich hier gern was sehr eindrucksvolles sagen, um meine Erfahrung beim Lesen möglichst treffend wiederzugeben, aber alles was mir einfällt ist ein Zitat aus „To the Moon“: „Was zur Gurke?!“ Und das durchaus positiv gemeint, denn ich bin total geflasht von dieser Geschichte. Das hatte ja so viel Gutes! (Und das ist keine Übertreibung, ich mein so was ernst.)
    Ich bin total fasziniert davon, wie du verschiedene bekannte Elemente genommen hast und sie so gut vermischt hast, dass man einfach nicht aufhören konnte zu lesen.
    Du hast mich ja schon mit deiner Einleitung gekriegt, weil ich wirklich gleich dran gedacht hab, was denn meine früheste Erinnerung ist. Das Gespräch mit dem Leser hier zu suchen war eine tolle Möglichkeit auch deine Protagonistin vorzustellen und im selben Moment von ihrer Vergangenheit zu erzählen. Man weiß also schon, dass sie einiges durchgemacht hat, denn es wird nirgendwo schön sein als Straßenkind aufzuwachsen — nur vielleicht an manchen Orten weniger schlimm als an anderen. Natürlich frag ich mich: hatte sie Erinnerungen vor dieser Nacht? Und wenn ja, warum waren sie weg? Und wer ist dieses andere Mädchen? Und woher kommen die Blutflecken auf ihrer Kleidung? So. Many. Questions!
    Wie Lex, so wird auch der Leser von CYPRESS aus den Gedanken gerissen — bei mir eher von den auftürmenden Fragen abgelenkt, denn jetzt wollte ich natürlich wissen, wer CYPRESS ist. Für eine AI hat sie eine erstaunlich spitze Zunge, schöne Charakterisierung — hat mir durchweg gefallen. Lex ist aber auch nicht auf den Mund gefallen und reagiert entsprechend, das macht die Unterhaltung hier sehr lebendig. Man hätte also weiterhin mit Lex einfach nur dasitzen können, aber es musste ja etwas passieren. Irgendwie hab ich mir das nämlich gedacht und du gibst dich nicht mit einem kleinen Ereignis zufrieden, nein, es muss gleich einen Riesenknall geben. Joa, warum auch nicht, immerhin heißt der Text ja „Painless Steel“ und der muss ja doch irgendwie vorkommen. Als du anfingst Lex Bewegungen zu beschreiben kam ich nicht umhin an Mirror’s Edge zu denken. Von der Tatsache, dass ich eh schon einen totalen Ghost in the Shell Vibe von der ganzen Sache gekriegt hab.
    Mir gefällt die Kombination aus „Beschreibung was gerade passiert“ und „Kommentare von Lex“. Das ist eine interessante Sache in dieser Ich-Perspektive, die du so gut hinbekommen hast, dass die Action nicht drunter leidet, sondern es eher so kleine Verschnaufpausen gibt, bevor du wieder in Fahrt kommst. Dass du später noch genauer drauf eingehst, dass Lex nicht komplett „menschlich“ ist — jedenfalls von ihrer Anatomie her — fand ich gut. Allerdings: kann es sein, dass du da Karbonstahl meintest? (Da steht nämlich nur Karbostahl, wie ich grad sehe.) In der Fachsprache heißen moderne, unlegierte Stahlsorten wohl „advanced high strength steel“ und das spannt doch wieder einen schönen Bogen zu deinem Titel.
    Am Ende sagst du, dass Lex’ Aufgabe es ist, den Menschen so viel Leid zu ersparen wie möglich. Jetzt stellt sich natürlich die Frage: macht sie das ganz allein? Oder ist sie da in einer Gruppe? Und natürlich auch die Frage, wie sie überhaupt dazu kam, ich meine, wenn sie früher ein Straßenkind war, hat sie dann erst danach ihre Prothesen bekommen? Oder schon davor? Wie kam sie von der Straße runter? Oh mann, so viele Fragen! Jedenfalls ist meine Begeisterung hier kaum zu verbergen und ich hoffe, das viele Lob geht dir nicht auf die Nerven.
    Kurz gesagt, ist das hier eine sehr spannende Geschichte, von der ich kaum weiß, wie ich sie noch weiter belobigen soll. Deshalb hör ich mal auf und freu mich schon auf den nächsten Text. (:

  • Externer Inhalt www.youtube.com
    Inhalte von externen Seiten werden ohne Ihre Zustimmung nicht automatisch geladen und angezeigt.
    Durch die Aktivierung der externen Inhalte erklären Sie sich damit einverstanden, dass personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu haben wir in unserer Datenschutzerklärung zur Verfügung gestellt.

    Quelle
    "Wir müssen singen!" - Waireo


    Ahoy, Mateys. Ich habe nach langer Zeit mal wieder einen Wettbewerb in unserer Contestsparte mitgemacht, weil ich mir zwei Tage vor Deadline noch Moana gegeben habe, und das Resultat war ein zweiter Platz und eine Menge Diskussionsstoff. Ich bin nun einer, der gerne zu viel denkt, sodass die Erklärungen für Aktion und Reaktion meist sehr ausführlich sein müssen, wenn ich verstanden werden will. Darum folgen hier zunächst die Kommentare auf Painless Steel (die mich sehr gefreut haben, danke schon einmal an Rusalka und Cyndaquil), und danach die Zitate zum Wettbewerbsvote.




