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Vote
In diesem Thema habt ihr eine bestimmte Anzahl an Punkten zur Verfügung, die ihr den Texten im Tab "Abgaben" geben könnt. Dabei ist zu beachten, dass ihr nahezu frei wählen könnt, wie ihr die Punkte verteilt und welche Texte mehr Punkte als andere bekommen. Achtet jedoch darauf, dass ihr die Punkte, die euch zur Verfügung stehen, komplett ausschöpft. Votes, welche zu wenige oder zu viele Punkte enthalten, können leider nicht gezählt werden. Des Weiteren solltet ihr eure Punkte mindestens auf drei Texte verteilen, eure Wahl begründen und natürlich nicht für eure eigenen Texte voten.
Es ist außerdem hilfreich, euch das "How to vote-Topic" anzusehen. Schreibt ihr in dieser Saison besonders viele Votes, habt ihr die Chance auf Medaillen. Weitere Informationen findet ihr hier: Informationen und Regeln zu den Wettbewerben.
Wer neben den Votes noch weitere Kritik für sein Werk erhalten möchte, aber kein eigenes Thema erstellen möchte, der kann dies gerne in unserem Feedback-Thema für fertige Texte tun!
Zitat von AufgabenstellungSommer
Nach positiver Resonanz im letzten Jahr und auf mehrmaligen Wunsch hin haben wir beschlossen, wieder einen FFxFF-Collab zu veranstalten - hierbei müssen zwei Autoren im Team gemeinsam eine Abgabe erarbeiten. Dieses Mal dreht sich thematisch alles um den Sommer. Ein Pokémonbezug ist nicht Pflicht.
Das Besondere dieses Mal ist jedoch, dass ein Partner aus dem Team eine kurze Erzählung schreibt, während der andere ein Gedicht schreibt, welches in diese kurze Erzählung eingebunden werden muss.
Ihr könnt 8 Punkte verteilen, maximal 4 an eine Abgabe
ZitatAlles anzeigenID: [DEINE USERID]
AX: X
AX: X
Beispiel:
ID: 27258
A16: 3
A1: 5
A3: 1
A7: 1
A9: 2
Wenn ihr nicht wissen solltet, wie ihr eure ID herausfindet, könnt ihr dies unter anderem hier nachlesen.
Der Vote läuft bis Sonntag, den 23.08.2015, um 23:59 Uhr.
[tab=Abgaben]
Die Klimaanlage läuft auf Hochtouren. Vergeblich. Schon heute Morgen wurde das Auto von der Sonne in einen Backofen verwandelt. Ab und zu wird die Hitze von einer Windbö unterbrochen, die durch die offenen Fenster hereinweht. Der Highway ist mit Ausnahme der Rostlaube, in der ich sitze, vereinsamt. Sauber wie der Schnitt eines Skalpells zerschneidet er die ausgetrocknete Landschaft. Braune Büsche säumen den Straßenrand. In der Ferne sehe ich ein paar Berge.
„Ich hoffe, Emily ist nicht allzu sehr beleidigt, dass wir sie nicht mitgenommen haben“, sagt Oliver plötzlich. Ich wende träge den Kopf. Ihm ist genauso heiß wie mir. Sein T-Shirt klebt ihm am Körper, die blonden Haare sind schweißnass.
„Ach was. Sie wird schon ein paar Tage ohne mich überleben“, erwidere ich dann.
„Bist du sicher? Ihr seid normalerweise unzertrennlich.“ Er klingt skeptisch.
„Klar bin ich sicher. Sie versteht das. Es war schon seit Monaten so geplant, nur wir zwei. Nach all diesen Klausuren haben wir uns das verdient.“
„Das haben wir wirklich.“
„Ich kann immer noch nicht glauben, dass du dir diese Retro-Karre besorgt hast. Der Wahnsinn.“
Oliver lächelt stolz. Der Wagen bedeutet ihm einiges, egal, wie alt die Karre sein mag. Auch über die halb defekte Klimaanlage kann er hinweg sehen. Immerhin funktioniert das Radio einwandfrei. Ruhige Indiemusik dringt aus den Lautsprechern:
Straßenschilder lenken weise
durch das zielstrebige Leben
alle Menschen auf der Reise,
während sie ihr Bestes geben.
Folge der Straße wie empfohlen.
Folge dem Ziel, das ich anstrebe.
Unaufhaltsam die Räder rollen
und ich vergesse, dass ich lebe.
„Ich habe lange davon geträumt, diese Reise zu machen“, sagt Oliver dann.
„Ich auch.“
Jahrelang, um genau zu sein. Wenn ich nur daran denke, wie lange er gebraucht hat, um mich auch nur nach einem Date zu fragen, muss ich grinsen. Es war am Ende einfacher als ich dachte. Wir haben uns vor vier Tagen von unseren Familien und Freunden verabschiedet, sind ins Auto gestiegen, und dann nichts wie raus in die weite Welt. Dieses Gefühl war mir anfangs absolut neu.
„Ein weiser Mann sagte einst: Nur, wenn man täglich aus der Tiefkühltruhe isst und die einzige Sorge die ist, ob auf den nächsten hundert Meilen ein Cop auf dich und deinen Joint wartet, dann darf man sich wahrhaftig frei fühlen“, sinniere ich. Oliver prustet los.
„Was? Wer sagt denn so etwas?“
„Du. Gestern. Kurz nach besagtem Joint.“
„Oh.“ Kurzes Schweigen. Mein Freund knetet nervös seine Unterlippe.
„Stimmt etwas nicht?“
„Nein! Alles okay. Uhm, habe ich noch mehr gesagt, von dem ich nichts mehr weiß?“
„Nicht dass ich wüsste.“ Ich zögere kurz, gebe dann aber der Verlockung nach. „Naja, außer, dass du offenbar Interesse an gewissen Handlungen hast, die neben mir noch Emily einschließen und für gewöhnlich im Schlafzimmer stattfinden.“ Nun reißt er die Augen auf und starrt mich an.
„Ich habe WAS?!“
„Schau auf die Straße. Das war ein Witz.“
„Du machst mich fertig“, stöhnt er. Ich lache ihn an. Manchmal ist er so naiv, dass es schon süß ist. Das muss ich natürlich ausnutzen.
„Vergiss es. Also, wo stehen wir?“
„In ein paar Stunden sind wir an der Grenze. Ich will dir unbedingt den Fremont-Troll zeigen. Das wird der Hammer.“ Nach einem ausgiebigen Räuspern hat Oliver seine Fassung wiedergefunden.
„Fremont-Troll?“
„Du bist hier die Künstlerin. Du solltest das wissen“, zieht er mich auf. Ich verdrehe die Augen.
„Tut mir leid, o Sokrates.“
„Der Fremont-Troll ist eine Plastik, die sich unter der Aurora Bridge in Seattle befindet.“ Aurora Bridge? Da klingelt was, auch wenn ich es nicht genau benennen kann.
„Davon habe ich tatsächlich schon gehört.“
Mit ihm werden mir die langen Stunden auf den Highways nicht langweilig,weil wir quasi pausenlos über Gott und die Welt miteinander reden können. Er hat ein unglaubliches Allgemeinwissen, obwohl er sich in der Schule eigentlich nur auf Physik konzentriert hat.
Ich drehe das Radio ein wenig auf. Der Song gefällt mir.
Ein weiterer Tag ist letztlich um.
Ich komme meinen Zielen näher.
Ein weiterer Tag ist plötzlich um.
Nur welcher? Das weiß ich bloß nicht mehr.
Ich halte an und bin ohne Plan,
vorbei an all den Schildern.
Vor mir hat sich aufgetan
die Front aus finst'ren Wolkenbildern.
Auf einmal fegt eine erfrischende Böe durch den Wagen. Endlich ein wenig Abkühlung.
„Entweder das, oder Country. Viel Auswahl gibt es hier draußen nicht“, sage ich, als Oliver die Stirn runzelt. Dann merke ich, dass er nicht wegen der Musik so irritiert aussieht, sondern wegen der schwarzen Wand, die hinten am Horizont steht und langsam größer wird.
„Hatten die Regen angesagt?“ Er klingt überrascht, was mich zu der Annahme verleitet, dass es eigentlich sonnig bleiben sollte.
„Ich weiß nicht. Du hattest die Route und die Vorhersage gecheckt. Ich war für die Snacks zuständig, schon vergessen?“
„Mist. Sorry, Rieke. Ich suche einen Rastplatz.“ Aber so sehr wir auch suchen, wir finden keinen. Der Highway will uns nicht gehen lassen.Im Laufe der nächsten halben Stunde wird es immer dunkler. Die ersten Tropfen fallen auf die Frontscheibe. Der Himmel ist zweigeteilt. Auf unserer Hälfte ist es noch relativ hell, dafür aber nehmen die Wolken schon einen rostroten Ton an, auf der anderen Hälfte herrscht die Finsternis.
„Spürst du es?“, frage ich.
„Was meinst du?“
„Die Chrysalis.“
„Kenne ich nicht.“
„Wow. Das ist neu. Etwas, das unser Einstein nicht weiß“, spöttele ich, werde dann aber wieder ernst.
„Chrysalis ist das Gefühl, welches man bekommt, wenn man während eines Sturms in einem Haus sitzt. Man sieht raus und spürt die Elemente, ist aber von ihnen getrennt.“
„Ah. Und du spürst das?“
„Jeder spürt es. Nur weiß nicht jeder, was er da spürt. Halt bitte an.“ Oliver drückt auf die Bremse. Wir halten mitten im Nirgendwo. Der Regen prasselt auf das Dach und auf die Frontscheibe, wo er in kleinen Strömen herabfließt. Olivers neuer Scheibenwischer tut sein Bestes, verliert den Kampf gegen die Regentropfen aber dennoch. Durch die Frontscheibe sieht man nichts mehr.
Ich drücke die Tür auf, krame in der Kühltruhe auf der Rückbank nach zwei Flaschen, finde sie, und laufe hinaus in den Regen. Jung, wild und frei – diese drei Worte habe ich noch nie so gelebt wie in den letzten paar Tagen. Der sandige Boden ist schon mit kleinen dunklen Punkten gesprenkelt.
„Hey, was hast du vor?!“ Ich bleibe stehen und lächele breit.
„Das ist nur ein kleiner Schauer. Lass uns hier bleiben.“ Oliver sieht mich zweifelnd an, aber er weiß, wie gern ich mich dort aufhalte, wo es nass ist. Das hier ist zwar nicht meine Schwimmhalle, aber mindestens genauso erfrischend.
„Das ist mehr als nur ein kleiner Schauer.“
„Nur wenige Menschen können den Regen spüren. Der Rest wird lediglich nass“, entgegne ich. Manchmal frage ich mich, wie es trotz des heftigen Regens so warm sein kann. Ich hebe einen Arm, krempele den Ärmel meines Hemds hoch und sehe zu, wie die Regentropfen immer schneller auf meiner Haut zerplatzen. Es gibt nichts Schöneres als Sommerregen. Er wäscht den Schweiß und den Staub ab. In den letzten Wochen entkam man beidem nicht. Die Hitzewelle hat unsere Stadt voll erwischt, Ventilatoren und Kühlmittel waren schon lange ausverkauft. Umso dringender habe ich mir den Regen gewünscht. Die Luft riecht während des Regens herrlich.
„Endlich.“ Mit geschlossenen Augen lege ich den Kopf zurück und genieße das Gefühl des Regens auf meinem Gesicht. Innerhalb weniger Sekunden sind das Hemd und meine Jeans durchnässt. Ich verstehe nicht, wieso die meisten Menschen ein unfassbar blödes Gesicht ziehen und die Schultern hochziehen, sobald es anfängt, zu regnen. Dadurch werden sie nicht weniger nass.
Ich halte inne, komme ab.
Fühle mich dennoch nicht verloren.