    Nummer 21: Kurze Erzählung zum Thema "Märchen" schreiben


    Waireo Plätscherstimme


    Vor dreitausendfünfhundert Jahren erreichten die ersten Menschen die Insel, die heute als Akala bekannt ist, gelegen im Nordosten der Alola-Region. Heutzutage ist Akala bekannt für den berühmten Dome Royale, die Ohana-Farm, das luxuriöse Hanohano-Resort – und die Gufa, die dort jeden Morgen am Strand liegen.
    Doch so interessant all diese Sehenswürdigkeiten sein mögen, noch viel spannender ist die Geschichte der Insel, auf der sie stehen. Denn als die Erde noch jung war, zauberhaft und geheimnisvoll, da wandelte ein Mädchen durch die verschlungenen Wälder und über die uralten Hügel, ein …
    „Hey! Halt den Rand, ich bin ja schon fertig! Hast du eine Ahnung, wie schwer es ist, Beeren zu sammeln, wenn unter jedem zweiten Haufen ein Krabbox sitzt?!“
    Ein wenig Geduld, bitte. Ich war gerade dabei, dich vorzustellen.
    „Dazu brauch ich doch keine blöde Erzählerin!“
    Aber ...
    Kein Aber. Wenn Waireo spricht, bist du still.
    So. Das Mädchen, welches das Plappermaul da oben erwähnt hat, bin ich. Mein Name ist Waireo, und ich war das erste Mädchen, das je über Akalas Berge gewandert ist. Wir – mein Stamm – wir waren Seefahrer. Navigation und Schiffbau lagen uns im Blut, und das war der Grund dafür, wieso wir Akala entdeckten.
    Über mein Leben vor meinem vierzehnten Sommer gibt es nicht besonders viel zu erzählen. Ich weiß noch, dass wir auf einer zu kleinen Insel lebten, und ich erinnere mich daran, dass einer unserer Fischer, der sich viel weiter aufs Meer hinausgewagt hatte als je zuvor, eine neue Insel gefunden hatte.
    Wir reisten auf unseren Booten über das Meer und fanden eine neue Heimat. Die Morgenröte lag über dem Ozean, als die Insel nach langer Reise in Sicht kam, und darum nannten wir sie Akala. Es gab Beeren, Früchte, Kokosnüsse – alles war im Überfluss vorhanden, und wir mussten die Schätze der Insel mit niemandem teilen außer uns selbst.
    Mutter hatte mir alles beigebracht, was ich wissen musste, um die mir zugewiesene Rolle in unserem Stamm zu spielen. Kochen, Feldarbeit, Nahrungssuche in den Bergen, diese Dinge eben, aber in der neuen Heimat war ich vor allem eines: eine Entdeckerin. Sogar die Tochter des Häuptlings war mit uns auf den Feldern, kletterte hinauf zu den Kokosnüssen und streifte mit uns durch den Dschungel. Falls du es genau wissen willst: Ihr Name war Lele, und sie war meine beste Freundin.
    Lele und ich sahen es als unsere Aufgabe an, neue Mittel und Wege zu finden, wie wir unserem aufblühenden Stamm helfen konnten. Darum war es wohl kein Wunder, dass wir beschlossen, das bekannte Gebiet zu verlassen und uns im Inselinneren umzusehen. Wir erkundeten die Seen im Westen, den Feuer spuckenden Berg im Osten, die Strände und Klippen im Norden. Keiner kannte unser Zuhause besser als wir.
    Doch dann, zehn-und-einen Mond nach unserer Ankunft, als wir den Berg im Süden erkundeten, verschwand Lele. Drei Krieger machten sich auf den Weg, um sie zu finden, doch auch sie kehrten nicht wieder.
    Der Berg wurde tapu. Tapu sind verbotene Orte, Orte, die niemand betreten darf. Mein Stamm trauerte zu Ehren der ersten Toten seit der Besiedlung Akalas, aber ich weigerte mich, meine Freundin einfach so aufzugeben.
    Ich packte nur das Wichtigste ein. Ein kleines Messer, eine Hand voll Beeren, ein selbst geflochtenes Seil, und auch einige Heilkräuter landeten in meinem Lederbeutel. Niemand bemerkte mich, als ich bei Anbruch des neuen Tages davonschlich.
    Du musst selbst einmal durch die tiefgrünen Wälder von Akala laufen, um zu begreifen, wie wunderschön meine neue Heimat war. In den schwingenden Ästen und in den dunklen Schatten wohnten die magischen Wesen, mit denen wir im Einklang lebten, und sie beobachteten jeden meiner Schritte. Ich wanderte durch die Wälder, durchschwamm die Seen, und überwand den Pass, der zum Berg führte. Ich suchte Tag und Nacht. Ich rief nach den Verlorenen, und ich hoffte, vielleicht morgen oder übermorgen oder am Tag danach etwas zu finden.
    Doch stattdessen fand irgendetwas mich. Ich legte mich eines Abends zwischen zwei großen Palmen am Fuße des Berges zur Ruhe, und als ich aufwachte, meinte ich, ein Mädchen lachen zu hören.
    „Wer ist da?“ Ich wollte auf die Füße springen, aber ich konnte nicht. Ich war zu einem Wesen des Wassers geworden, ausgestattet mit einer Flosse, wo einst meine Beine gewesen waren, und auch meine Hände hatten sich in Flossen verwandelt. Mein vorher braunes Haar schimmerte nun in der Farbe der Wellen vor mir.
    Außer mir war niemand dort, und ich spürte, dass ich das Wasser brauchte, obwohl ich Luft atmen konnte. Also robbte ich über den Strand und tauchte ein in die blauen Fluten, wo mich eine völlig neue Welt erwartete. Alles war so weit, so kühl und erfrischend. Jeden Tag schwamm ich ein Stück weiter hinaus in den Ozean, und ich fragte andere magische Wesen, deren Sprache ich nun verstehen konnte, ob sie meine Freundin gesehen hätten.
    „Lele? Nie gehört!“, sagte ein vorbei schwimmendes Finneon, das ich in einem Korallenriff fand. Wenig später unterhielt ich mich mit zwei Corasonn, die mir aber auch nicht helfen konnten. So ging es mehrere Tage lang. Ich sprach mit jedem einzelnen Meeresbewohner, der mir über den Weg schwamm, doch niemand wusste etwas.
    Und dann begegnete mir dieser impertinente Lusardin-Schwarm.
    „Was? Du bist eigentlich ein Mensch, der verzaubert wurde? Willst du uns veralbern?“, rief der Schwarm im Chor.
    „Nein! Ich heiße Waireo, und ich gehöre zum Stamm der Seefahrer!“
    „Klar, Schätzchen!“ Eines der Lusardin löste sich ein Stückchen weit aus der Formation und machte eine Fassrolle. „Und ich bin eigentlich ein Garados! Fürchte mich!“
    „Das ist nicht lustig!“
    „Doch, ziemlich!“ Das Lusardin lachte, und sein Schwarm fiel mit ein. Glaub mir, es ist kein schönes Gefühl, gleichzeitig von hundert kleinen Versagern ausgelacht zu werden, die ich einzeln zum Frühstück verspeist hätte.
    Mir platzte der Kragen.
    „Ach, lasst mich doch in Ruhe!“, schrie ich, und der Schwarm wurde von einer Druckwelle aus Wasser getroffen, die aus meinem Maul gekommen war.
    „Achtung! Sie ist auf Kriegsfuß!“
    „Rette mich, wer kann!“
    „Schwimmt um euer Leben!“
    Die Lusardin stoben auseinander und ließen mich allein über dem Korallenriff zurück. Ich starrte ihnen perplex hinterher, konnte nicht begreifen, was für eine Macht ich da entfesselt hatte. Ich erkannte meine Stimme kaum wieder. Sie war so viel klarer und stärker als vorher, und sie klang wie plätscherndes Wasser.
    Von diesem Moment an verschloss ich meinen Mund. Ich fürchtete meine Stimme, weil ich die magischen Wesen nicht verletzen wollte, und schwamm weiter. Tag um Tag, Nacht um Nacht, immerzu Ausschau haltend nach Lele. Je länger ich stumm blieb, umso größer wurde der Drang, meine Stimme erneut erklingen zu lassen. Ich wollte nach Hause zurück, doch ich wusste, dass mich niemand erkennen würde, und so blieb ich dem Meer verhaftet.
    Und irgendwann hörte ich den Gesang.
    Es war, als würde das Wasser selbst eine Melodie singen, kraftvoll, wunderbar und furchteinflößend zugleich. Die Musik zog mich wie magisch an. Ich folgte ihr und fand Wesen, die genauso aussahen wie ich. Es waren Dutzende. Sie schwammen mit eleganten Bewegungen durch den Ozean und sangen dabei ihr Lied, und ich war überwältigt von der Schönheit und Grazie dieser Geschöpfe.
    Die Angst vor meiner Stimme verschwand auf der Stelle. Wie konnte etwas so Schönes nur Furcht in mir auslösen? Beinahe schämte ich mich vor mir selbst, und ich war nur noch vom Wunsch beseelt, auch so zu singen wie die Primarene.
    Sie lehrten mich den Gesang ihres Volkes. Sie waren abhängig von ihrer Stimme. Sie jagten mit ihr. Sie erzählten Geschichten mit ihr. Sie konnten sogar das Wasser mit ihren Stimmen kontrollieren. Ich lernte so viel über ihre Kultur, indem ich einfach ihren Gesängen lauschte, und nach kurzer Zeit wusste ich sogar mehr über die Primarene als über mein eigenes Volk.
    Wir ließen immer einen Teil unserer Identität zurück, wenn wir von einer Insel fort segelten. Das wurde mir erst wirklich klar, als ich den Albtraum hatte. In diesem Traum wurde Akala von einer gewaltigen Feuersbrunst zerstört. Ich sah meinen Stamm, der wieder über das Meer fuhr, ohne Wissen davon, wer sie wirklich waren.
    „Wir müssen singen“, schrie ich, und dann erwachte ich am Strand. Ich spürte die feinen Sandkörner unter mir, ich spürte meine Füße, die zurückgekehrt waren, und meine Hände. Und ich sah das magische Wesen, das vor mir schwebte. Seine Haut war dunkel wie meine. Es saß in einer gewaltigen Kokosnuss, die in der Farbe der Morgenröte leuchtete.
    „Sei gegrüßt, Waireo“, summte das Wesen.
    „Lele? Bist du das?“, flüsterte ich, und Lele nickte.
    „Hat dir deine Zeit im Meer gefallen?“
    „Du warst das? Du hast mich verwandelt?“
    Sie nickte erneut. „Ich musste deinen Horizont erweitern. Eine andere Idee hatte ich nicht. Tut mir leid.“
    „Aber meine Stimme“, sagte ich.
    „Es ist die Stimme des Meeres. Behalte sie. Als Geschenk von mir.“
    Ich starrte Lele einige Momente lang an. Schließlich beugte ich vor ihr den Kopf.
    „Hab Dank. Ich werde sie nach bestem Gewissen einsetzen.“
    Dieses Versprechen hielt ich. Ich benutzte die Plätscherstimme, um meinem Stamm das Lied des Meeres beizubringen. Von jenem Tag an wurden unsere Traditionen, unser Wissen, und unsere Kultur mit Gesang überliefert – bis heute.


    Der erste Titel, der mir in den Sinn kam, war tatsächlich Findet Waireo.
    Arrr.

  • Ahoy Captain!


    Dann meldet sich die aquaphobische Feuermaus wieder hier und schreibt — wie sich das so gehört — einen weiteren Kommentar. Dieses Mal zu deinem Märchen, was mich schon im Wettbewerb so beeindruckt hat.


    Waireo Plätscherstimme



    Auch beim zweiten Mal lesen ist dieses Märchen toll. Andererseits erkenne ich hier mehr so eine Art „Hero’s Journey“ im Schnelldurchlauf erzählt. Vielleicht sind nicht alle Etappen wirklich aufgezeigt, aber ich finde, gerade Waireos Verwandlung zu Primarene war der wichtige Bruch in dieser Geschichte — und auch so das märchenhafte. Aber von Anfang an!
    Ich mag die Einleitung, auch wenn die Erzählerin bald ihres Amtes enthoben wird. Trotzdem bilden die paar Sätze, die sie dann doch sagen darf, einen schönen Rahmen um zu wissen, worum es eigentlich geht. Es ist eine Einordnung in die Zeit, in der wir uns befinden. Ganz bin ich mir da aber nicht sicher, ob man da nicht eher von einer Sage spricht. Sei’s drum, für mich ist die ganze Geschichte hier eh canon. Denn es ist einfach so gut erzählt!
    Waireo hat gleich ihren Auftritt und macht erstmal klar, dass sie eine Erzählerin braucht. Wie schon erwähnt mag ich diese willensstarke Art sehr. So ein kleiner Dickkopf eben, aber man merkt, dass sie weiß, was sie will. Ich finde es gut, dass es trotz der Kürze der Geschichte ein wenig Characterdevelopment gibt, in der Form, dass Waireo nicht durchgehend so „stark“ ist, weil das wäre dann doch etwas einseitig. Fakt ist: dass ich Waireo sehr mag! (Kann es sein, dass du bevorzugt weibliche Charaktere hast? Oder hab ich nur die Geschichten mit den männlichen Charas übersehen?)
    Ich rätsele ja weiterhin darüber, was mit Lele eigentlich passiert ist. Sie war ja ein Mensch, wie wurde sie dann zu einem Kapu? Auch weiß ich nicht ganz, auf welchen Berg im Süden du anspielst. Also ich könnte mir ja vorstellen, dass das vielleicht irgendwas mit Solgaleo oder Lunala zu tun hat, auch wenn ihre Verbindung zu den Kapus im Game irgendwie nicht wirklich herausgekommen ist — jedenfalls für mich nicht, aber ich lasse mich gern eines Besseren belehren — sonst hätte ich gesagt, dass die Kapus vielleicht von Sogaleo und Lunala irgendwie … erwählt wurden? Aber gut, das ist zwar nur so eine Nebensache hier, aber … ich bin halt neugierig.
    Es passt zu Waireo, dass sie ihre Freundin sucht — immerhin kennt sie die Gegend ja und ihre Freundin auch. Dass sie dann schließlich aufwacht und in ein Primarene verwandelt ist, war ein interessanter Bruch mit dem ich nicht gerechnet hatte. Ihr Ziel verliert aber Waireo trotz veränderter Gestalt nicht aus den Augen — da fand ich es schon interessant, dass sie sich so gar keine Gedanken darüber gemacht hab, ob sie jemals wieder ein Mensch wird. Ich weiß nicht, das wäre wohl so mein erster Gedanke gewesen.
    Ich fand’s sehr spannend, dass Waireo die Kraft ihrer Stimme als Primarene praktisch durch Zufall herausfindet und es hat ihrer Persönlichkeit auch einen weiteren Aspekt dazugegeben, dass diese Sache sie verunsichert. Das spricht für ihr Verantwortungsbewusstsein, finde ich. Natürlich ist gleich ganz stumm werden eine drastische Maßnahme, aber es ist klug eine Fähigkeit, die man nicht genau weiß, ob man sie kontrollieren kann, erstmal nicht einzusetzen. Die Primarene kamen natürlich im richtigen Augenblick. Zuerst hab ich gedacht, dass die Begegnung mit ihnen Waireo lediglich die Möglichkeit geben würde ihre Stimme wiederzuerlangen und etwas Neues zu lernen. Ich hatte nicht so im Kopf, dass Gesang gerade bei indigenen Völkern auch eine wichtige Kommunikationsform und ein Teil ihrer Kultur ist. Jede Insel war für sie immer ein Neuanfang, sie haben nicht mehr über ihr vorheriges Leben nachgedacht, da war es wichtig, dass sie eine Möglichkeit kennenlernten, ihre Geschichte zu bewahren — und die gab ihnen Waireo. Oder im Grunde eigentlich Kapu Lele — deren Hintergedanken kann ich zwar noch nicht ganz nachvollziehen, aber du hast eingangs davon gesprochen, dass Waireo und Lele gemeinsam dem Stamm immer nur helfen wollten. Als Lele dann zu einer Kapu wurde, war klar, dass sie sich so ihrem Stamm nicht mehr zeigen konnte. Sie muss aber gewusst haben, dass Waireo nach ihr suchen würde und hat so mithilfe ihrer Freundin ihrem Volk eine Kultur gegeben. Das ist eine richtig geniale Sache — vermutlich auch der Grund, warum mich das alles so beeindruckt. Du hast hier verschiedene Elemente verbaut und die passen alle sehr gut zusammen, weshalb sie so ein schönes Gesamtbild ergeben. Vor allem innerhalb der Wortobergrenze so viel Plot unterzubringen find ich total beeindruckend. (Daran scheitere ich immer …)
    Alles in allem ist das ein sehr schöner Text und eine herrliche Geschichte. Die ich jetzt einfach mal als canon für mich festhalte. :D Auch wenn du sagtest, dass Pokémongeschichten nicht mehr so dein Ding sind: du solltest nicht aufhören welche zu schreiben. Denn ich finde, du bringst in das Fandom eine interessante neue Sichtweise, die sehr inspirierend ist!