Der Regen fällt auf mich herab,
fühle mich dadurch neu geboren.
Mein Tag holt mich nun endlich ein.
Ich werd' mir selber so gewahr!
Wie konnt' es all die Zeit nur sein,
dass ich ihn hielt für ersetzbar.
„Komm schon! Es ist herrlich“, rufe ich Oliver zu. Er wirft einen Blick in den Himmel. Es blitzt kurz, der Donner lässt aber lange auf sich warten. Endlich steigt er aus dem Wagen.
„Du bist verrückt, Rieke“, sagt er kopfschüttelnd.
„Verrückt nach dir. Hier, nimm. Gedeelde smart is halve smart.“ Ich reiche ihm die zweite Flasche. Manchmal geht die Belgierin mit mir durch.
„Was heißt das?“
„Geteiltes Leid ist halbes Leid.“ Er nimmt seine Flasche entgegen und stößt sie gegen meine. Es klirrt leise.
„Auf unseren Abschluss. Und auf eine erfolgreiche Zukunft“, sagt Oliver feierlich.
„Und auf uns“, füge ich hinzu.
„Yeah.“
Für einige Momente ist es ruhig, nur das gleichmäßige Rauschen des Regens ist zu hören.
„Ich fühle mich im Regen so lebendig.“ Wir sind allein, es gibt keine Regeln, keine Klausuren, nur uns beide und die endlose Freiheit. Nicht einmal die vielen Stunden im Schwimmbecken haben bisher etwas Vergleichbares in mir ausgelöst.
„Wir sollten ins Auto zurück. Der Regen wird stärker“, bemerkt Oliver.
„Oder wir tanzen. Komm, sei nicht so zugeknöpft! Wir haben die Schule gepackt. Was willst du im Auto? Herum sitzen? Das tun wir noch lange genug.“ Er gibt seine Bedenken nun doch auf und tritt näher. Wurde auch Zeit.
„Du hast recht. Tanzen wir.“
Wo diese Faszination nach Wasser herkommt, weiß ich nicht. Es bringt Leben, kann aber auch große Zerstörungen verursachen. Vielleicht fühle ich mich deswegen so angezogen davon. Ich drehe mich mit ausgestreckten Armen im Kreis. Oliver sieht mir zu, darum schenke ich ihm ein strahlendes Lächeln als Kontrast zum Regen. Wenn ich diesen Moment doch nur festhalten und auf ewig behalten könnte... aber dann wäre es kein Moment mehr.
Er tritt näher, legt mir eine Hand an die Hüfte und hält mit der anderen meine Linke. Wir haben wirklich Glück, dass dieses Gewitter kam. Manchmal muss man das Glück dort suchen, wo andere Pech sehen. Oder vielleicht sind wir wirklich verrückt. So oder so, ich werde diesen Tag nie vergessen, an dem wir durch den Regen tanzten. Nie.
Heut lach ich in die Wolken rein
und mein Weg wird breiter.
Der Tag bleibt nun auf ewig mein,
auch wenn ich fahre weiter.
„Dein letzter Brief ist gestern bei mir angekommen und ich muss dir jetzt einfach antworten, nachdem du mich mit ihm ganz schön auf Trab gehalten hast.
Weißt du noch, als wir letzten Sommer in Camp Mohn ankamen? Wir beide waren nicht sonderlich begeistert darüber, dass unsere Eltern und in dieses Volleyball-Sommerlager gesteckt hatten, wobei ich ja wenigstens keine weite Anreise hatte. Ich muss gestehen, dass es dann zusammen mit dir eigentlich ziemlich lustig war, auch wenn ich mir noch immer angenehmere Sachen vorstellen kann, als Beachvolleyball bei gefühlten 30°C im Schatten zu spielen. Aber das muss ich dir ja nicht erzählen, du weißt das ja schließlich selbst gut genug. Als wir uns versprachen zu schreiben, hatte ich ja keine Ahnung, was dabei raus kommen würde und ich muss sagen, du warst ganz schön clever; hast die ganze Zeit in deinen Briefen eine Brotkrumenspur gelegt, ohne dass ich dies mitbekommen hab. Aber lass mich dir am Besten erst einmal alles erzählen von dem Moment an, als du mich auf diese Schatzsuche geschickt hast ...
***
Dies ist der Start, dies ist das Ziel, die Schnitzeljagd beginnt,
Dies ist wahr, dies ist das Spiel, wenn Zeit wie Sand zerrinnt.
Ein Gedicht ein Hinweis ist, komm und folge mir,
Bis du dann am Eingang bist, und mein Herz bei dir.
Langsam ließ ich meine Hand mit dem Brief in ihr sinken und wie vom Blitz getroffen konnte ich nicht anders, als von meinem Bett auf zuspringen und durch mein kleines Zimmer mit seinen hellen Holzmöbeln zu meinem Schreibtisch zu eilen, von dem aus man einen wunderschönen Blick auf die Ostsee hatte. Eilig durchwühlte ich die Schublade und keine drei Sekunden später hielt ich einen kleinen Stapel Briefe in der Hand, die sich relativ schnell alle auf dem Boden ausgebreitet wiederfanden. Aufregung erfasste mich, als ich zunächst diejenigen heraussuchte, denen am Ende im P.S. ein Gedicht angehängt war. Anschließend ordnete ich die verbleibenden vier Blätter noch nach Datum. Überrascht hielt ich kurz inne und stutze, als ich die ältesten Verse erneut las.
Wenn du weißt, wo ich war,
Folge mir nächstes Jahr.
Ich zähle die Sekunden schon
Bis zum nächsten Mal im Mohn.
Ein kurzer Blick auf die anderen drei und ich war mir sicher. Absolut alle enthielten irgendwelche Ortsangaben. Wie hatte ich nur so blind sein können, dass mir dies bisher nicht aufgefallen war? Was auch immer mich am Ende erwarten würde, ich war gewillt, die Schatzsuche anzutreten und mich von den Reimen führen zu lassen. Die restlichen Briefe verstaute ich wieder sorgfältig in der Schublade. Aus meinem Kleiderschrank war flott ein dunkel-grüner Rucksack geangelt. Er war perfekt; nicht zu klein, nicht zu groß, ausgesprochen bequem und würde sich hervorragend für mein Vorhaben eignen.
Wenige Augenblicke später befand ich mich auf meinem Fahrrad, was mit seinem schönen, blauen Anstrich in der Sonne glänzte. Bis zu Camp Mohn musste ich nur zwanzig Minuten fahren, wenn ich mich beeilte. Es lag nur etwas mehr als ein Dorf weiter.
Als ich ankam, lag das Camp verlassen vor mir. Irgendwie wirkte es ein wenig unheimlich. Letzten Sommer war hier solch ein Trubel und jetzt sah man keine Menschenseele. Ist ja auch kein Wunder, wenn das Camp erst in drei Wochen beginnt, rügte ich mich selbst. Mit ein wenig mehr Zuversicht schwang ich mich über die Absperrung und blieb auf dem sandigen Mittelplatz, von dem aus sternförmig die kurzen Wege zu allen Gebäuden abzweigten, stehen. Hauptsächlich waren es kleine Holzhütten, in denen die Campteilnehmer schliefen. Drei verbleibende Wege führten zur Mensa, den Toiletten und dem Strand mit seinem Beachvolleyballfeld.
Nach einer kurzen Verschnaufpause kramte ich den nächsten Brief aus meinem Rucksack hervor und las:
Ein Ball, ein Schlag, ein Meeresrauschen.
Ein Klatschen, Jubeln, lass uns lauschen!
Wir sind ein Team, nur du und ich,
Einmal, immer, ewiglich
Damit konnte definitiv nur ein einziger Ort gemeint sein. Ich setzte mich wieder in Bewegung und folgte dem Pfad, der mich über die Dünen führen würde. Oben angekommen konnte ich allerdings nicht anders, als für eine paar Atemzüge zu verweilen. Man sollte meinen, ich sei den Anblick des Meeres schon gewöhnt, kann ich es doch täglich sehen. Aber es verzauberte mich immer wieder aufs Neue; diese funkelnde Weite gucke, die zum Träumen anregt. Mit einem leisen, wehmütigen Seufzer kam ich wieder zu mir. Das Meer musste jetzt erst einmal warten, denn ich war immerhin aus einem ganz bestimmten Grund hierher gekommen. Mit ein paar schnellen Handgriffen zog ich meine Sandalen aus und rannte barfuß den leichten Abhang hinunter zu den Volleyballfeldern. Zumindest dorthin, wo sie eigentlich waren. Momentan erinnerten nur noch einige Pfosten an die Netze, die da einst hingen und bald wieder hängen würden. Nach einigen Atemzügen der angenehm salzigen Meeresbrise holte ich den nächsten Brief hervor. Zwei Plätze waren bisher gefunden, die Hälfte erreicht, um ans Ziel zu gelangen.
Wie Motten sehen wir das Licht,
Dass sich dort im Wasser bricht.
Und immer zieht es uns hinan;
Lass uns gehen, irgendwann.
Licht und Wasser … Das Wasser hatte ich auf jeden Fall schon mal vor sich. Aber was könnte mit Licht gemeint sein? Vielleicht eine Laterne oder so? Suchend ließ ich meinen Blick über den Strand gleiten, wobei ich wenig Hoffnung hatte, auf besagte Laterne zu stoßen. Denn wer würde schon ein ganzes Jahr lang eine Laterne hier draußen lassen?
Resigniert ging ich ein paar Schritte weiter in Richtung Meer und ließ mich dann in den Sand plumpsen, genau so, dass ich sicher im Trockenen saß, während die letzten Ausläufer der Wellen gerade so meine Füße noch erreichten. Was konnte nur mit diesem Gedicht gemeint sein? Wenn es aufeinander aufbaut, was bei den ersten beiden der Fall war, dann müsste es von hier aus weitergehen. Aber wohin? Gedankenverloren hob ich eine kleine, rötliche Muschel auf, die neben mir gelegen hatte. Ein wenig erinnerte sie mich an jene Muschel, die ich vor fast einem Jahr am Strand gefunden hatte und an dich weitergegeben hatte. Ach, was war das doch für eine schöne Zeit gewesen ... Aber wie auch immer, es würde sicherlich nicht helfen, wenn ich jetzt hier sitzen bliebe. Dann würde ich den nächsten Ort nie finden. Ich legte die Muschel auf ihren ursprünglichen Platz zurück, stand wieder ein wenig entschlossener auf und klopfte mir die trockenen Sandkörner von den Händen.
Eigentlich erhoffte ich mir nicht wirklich viel davon, aber erneut blickte ich mich um und ließ dieses Mal meinen Blick auch den Strand entlang in die Ferne schweifen. Und da sah ich ihn! In der Ferne ragte ein Leuchtturm gen Himmel. Ich kannte diesen Turm sehr gut, als ich noch klein war, hatten wir ihn an so manch einem schönen Tag besucht. Aber bisher war mir irgendwie nie aufgefallen, dass man ihn auch von hier aus sehen konnte.
Einen leisen Fluch murmelnd, weil das nächste Ziel so weit weg war, machte ich mich wieder auf den Weg. Ich wusste zwar nun, wohin ich als Nächstes musste, aber so wirklich konnte ich mich gerade nicht darüber freuen, musste ich doch erst einmal die paar Kilometer bis dahin über den Sand bei sengender Sonne überwinden. Zumindest konnte ich durch die seichten Enden des Wassers waten und das Platschen des Wassers war eine angenehme Abkühlung, an diesem Tag, der Stunde für Stunde wärmer zu werden schien.