    Man liest sich beim nächsten Update wieder!


  • Ahoy, Mateys. Hier kommt direkt die nächste kleine Story zu Aria, der Lufthexe, und diesmal bekommt sie Verstärkung. Es sollte eine kleine Spielerei werden, wie so das Aufeinandertreffen der beiden sein könnte. Eingeordnet wird diese hier in eine Serie zusammenhängender Stories, zu denen auch Die letzte Chowanok, Lebensmalerei, und Painless Steel gehören. Die Zeitleiste muss ich mir aber noch konkret zusammenschustern, dementsprechend wird sich wohl noch einiges verändern. Hab z.B. einige Veränderungen an Frances vorgenommen, vor allem, was die äußeren Auswirkungen ihrer Magie angeht.



    Nummer 22: Air Witch Project


    Ein verlassenes Theater. Der Geruch nach modrigem Holz. Ein altes Buch. Eine Höllenfahrt durch den Himmel über Washington. Das waren die Eindrücke, die mir vom siebten Mai 2011 geblieben waren. Es war ein Tag gewesen, wie ich ihn mir nie erträumt hätte, obwohl ich mich einer sehr lebhaften Fantasie rühmen durfte. Normalerweise träumte ich sogar sehr gern, und wenn ich nicht träumte, versank ich in den Welten meiner Bücher, aber am siebten Mai 2011 war ich selbst aus der Realität gerissen und in eine Welt geworfen worden, die mein ganzes Denken auf den Kopf gestellt hatte.
    In eine Welt der Magie, der logischen Paradoxone und der möglichen Unmöglichkeiten.
    Ich atmete tief ein und schmeckte die feinsten Nuancen der Luft um mich herum. Gras. Erde. Ein bisschen Rauch. Metall und Gummi. In der Ferne ging die Sonne auf. Neben mir stand mein kleines Auto und erholte sich von einer zehnstündigen Nachtfahrt entlang der Westküste. Ich hatte den Wagen oben am Hollywood-Schriftzug direkt auf der Straße vor dem Maschendrahtzaun abgestellt, der Touristen davon abhalten sollte, die riesigen Buchstaben zu erklettern. Außerdem wünschte ich mir dringend einen Kaffee. Die drei kleinen Pausen auf dem Highway hatten nicht wirklich ausgereicht.
    Ich hob die Kamera auf Augenhöhe und schwenkte sie ganz langsam über das Panorama, damit der Augenblick komplett eingefangen war. Dann räusperte ich mich und holte tief Luft.
    „Virtual Log Nummer drei, vierzehnter Mai 2011. Willkommen an alle, die eingeschaltet haben. Seit meinem … euh … Unfall ist nun eine Woche vergangen. Es ist kurz nach sieben Uhr morgens. Ich bin vor etwa einer halben Stunde in Los Angeles angekommen, einer Stadt, die auch die Stadt der Engel genannt wird. Ursprünglich lebten hier lediglich elf spanische Familien, die vom Gouverneur Kaliforniens ausgesandt worden waren. Was haben sie wohl vorgefunden? Ein Stück Wüste? Ödland? Oder sogar Indianer?“
    Für ein paar Momente war es mir, als könnte ich sie sogar sprechen hören, die ersten Einwohner von Los Angeles, und ich spürte den uralten Hauch, der mich in meinen Lost Places immer überkam, den Atem der Vergangenheit. Ich lief ein paar Schritte in Richtung des Maschendrahtzauns, um die Stadt in der Ferne besser einfangen zu können. Dann warf ich den obligatorischen Blick auf meine Armbanduhr. Es war ein billiges Modell, auf dessen Ziffernblatt ein Bild von Agumon aufgedruckt war. Meine beste Freundin hatte sie mir mal zum Geburtstag geschenkt, und ich legte sie nie ab.
    „Falls ihr mal auf die Idee kommen solltet, Los Angeles zu besuchen, dann ersteigt den Berg mit dem Hollywood-Schriftzug möglichst früh. Wie ihr sehen könnt, ist dann niemand hier.“
    Der Wind rauschte in den Baumwipfeln ringsum. Ich machte eine kurze Pause, strich mir eine Haarsträhne aus der Stirn, und drehte die Kamera dann um, um in die Linse blicken zu können. „Es gibt mehrere Gründe dafür, dass ich hier bin. Einer davon ist meine Freundin Alexis, von der ich euch schon erzählt habe. Sie lebt jetzt hier, und sie will mir dabei helfen, herauszufinden, was zum Geier mit mir los ist. Und zweitens habe ich gerade ein paar schulfreie Tage, und darum … euh … darum habe ich mich in mein kleines Auto hier gesetzt und bin den gesamten Coastal Road hinunter gedüst.“ An dieser Stelle schwenkte ich die Kamera so, dass mein Wagen ins Bild geriet. Es war ein roter Fiat, keine große Sache, und an einigen Stellen sogar schon verrostet, aber ich liebte ihn trotzdem.
    „Das hier ist Pierre. Pierre tut immer sein Bestes. Nicht wahr, Pierre? Sein Husten stört manchmal ganz schön, aber das liegt am Alter.“ Wie die Uhr war auch Pierre ein Geburtstagsgeschenk, und seit ich vor einem Monat sechzehn geworden war, hatte ich davon geträumt, ihn mal so richtig auszuprobieren. Ich drehte mich wieder herum und sah in die Linse, während ich darauf achtete, dass man den Hollywood-Schriftzug im Hintergrund sehen konnte.
    „Jedenfalls hoffe ich, dass ich ...“
    „Yo, Frances!“
    Ich konnte nicht anders und lächelte, denn die Stimme, die da erklang, sorgte dafür, dass alle Sorgen von mir abfielen wie eine alte Haut.
    Bonjour, Lex.“ Die Linse wanderte herum und erblickte das Mädchen, zu dem die Stimme gehörte. Es gab keine Person auf der Welt, der ich mehr vertraute als Alexis Clark. Als ich jedoch bemerkte, wie sie zugerichtet war, erlosch mein Lächeln sofort wieder, und ich richtete die Kamera hastig auf den Boden. „Was ist denn mit dir passiert?“
    Sie kam den Hügel herab und grinste mich dabei breit an. Oben auf der Hügelkuppe wehte die amerikanische Flagge im Wind. Eines ihrer Augen war blau und geschwollen, am Hals hatte sie mehrere Kratzspuren, und ihr linker Oberarm war dünn mit Mullbinden umwickelt. Sie trug ein weißes T-Shirt mit einigen Flecken unbekannter Herkunft darauf, und dazu eine lange Trainingshose.
    „Ach, das ist nichts. Das Übliche. Lange nicht gesehen, was?“
    „Ja. Zu lange.“ Wir hatten uns auf der Junior High kennen gelernt und waren beste Freundinnen geworden. Nachdem meine Familie Forren Bay verlassen hatte, hatte ich Lex zwei Jahre lang nicht mehr gesehen. „Bist du sicher, dass es dir gut geht?“, fragte ich beklommen, woraufhin die Halbjapanerin theatralisch die Augen verdrehte.
    „Klaro“, erwiderte sie. „Beim Parkour fliegt man eben manchmal auf die Fresse.“
    „Das sieht aber irgendwie nach mehr aus als nur nach deinen üblichen Verletzungen.“
    „Mach dir keine Sorgen.“ Sie kam näher und zögerte, woraufhin ich sie in eine Umarmung zog. Sie ließ es mit sich machen, und ich roch eine Mischung aus Sport-Deodorant, Schweiß, und Blut. Was auch immer sie so zugerichtet hatte, es war nicht freiwillig geschehen.
    Lex sah zu mir hoch. „Holy shit, warum bist du so groß?“
    „Wachstum“, entgegnete ich. Früher war Lex größer gewesen als ich, doch nun überragte ich sie um etwa einen halben Kopf.
    „Ach was.“
    „Es ist toll, dich mal wieder zu sehen“, sagte ich, und ließ sie los.
    Aber wir sind leider nicht zum Spaß hier. Du hast am Telefon von Magie gesprochen. Worum genau geht es?“
    „Das hier ist die Antwort.“ Ich deutete auf das Buch, das ich im Arm hielt. Es war so groß und so dick, dass zwei normale Bücher darin Platz fänden, und es sah uralt aus. Die Buchdeckel waren mit dunklem Stoff bedeckt, der an mehreren Stellen zerrissen war, und die Seiten waren dünn, brüchig, und ich hatte anfangs Bedenken gehabt, das Buch versehentlich kaputtzumachen, doch es hatte sich als widerstandsfähiger herausgestellt als gedacht.
    „Ein Buch?“
    „Ja. Schau.“ Mit diesen Worten schlug ich das Buch auf und zeigte Lex die winzige Schrift und die Bilder, die dort zu sehen waren.
    Meine japanische Freundin zog die Augenbrauen grimmig zusammen, wie sie es immer tat, wenn sie sich konzentrierte, und las einige Zeilen.
    „Was ist das für eine Sprache?“
    „Latein.“
    „Mhm.“ Sie las weiter. Einige Momente später richtete sie sich auf und zuckte die Schultern. „Okay. Und was kann dieses Buch?“
    „Ich zeige es dir. Hier, halt die fest, bitte.“
    „Eine Kamera? Wofür?“
    „Eigentlich nehme ich damit nur das Innere der Lost Places auf, die ich besuche.“
    „Ich erinnere mich. Du bist eine Urbexerin.“
    „Genau.“ Urbexer waren Menschen, die verlassene Gebäude aufsuchten und sie erforschten. Es machte mir viel Spaß, und man musste nur eine einzige Regel befolgen: Take nothing but photographs, leave nothing but footprints. Diese Regel hatte ich gebrochen, als ich das Buch gefunden hatte.
    „Und jetzt filmst du, was das Buch da drauf hat?“
    Ich nickte. „Es erschien mir wie die beste Möglichkeit, alles genau zu dokumentieren. Ein paar Videos lade ich auch im Internet hoch. Vielleicht stellst du dich kurz vor.“ Ich reichte ihr meine Cam, und Lex drehte die Linse ein wenig ratlos hierhin und dorthin. Schließlich guckte sie hinein.
    „Hi. Ich bin Lex“, sagte sie. Danach richtete sie die Kamera wieder auf mich.
    Bon.“ Ich holte tief Luft und suchte die passende Zeile auf meiner Seite. „Ventus enim protegit crea in me.“
    Ich spürte ein Prickeln in meinen Zehenspitzen, kaum dass ich die erste Silbe gesprochen hatte, und es pflanzte sich in meine Schenkel fort, dann in meinen Bauch und den Rest meines Körpers. Eine übernatürliche Energie floss durch meine Adern, magisches Licht brachte die Äderchen und Venen unter meiner Haut zum Strahlen, und ich sah Schrecken und Unglauben in Lex' Gesicht. Sie hatte sich zwar schnell wieder im Griff, aber ich hatte deutlich gesehen, dass sie Angst bekam. Wind peitschte auf, zuerst nur schwach, doch als meine Lippen das letzte Wort gebildet hatten, spürte ich wieder das mir bereits bekannte Gefühl in meinem Bauch, so als würde sich mein Körper von innen heraus aufblähen. Nur Augenblicke später rotierte eine Blase aus Luft um mich herum. Sie riss den Staub und Blätter mit sich, die am Boden lagen. Ich nannte dieses Phänomen den Sturmschild, denn er hielt alles ab, was von der anderen Seite durch die Blase gelangen wollte. Das hatte ich bereits ausgetestet. Ihr Radius betrug etwa anderthalb Meter, ausgehend von meiner Körpermitte.