Nach einer halben Ewigkeit blieb ich eine Weile stehen, um zu Verschnaufen. Der Leuchtturm war noch immer ein gutes Stück entfernt und langsam beschlichen mich Zweifel, ob wirklich der Leuchtturm mein nächstes Ziel sein sollte. Eigentlich wäre doch gar nicht die Zeit gewesen, über den Leuchtturm hinaus noch etwas zu verstecken. Immerhin waren wir den Großteil unserer Freizeit gemeinsam unterwegs, hier aber noch nicht zusammen gewesen. Konnte es also sein, dass ich mich geirrt hatte? Andererseits war der Leuchtturm so ziemlich das Einzige, was irgendwie auf das Gedicht zutreffen könnte. Nein, ich musste mich gewiss geirrt haben. In der Hoffnung, vielleicht zufällig den Ort im nächsten Gedicht zu kennen, kramte ich es aus meinem Rucksack hervor.
So haben wir schon manchen Krieg gemeinsam überstanden,
Nur um hier doch jeder ganz alleine zu versanden.
Doch wer suchet, findet dort auch einen kleinen Schatz.
Wer weiß, vielleicht gräbt einer einmal hier an uns'rem Platz.
Aber natürlich! Der Leuchtturm war gar nicht das nächste Ziel. Er sollte nur die Richtung vorgeben, in die man zu gehen hatte. Auf dem bisherigen Weg, war ich an einem alten Bunker vorbei gekommen, der inzwischen fast vollständig vom Sand bedeckt worden war. Ich hatte ihm keine besondere Beachtung geschenkt, weil ich ihn nicht für relevant gehalten hatte. Man traf zwar nicht täglich auf so etwas am Strand, aber ich hatte durchaus schon einige gesehen. Verlassen und vergessen. So schienen sie zumindest immer.
Dieser neuen Erkenntnis folgend machte ich auf dem Absatz kehrt. Ein wenig ärgerte es mich schon, dass ich das alles nicht am Anfang schon erkannt hatte, und dass ich nun zu weit gelaufen war. Aber es ließ sich ja nicht ändern und wenigstens wusste ich nun mit großer Sicherheit, wo ich tatsächlich als Nächstes hin musste.
Es dauerte auch gar nicht mal so lange, bis ich ihn dann auch wirklich vor mir sah. Die hellgrauen Mauern des Bunkers hoben sich ein kleines bisschen vom hellen Farbton des Sandes ab und bis auf die obere Kante konnte man nicht wirklich viel erkennen. Dort, wo ursprünglich mal der Eingang gewesen sein musste, lag eine Wand aus Sand und nur noch ein kleines Loch, vielleicht ein Meter im Durchmesser, gewährte Einlass in dieses Artefakt der Vergangenheit.
Aber wo sollte ich nun bloß zu Suchen beginnen? Das Ziel dieser Schatzsuche könnte überall hier versteckt sein. Am wahrscheinlichsten war es natürlich, dass es im Bunker selbst irgendwo war. Aber ein wenig fürchtete ich mich davor, alleine in unbekannte Dunkelheit zu steigen. Außerdem hatte ich sowieso keine Taschenlampe dabei und dort drinnen würde ich es ohne eine bestimmt nicht finden. Vielleicht würde ich ja aber auch gar nicht rein gehen müssen. Mit dieser kleinen Hoffnung legte ich alle Briefe vor mich und las sie mir nochmals durch. Es könnte ja sein, dass einer einen Hinweis enthielt, wo genau ich suchen müsste.
Bis du dann am Eingang bist, und mein Herz bei dir. Eigentlich kam nur diese Zeile als Hinweis in Frage. Alle anderen konnte sie einigermaßen ausschließen. Aber wenn da nun nur Eingang stand, vielleicht war dann auch tatsächlich nur der Eingang gemeint. Ich kletterte den kleinen Hügel zum Loch empor und schauderte ein bisschen, als ich meinen Blick in das Innere richtete. Aber ich durfte mich jetzt nicht ablenken lassen von solchen eigentlich ungefährlichen Dingen, wie irgendeinem dunklen Gebäudeinneren. Mit meinen Handflächen schaufelte ich Sand vom Eingang weg. Aufgrund der schieren Sandmassen kam ich allerdings nur langsam voran. Zentimeter für Zentimeter vergrößerte ich den Eingang des Bunkers, auch wenn meine Anstrengungen vermutlich kaum auffallen würden.
War da gerade wirklich was? Mir war so, als hätten ich das Äußere irgendeiner Box gestreift. Von Aufregung erfasst machte ich mich daran, an jener Stelle weiter zu graben und tatsächlich. Kurz darauf kam eine kleine, hölzerne Box zum Vorschein. Sie war zwar sichtlich von ihrem Jahr im Sand gezeichnet, aber schien noch vollständig heil zu sein und ließ sich auch ohne Probleme öffnen. In ihrem Inneren lag eine Muschel, die mir mit einem kräftigen dunkel-rot entgegen leuchtete. Die Muschel, die ich damals gefunden hatte. Nun aber hatte sie ein kleines Loch und war an einem Lederband aufgehängt. Ein wenig ehrfürchtig entnahm ich die Muschel und hängte sie mir um.
***
Ich kann dir also sagen, dass die Suche geglückt und der Schatz geborgen ist. Die Kostbarkeit auf Höhe meines Herzens beweist das. Nun dauert es nicht mehr lange, bis wir uns wiedersehen.
P.S.:
Und ich weiß, wo es war,
Komm mit mir dieses Jahr.
Wir sind ein Team, nur du und ich
Einmal, immer, ewiglich.
Wenn wir nur zusammensteh'n
Dann kann uns auch nichts gescheh'n.
Auch wenn Zeit wie Sand zerrinnt
Und die Weiten endlos sind,
Ist dein Herz an meiner Seit',
Rot und hart vom Lauf der Zeit.
Einmal jetzt und einmal dann;
Lass uns gehen, irgendwann.“
Eine sanfte Brise fuhr durch die Gassen der Kleinstadt. Die Sonne verbreitete ihre letzten rot-goldenen Strahlen und tauchte jedes Gebäude in ein flammendes Farbenspiel. Die Menschen gingen frohgemut ihren letzten Erledigungen an diesem Abend im August nach, bevor sie sich zu ihren Liebsten nach Hause begaben. Nur ein Mädchen im Alter von 15 Jahren, gewandet in ein fluffiges, weißes Kleid, schritt in Gedanken versunken die Wege entlang. Ihre langen blonden Haare wallten im Wind und ließen sie die laue Abendluft spüren. Erst, als sie jemanden anrempelte, erwachte sie aus ihrem Tagtraum und realisierte erst die Route, die sie gegangen war. Sie sah zum Himmel und erhaschte das Farbenspiel der Sonne.
Natürlich! Diesen Weg war sie doch früher immer gegangen, als sie von der Schule kam. Obwohl sie so immer einen ordentlichen Umweg einplanen musste, wollte sie schließlich unter allen Umständen hierher mitkommen. Ihr bester Freund wohnte nämlich einst in dieser Gegend.
Lieber Robin, wie geht’s dir
in deinem neuen Heim?
Ich vermiss‘ dich jetzt schon sehr
und fühl‘ mich so allein.
Doch hoffentlich ist alles gut
wo du jetzt gerade bist –
auf dass das Wetter klasse
und das Essen super ist!
Liebe Claire, mir geht es gut,
doch fehlt mir irgendwie der Mut.
So ohne dich ist’s seltsam hier,
die Straßen sind so leer.
Der Weg zur Schule, ohne dich
ist nur mehr das – ein Weg – für mich
anstatt ‘ne schöne Zeit mir dir;
ach, ich vermiss‘ dich sehr.
Claire erinnerte sich daran, wie sie ihren Freund Robin immer bis nach Hause begleitet hatte. Der gemeinsame Weg war gesäumt von witzigen Erlebnissen, Späßen und den vertrauten Gesprächen der beiden. Nichts und niemand konnte ihre Freundschaft trennen und so verbrachten sie viel Zeit miteinander, um das Leben voll auszukosten.
Sie musste plötzlich lachen. In ihrer Naivität hatten die beiden damals den Brunnen im Park aufgesucht, nachdem ein Gerücht umgegangen war, dass dort Träume verwirklicht werden konnten. Das Mädchen beschloss, diesen Ort wieder aufzusuchen und machte sich auf den Weg.
Die Sonne hatte sich bereits hinter den Horizont gesenkt und machte nun langsam der Nacht Platz, die ihre Schönheit zu verbreiten versuchte. Die Wolken im Osten tauschten ihr Rot gegen ein schimmerndes Königsblau aus und signalisierten so die langsam anbrechende Dunkelheit. Nicht mehr lange und auch dieser Sommertag fand sein Ende.
Claire war inzwischen im Park angekommen und hatte sich unter einen der vielen Bäume gesetzt. Sie unterdrückten die Schwüle des Tages etwas und machten so den Abend angenehm, zumal sie von hier einen wundervollen Ausblick auf das Meer und den anliegenden Strand hatte. Das Mädchen dachte nach, über vergangene Tage. Sie erinnerte sich daran, als Robin sie einmal abends hierher eingeladen und zu einem Picknick überredet hatte.
Ein Picknick im Park? Die Frage hatte Claire damals sehr verwundert, jedoch war sie damit einverstanden gewesen. Nichts Schöneres konnte es geben, als mit jemand Bekanntem im Freien zu sitzen, sich zu unterhalten und Spaß zu haben!
Mit einem Mal richtete sie sich wieder auf und erschrak so ein Paar, das gerade an ihr vorbeigehen wollte. Ihr eigentliches Ziel sollte nämlich ein anderes sein!
Das Mädchen ging zur anderen Seite des Parks und suchte dort hinter dem Gebüsch ein kleines Gebilde aus Stein auf. Ein Brunnen, oder besser gesagt, wie damals an ihrer Schule das Gerücht umging: Ein Wunschbrunnen! Man sagte, wer hier eine Münze reinwerfe und an seinen Wunsch glaube, so solle dieser Wunsch erfüllt werden.
Claire wusste noch ganz genau, als sie hier das erste Mal waren. Robin tat dieses Gerücht als Aberglauben ab, jedoch brachte sie ihn dazu, sie zu begleiten und diesen Zauber zu probieren. Ihre Wünsche erzählten sie sich gegenseitig allerdings nicht. Das Mädchen bewahrte sein Geheimnis, während Robin nicht einmal an einen Wunsch gedacht hatte!
Sie musste kichern. Wie sehr er sie damit doch aufgezogen hatte! Aber heute war dies anders.
Claire nahm eine Münze, die sie vorhin glücklicherweise unter dem Baum gefunden hatte, hielt sie mit zwei Fingern umklammert vor ihr Gesicht und schloss die Augen. Ihr Wunsch sollte ein besonderer sein; schließlich wollte sie wieder Zeit mit dieser Person verbringen, die ihr so viel bedeutete und die sie solange nicht gesehen hatte.
Sie öffnete die Augen wieder, schnippte die Münze in den Brunnen und wartete auf ein dumpfes Klimpern. Dieses blieb aus; der Brunnen war, wie auch schon die letzten Male, als sie hier war, einfach zu tief, um das Geräusch zu vernehmen. Mit einem zufriedenen Lächeln machte sie sich auf den Rückweg aus dem Park.
Lieber Robin, weißt du noch,
der Brunnen hier im Park?
Schmeiß‘ Münzen rein und wünsch dir was,
das hat man mir gesagt.
Erst heute war ich wieder da
und wünschte mir herbei,
dass wir uns bald mal wiederseh’n,
uns treffen, nur wir zwei.
Liebe Claire, ich wär gern dort
an diesem so geliebten Ort
und wünschte mir so wie auch du
dich bald erneut zu seh’n.
Ich bin mir sicher, irgendwann
geht’s in Erfüllung – und bis dann
schick ich dir meine Briefe zu
wohin wir zwei auch geh’n.
Mit einem bestimmten Ziel vor Augen ging Claire vom mittlerweile verlassenen Park auf der Anhöhe einige Straßen weiter, bis sie beim Strand angekommen war. Die Sonne war zu diesem Zeitpunkt nur mehr zu erahnen; die Nacht hatte nun vollends die Stellung übernommen und ließ ihre treuen Begleiter, die funkelnden Sterne, den Himmel bedecken, auch wenn die Laternen den Blick auf sie etwas kaschierten.
Sie genoss diesen Anblick und streckte ihre Hände zu den Lichtern am Zenit aus. Wie gerne würde sie einen dieser Sterne greifen und lange in ihren Armen halten. In ihrer Vorstellung waren sie gelb und fünfzackig; das klassische Aussehen und genau so einen Stern wollte sie schon als kleines Kind immer haben. Aber dieser Wunsch blieb ihr wohl für immer verwehrt.
Claire dachte nicht weiter darüber nach und trat vom Gehsteig die steinernen Stufen hinunter zum Strand. Zuvor zog sie noch ihre Schuhe und Strümpfe aus und setzte sodann ihren Weg fort. Wie herrlich sich der Sand unter ihren Füßen anfühlte! Sie mochte gar nicht daran denken, wann es das letzte Mal war, dass sie dieses Gefühl erlebt hatte.
Sanft stieg das Mädchen Schritt für Schritt voran und bewegte sich in Richtung des Meeres. Die Menschen waren zu dieser Zeit bereits nach Hause gegangen und gingen ihren abendlichen Beschäftigungen mit ihren Liebsten nach. Nur Claire befand sich noch hier und sog die frische Seeluft ein. Das wundersame und liebliche Rauschen des Meeres sammelte sich in ihren Ohren und verbreitete eine wohltuende, beruhigende Atmosphäre. Warum konnte man diese Schönheit der Natur besonders in der Nacht so genießen?
Mit einem Mal berührten ihre Füße das Wasser. Sie schauderte kurz, da es schon wesentlich kühler war als die Umgebungstemperatur, ließ jedoch nicht davon ab, weiterzugehen, bis ihre beiden Knöchel unter Wasser standen. Claire schloss die Augen und ließ die Umgebung auf sich wirken. Die Luft, die Geräusche; alles passte so perfekt zusammen an diesem Abend.
Nach einiger Zeit öffnete sie ihre Augen wieder. Das Meer vor ihr spiegelte in der Schwärze seines wellenden Wasser einige Sternenlichter wider und vollbrachte somit den herrlichsten Anblick, den man sich vorstellen konnte. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht dachte sie erneut an Robin. Wo er sich wohl gerade befand? Ob es ihm in diesem Moment wohl auch so gut ging wie ihr? Das Mädchen sog erneut die Abendluft ein und stieß sie seufzend wieder aus. Ihr wurde wieder einmal schmerzlich bewusst, wie sehr sie ihn doch vermisste. Wie gerne sie ihn jetzt an ihrer Seite wüsste ...
Claire wollte sich schon umdrehen und nach Hause gehen, als sie etwas Merkwürdiges im Augenwinkel sah.
Sie blickte nach oben. Es war ruhig und sie glaubte erst, sich etwas eingebildet zu haben. Doch da! Sie sah, wie eine Sternschnuppe über den Himmel raste und sogleich wieder erlosch. Ein entzücktes Strahlen stahl sich auf ihr Gesicht, als eine weitere Lichtspur über den Zenit zog. Heute war es wieder so weit! Einmal im Jahr gab es diesen Sternschnuppenregen, den man von diesem Strand aus so gut sehen konnte. Claire hatte bisher jedes Jahr das Glück, sich an genau diesem Tag hier aufzuhalten. Ob sie wohl ...?
Sie faltete die Hände, schloss ihre Augen und sah empor. Es hieß, wenn man nach Sichtung einer Sternschnuppe einen Wunsch äußerte , so würde dieser in Erfüllung gehen. Ähnlich wie bei dem Brunnen dachte sie daran, ihn wiedersehen zu können. Ihren Freund aus Kindheitstagen, den sie schon so lange vermisste und mit dem sie einst auch diesen Sternschnuppenregen sah.
Lieber Robin, ach, so lang
ist damals jetzt schon her.
Doch manche warme Sommernacht
befind‘ ich mich am Meer.
Auf dass am Himmel Sterne steh’n
und fallen auf die Welt,
und dass der Wunsch, den ich einst sprach
auch heut‘ und immer hält.
Liebe Claire, dann ist es ja
wie’s schon vor vielen Jahren war.
Die Jahre änderten wohl nicht,
dass du noch glaubst daran.
Doch kann ich es ja auch versteh’n,
dass du dir wünschst, es würd gescheh’n,
denn hey – ich denke auch an dich
und träum von irgendwann.
Claire wusste nicht, wie lange sie schon an Ort und Stelle stand. Ihre Füße waren durch das kalte Wasser taub geworden, jedoch störte sie das nicht weiter. Der zauberhafte Anblick am nächtlichen Himmel bereitete ihr die größte Freude.
Auf einmal spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter und sie erschrak.
„Na, Claire, wie geht’s dir?“
Nein, das konnte nicht ...
Claire drehte sich um, entkam dabei dem sanften Griff der Hand. Ihre Augen weiteten sich und sie legte die Hände vor den Mund.
„R-Robin, bist du das wirklich?“
Ihr Gegenüber lachte. „Na klar, wen würdest du sonst in der Nacht am Strand erwarten?“
Claire konnte sich nicht mehr beherrschen und fiel ihm in die Arme. So lange Zeit hatte sie auf diesen Moment gehofft, ihren Freund Robin wiederzusehen und nun war er da!
Grenzenlose Freude machte sich in ihr breit. Ihr Wunsch war in Erfüllung gegangen.
Es ist ein schöner, sommerlicher Tag. Die Sonne steht hoch am Himmel, es weht nur ein leichter, angenehmer Wind und bis auf wenige Wolken ist der gesamte Himmel strahlend blau. Der Duft von Blumen weht mir in die Nase, während ich in der Hängematte liege, welche zwischen zwei Bäumen aufgespannt ist. Wills Familie hat wirklich einen schönen Garten. Und eben eine bequeme Hängematte. An einem Tag wie diesem möchte man nicht viel machen, dafür ist es einfach zu warm. Vielleicht bin ich ja sonst auch ein wenig träge, aber jetzt gerade fühle ich mich irgendwie noch viel schlaffer. Aber nicht in negativer Hinsicht, es ist ein äußerst angenehmes und entspanntes Gefühl. Meine Gedanken trüben und klären sich abwechselnd. Das tiefe Brummen einer Hummel dringt an meine Ohren. Vögel zwitschern. Ein Rascheln in den Zweigen über mir lässt mich den Kopf ein wenig drehen und aufblicken. Es kommt von einem kleinen Rotkehlchen. Ich frage mich, wie es wohl wäre, sein weiches Gefieder zu streicheln.
Ich sitze auf der Wiese und murmele vor mich hin. Lucy hat sich natürlich gleich wieder in die Hängematte gelegt und seitdem so gut wie gar nicht bewegt. Naja, sie war halt schon immer etwas weniger, nun, aktiv, könnte man sagen. Ich persönlich nutze das schöne und inspirierende sommerliche Wetter lieber für etwas Produktives. Lucy hält nicht so viel vom Schreiben, insbesondere von Gedichten, auch wenn sie sich hin und wieder anhört, was ich mir so ausdenke. Ich kritzele ein paar Worte aufs Papier und flüstere sie leise, um zu prüfen, wie sie sich anhören. Irgendetwas stört mich noch so ein bisschen an den Versen.
"Lucy?", frage ich laut.
"Hm?", kommt die Antwort.
"Darf ich dir mein Gedicht vorlesen? Mich würde interessieren, was du davon hältst."
"Ja, mach ruhig."
Sie klingt nicht begeistert, eher desinteressiert. Egal. Ich trage es ihr jetzt einfach vor.
"Die Sonne liegt wie ein versunk'ner Schatz
im blauen Himmelsmeer, das endlos weit
sich über mir erstreckt und wo verstreut
wie kleine Inseln Wolken schweben."
Ich halte kurz inne und sehe hinauf zum azurblauen Firmament. Vereinzelte Wolken ziehen durch die Himmelslandschaft, wie Schäfchen auf einer blauen Wiese. Ich kann nicht lange hinsehen, da mich das Licht der Sonne blendet und so richte ich meinen Blick schnell wieder auf das Schreibpapier, welches jedoch im Sonnenlicht auch ziemlich hell leuchtet. Mir tränen für einen Moment die Augen, aber ich lese weiter vor.
"Doch sie verweilen nicht, sie weben
das Bild des Himmels immer wieder neu
und nichts bleibt an dem angestammten Platz."
Die Sonne scheint ganz sanft durch die Zweige der Bäume direkt in mein Gesicht. Nicht stark, aber doch so, dass es mich ein wenig blendet. Vielleicht sollte ich einfach die Augen schließen. Meine Lider sind sowieso schon ganz schwer. Soll Will mir ruhig sein Gedicht vorlesen, wenn es ihm Freude macht. Nur fällt es mir irgendwie zunehmend schwerer, meine Gedanken zu sammeln. Vielleicht sollte ich auch einfach aufhören, zu viel zu denken. Vielleicht sollte ich mich einfach in diesem schönen Gefühl der tiefen Entspannung treiben lassen und meinen Geist befreien. Kaum dass ich meine Augen geschlossen habe, fühlen sich mein Körper und mein Geist auf einmal ganz leicht an.
Fast so, als könnte ich einfach davon schweben, hoch in den Himmel hinaus, zu der Sonne und den Wolken, fort von meinem Körper und der Hängematte zwischen den Bäumen. Das Rotkehlchen sieht mir mit großen Augen hinterher und zwitschert aufgeregt, als ich nun tatsächlich neben ihm durch die Zweige aufsteige, hoch und immer höher.
"Ich strecke mich nach diesen Weiten aus
und stoß mich ab vom äuß'ren Rand der Welt,
will sehn ob dieser Ort hoch oben hält
was er verspricht oder der Schein mich trügt.
Was, wenn der Himmel mich belügt?"
Die Wolken sehen so weich und freundlich aus. Sie sind in Bewegung, teilen sich, schließen sich neu zusammen und formen fantastische Gebilde. Tiere und Pflanzen, welche ich noch nie gesehen habe, schweben um mich herum. Eine kleinere Wolke steht hoch über allen anderen. Ich gleite zu ihr und lasse mich auf ihr nieder. Sie ist noch flauschiger und fluffiger als alle anderen Wolken, auch wenn sie gerade einmal so Platz für mich bietet. Unter mir erstreckt sich schier endlos eine weite Landschaft, in der es keine Straßen und keine Häuser gibt. Stattdessen sind nur Wälder und Wiesen mit friedlichen Tieren und bunten Blumen zu sehen. Ich habe eine Welt betreten, in der es keinen Lärm, keine Verschmutzung und keinen Stress gibt. Es ist eine Welt voll Ruhe und Frieden, voll Harmonie und Entspannung, voll Freundschaft und Zuneigung. Ich blicke hoch. Sogar die Sonne lächelt mich freundlich an.
"Die Erde hält mich und ich sink zurück
und flöge doch so gerne hoch hinaus."