    „Wirf einen Stein“, schrie ich über das trockene Brausen des Sturmschilds hinweg, und ich sah, wie Lex den Daumen reckte. Der von ihr geworfene Stein wurde beim Auftreffen auf den Schild zersägt, als wäre er in einen Hochdruckstrahl geraten. Damit war meine Demonstration beendet, und ich löste den Zauber auf. Das Gefühl in meinem Bauch verschwand, die Magie versiegte, und auch das Kribbeln verließ meine Glieder.
    „Wow“, kommentierte Lex, „okay. Magie. Es gibt Magie. Alles klar.“
    „So ging es mir auch. Als ich das Buch fand, habe ich mir irgendwie mein eigenes Gewicht weg gehext und bin stundenlang durch die Luft geweht worden. Vorgestern habe ich einen Zauber falsch aufgesagt und meine Haut war daraufhin den halben Tag lang grün.“
    „Ach so. Ich wollte vorhin nichts sagen, aber du hast da noch ein bisschen was Grünes an der Nase.“
    Ich nickte. „Es sind Nebeneffekte, die auftreten, wenn ich Fehler mache. Dieses Buch ist gefährlich, und darum brauche ich deine Hilfe.“
    „Für dich tue ich alles. Also, was steht an? Tests? So wie mit diesem Schätzchen hier damals?“ Lex ließ die rechte Schulter kreisen, und ihr Arm glitzerte im Sonnenlicht. Ich nahm meine Kamera wieder entgegen. Mit einem leisen Piepsen beendete ich die Aufnahme. Lex' Arm war der dritte Grund, wieso ich ausgerechnet sie um Hilfe gebeten hatte. Er bestand nämlich nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus dem härtesten Metall, das die Welt zu bieten hatte. Diese Prothese verlieh meiner Freundin ihre übermenschliche Stärke. Ihre Beine waren aus demselben Material. Der richtige Hammer kam allerdings erst noch: Sie hatte vor ihrem vierzehnten Lebensjahr nichts davon gewusst. Es war ein Schock für sie gewesen, vor allem, da sich in etwa zeitgleich eine AI in ihrem Kopf zu Wort gemeldet hatte, und wir hatten damals ihre Grenzen ausgetestet, so gut es uns möglich war.
    Wenn also jemand wusste, wie man mit lebensverändernden Überraschungen umging, dann war es Alexis.
    „Ja. Tests. Viele Tests. Ich will wissen, wie das funktioniert. Vielleicht sind die linguistischen Eigenarten der lateinischen Sprache ein Faktor.“
    Lex lachte. „Das bist typisch du.“
    „Vielleicht ist alles, was wir als Magie sehen, im Grunde nur sehr, sehr weit entwickelte Technologie. Hast du schon einmal etwas von Bio-Magnetismus gehört?“
    „Nicht dass ich wüsste.“
    „Gut. Also, Bio … was tust du da?“
    Lex hatte die Hand ausgestreckt und berührte den Buchdeckel. Ihr Zeigefinger stupste den zerrissenen Stoff nur ganz kurz an, aber das reichte dem Buch anscheinend aus, um einen Gegenangriff zu starten.
    Es ging wahnsinnig schnell. Ich spürte ein heftiges Kribbeln im ganzen Körper, wusste, dass die Magie in mir in Wallung geriet, und dann kam der Wind. Es war ein unnatürlicher Wind, der von hinten an Lex zerrte, gewoben aus Magie und Luft. Während der ersten paar Sekunden nahm sie ihn kaum wahr, so schwach war er, doch dann gewann er schlagartig an Kraft und riss sie von dem Buch fort. Ihre Turnschuhe schabten zwei lange Spuren in den Sand und verloren schließlich den Kontakt zum Boden.
    „Was zur Hölle -!“, rief sie noch, und sie wurde vom Wind ergriffen und hoch in die Luft geschleudert.
    „Lex!“ Ich schrie voller Schrecken und Überraschung auf, doch abgesehen davon war ich so starr, als hätte jemand meine Beine in Beton gegossen. Lex entfernte sich mit einem irrsinnigen Tempo, ihr Körper flog höher und höher, und ich starrte lediglich hinterher. In vielen Romanen, die ich bisher gelesen hatte, waren die Protagonisten von Zeit zu Zeit starr vor Angst, hilflos, und in diesem Moment begriff ich erst richtig, was damit gemeint war.
    Nach einigen Schreckensmomenten erlangte ich die Kontrolle über meinen Körper wieder. Dann rannte ich los, Buch und Kamera noch in den Händen. Lex flog in einem hohen Bogen über den kleinen Hügel vor mir, weg vom Hollywood-Schriftzug, und verschwand dann hinter der Hügelkuppe. Ich fühlte mich wie in einem schlechten Traum, einem von der Sorte, in dem man zwar mit aller Kraft rennt, aber doch nicht vom Fleck kommt. Meine Brust war viel zu eng, ich konnte nicht richtig atmen, und eiskalt war mir auch noch.
    So schnell ich konnte lief ich um den Hügel herum. Eine schleifenförmige Straße, der Mt Lee Drive, schmiegte sich an den Berg, und normalerweise kamen hier immer die ganzen Touristen herauf, aber es war noch früh, darum war ich allein. Es waren anderthalb atemlose Minuten, in denen ich Lex suchte. Ich rief ihren Namen, wieder und wieder, und ich suchte mit den Augen die vertrocknete Böschung am Abhang ab. Schließlich fand ich meine Freundin. Sie lag ein gutes Stück weiter auf der Straße. Es war eine Stelle, an der der Mt Lee Drive tief in den Berg schnitt, links und rechts ragten die gelbbraunen Hügelwände auf.
    Ich hielt inne und schluckte. In meinem Hals steckte ein fetter Kloß. Lex lag dort absolut reglos, Arme und Beine von sich gestreckt, und sie rührte sich nicht.
    „L-Lex?“, fragte ich zaghaft. Meine Stimme klang genau so zittrig und schwach wie meine Beine sich anfühlten.
    Ich trat näher.
    „Lex.“
    Noch näher.
    „Lex!“
    Und noch näher.
    Non. Dieu, je t'en supplie ...“
    Shit“, ächzte Lex da auf einmal, „meine Hand. Autsch.“
    „Du lebst!“ Mir fiel ein ganzes Gebirge vom Herzen, und ich rannte auf sie zu. Lex rappelte sich hoch, wobei sie ununterbrochen fluchte. Ihre Trainingshose war eingerissen und trug damit nun zu Lex' sowieso schon in Mitleidenschaft gezogenen Erscheinungsbild bei. Ich legte das Buch und die Kamera auf der Straße ab und half meiner Freundin dabei, wieder auf die Füße zu kommen.
    „Was denkst du denn? So leicht gehe ich nicht drauf. Aber ...“ An dieser Stelle beäugte sie das Buch misstrauisch und fröstelte leicht, obwohl es schon recht warm war. „Das Ding da ist mir unheimlich.“
    „Wem sagst du das.“ Ich wischte mir über die Wangen und wollte zugleich lachen und weinen.
    „Dann mal an die Arbeit. Das kriegen wir hin. Wäre doch gelacht.“ Mit einem Mal war die alte Lex wieder da, die Unerschütterliche, die für alles einen Plan hatte, und sie grinste mich so breit an wie damals, wenn sie mich mal wieder zu einer ihrer Schandtaten überredet hatte.
    „Wirklich?“ Mein Herz schlug höher.
    „Du hast mein Wort. Anscheinend kannst nur du das Buch benutzen, jeder andere erlebt das, was ich eben erlebt hab … jedenfalls glaube ich das. Eine Art Schutzmechanismus. Der Rest ist Übungssache.“ Wir liefen wieder den Hügel hinauf, in Richtung Pierre, und Lex legte mir einen Arm um die Taille. Anscheinend war sie doch noch ein bisschen mitgenommen. Ich tat mein bestes, um sie zu stützen.
    „Du hast ja keine Ahnung, wie dankbar ich dir bin. Ich dachte, ich müsste das alles allein machen. Meine Eltern wissen nichts von dem Buch.“
    „Wofür sind Freunde da? Damals hast du auch alles getan, was in deiner Macht stand, um mir zu helfen.“
    „Besonders viel war das aber nicht“, murmelte ich.
    Lex schnaubte vor Lachen. „Wir waren vierzehn Jahre alt. Was hast du erwartet? Mr Fantastics Testlabor?“
    „Auch wahr.“
    „Hör mal, ich glaube, es wär besser, wenn du dir für dein Video-Dingsda einen Künstlernamen oder so was ausdenkst. Wenn die falschen Leute sehen, wie du hier herum hext, steht bald die Regierung oder die Mafia oder wer-auch-immer vor deiner Tür.“
    Mon dieu. Daran hatte ich gar nicht gedacht.“
    „Kein Problem. Ich bin sozusagen Profi, wenn es darum geht, unerkannt zu bleiben.“
    „Hast du denn eine Idee für den Namen?“, fragte ich.
    „Nicht wirklich. Haben eigentlich alle deine Sprüche was mit Luft zu tun?“
    „Latein ist nicht meine Muttersprache. Ich habe bisher nur etwa ein Dutzend Sprüche übersetzt, aber von denen ... ich glaube, zehn von zwölf basieren tatsächlich auf Luft."
    „Verstehe. Wie wär's denn mit Air Witch Project? Wie Blair Witch Project, nur dass du 'ne Hexe bist, die Videos macht.“
    Frances Novak, die Lufthexe. Air Witch Project. Der Klang dieses Namens war ungewohnt, aber ich mochte ihn sofort. „Das ist super! Gute Idee.“
    Wir schwiegen eine Weile. Pierre kam wieder in Sicht, und weit hinter uns hörte ich die ersten Touristen, die sich den Hollywood-Schriftzug ansehen wollten, den Berg heraufkommen. Wir würden uns einen anderen Ort suchen müssen, an dem ich meine neuen Kräfte erproben konnte.
    „Ach, und da wäre noch etwas“, sagte Lex plötzlich.
    „Worum geht es?“
    „Erinnerst du dich noch an die Schatzjagd von damals? Und an das, was du in der Bibliothek gefunden hast?“
    „Mhm … meinst du die Indianerin?“
    „Genau.“
    „Was ist mit ihr?“
    Lex warf noch einen schnellen Blick auf das Buch in meinem Arm. Ihr Blick war ernster als vorher, und ihre eisblauen Augen fixierten mich. „Ich will, dass du mir mehr darüber erzählst.“