Die Wolke verliert ihre weiche Festigkeit, ich sinke durch sie hindurch und falle, nicht ruckartig, sondern sanft und langsam, wieder hinunter auf diese schöne Landschaft. Gerne wäre ich noch länger alleine auf der Wolke geblieben. Aber etwas zieht mich hinunter, ich weiß nicht was, aber ich habe das Gefühl, als sei es etwas Gutes, auch wenn ich der Wolke ein wenig nachtrauere. Und während ich langsam hernieder sinke, versinkt auch die Sonne ein wenig. Ihr Licht wird etwas schwächer, dafür aber noch viel wärmer. Es ist merkwürdig, ich hätte schwören können, dass vorher nur wenige Wolken da waren, aber nun erhebt sich über mir ein in fantastischen Farben glühendes Gebirge aus ihnen. Ich erkenne ein zartes Rosa, kräftiges Zinnoberrot, erhabenes Purpurrot, gelbstichiges Orangerot und noch zahlreiche andere Farbtöne, die irgendwo dazwischen liegen und deren Namen ich nicht kenne, sollte es denn überhaupt schon welche für sie geben. Das Rotkehlchen fliegt neben mir her und verwandelt sich in eine Lachmöwe mit schlankem, braunem Kopf und grau-weißem Gefieder. Sie lässt ein kicherndes Krächzen vernehmen und entschwindet wieder.
Behutsam lande ich auf einer Lichtung. Ich bin von einem Wald umgeben, der ein bisschen dunkel, aber nicht bedrohlich wirkt. Wunderschöne kleine Blumen bevölkern die Wiese. Ich knie nieder, pflücke ein paar, schnuppere an ihnen und stecke mir sie ins Haar. Ich wüsste gerne, wie ich damit aussehe, aber dummerweise gibt es nirgendwo einen Spiegel oder etwas ähnliches. Eigentlich schade.
"Ich nähere mich dir, doch nur ganz sacht.
Im Schatten bleibe ich, noch unerkannt."
Ist da jemand? Ein Schatten innerhalb der Bäume bewegt sich. Ich habe keine Angst. Ich weiß, dass mir nichts passieren kann, denn in dieser Welt gibt es nichts Böses. Majestätisch bewegt sich ein Hirsch aus den Tiefen des Waldes auf die Lichtung hinaus. Er kommt auf mich zu, langsam und freundlich. Auf eine seltsame Art und Weise ist er mir vertraut, fast wie ein langjähriger Begleiter. Ich stehe auf, während das große Tier sich nähert.
"Wir teilen Augenblicke, still verwandt.
Ich setze mich zu dir ins Licht,
mein Schatten fällt auf dein Gesicht.
Hier ist es ruhig, bei dir fühl ich mich leicht.
Bei dir ist immer Tag und niemals Nacht."
Das große Tier steht jetzt unmittelbar vor mir. Ich sehe deutlich seine elegante Statur, sein königliches Geweih und seine schönen braunen Augen, die so viel Sanftmut ausstrahlen. Er senkt freundlich und nur ganz leicht den Kopf. Ich will meine Hand ausstrecken, um ihn zu streicheln.
"Doch schwindet dieses Licht in ferner Zeit.
Der Winter bringt nur kalte Finsternis,
in der ich deine Sonne so vermiss.
Grad eben spürt ich dich so dicht,
ich suche dich und find' dich nicht.
Ich stolp're vorwärts, blind und ohne Halt.
Du schienst so nah, doch ist der Weg so weit."
Doch kaum dass ich sie ausstrecke, zuckt der Hirsch mit dem Kopf. Er dreht sich um und verschwindet, schneller als er gekommen ist, im Wald, mich zurücklassend. Für einen Moment bin ich verwirrt, dann traurig. Ich wollte ihn doch nicht erschrecken oder verjagen! Ich wollte ihm doch nur etwas näher sein! Aber jetzt ist er fort und ich weiß nicht, ob er je zurückkommt. Eine Träne kullert meine Wange herunter. Habe ich mich falsch verhalten? Auf einmal wirkt alles um mich herum düster. Die Sonne ist verschwunden, die Wolken haben ihre Farben verloren. Ich fasse mir ins Haar und ziehe eine der Blumen heraus. Sie ist grau und verwelkt.
"Und? Was hältst du davon?", frage ich laut.
Keine Antwort, nur das Zwitschern von Vögeln und Brummen von Inseken ist zu hören.
"Lucy?" Ich sehe zu ihr hinüber. Sie liegt regungslos in der Hängematte. Ist sie etwa-? Ein wenig genervt stehe ich auf und gehe zu ihr. Tatsächlich, sie pennt. Ist während meines Gedichts einfach eingeschlafen. Sie atmet tief und gleichmäßig. ein wenig Speichel läuft ihr aus dem Mund. Ihr Gesichtsausdruck ist friedlich und unschuldig. Irgendwie sieht sie gerade richtig niedlich aus, da kann ich ihr jetzt einfach nicht böse sein, weil sie nicht zugehört hat.
Plötzlich regt sie sich. Ihre Miene wird unruhig und sie murmelt etwas Unverständliches. Vielleicht wacht sie ja gerade auf.
Der Wald um mich herum verschwindet, löst sich auf in einem gleißenden Licht. Ich will noch nicht gehen! Ich will erst den Hirsch wiederfinden! Mein Gesicht ist von Tränen überströmt. Wo ist er nur? Ich renne zwischen die Bäume, doch da sind gar keine Bäume mehr, nur ein weißer Abgrund, in den ich stürze. Es ist kein sanfter Fall, er ist ruckartig und beängstigend, ein Sturz in das Ungewisse. Ich will schreien, kann es aber nicht. Ich schließe meine Augen.
Ich schlage meine Augen auf. Verwirrt sehe ich umher. Will steht über mich gebeugt, ein schelmisches Grinsen umspielt sein Gesicht. Ich richte mich ein wenig auf.
"Na?", fragt er leicht spöttisch. "Wieder wach?"
"Äh, ja", sage ich zögerlich und ein wenig peinlich berührt. Ich bemerke, dass mir Spucke am Kinn hängt. Hastig wische ich sie weg und werde rot. Will lacht. Ich stelle fest, dass auch an meinen Wangen etwas Feuchtes klebt. Es sind Tränen. Ich wische auch sie weg.
"Hast du geweint?", fragt Will, nun ein wenig besorgt.
"Nein, ich, äh, mir haben sicher nur wegen der Sonne die Augen etwas getränt, das ist alles", antworte ich hastig.
Er blickt mich skeptisch an.
"Tut mir Leid wegen deinem Gedicht", entschuldige ich mich, um das Thema zu wechseln. "Ich glaube, die ersten Verse habe ich noch so am Rande mitbekommen, irgendwas mit Sonne und Wolken, oder?"
Er verdreht die Augen. "Ja", sagt er ironisch, "irgendwas mit Sonne und Wolken."
"Tut mir Leid", sage ich erneut. "Liest du es mir vielleicht nochmal vor? Ich schlafe auch bestimmt nicht wieder ein, ich verspreche es."
"Na schön, wenn du es versprichst." Er schüttelt den Kopf, setzt sich seufzend ins Gras neben der Hängematte und beginnt, sein Gedicht noch einmal vorzulesen. Ich höre aber wieder nur mit halbem Ohr zu. Meine Gedanken schweifen ab zu dem Traum, versuchen, die flüchtigen Bilder festzuhalten. Im wachen Zustand kommt mir vieles davon albern vor - auf Wolken wandeln, ein Vogel, der sich verwandelt, ein komischer Hirsch, das ist absurd. Aber es war eigentlich ein guter Traum, wenn auch ein recht merkwürdiger, bei dem ich nicht weiß, was er bedeuten soll. Verstohlen blicke ich Will über den Rand der Hängematte an. Seine Augen sind verblüffend braun.
"Und? Was hältst du jetzt davon", reißt mich Wills Stimme aus meinen Gedanken.
Erwartungsvoll sieht er mich an. Ich versuche, mich auf das wenige zu besinnen, was ich mitgekriegt habe.
"Ich finde das Ende irgendwie traurig", meine ich. "Das soll nicht heißen, dass es nicht schön wäre, aber irgendwie ist mir gerade nach etwas... Naja, nach etwas Optimistischerem, verstehst du?"
"Tja, eigentlich habe ich auch noch eine Strophe geschrieben", meint er. "Die führt das ganze vielleicht zu einem fröhlicheren Ende."
"Dann lies sie mir doch auch bitte vor", sage ich. "Warum hast du das nicht gleich gemacht?"
"Ich war mir nicht sicher, ob sie zum Rest passt."
"Bestimmt. Nun mach schon", fordere ich ihn freundlich auf.
"Du bist für mich wie ein versunk'ner Schatz.
Die Sommerwärme legst du mir ins Herz
und gehst mit mir durch Freude wie durch Schmerz.
Für dich tauch ich ins tiefste Meer.
Ich geb dich niemals wieder her.
Ich folg dir um die ganze Welt.
Bei dir find ich das Glück, hier ist mein Platz."
Es klickte, als Laslo seinen Schlüssel in die Haustür steckte und ihn umdrehte.
"Wieder da!", rief er, als er seine Schuhe auszog.
"Hallo Schatz!", konnte er seine Mutter aus der Küche antworten hören. "Wie war dein Tag?"
"Langweilig", sagte Laslo.
Er durchquerte den dunklen Flur und öffnete die Tür in sein Zimmer. Heiße Luft schlug ihm entgegen, als er es betrat. Laslo fühlte sich, als hätte er nicht sein Zimmer, sondern eine Sauna betreten. Als Laslo sah, dass er vergessen hatte, seine Fenster zuzumachen und die Rolläden runterzulassen, musste er stöhnen. Er pfefferte seine Tasche in die Ecke, liess die Rolläden runter und schloss die Fenster, schaltete den großen Ventilator, der an der Decke hing ein, nahm sich saubere Wäsche und ging rüber ins Bad. Er kämpfte sich aus seinem schweißnassen T-Shirt und schmiss es mit seinen restlichen Klamotten in den Korb mit der Schmutzwäsche.
"Endlich", dachte Laslo, als er sich unter den Duschkopf stellte und das Wasser anmachte.
Das heiße Wasser prasselte auf seinen Körper herunter, worauf Laslo überrascht zusammenzuckte. Er fluchte und sprang wieder aus der Dusche. Laslo stellte das Wasser kalt und wartete, bis es die erwünschte Temperatur wieder erreicht hatte, bevor er wieder in die Dusche stieg. Das kühle Wasser floss an seinem Körper herunter und wusch den klebrigen Schweiß von seiner Haut. Er schloss die Augen, seufzte und stellte sich vor, im Freibad zu sein. Einige Minuten stand er so regungslos da und verdrängte die restliche Welt so gut er konnte.
Als es an der Badezimmertür klopfte und er seine Mutter irgendetwas rufen hörte, machte er das Wasser aus und stieg aus der Dusche.
"Ja, ich komme schon!", sagte er, als er sich abtrocknete.
Laslo stöhnte erneut, als er an den restlichen Tag dachte. Seine Klassenkameraden waren sicher schon auf dem Weg zum Freibad und würden die Hausaufgaben, wenn überhaupt, erst am Abend kurz hinkritzeln. Viel hatten sie heute ja auch nicht aufbekommen, nur in Deutsch mussten sie ein Gedicht über den Sommer schreiben.
"Dieses verdammte Gedicht", murmelte Laslo während er sich anzog.
Die Notenabgabe war bereits vorbei, das Gedicht konnte also nicht mehr benotet werden. Darum hatte Laslos Deutschlehrer die glorreiche Idee bekommen, die Klasse abstimmen zu lassen, welches Gedicht am besten war.
Und das war das Problem. Laslo wusste genau, dass er zu ehrgeizig war und sich viel zu viele Gedanken um diese Aufgabe machen würde. Wenn das Gedicht einfach nur benotet werden würde, hätte Laslo kein Problem. So hatte er aber den unüberwindbaren Drang, das beste Gedicht zu schreiben und die restliche Klasse in den Schatten zu stellen. In Sport und Matte war er schon nur durchschnittlich, hier konnte er aber glänzen.
Laslo ging in die Küche und schlang das Mittagessen, welches seine Mutter ihm auf dem Tisch bereitgestellt hatte, schnell herunter. Anschließend lief er in sein Zimmer zurück und setzte sich an seinen Schreibtisch, legte einen Block bereit und spitzte einen Bleistift.
Laslo wusste, dass er, wenn er gewinnen wollte, die meisten Leute emotional packen musste. Er musste sich also ein Thema aussuchen, das die meisten Leute ansprach.
Laslo beschloss, eine Mindmap zu machen, bevor er mit dem Schreiben anfing. In die Mitte des Blattes schrieb er das Wort Sommer, welches er umkreiste. Laslo überlegte erstmal, was er selbst mit dem Sommer verband. Er grinste. Da war erstmal natürlich die Hitze und der Sonnenschein. Im Gegensatz dazu standen das leckere Eis, kalte Getränke und das kühle Wasser der Freibäder und Baggerseen. Ferien war natürlich auch ein Thema, das Viele mit dem Sommer verbanden. Selbstverständlich gab es da noch den Strand und das Meer. Laslo überlegte weiter. Viele freuten sich auf den Sommer, weil es zu dieser Jahreszeit viele Straßen- und Stadtfeste gab. So einige Leute trieben Sport, reisten rum, oder besuchten Freunde. Einige seiner Freunde hatten ihm auch erzählt, dass sie sich darauf freuten, in den Ferien endlich in aller Ruhe zocken zu können.
Als Laslo das Gefühl hatte, genug Ideen gesammelt zu haben, legte er den Stift beiseite und betrachtete seine Mindmap. Jetzt musste er sich noch das Thema aussuchen, das die Meisten mit dem Sommer verbanden.
Am offensichtlichen war es natürlich, über die Sonne und die Hitze zu schreiben, die im Sommer allgegenwertig war. Nach kurzem Nachdenken hielt er das aber nicht mehr für eine so gute Idee, da Laslo die Hitze hasste und die meisten Menschen eher versuchten, ihr zu entfliehen und sich stattdessen in den Schatten legten oder schwimmen gingen.
Apropos Schwimmen.
Über das Thema Wasser konnte er sehr gut schreiben und das Thema würde auch einigen gefallen. Allerdings war es seiner Meinung nach wirklich offensichtlich, über das Wasser oder über das Schwimmen zu schreiben, außerdem wusste er, dass Einige echt nicht gerne schwommen.
Laslo kam in den Sinn, dass er auch über mehrere verschiedene Themen schreiben konnte. Er konnte einfach die populärsten Themen aussuchen und irgendetwas über sie dichten. Aber diese Idee gefiel ihm nicht... Sie kam ihm zu primitiv und einfach zu langweilig vor. Laslo fand, dass es wichtig war, sein Gedicht selber auch gut zu finden, sonst machte es in seinen Augen keinen Sinn, etwas zu dichten.
Laslo hielt inne. Keine dieser Ideen gefielen ihm wirklich. Außerdem schmeckte ihm nicht, dass er versuchte, sich so extrem an die Anderen anzupassen. Das waren alles Ideen, auf die wirklich jeder x-beliebige Teenager kommen konnte. Das alles reichte Laslo nicht. Er wollte cleverer, besser als der Rest sein. Gab es nicht etwas, das all diese Gesichtspunkte des Sommers vereinigt? Hatte der Sommer keine Quintessenz?
"Verdammt", dachte Laslo resigniert. "Wieso mache ich mir so viel Stress? Niemand aus meiner Klasse, der noch ganz bei Trost ist, lässt sich von diesem verdammten Gedicht so enorm aufhalten"
Nur er saß hier vor einem Blatt Papier und dachte über den Sommer nach, während ihn alle anderen in vollen Zügen genossen. Laslo seufzte. Es gab so viele Dinge, die er tun könnte. Er könnte ins Freibad gehen, Eis Essen, Kicken, Lesen, Zocken, Fernsehen, es gab so viele Möglichkeiten, niemand hielt ihn auf.
Laslo stuzte.
"Das ist es", dachte er. "Das ist es, was den Sommer wirklich ausmacht"
Laslo nahm sich ein neues Blatt Papier zur Hand und fing eifrig an zu schreiben. Ab und zu hielt er inne, um kurz Nachzudenken.
15 Minuten später stand er zufrieden auf, packte seine Schwimmsachen zusammen und verlies das Haus. Gut gelaunt fuhr er auf seinem Fahrrad zum Freibad, um den Rest dieses Sommertages auszukosten.
Auf Laslos Schreibtisch lag ein Blatt Papier, das im Rhythmus des Ventilators flatterte. Auf diesem Blatt stand geschrieben:
"Was ist der Sommer?
Die Hitze die meinen Körper umgibt,
wärend das Eis vom Winter langsam zerbricht.
Oder die Sonne die so strahlend lacht,
und damit das Feuer in meinem Herzen entfacht?
Die Strahlen die meine Haut so sanft küssen,
dass alle Sorgen meine Seele verlassen müssen.
Die Zweisamkeit und Gemeinschaft hier,
Gruppenaktivitäten voller Dynamik,
mit tiefer Ruh und ohne Panik.
Schwimmen wie ein Wassertier.
Diese Aura der Wärme und diese Liebe,
da vergehen schlechte Zeiten verblassen Kriege.
Doch was den Sommer macht gescheit,
ist die Unendlichkeit.
Die Freude und das himmlische Glück,
das leben im Fokus auf den Augenblick.
Das Ambiente der sommerlichen Natur
-Die Vielfalt die zeitlos gegeben ist,
diese Euphorie wie ihr alle wisst,
Es ist das Sommergefühl, pur."
Wir allein
Dunkelheit
Um uns herum
Glühwürmchenschein
Deine Hand
Gleich wie Samt
Lass uns tanzen
Tag und Nacht
Lichtlein schein
Immer Dein
Kleiner Stern
Glühwürmchenschein
Er war eigentlich kein Dichter. Er hatte sich nie wie einer gefühlt, trotz mehreren Versuchen, dessen Ergebnisse weder ihm, noch anderen wirklich zusagten, und er wollte es eigentlich bei Versuchen belassen, die Poesie anderen Leuten überlassen.
Doch jetzt, genau jetzt wusste er, an was er schreiben musste. Und er wusste auch, dass er nur noch jetzt Zeit dafür hatte.
Den stechenden Schmerz in seinem Arm ignorierend, griff er mit seinem anderen in seine Jackentasche, nestelte umständlich durch Earbuds, Süssigkeitenpapierchen und anderen Müll, den er noch immer nicht entsorgt hatte und zog schliesslich mit einem Laut des Triumphes sein Smartphone hervor. Der Bildschirm war versplittert – war er schon immer gewesen, nun aber hatten sich neue Narben zum Glas dazugesellt – er konnte die einzelnen Stücke unter seinen tauben Fingern etwas spüren, während er die Nummern eintippte, es war wie eine Berg- und Tallandschaft in den knalligen Farben seines Lockscreens.
Sorgfältig zog er seine Brille aus und rieb sich mit dem Handrücken die brennenden Augen, welche erschöpft auf dem viel zu grellen Bildschirm und den zwei Gesichtern, die ihm entgegenstahlten, ruhten.
Er wischte über die Glasfläche, öffnete die Notizen, durchstöberte eine Reihe irrelevanter Dateien, ehe er mit einem zufriedenen Lächeln entdeckte, was er brauchte.
„GLÜHWÜRMCHENSCHEIN“ begann der noch viel zu kurze Text auf gelbem Hintergrund, gross, fett markiert, ein Titel eben. Begleitet wurde er jedoch nur von den Zeilen
Wir allein, Dunkelheit, Um uns herum, Glühwürmchenschein
und drei verheissungsvollen Punkten, darauf wartend, dass das Werk irgendwann vollendet wird. Seine Augen überflogen die Worte, einmal, zweimal, ehe er sich vorsichtig umsah und irgendwie versuchte, aus seiner unbequemen Position herauszukommen – was sich als schwierig herausstellte, wenn die wichtigsten Extremitäten schmerzten und brannten wie Essigsäure und sein Kopf sich anfühlte, als hätte Thor persönlich seinen Hammer auf ihn regnen lassen.
Er hatte sie immer noch nicht nach ihrer Meinung zu dem Film gefragt, fiel ihm wieder ein, während er sich innerlich für den originellen Metapher lobte, dem Film den er erst kürzlich mit ihr angeschaut hatte. Alles, was er von ihr mitbekam, war ihr Schwärmen für diesen Schauspieler – wobei er ihre Sympathie zu dem Typen immer noch nicht ganz nachvollziehen konnte, da er in seinen Augen kaum besonders gutaussehend, geschweige denn attraktiv wirkte.
Jedem Mensch das seine, ermahnte er sich, erinnernd an die Skepsis in ihrem Gesicht, als er von seiner Leidenschaft erzählt hatte.
Unter einer Orgie aus peinigenden Schmerzenslauten und Flüchen schaffte er es schliesslich entgegen seiner Erwartungen, halbwegs sitzend, das Handy locker vor seinem Gesicht haltend – erneut huschten seine Augen über das unfertige Gedicht, geglendet vom Licht, welches die Dunkelheit trübte, und sein Blick blieb bei Glühwürmchenschein hängen.
Und während er so da sass, seinen verletzten Arm in den Schoss gelegt, tauchten wieder die Erinnerungen auf, die er immer noch mit sich herumtrug. Wie sie in seinem Zimmer stand, die Bilder an der Wand betrachtend, während er laberte und laberte. Wie sie auf ein bestimmtes Foto zeigte und fragte, ob das Glühwürmchen wären.
„Leuchtkäfer, ja. Gefällt es dir?“
„Klugscheisser. Es ist hübsch, ist das auch von dir?“
Nachdenklich trommelte er mit dem Daumennagel gegen den Rand seines Smartphones. Er hatte ihr noch am selben Tag die Stelle gezeigt, er konnte sich noch gut erinnern, die Stelle von der er den Schnappschuss her hatte, die kleine Stelle im Vorgarten seines Grossvaters. Zu der Jahreszeit kamen sie in Scharen, der ganze Garten war spätabends ein Nachthimmel aus unzähligen, bunten Lichtchen, wie Sterne. Genau, wie – wie grüngelbe Sterne, das musste er irgendwo miteinbauen.
Er tippte etwas, löschte es wieder, versuchte erneut etwas und hämmerte abermals auf die Backspacetaste ein. Sein Husten hörte sich wie der eines sterbenden Tieres an, sein Brustkorb schmerzte entsetzlich, doch er kniff nur die Augen zusammen und probierte etwas anderes.
Komm schon, raunte er sich selbst zu, in seinem Kopf die möglichen Reime testend, welche er für seine Idee benötigte.
Deine Hand erschien in schwarzen Buchstaben, gefolgt von Gleich wie Samt. Ja, der Vergleich gefiel ihm – selbst wenn Samt es eigentlich weniger traf. Es war etwas mehr wie... Nunja, etwas Kuschliges, so warm und vertraut. Als würde man ein Plüschtier drücken, ein Plüschtier ohne Fell. Aber das klang nicht wirklich poetisch, ebenso wenn er sagen würde, ihre Hände seinen klein und süss und auch ohne bunte Nägel hübsch. Gesagt hatte er ihr das noch nie, aber er konnte ehrlichgesagt nie ganz verstehen, wieso frau sich ausgerechnet die Fingernägel in so grellen Farben anmalen musste – und dazu ständg in einer Neuen, mal Pastellgrün, mal Grellpink, Dunkelrot oder Türkis.
„Das heisst Cyan, Genie.“
„Quatsch, das ist ganz klar Türkis!“
„Dem sagt man Cyan!“
Wikipedia gab dann doch ihr recht – eines der wenigen Male, in der ihre Wortwahl tatsächlich die Bessere war, wo er doch eigentlich geradezu berühmt für seinen Wortschatz war. Und trotz der Tatsache, dass er die Kränkung natürlich cool heruntergeschluckt hatte, doch etwas Stolz kostete, dass er die Definition einer Farbe nicht kannte. Sie trug den Lack immer wieder, wenn ihr nach Blautönen war, und jedes Mal galt der erste Kommetar natürlich ihren wunderschönen, ganz klar türkisen Fingernägeln.