    So, bin momentan ziemlich müde, werde darum die ersten Verbesserungen irgendwann gegen Abend erst durchführen können. Hoffe, ihr hattet Spaß beim Lesen.


    mfg
    #shiprekt

  • Ahoy Capt’n!


    Neues Update, neuer Kommi — so gehört sich das. (: Ich kenn mich in dem Universum von dem du schon ein paar Geschichten geschrieben hast, zwar noch gar nicht aus, aber ich find es immer wieder spannend darüber zu lesen. Freu mich also auf mehr!


    Deshalb fang ich ohne große Umschweife auch gleich mal an.


    Du beginnst die Geschichte mit einem Rückblick, vermutlich auf eine Geschichte, die ich nicht gelesen hab. Hat mir aber trotzdem gut gefallen, weil ich so wusste, was passiert war und auch, was die Protagonistin erlebt hat. Allgemein find ich es immer spannend, was man in deinen Geschichten so alles lernt. Recherchierst du da sehr viel? Es klingt nämlich alles sehr plausibel, gerade, wie du die Lage des Hollywood Schriftzuges beschrieben hast oder der historische Hintergrund von Los Angeles. Ich hab beinahe das Gefühl, ich wär selbst da!
    Von dem Lost Places Projekt hab ich sogar schon mal im Inet gelesen — find ich eine sehr interessante Sache, dass du deiner Protagonistin so ein Hobby gibst. Auch, dass du später noch erklärst, was ein Urbexer ist, die Erklärung war gut eingebunden und ich erfahr gern solche neuen Sachen. Frances hier zu lesen ist lustig — ich hab eine Arbeitskollegin mit dem Namen. :D Jetzt frag ich mich bloß … warum spricht Frances ein bisschen Französisch? Novak klingt eigentlich nicht französisch oder kommt mir das nur so vor, weil ich von der Sprache keine Ahnung hab?
    Als du Lex beschrieben hast, dachte ich, dass diese Geschichte vielleicht direkt nach Painless Steel spielt. Kann das sein? Oder hatte Lex bevor sie hier auf Frances trifft noch eine andere Begegnung mit irgendwas gefährlichem?


    Oh my, never mess with magic! Ich gestehe hier einmal, dass ich mich für Magie auch nicht besonders viel interessiere und zu den wenigen Leuten gehör, die an Harry Potter so gut wie kein Interesse haben. Aber vielleicht fand ich gerade deshalb deine Beschreibung der Magie hier so interessant. Du hast das wirklich so dargestellt, wie eine Macht, die mit dem ganzen Körper zu tun hat und scheinbar auch eine bestimmte Person braucht, um überhaupt zu funktionieren. Man sieht ja, dass Lex eine sehr negative Erfahrung mit diesem Buch hat. Bei diesem Buch hab ich so viele Fragen! Wo kommt es her? Wie kommt es, dass es auf Frances so anders reagiert als auf Lex? Und warum kann Frances damit doch recht gut umgehen?
    Der Schild ist übrigens eine coole Sache, der wird bestimmt noch mal nützlich — allerdings hoffe ich, dass er bei Menschen nicht ganz so krass reagiert, wie bei geworfenen Steinen. Ansonsten … well, wird das für den Angreifer definitiv nicht gut enden …
    Ich hätte ja gern mehr über den Bio-Magnetismus erfahren, aber da kam bei dir diese Geschichte richtig in Fahrt, als Lex das Buch berührt hat und dieses sich angegriffen fühlte. Dieser Höhepunkt in der Geschichte hat mir gefallen! War auch sehr unerwartet in der sonst ruhigen Szenerie, war sehr gut gelöst. Damit hast du noch mal klar gemacht, dass die Magie hier sehr ernst zunehmen ist. Vor allem, weil die Wirkung scheinbar auch recht lang, wenn Frances beispielsweise immer noch an paar Stellen grüne Haut hatte. Gut, dass Lex so widerstandsfähig ist, das hätte böse enden können.
    Die Darstellung der Freundschaft der Beiden gefällt mir auch und die kleinen Einschübe zum echten Leben, wie die Armbanduhr mit Agumon drauf oder die Erwähnung von Mr Fantastic. (Du meintest doch den Marvel-Chara, oder?) Das gibt dem Ganzen eine schöne Verbindung zur Realität. Ja, ich geb zu, ich find das ziemlich cool, weil ich in dem Genre eigentlich so nichts lese. xD
    Jetzt hab ich dich ganz schön mit Lob überschüttet, aber mir fiel auch nichts negatives hier auf. Hab einfach sehr viel Spaß beim Lesen hier und freu mich auf Weiteres!

  • Arr Captain,


    ich wusste ja bisher gar nicht, dass die letzte Chowanok auch in dieses Universum gehört. Gut zu wissen auf jeden Fall, was da nun eigentlich alles drin hängt, denn so lassen sich auch Zusammenhänge finden.
    Also gut, Air Witch Project. Das Wortspiel wird am Ende recht klar und du hast dir viel Mühe bei der Ausarbeitung der Charaktere gegeben. Besonders in Bezug auf die Lufthexe weiter oben im Thema bist du hier nicht nur auf Frances festgelegt, sondern kannst auch mit Lex entsprechend durchstarten und so einen interessanten Gegenpol in das Gespräch bringen. Nach der Entdeckung des Buchs war es nur abzusehen, dass da einige Spielereien folgen werden, wobei jetzt auch nicht ganz klar ist, wie viel später diese Geschichte eigentlich angesetzt ist. Es wirkt aber schon beinahe so, als wären solche Vorkommnisse wie mit der Magie absolut an der Tagesordnung, dass sie gleich ein Video drüber drehen und es hochladen will. Normalerweise werden diese Fähigkeiten eher unter Verschluss gehalten, um nicht aufzufallen. Interessant also, wie du da aus der Norm etwas ausbrichst.
    Was noch zu sagen bleibt: Die Situation ist auf verschiedene Weisen witzig. Neben den Dialogen, bei denen sich sowohl Frances als auch Lex sehr schlagfertig zeigen, ist es vor allem dieser Magie und den daraus resultierenden Problemen geschuldet, dass beim ungewollten Flug ein Schmunzler aufkommt. Oder auch mehr. Gerade weil es so unnatürlich wirkt und jeder danach noch so tut, als wäre nichts gewesen, entsteht da wirklich ein ganz eigener Eindruck.


    Wir lesen uns!

  • Externer Inhalt www.youtube.com
    Inhalte von externen Seiten werden ohne Ihre Zustimmung nicht automatisch geladen und angezeigt.
    Durch die Aktivierung der externen Inhalte erklären Sie sich damit einverstanden, dass personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu haben wir in unserer Datenschutzerklärung zur Verfügung gestellt.

    „Die Welt verändert sich.“ - Alexis Vipond


    Ahoy, me mateys. Der Captain ist wieder da und bringt eine neue Geschichte mit. Es handelt sich erneut um eine kleine Spielerei, diesmal mit einer anderen Konstellation. Ob ich das später so beibehalte, weiß ich noch nicht, aber ich finde, dass es alles recht gut zusammenpasst.



    Gut, und nun viel Spaß mit:


    Nummer 23: Lex on the run


    Fox on the run and hide away
    You, you talk about just every band
    But the names you drop are second hand
    I've heard it all before


    Der Geruch der Nacht ist der Tagesluft in allen Belangen überlegen, wenn du mich fragst. Sie ist klarer, frischer, frei vom Schmutz der brummenden Motoren. Sobald es dunkel wird, versinkt die Welt in einer unbeschreiblichen Atmosphäre. Sie verspricht Abenteuer, Gefahr – Aufregung. Erst nachts fühle ich mich wirklich wohl. Woran das liegt? Keine Ahnung. Vielleicht daran, dass ich seit Jahren schon in der Nacht herum schleiche. Sie ist wie eine alte Bekannte, die mich immer wieder aufs Neue vor neugierigen Blicken schützt.
    Sind Sie wirklich sicher, dass das eine gute Idee ist?
    Ich seufzte und stellte mit einem schnellen Knopfdruck die Musik ab. Sogar Sweet verloren ihre beruhigende Wirkung, wenn mich mitten im Refrain auf einmal die amüsiert-distanzierte Stimme einer Britin anquatschte.
    „Natürlich. Wir sagen nur kurz hallo und verschwinden wieder.“
    Haben Sie im Briefing nicht aufgepasst?
    Nun verlangsamte ich mein Tempo. Ein paar Schritte später hielt ich an und suchte meine Umgebung nach versteckten Gefahren ab. Es war beinahe totenstill. Rechts von mir lag ein schmaler Strand, dahinter rauschte leise der Pazifik. Links ragte eine Felswand in die Höhe. Ja, an manchen Stellen der Westward Beach Road konnte es einem wirklich so vorkommen, als befände man sich in der Wildnis und nicht mitten in einer der teuersten Gegenden der Vereinigten Staaten.
    „Briefing? Du hast nur einen Haufen Daten abgespult und erwartet, dass ich mir alles sofort merken kann. Was interessiert's mich denn, wann Oregon von den Siedlern entdeckt worden ist?“
    Drei Jahre in Gegenwart von Frances Novak haben nicht ausgereicht, um Ihnen klar zu machen, wie wichtig Geschichte und Wissen sind. Wie ironisch.“
    „Hey, ich war nie das Mädchen für die Kopfsachen.“
    Wenn CYPRESS Augen hätte, dann hätte sie diese jetzt verdreht, da war ich sicher. „Nein. Da haben Sie wohl recht.“
    „Schön, dass das geklärt ist.“ Ich rannte weiter, immer am rechten Straßenrand entlang, denn auf der linken Seite lag Sand, der vom Wind auf die Straße geweht worden war, und auf Sand lief ich nicht gern. Ab und zu kam ich an einem einzelnen Leitungsmast vorbei.
    Hier müssen Sie abbiegen. Oben an der Kreuzung links.“
    „Ich hab mir die Karte gemerkt. Du brauchst nicht das Navigationssystem zu spielen“, sagte ich.
    Entschuldigen Sie bitte. Es fällt mir manchmal schwer, Ihre mentalen Fähigkeiten nicht zu unterschätzen.
    „Wenn es darum geht, möglichst schnell von A nach B zu kommen, macht mir keiner etwas vor. Nicht einmal du.“
    Wie Sie wünschen. Dann werde ich Sie stattdessen über den Hintergrund Ihrer neuen Bekanntschaft aufklären.“
    „Tu, was du nicht lassen kannst.“ Ich lief einen kleinen Pfad hinauf, der tief in die Klippe schnitt und mich nach oben zur Straße brachte. Zu beiden Seiten des Pfads ragten hohe Hecken auf, hinter denen sich Villen befanden, die meiner Meinung nach genug Platz für mehrere Großfamilien hatten und trotzdem immer nur eine beherbergten. Wer auch immer dort wohnte, er wollte nicht beobachtet werden.
    Die Chowanok sind ein beinahe vergessener Indianerstamm, der früher in Oregon gelebt hat. Sie haben vorrangig von der Jagd gelebt und kannten sich in den Bergen der Region besser aus als sonst jemand. Sämtliche Mitglieder dieses Stammes sind tot“, berichtete CYPRESS.
    „Außer dieser einen.“
    Richtig. Außer dieser einen. Ich weigere mich, an Magie und ähnliches zu glauben, aber Miss Novak hat unmissverständlich ausgedrückt, dass die letzte Chowanok über Kräfte verfügt, die weit über menschliches Verständnis hinausgehen.“
    Frances Novak war eine Freundin von mir. Sie liebte Bücher über alles, und es war ihr Verdienst, dass wir überhaupt von der Chowanok erfahren hatten. Wie es dazu gekommen war, fragst du dich sicher, aber die Geschichte dahinter ist eigentlich langweilig. Es war ein Zufall gewesen, wirklich. Vielleicht später mal.
    „Wie kannst du denn nicht an Magie glauben? Du hast doch mitgekriegt, was dieses bescheuerte Buch da letztens mit mir gemacht hat.“
    Es muss sich um irgendeine Art Technologie handeln.“
    Ich lachte. „Du bist echt der Hammer, weißt du das?“
    War das ein Kompliment?
    „Als ob. Sag mal, wenn die Indianerin so stark ist, wieso ist ihr Stamm dann gestorben?“
    Ich nehme an, dass es an den Krankheiten lag. Die indianischen Bewohner dieses Landes hatten verständlicherweise keine Abwehrkräfte gegen die Krankheiten, die in Europa schon seit Jahrhunderten grassierten.“
    „Die Siedler haben sie also qualvoll verrecken lassen.“ Ich stellte mir lieber nicht vor, wie es sein musste, seinem ganzen Volk beim Sterben zuzusehen. Das Mädel hatte vermutlich eine wahnsinnige Wut in sich. Blendende Aussichten.
    Davon gehe ich aus. Achtung, Briefkasten.“
    Ich sprang über das Hindernis hinweg, ohne das Tempo zu verlangsamen. Die Kreuzung lag bereits hinter mir, und auf der Straße, die ich nun herunterlief, war es wohl üblich, den Briefkasten beinahe auf den Asphalt selbst zu stellen, so weit vorn standen die Dinger. Ab und zu sah ich das Dach einer Prachtvilla, aber abgesehen davon verhinderte geschickt platzierte Vegetation den Blick auf die Häuser. Kleinere Büsche und hohe Palmen säumten den Weg.
    „Was haben die nur alle hier mit ihren Hecken?!“
    Sie schätzen ihre Privatsphäre.“
    „Ja, als ob nicht jeder wüsste, wie fett die Häuser dahinter sind. Angeber.“
    Ich kenne mich mit den Vorgängen in den Köpfen von amerikanischen Prominenten leider nicht aus. Wir sind übrigens da.“
    Ich hatte ein großes Tor erreicht, das in die Hecke eingelassen war. Auf einem kleinen Schild im Beet zu meinen Füßen war in hellen Lettern die Nummer 7021 aufgedruckt. Hier wohnte die Indianerin, das lebende Relikt. Wenn ich mich innerhalb der nächsten zehn Minuten nicht völlig dumm anstellte, könnte ich das Treffen sogar überleben.
    „Gut. Dann mal los.“ Ich sprang an der Mauer hoch, drückte mich mit dem Fuß weiter nach oben, bekam die Kante zu fassen, zog mich hinauf, schwang mich auf die andere Seite, und landete auf dem Beton, wo ich mich schließlich abrollte und weiter rannte. Der sogenannte Wallrun war immer noch einer meiner Lieblingstricks, und ich fand bei jedem Run irgendwo eine Mauer, die ich auf diese Weise überwinden musste.
    Eine sehr lange Zufahrt folgte. Drei glänzende Autos waren dort geparkt, eines sah teurer aus als das nächste. Ich fühlte mich beinahe wie in einem kleinen Dschungel, was wohl an den ganzen Bäumen und Sträuchern lag, die in den Beeten zu beiden Seiten der Zufahrt gepflanzt waren. Tropische Gewächse teilten sich die Erde mit einer alten Eiche. Direkt hinter den Beeten blockierten auch hier Hecken die Sicht.
    Ist das dort ein Tennisplatz?“, fragte CYPRESS, und ich warf einen prüfenden Blick nach rechts, ohne inne zu halten.
    „Ja. Holy shit, die Kleine ist steinreich.“
    Ich passierte noch einen Pavillon aus Glas, lief eine kleine Treppe hinauf, und dann hatte ich die Haustür erreicht. Das Haus machte einen sehr gepflegten Eindruck. Und einen protzigen noch obendrein. Die weiße Fassade sah aus, als hätte sie erst vor kurzer Zeit einer mit der Zahnbürste blank geschrubbt, große Fenster starrten in die Nacht wie quadratische Augen, und die Tür war aus dunklem Holz.
    Was haben Sie vor?
    „Was schon? Anklopfen.“ Ich hob die rechte Hand.
    Und ich dachte, Sie wollten sich rein schleichen.“
    „Klar. Das macht einen hervorragenden ersten Eindruck. Ist ja nicht deine Haut, oder?“ Nun holte ich aus und schlug dreimal fest gegen die Tür. Eine Delle blieb im Holz zurück.
    Sie sollten Ihre Kraft besser kontrollieren.“
    „War nur die Aufregung. Man trifft nicht jeden Tag eine Unsterbliche.“
    Es dauerte nicht lange, bis die Tür aufging und mir ein Schwall nach Rauch riechender Luft um die Nase wehte. Ein Mädchen sah zu mir hoch. Sie sah keinen Tag älter aus als sechzehn, und für einen Moment zweifelte ich an meinen Informationen, doch dann fiel mir ein, dass Frances noch nie falsch recherchiert hatte, und ich konzentrierte mich.
    Dunkle Augen blickten mich aus einem Gesicht mit beeindruckenden Wangenknochen und einem breiten Mund an. Um ihren Hals war ein ledernes Bändchen gelegt, an dem eine kleine Flöte hing. Die Indianerin trug ein Lederkleid und Mokassins.
    „Es ist spät. Kann ich etwas für dich tun?“, fragte sie. Ihr Blick flackerte zu meinem rechten Arm herüber, bevor sie mir wieder ins Gesicht sah. Ich kannte diese Reaktion bereits. Früher hatte ich stets eine Sportjacke angezogen, um den Arm zu verstecken, aber während der letzten paar Monate hatte ich immer öfter darauf verzichtet. Das T-Shirt musste reichen. Kalifornien war auch bei Nacht noch warm genug.
    Gleichzeitig war dieser Arm meine Eintrittskarte. Die Indianerin sollte von vornherein wissen, dass sie es nicht mit einem normalen Mädchen zu tun hatte.
    „Ich will was mit dir besprechen. Darf ich reinkommen?“
    Sie zögerte. Aber nur kurz. „Sicher.“
    Was auch immer Sie tun, versuchen Sie auf keinen Fall, das Mädchen für dumm zu verkaufen.“
    Ich grinste. CYPRESS war manchmal entschieden zu ängstlich.
    Lenmana führte mich in ein sehr geräumiges Wohnzimmer, wo sie mit den Händen klatschte, und warmes, gelbes Licht flutete den Raum. Helle Möbel bevölkerten das Wohnzimmer. Auf dem Boden lagen flauschige Teppiche. Ein gigantischer Fernseher hing an der hinteren Wand. Die Wand vor uns war komplett durch Glas ersetzt worden, sodass man nach draußen auf den Pazifik sehen konnte. Ich schätzte, dass sogar der Teppich, auf dem die Sofas standen, mehr kostete als ich im Jahr verdiente. Das ganze Ensemble schrie förmlich nach Luxus.
    „Nette Hütte“, sagte ich beeindruckt.
    „Danke.“
    „Ziemlich viel Platz für eine einzelne Person.“
    „Ich finde es sehr entspannend. Die Welt da draußen ist eng genug. Mein Name ist übrigens Lenmana.“ Sie reichte mir die Hand und ich wurde von einem erstaunlich kräftigen Händedruck überrascht.
    „Alexis. Aber alle sagen nur Lex zu mir.“
    „Angenehm. Du hast einen interessanten Arm, Lex.“
    „Es ist nicht nur der Arm.“ Ich zog kurz das rechte Bein meiner Trainingshose hoch, wo statt heller Haut dunkles Metall schimmerte. Meine neue Bekanntschaft hatte nun unverkennbares Interesse in den Augen. Gut so.
    „Faszinierend.“
    „Aber sag's keinem.“ Ich zwinkerte ihr zu.