Eines Tages kam sie mal mit knallroten angelaufen, an einem Schulfest, er wusste sich auch daran zu erinnern, in einem teuren Kleidchen und farbpassenden Schuhen. Und es gefiel ihm ja eigentlich, und sie sah auch wirklich hübsch darin aus, nur musste er während des gesamten Abens immer wieder auf diese scheussliche Farbe starren, während sie ihm, trotz gerissener Fusssehne und eindringlicher Mahnung seines Arztes, er solle sich schonen, von einem Ort an den nächsten schleppte. Und er konnte nicht anders als zu denken, es sehe eigentlich wie eine Warnung an die Passanten aus: Vorsicht, kratzige Freundin, nicht reizen.
Er hätte sie vielleicht wirklich darauf hinweisen sllen, aber er wollte nicht der Spielverderber sein, der den schönen Abend tötete. Wo er doch nicht einmal tanzen konnte, dank seines –
Tanzen, natürlich!
Lass uns Tanzen, seine Finger tickten energisch auf sein Handy ein, Tag und Nacht, und...
Erneut brach er in Husten aus, er fühlte sich, als würde jemand mit einem Messer zwischen seine Rippen stechen. Tapfer wollte er den Schmerz herunterschlucken, wischte seinen Bildschirm an seinem Shirt sauber, konnte die Müdigkeit jedoch schlecht ignorieren und die Tatsache, dass alles, was nicht wehtat, langsam taub wurde, nicht vergessen. Sein Arm brannte immer noch höllisch, und trotz der nun bequemeren Position fühlten seine Beine sich kein Stück besser an.
Egal, es gab wichtigeres, sagte er sich, alles andere ist unwichtig, er hämmerte sich den Gedanken in seine Schädelwand ein wie ein Mantra, immer wieder, um irgendwie mit der Situation umgehen zu können, während er weiter auf die helle Handytastatur klopfte, unregelmässig, leise, eindringlich.
Lichtchen schein, Immer dein
Er hielt inne, starrte auf den Bildschirm und seufzte. In der Ferne leuchteten ein paar undefinierbare Lichter, als er kurz den Kopf hob, es gab ihm irgendwie das Gefühl, er sei der einzige Mensch auf Erden. Vorsichtig streckte er seinen Kopf durch das Fenster, welches die Sache weniger gut überstanden hatte; ein strahlenförmiger, gläsriger Rahmen, eindeutig versplitterter als der Bildschirm seines Smartphones und sah den Himmel wie ein schwarzer Teppich, gespickt von abertausenden Diamanten, zweigeteilt durch eien schleierigen, feinen Streifen.
„Das passiert nur bei extrem klaren Nächten, in den Bergen sieht man das oft.“
„Dass man die Milchstrasse sieht? Von blossem Auge? Ich wusste gar nicht, dass das geht, ganz ohne Werkzeuge.“
„Daran hört man auch wieder, dass du ein Stadtkind bist.“
Im Augenwinkel erkannte er, wie seine kleine Lichtquelle ohne Vorwarnung verschwand, als es plötzlich wieder finster wurde. Ruckartig liess er sich wieder in den Autositz fallen und stöhnte laut auf, als tausende Messerchen gleichzeitig seinen Bauch aufzuschlitzen scheinen. Keuchend starrte er auf das etwas, das plötzlich auf seinem Lockscreen klebte, zuckte innerlich jedoch mit den Schultern und wischte die schwarze, dickere Flüssigkeit an seiner linken Schulter weg – die rechte tat genau so weh wie der Rest seines Körpers. Erneut erschien der gelbe Notiz, die selben Worte wie zuvor. Laut atmend tippte er weiter.
Kleiner Stern – ja, endlich der Sternenmetapher! – Glühwürmchenschein.
Und erneut überflog er das kleine Werk, erneut und erneut, jeder Versuch erschien ihm schwieriger. Er war müde, schrecklich müde.
Glühwürmchenschein. Das Licht brannte immer noch in den Augen, doch die Worte hielten ihn wach.
Unter weiteren Hustanfallen und tiefen Atemzügen markierte er sein Ergebnis, kopierte es, öffnete die nächste App.
Glühwürmchenschein. Er konnte ihr Gesicht schon sehen.
„Ich dachte, es heisst Leuchtkäfer?“
Er konnte ihr neckisches Lächeln vorstellen, es war das einzige, dass er noch wirklich deutlich sehen konnte. Vor ihm flimmerten tausende kleine Lichtchen, weiss, rot, blau.
Erschöpft liess er seinen Arm sinken, sackte noch etwas tiefer in sich zusammen.
Glühwürmchen. Er war sich nicht einmal wirklich sicher, ob sie die kleinen Tierchen wirklich so schön fand, wie damals schwärmte. Doch sie schien doch einen gewissen Funken Faszination für die Käfer übrig zu haben. Irgend ein Detail war da noch, sie erwähnte mal etwas dazu.
Schwerfällig tanzte sein Daumen über sein Handy, Kontakt öffnen, einfügen, absenden.
Apropos Schwärmen – er hatte sie immer noch nicht nach ihrer ehrlichen Meinung zum Film gefragt, den sie zuletzt angeschaut hatten.
So müde. Er liess seinen Arm sinken, atmete tief, selbst, wenn auch das schmerzte.
Er würde sie fragen, sobald er wieder aufgewacht ist, er würde kurz schlafen und dann zu ihr fahren. Nicht mit diesem Auto – oder Schrotthaufen, der übrig blieb, soviel war sicher, vielleicht könnte er das seines Kumpels ausleihen. Hoffentlich war der Akku morgen nicht leer, sonst wird’s schwer, ihn anzurufen.
Wirklich müde.
Morgen würde er sie besuchen. Und wieder zum Garten seines Grossvaters bringen, er hatte wieder einmal Lust, den grüngelben Nachthimmel zu beobachten.
Wird zwar schwierig, mit zwei kaputten Beinen. So würde er ihr auch nicht den Tanz bieten können, der er ihr noch schuldig war.
Morgen, murmelte er, halb im Schlaf, morgen.
Vor seinen Augen leuchteten die Lichter wie die Glühwürmchen auf seinem Bild an der Zimmerwand und er erinnerte sich wieder.
„Weisst du, an was mich Glühwürmchen erinnern?“
„An was denn?“
„An kleine Seelen verstorbener Menschen, die noch auf der Erde herumirren.“
„Also werden wir alle irgendwann Glühwürmchen, wenn wir sterben?“
„Wer weiss.“
Ich spüre den kühlen, rauen Sand unter meinen Füßen. Im Gegensatz zu heute Nachmittag, ist er jetzt nicht mehr ganz so heiß, dass man sich die Füße verbrennt. Ich mache wie jedes Jahr meinen Spaziergang am Strand. Das ist eine alte Gewohnheit, die ich schon von klein auf hege. Genauso, wie wir jedes Jahr in den Sommerferien ans Meer fahren. Das gehört einfach zum Sommer dazu: Das Meer, der Strand und die Sonne, die so gnadenlos hinunter brennt, dass man fast vor Hitze umkommt. Die Sommerferien, Urlaub, Sonnenbrand und gute Laune. Das ist der Standard. Das ist immer so. Niemand kann sich einen verregneten Sommer vorstellen. Das geht doch nicht. Ich meine, natürlich gab es das schon ein paarmal, aber das ist wohl nicht das erste voran man denkt, wenn man das Wort Sommer hört.
Ich lasse meinen Blick über den menschenleeren Strand schweifen, und entdecke plötzlich jemanden, der einsam auf dem Boden sitzt und auf das Meer hinaus starrt. Neugierig wie ich bin lauf ich natürlich näher und erkenne, dass das ein Junge mit vielleicht so 16 oder 17 Jahren ist. Mit etwas Abstand setze ich mich in seine Nähe. Das ist wohl auch eine Angewohnheit von mir, dass ich kein Problem habe, mich neben fremde Personen zu setzten. Ich bin jedes Mal überrascht, wie viele neue Leute man dadurch kennenlernt. Da sitze ich also schweigend neben diesem Jungen, den ich nicht kenne und dieser fängt plötzlich an zu dichten.
Sieh!
Endlos wechselnd
endlos weit
bringen Frische
Leben
Heiterkeit
die Wellen sinds,
wovon ich rede
ein Symbol für Jedermann
kaum ein Schock,
wenn ich gestehe
die Ferne hats mir angetan
Schnell, so schnell
sind sie vergessen
Mühen des Alltags,des Trottes Fesseln
und die ganze Welt wird hell
Wenn es heißt,
der Sommer kommt
rüstet euch, Grill,Schwimmreif,Eis
und vielleicht ein Sonnenhut
Die nächste Welle rollt heran, und ich erinner
aus zurückliegenden Tagen
So manches Lachen, Farbenschimmer
und fremdländische Gestade
Ob du nun also
in Tel Aviv, Paris, Madrid
San Francisco, Mosambik
den Abenteuerurlaub planst
oder Heimatpläne hast
spielt keine Rolle, solang das
was dir der Sommer bringt, stets
mit Fröhlichkeit gelingt
Dann erlebst du jeden Tag
mit offenen Augen, offenen Armen
in der besten Jahreszeit
gehst du schwimmen
oder nicht?
triffst dich mit Freunden,
wo du bist
verausgabst dich
bei Sport und Spiel
pausierst auch Mal,
vielleicht zu zweit?
Ob ja oder Nein, der Sommer ist hier
was du draus machst, das liegt bei dir.[/i]
„Das ist ein sehr schönes Gedicht.“, meine ich tief beeindruckt. „Danke.“, antwortet er und lächelt, „ich hab es selber gedichtet.“. „Ein Sommergedicht also“, sage ich und lächele ihn ebenfalls an. So ist das immer. Im Sommer sind zwar die Hitze, das Meer und das alles „normal“. Aber „mein“ Sommer fängt immer erst so richtig an, wenn ich jemanden neues kennengelernt habe. Wie jeden Sommer.
So Geschwister entscheiden
Über die Zeit der Natur,
Wird Flora nur leiden.
Egoistisch und stur.
Der Abendhimmel spannte sich glühend rot über den Wald, der sich bis zum Horizont erstreckte. Während die hohen Bäume sich allmählich in die langen Schatten zurückzogen und wie stumme Beobachter eine kleine Lichtung umrandeten, brachen vereinzelt goldene Strahlen durch das dichte Blätterdach weit über den Häuptern der beiden Gestalten.
Regungslos kniete eine junge Frau im Gras, die Schultern hochgezogen und den Kopf gesenkt. Im Licht der Sonne glänzte ihr Haar, das ihr voll und wellig über den gekrümmten Rücken fiel, kupferrot auf. Ihre Hände hingen kraftlos zu ihren Seiten herab, als würden sie nicht mehr zu ihr gehören. Der Blick der Frau war starr auf die Person vor ihr gerichtet.
Es war ein zartes Mädchen mit heller Haut, das ausgestreckt im Gras lag. Ihre hellvioletten Augen blickten weit aufgerissen zum Himmel hinauf, der volle Mund war wie in stillem Staunen leicht geöffnet. Ihre Wangen waren leicht gerötet, als hätte sie eben noch etwas in Rage gebracht.
An ihrem Mundwinkel klebte Blut.
Sanft legte die Frau ihr eine Hand auf die Brust, als würde sie auf ein Zeichen warten – einen Atemzug, einen Herzschlag. Doch da war nichts, nicht mehr. Sofort zog sie ihre Hand zurück, ruckartig, als hätte sie sich verbrannt. In ihren Zügen war keine einzige Gefühlsregung zu deuten.