    „Natürlich nicht. Also, was führt dich her?“ Sie setzte sich im Schneidersitz auf eins der Sofas und bedeutete mir, mich ebenfalls zu setzen. Ohne lang nachzudenken schwang ich mich über die Sofalehne und legte die Füße auf dem kleinen Couchtisch ab. Danach sah ich ihr in die Augen. Ich suchte nach Unsicherheit, Angst, Überraschung, irgendetwas, was normale Menschen normalerweise zeigten, wenn spätnachts ein Mädchen mit stählernen Gliedmaßen in ihre Wohnung platzte. Nichts. Gar nichts. Lenmana war absolut gelassen. Sie sah harmlos aus, aber wenn Frances richtig lag, dann war die Indianerin das mächtigste Lebewesen, das die Erde je gesehen hatte. Jede ihrer Bewegungen strahlte vor Selbstbewusstsein, doch gleichzeitig bekam ich den seltsamen Eindruck, dass das Mädchen auf eine unrealistische Weise zerbrechlich war.
    Ich spürte, dass mein Mund ausgetrocknet war, und leckte mir über die Lippen.
    „Dein Können“, sagte ich, und beschloss damit, aufs Ganze zu gehen.
    „Mein Können? Du kommst um ein Uhr morgens hierher, um nach einer Flötistin zu suchen? Gehörst du zu einer Band?“
    „Nein. Ich spiele Schlagzeug.“ Ich grinste. „Aber es geht nicht um deine Flötenkünste. Es geht darum, was du drauf hast, sobald es dunkel wird.“
    Auf diese Worte hin schwieg sie. Dann lehnte sie sich ein Stückchen zurück. Der Blick, den mir Lenmana zuwarf, gefiel mir gar nicht. Es war, als würden ihre Augen zu kleinen schwarzen Löchern werden, die jegliches Licht aufsaugten.
    „Was weißt du über mich?“, fragte sie, und ihre Stimme war die eines jungen Mädchens, aber zugleich dröhnte dieser Satz durch meinen Kopf wie das Grollen eines Erdrutsches. Im Anschluss hatte ich das Gefühl, irgendwo in der Ferne Trommeln zu hören. Ich zwang mich zur Ruhe.
    Chill out, Pocahontas. Wenn ich dir was tun wollen würde, wäre ich dann um diese Uhrzeit hier?“
    Yep. Das war der zweite Grund, warum ich gerade jetzt dort auf dem Sofa saß. Nach stundenlanger Spurensuche in mehr als einem Dutzend verstaubten Archiven hatte meine Informantin den Schluss gezogen, dass sich Lenmanas Kräfte (vermutlich) nur dann aktivierten, wenn die Sonne untergegangen war. Ich hoffte, dass sie es als Zeichen meines guten Willens interpretierte.
    „Du wärst nicht die Erste, und du wirst nicht die Letzte sein“, erwiderte sie leise.
    „Ich weiß, dass du bei Nacht Kräfte bekommst.“ Ich ballte die Metallhand zur Faust und hörte das leise Klicken, das die Fingerglieder immer auf der Handfläche verursachten.
    „Und weiter?“ Bingo! Sieben Richtige.
    „Und ich weiß, dass du im Laufe der letzten Jahrhunderte mehrere Tausend Menschen getötet hast, als Rache dafür, was sie mit deinem Volk getan haben.“
    „Diese Zeiten sind vorbei.“
    „Ich weiß. Darum will ich dich als meine Partnerin.“
    Da soll noch mal jemand sagen, Sie könnten nicht flirten.“
    „Das soll kein Flirt sein“, erwiderte ich ärgerlich.
    „Habe ich auch nicht behauptet“, sagte das Mädchen erstaunt.
    Ach ja. Lenmana konnte CYPRESS nicht hören. „Also, was ich sagen wollte, ist folgendes: Die Welt verändert sich. Es gibt gefährliche Typen da draußen. Typen, mit denen die Polizei nicht fertig wird.“ Ich beugte mich ein Stückchen vor und zeigte ihr meine Metallhand. „Welche wie wir müssen den Menschen zeigen, dass es Leute gibt, die sich zwischen sie und die Gefahr stellen. Wir könnten den Unterschied machen.“
    Das Dröhnen verstärkte sich. Ich spürte einen seltsamen Druck in meinem Kopf, so als würde jemand mein Gehirn von innen nach außen drücken. Meine Augen waren wie gefesselt von den dunklen Löchern in Lenmanas Gesicht. Ich konnte den Blick nicht mehr abwenden und saß still auf dem Sofa, während die Indianerin mich weiter anstarrte.
    Fremder Zugriff erkannt. Starte Schutzprotokoll Delta.“
    Ich erstarrte. „Oh, crap.“
    Zugegeben: Die Vorteile, die einem ein Computerchip im Kopf brachte, waren nicht von der Hand zu weisen. Zum Beispiel berechnete CYPRESS mir immer genau, wie ich aus verfahrenen Situationen herauskam. Außerdem konnte sie mir Nachtsicht geben, und sie sorgte dafür, dass meine Beine und der Arm funktionierten.
    Allerdings war die Computerdame in meinem Kopf sehr eigensinnig. Ich hatte nichts davon gewusst, dass Lenmana meine Gedanken lesen konnte, aber ich hatte CYPRESS im Voraus klar gemacht, dass sie keines ihrer seltsamen Protokolle aktivieren sollte, solange ich nicht unmittelbar in Gefahr war.
    „Lass sie rein, CYPRESS! Verdammt! Halt dich an den Plan!“ Noch während ich diese Worte schrie, zuckte ein blauer Blitz durch mein Sichtfeld, und ich sah, wie Lenmana heftig zurückzuckte, sich wieder fing, und danach wütend aufschrie.
    „Was ist das? Du willst Lenmana eine Falle stellen? Dafür brauchst du mehr als blaue Messer in deinem Kopf.“
    Sie hat angefangen, von sich selbst in der dritten Person zu sprechen. Ich rate zum Rückzug.“
    „Das ist alles deine Schuld! Sie hat mir zugehört!“
    Es tut mir leid. Mein Schutzprotokoll hat sich ohne mein Zutun aktiviert. Ihr Bewusstsein ist für exakt fünf Stunden vor allen Zugriffen sicher.
    „Großartig.“ Ich hob die Hände. „Warte! Es war keine Absicht! Ich will nicht gegen dich kämpfen!“
    „Lenmana hat bereits Kriege überstanden, als du noch nicht einmal geboren warst, Küken. Möge die Kraft des Manitu dich vernichten.“
    Wenn ich es nicht selbst gesehen hätte, hätte ich es vermutlich selber nicht geglaubt: Der Körper des Mädchens verwandelte sich in eine Gestalt aus pechschwarzer Materie. Als sie sich erhob, glich Lenmana mehr einem wandelnden Schatten als einem Menschen, und ich fragte mich, ob dies wohl das Letzte gewesen war, was auch all die anderen Opfer der Indianerin gesehen hatten. Irgendwo in weiter Ferne mischte sich der Klang einer Flöte in die Trommeln.
    „CYPRESS, was zur Hölle ist da los?“, schrie ich, und dann erwischte mich … etwas. Ich konnte nicht einmal genau sagen, was es war, ich sah nur eine schwarze Welle auf mich zu rasen, und dann fühlte es sich an, als würde ein Truck frontal in mich hinein krachen. Ich wurde quer durch den Raum geschleudert und knallte gegen die Wand. Der Aufprall presste sämtliche Luft aus meinen Lungen, und ich lag einige Momente am Boden, während ich darauf wartete, wieder atmen zu können. Durch einen Schleier aus Schmerzen und ein seltsames Klingeln in meinem Ohr drang CYPRESS' Stimme zu mir durch.
    Springen Sie.“
    Ich hustete, stieß mich nach vorn ab und sprang hinter das dritte Sofa, das eine, das schräg vor dem Fernseher stand. Mit einem Mal war das Licht weg, alles versank in Dunkelheit, und ich brauchte ein paar Sekunden, bis sich meine Augen daran gewöhnt hatten.
    „Was geht hier ab?!“
    Ihr Körper ist komplett entmaterialisiert, und trotzdem nehme ich die wichtigsten Vitalfunktionen wahr. Das sollte eigentlich nicht möglich sein.“
    „Auf Englisch, bitte!“ Ich riss den Kopf herum und suchte das Mädchen, aber es war verschwunden. Eben hatte sie noch auf dem Sofa gestanden. Seltsam.
    Sie hat keinen festen Körper mehr, aber sie lebt noch.“
    „Wo ist sie?“ Mein Blick huschte hierhin und dorthin, ohne Erfolg. „Ist sie abgehauen?“
    Im Gegenteil. Sie ist überall.“
    Ich spürte, wie mein Herz einen Schlag aussetzte. „Oh, wie sehr ich Magie hasse.“
    Das Fenster.“
    Ja, das war eine gute Idee. Leider hinderten mich die Tentakel aus Finsternis, die auf einmal aus dem Boden wuchsen, an der Flucht. Sie streckten sich in meine Richtung, und nur ein überhasteter Sprung nach hinten rettete mich. Ich rannte quer durchs Zimmer, um in Bewegung zu bleiben, und sprang über immer neue Tentakel hinweg.
    „Sag mir, dass du das auch gesehen hast.“
    Natürlich. Ich sehe alles, was Sie sehen.“
    Das vorher so einladende Wohnzimmer hatte sich in einen schwarzen Höllenraum verwandelt, in eine Suppe aus Verzweiflung und Verdammnis, und ich konnte nur hoffen, da irgendwie lebend herauszukommen.
    Eins stand fest: Meine Gegnerin spielte in einer komplett anderen Liga als ich. Mit Muskeln und Stahl konnte ich unmöglich gegen Magie ankämpfen. Mein Blick huschte durch den Raum. CYPRESS fand einen Ausweg und projizierte eine kleine, blaue Markierung vor meine Augen, die auf Kopfhöhe vor dem Fenster schwebte. Ich erkannte die Aufforderung und rannte los.
    „DU BLEIBST HIER.“ Es war dieselbe, dröhnende Stimme, die ich auch vorhin schon gehört hatte, und sie hallte durch meinen Kopf wie eine gewaltige Trommel. Es geschah wie in Zeitlupe. Ich sah eine Bewegung aus dem Augenwinkel, riss den Kopf herum, und sah eine schwarze Faust auf mich zukommen. Sie war so groß wie eine verdammte Abrisskugel. Ich tat das einzig Sinnvolle: Ich ließ mich flach auf den Boden fallen und spürte, wie der Schlag über mir vorbei zischte. Statt meiner Brust traf die Faust die Wand neben mir und riss ein gigantisches Loch mitten in den Beton. Es krachte laut. Betonstaub und kleine Splitter rieselten auf mich herunter.
    Sie müssen hier raus.“
    „Ach, wirklich?!“, brüllte ich, sprang hoch, suchte nicht einmal mehr nach Lenmana, sondern fixierte das Fenster, lief darauf zu, hob die Arme schützend vor mein Gesicht, und sprang. Das Glas zersprang unter dem Aufprall in einen Hagel voller kleiner Kristalle. Für einen Moment wähnte ich mich in Sicherheit, doch dann streckten sich zwei Schattententakel nach mir aus und umschlangen mein linkes Bein. Ich wurde aus der Luft gepflückt wie ein überreifer Apfel.
    In diesem Moment wünschte ich mir, ich hätte mir die Rückseite von Lenmanas Haus vorher angesehen. Unter mir ging es gut und gerne sechs Meter in die Tiefe, vielleicht auch sieben. Die Indianerin hatte dort unten eine Terrasse im Garten, die aus kleinen Pflastersteinen bestand. Und diese Steine sahen auch bei Nacht hart aus. Es wäre weniger schlimm, wenn die Terrasse sich auf Erdgeschossniveau befunden hätte, aber den Gefallen tat sie mir nicht.
    Glauben Sie, unter der Plane da ist ein gefülltes Schwimmbecken?
    „Das ist keine Plane.“ Ich sammelte mich, holte tief Luft, und trat mit dem rechten Bein aus, mitten in die Tentakel hinein. Irgendetwas Festes befand sich darin, das spürte ich am Widerstand. Der Griff lockerte sich.
    Ich stürzte.
    Und ich krachte mit dem Arm voran auf die metallene Poolabdeckung. Es gab einen lauten Knall, in den sich ein metallisches Klingeln mischte, und als ich mich hochrappelte, war die Schutzplatte des Pools eingedrückt wie eine durchgelegene Matratze. An den Seiten schwappte Wasser auf die kleinen Steine.
    Elegant wie immer. Und nun würde ich verduften.“
    „Okay“, ächzte ich, stöhnte ausgiebig, und kämpfte mich auf die Beine. Über mir quoll ein dichter schwarzer Nebel durch das kaputte Fenster. Ich konnte kaum erkennen, was sich im Zentrum dieses Nebels befand, aber ich hatte so eine Befürchtung. Die Indianerin hatte Blut gewittert.
    Mein Blut.
    Ich rannte ohne weiter nachzudenken durch den Garten und sprang durch die Hecke.
    Hey, sei ehrlich: Hättest du eine bessere Idee gehabt?