Der Wald war so still wie noch nie. Unmengen von Vögeln aller Art hatten sich auf den Ästen und in den Baumwipfeln der Lichtung niedergelassen, doch kein einziger von ihnen gab einen Laut von sich. Nicht einmal ein leiser Wind brachte die zartgrünen Blätter zum Rascheln, und auch im Unterholz regte sich nichts. Es war, als hätte der Wald den Atem angehalten.
Die Frau sah das Mädchen noch eine Weile an, aufmerksam, als wolle sie diesen Anblick in sich aufnehmen und nie wieder vergessen. Schließlich lehnte sie sich vor und drückte ihrer Schwester sanft die Lippen auf die Stirn. Leb wohl, Frühling.
Was tat ich hier,
Im falben Lichte?
Noch immer seh' ich dich vor mir.
Die pure Gier
In ihrer Dichte
Führt mich an diesen Ort zu dir.
Der Mond scheint hell,
Die Stille finster.
Der Abschied ist so furchtbar nah.
Der Schein zu grell,
Gedanken unklar.
Irgendwie wünschen, wärst du da.
Doch bist du da,
Ich sehe dich.
War doch alles ein Fehler nur?
Ich glaub' es gar,
So irrt' ich mich.
Allein auf dieser weiten Flur.
Leb wohl, Frühling.
Gingst für das Streben
Nach einem bess'ren, wärm'ren Leben.
Es tut mir leid.
Es tut mir leid.
Als sie sich mühelos erhob, raschelte das Gras unter ihren blanken Füßen und mit jedem Schritt, den sie von ihrer Schwester fort ging, sprossen neue Blumen und Pflanzen an der Stelle, die sie Sekunden zuvor noch berührt hatte. Sie brauchte sich nicht umsehen, um zu wissen, dass Frühling verblasst war wie ein Gemälde, das die Zeit mit Staub überzogen hatte.
Mit jedem Schritt, den sie tiefer in das Herz des Waldes schritt, spross mehr und mehr Leben um sie herum. Sträucher und Gewächse trieben neu aus und brachten leuchtende Blüten und reife Früchte hervor, die Blätter an den Bäumen wurden größer und grüner und ein Geruch erfüllte die Luft, der die Frau zufrieden Luft holen ließ. Obwohl die Sonne schon längst untergegangen war, tanzte das Licht um sie herum und verlieh ihr einen goldenen Schein.
Sie, Sommer, hauchte dem Wald und der Welt allein durch ihre Anwesenheit neue Kraft und Leben ein. Ohne Frühlings Tod wäre dies nicht möglich gewesen, nicht jetzt, nachdem sich Flora und Fauna gerade erst monatelang den Brüdern Herbst und Winter widersetzt hatten.
Trotzdem konnte Sommer die Bilder nicht zurückdrängen, die sich in ihr Bewusstsein stahlen und durch die sie die letzten Momente mit ihrer Schwester noch einmal durchlebte. Sie sah Frühlings große Augen vor sich, die die Farbe von hellem Flieder hatten, und in denen ein Ausdruck des Erschreckens und auch Traurigkeit lagen. Sie spürte erneut, wie ihre Schwester unter ihren Händen erschauderte, als das Leben aus ihrem Körper wich, und sie langsam in ihren Armen zu Boden sank.
Doch sie war nicht länger erfüllt von Reue und Trauer. Es hatte so kommen müssen. Alles um sie herum erwachte, blühte und duftete, und die Welt hatte nie etwas Schöneres gesehen. Denn sie war Sommer, und der Wald und sie waren eins.
Es war ein Sommer wie jeder andere, zumindest glaube ich dies. Doch dann wurde ich vor eine quasi unlösbare Aufgabe gestellt: Gemeinsam mit einem Partner sollten wir eine Abgabe zum Thema "Sommer" kreieren; einer sollte eine Erzählung schreiben, während der andere ein Gedicht verfassen sollte, welches in die Erzählung eingebunden werden soll. Worauf hatte ich mich da nur eingelassen?
Jedoch wollte ich diese Aufgabe zumindest annehmen und mein Bestes versuchen. Doch durch Urlaube und ähnliche Termine mussten mein Partner und ich den Start der Schreibarbeiten immer wieder nach hinten verlegen, wodurch wir am Ende kaum noch Zeit hatten, jedoch ein Gedicht und eine Erzählung kreieren sollten. Ich hatte es mir besonders gemütlich gemacht, wodurch ich meinen Text unter schlechten Bedingungen schreiben musste: Lärm von draußen, Müdigkeit und Zeitdruck, denn schließlich bleiben mir nur noch fünfunddreißig Minuten, in denen ich meine Erzählung schreiben soll.
Dumm jedoch, dass ich leider keine Ahnung habe, wie ich den Sommer thematisieren soll, denn schließlich habe ich im Sommer auch nichts gemacht, recht viel geschlafen und etwas mit Freunden unternommen, aber nichts Erwähnenswertes. Ein großes Fußballturnier findet 2015 auch nicht statt, wodurch mögliche Themen eine Rarität bleiben. Zumindest für uns...
Die anderen Teilnehmer, da bin ich mir sicher, sind deutlich organisierter vorgegangen und haben ihre Werke bereits abgegeben, während ich einen meiner letzten Abende in den Sommerferien vor dem Laptop verbringe und hier irgendwie einen Text verfassen soll, dass ich keine zweihundertfünfzig Wörter habe, man jedoch bis zu zweitausend haben darf, macht mir zudem Sorgen, dass meine Abgabe recht spärlich ausfallen wird.
Aber ich bin doch selber Schuld, ich hätte heute meine Zeit besser nutzen sollen, habe ich die letzten Stunden mit Animes, Pizzen und Softdrinks verschwendet. Zweiunddreißig Minuten noch und die Konzentration schwindet, der Schweiß läuft mir von der Stirn. Mein Blick verliert an Klarheit und der Lärm hält mich zunehmend vom Schreiben ab. Eine Nachricht bei Skype, ich lese sie nach, in der Hoffnung, dass es etwas Wichtiges ist, und das war es, das Gedicht, welches in diese Erzählung eingebunden werden sollte.
Wie jeden Abend schon,
wenn der Mond sitzt auf seinem Thron,
stehe ich auf vom PC
und mein ganzer Körper tut mir weh.
Er ächzt und knarzt,
er knarzt und ächzt.
Man meine, er habe gearbeitet hart-
Doch er verharrt‘ nur in der Gegenwart.
Er tut nur nichts,
wird fahl des Lichts,
er esse nichts,
nimmt zu des Gewichts.
Der Geist schiebt auf,
befindet sich im Leerlauf.
Der Körper ruht,
doch im Inneren heizt die Glut.
Er sucht Gründe,
aufgrund deren er dann verschwünde,
Er versuchts während‘ der Nächte,
die er gerne anders verbrächte.
Doch am Ende sitzt er nur,
stumm und stur,
10 Stunden vor der toten Linie,
und isst ne Pinie.
Wunderbar, total dämliche Reime die nur davon handeln, etwas aufzuschieben, da war mein Partner wohl unfähig, sich vernünftig auf die Sache zu konzentrieren. Schlagartig wird mir klar, dass ich dasselbe getan habe und nur daher in diese Situation gekommen bin, in der ich mit Zeitdruck an der Abgabe arbeite. Mit all meinen Kräften, gewiss, doch wird dies niemals genug werden. Erfahrene Fanfiction-Koryphäen werden uns vernichtend schlagen, was wir uns selbst zuzuschreiben haben.
Fünfhundertdreiundzwanzig Wörter, etwa ein Viertel der Obergrenze und die Hälfte stammt aus dem Gedicht, na super. Mir wird zunehmend wärmer, denn obwohl die Sonne den Horizont bereits passierte: Es ist noch immer ziemlich stickig und warm, geradezu bedrückend, diese Sommerhitze. Gar nicht mal so schön, dieser Sommer. Extreme Temperaturen, die Zimmer mit unglücklicher Fensterausrichtung geradezu zu Saunas machen, wechseln sich mit extrem stürmischen und regnerischen Tagen ab, an denen es lebensmüde ist, das Haus nur zu verlassen. Und in der Nachbarschaft werden irgendwelche Dinge gefeiert, während man Menschen hört, welche lautstark bei Helene Fischer mitgrölen.
Außerdem kann man im Sommer fußballerisch ziemlich kalt erwischt werden: Duisburg verliert das Derby gegen Schalke mit Null zu Fünf, Karlsruhe tut dasselbe gegen Reutlingen und haut sich die Bälle durch unnötige Fouls im Strafraum und darauffolgende rote Karten quasi alleine in das Tor, Würzburg unterliegt Werder Bremen nach Verlängerung nachdem den Kickers in den ersten neunzig Minuten ein reguläres Tor aberkannt wurde.
Noch zwanzig Minuten, meine Augenlider ziehen sich an wie zwei Magnete, sie aufzuhalten ist mühevoll und raubt mir meine Konzentration, die Musik von draußen wird immer nerviger und die Menschen werden immer lauter. Vermutlich keine Einbildung, schließlich werden die wohl ordentlich Alkohol konsumieren. Wenigstens die scheinen Spaß zu haben.
Wenigstens für Gamer war dieser Sommer ein voller Erfolg, zumindest für diese, die es schafften, sich Karten für die gamescom zu sichern und nicht, wie ich, aufgrund von fehlenden Organisationstalents keine ergattern konnten. Apropos organisieren, die Zeit für den Collab läuft weiter ab und mir fehlt es an zweierlei Dingen: Zeit und Inspiration, beides werde ich wohl nicht mehr bekommen, ich gebe hiermit offiziell auf, ich kann nichts über den Sommer schreiben, da mir vieles dazu einfällt, jedoch nichts auch nur annähernd würdig ist, in eine Erzählung umgewandelt zu werden. Zudem habe ich keine Lust, mich mit meinem Schreibpartner über die Korrektur eines Wortes auseinanderzusetzen.
Juli, 1816.
Winde fegten heulend vorbei an den morschen Stützbalken der Holzhäuser, die längst ersetzt werden sollten. Eiskristalle bedeckten schmutzige Glasscheiben wie feingearbeitetes Silber auf Morast. Unnachgiebig schoben sich die Wolkenmassen nordwärts über das weite Land und absorbierten auch den letzten Strahl der sonst um diese Zeit so glühend heißen Nachmittagssonne. Es war kalt, nicht nur für die Jahreszeit. Nein, wenn es eine höhere Macht gab, so hatte sie das einst reich beschenkte Land mittlerweile aufgegeben und schleuderte den eisigen Pfeil zurück auf seine Untertanen, die ihn unbedacht abgefeuert hatten. Zurück zu uns.
Wenn Himmelszorn herniederfährt
Scheint das Leben bald farblos, verschwommen
Also fürchtet das Jahr ohne Sommer
wo Sonnenschein nicht wiederkehrt
Ich wand mich ab vom Fenster und griff zur Schreibfeder, die stets getreu auf ihren Einsatz wartend auf meinem Sekretär ruhte. Tinte verklebte einzelne Strahlen der einst weißen, weichen Fahne und bewies, dass ich die bitteren Tage häufiger zur Niederschrift von Gedanken und zur Bürokratie nutzte. Eigentlich war es an der Zeit für einen Ersatz, doch die sonst zu Scharen zurückkehrenden Kanadagänse mieden das gottlose Land und hatten sich seit Frühjahr nicht blicken lassen.
Mit spitzen Fingern öffnete ich das fein geschliffene Tintenfass und versenkte den Kiel achtsam bis zum Nabel. Bereits ausgefranst kratzend schob sich die Spitze über das dicke Papier und nur mit Mühe erhielt ich ein einheitliches Schriftbild. Sorgsam