    Fox on the run
    You scream and everybody comes a-running
    Take a run and hide yourself away
    Fox on the run


    Das lief besser als erwartet“, konstatierte CYPRESS.
    Es war etwa fünfzehn Minuten später. Ich war wieder auf den Straßen von Malibu unterwegs, diesmal aber in der entgegengesetzten Richtung. Ich wagte es nicht, über die Schulter zu sehen, denn auf eine neuerliche Konfrontation konnte ich echt verzichten. Um mich herum herrschte die übliche Stille.
    „Willst du mich eigentlich verarschen? Du und dein Notfallprotokoll, ihr habt es komplett versaut!“
    Sie wussten, dass dies passieren könnte.“
    Ich seufzte schwer. „Schon. Aber ich hätte nicht gedacht, dass sie sofort ausrastet.“
    Seien Sie nicht enttäuscht. Sie haben hallo gesagt und sind verschwunden. Alles exakt nach Plan.“
    Nun musste ich lachen. Zwar war mir klar, dass CYPRESS sich mal wieder über mich lustig machte, aber sie hatte recht. „Stimmt. Jetzt weiß ich, was sie drauf hat. Das mit dem Gedankenlesen war ein bisschen unerwartet, aber immerhin leben wir noch.“
    Was haben Sie nun vor? Wollen Sie beim nächsten Mal eine große Taschenlampe mitnehmen?
    Ich drehte die Musik auf und schüttelte den Kopf. „Nicht nötig. Ich kenne da jemanden, der mir helfen wird, das Mädel zu überzeugen. Erinnerst du dich noch an Rick O'Connor?“
    Während CYPRESS energisch protestierte, lief ich weiter durch das nächtliche Malibu und legte mir einen Schlachtplan für meinen nächsten Anlauf zurecht. Zwar stand ich noch nicht unter Zeitdruck, aber je schneller ich das Team zusammentrommelte, umso eher konnte ich mit dem wirklichen Feldzug loslegen.
    Immerhin mussten wir die Welt retten.


    Gut, nächstes Mal gibt's wie versprochen einen männlichen Protagonisten. Man sieht sich.


    mfg
    #shiprekt

  • Ahoy Capt’n!


    New content, new comment.
    Dann mal los!


    Lex on the run


    Es ist wahnsinnig schwer für mich zu deinen Texten was zu sagen, weil ich jedes Mal das Gefühl hab, ich bin gar nicht qualifiziert dafür. Meine persönliche Vorliebe am ausführlichen Beschreiben von Umgebungen lässt mich zwar manches Mal denken, dass man die ein oder andere Stelle noch etwas deutlicher — gerade in puncto Umgebung — hätte beschreiben können, andererseits schreibst du aus der Ich-Perspektive und wenn Lex es nicht für nötig hält irgendwas genauer darzustellen, dann … nun ja, hält sie es nicht für nötig. Da kann ich ja auch kaum was dagegen sagen.
    Ich mag ja den Aufbau des Plots hier. Es wirkt alles am Anfang so … naja, normal irgendwie. Auch wenn CYPRESS schon sagt, dass die Indianerin wohl über übernatürliche Kräfte verfügt. Und da hab ich mir schon gedacht: Oh, was da jetzt wohl kommt? Nachdem ich Lenmana ja nicht aus der anderen Story kenne — falls du da schon über ihre Kräfte gesprochen haben solltest — ist das für mich ja alles Neuland. Trotzdem fand ich’s interessant, dass Lenmana in so einer noblen Gegend wohnt. Vor allem, ganz allein? Ist ja auch irgendwie komisch, aber ich kenne mich nicht aus mit Leuten, die übernatürliche Kräfte besitzen.
    Schön find ich’s ja immer, wie du die Parkour-Tricks — sagt man das so? — beschreibst. Obwohl ich davon ja keine Ahnung hab, kann ich mir das dadurch immer ganz gut vorstellen.
    Als sich Lenmana und Lex dann gegenüberstehen merken ja beide, dass die andere nicht „normal“ ist. Also, von Lex wusste ich ja, dass sie etwas über Lenmana weiß, aber jetzt weiß Lenmana auch was von Lex. Als du dann das Dröhnen in Lex’ Kopf beschrieben hast, dachte ich mir schon, oh, jetzt kommt irgendwas ungutes! Und tatsächlich bricht genau dann das Chaos aus, als sich das Schutzprotokoll von CYPRESS startet. (Interessant, dass sie im Nachhinein sagt, sie konnte nichts dafür tun. Also wusste die AI nichts von ihrer eigenen Programmierung? Oder ist die Programmierung bewusst von CYPRESS in diesem Punkt nicht steuerbar? Mann, ich bin so wahnsinnig neugierig, sorry.)
    Dass Lenmana dadurch derartig austickt hätte ich allerdings auch nicht erwartet, andererseits … nun ja, wenn hier wirklich alte Magie auf hochentwickelte Technologie trifft, dann kann das natürlich jemand komplett falsch verstehen. Was Lenmana wohl gedacht hat. Leider scheint bei ihr dann komplett eine Sicherung durchzubrennen, denn deswegen einfach jemanden umbringen wollen, puh, ziemlich hart. Lex schafft es — wenn auch nur knapp — aus der Sache raus. Wirklich dran gezweifelt hab ich nicht, aber knapp war’s trotzdem irgendwie. (Der Sprung durch die Glasscheibe war irgendwie so „Mirror’s Edge“ — gefiel mir.) Welche Kräfte am Ende bei Lenmana am Werk waren, erfährt man leider nicht, dabei bin ich doch so neugierig! Trotzdem ist es blöd gelaufen, weil ob Lenmana nun später noch mal mit sich reden lässt oder nicht … mhm … ungewiss, würd ich behaupten. Sie ist extrem schwer einzuschätzen, find ich. Vielleicht macht sie gerade das so gefährlich? Aber Lex hat am Ende ja einen Rick erwähnt, wenn der helfen könnte, wäre das sicher praktisch!
    Ich frag mich ja, wofür Lex so ein Team braucht … und welche Gefahren da noch auf sie zukommen werden, wenn sie versucht dieses Team zu bilden. Spannende Sache das alles!
    Dieses Universum mit Lex und Frances gefällt mir jedenfalls total — dabei hatte ich bisher an Urbanfantasy keinerlei Interesse. Freu mich also auf mehr hierzu! Aber erstmal bin ich gespannt welchen männlichen Protagonisten du im nächsten Text vorstellen wirst. Bin jetzt schon neugierig.


    Bis zum nächsten Mal. (: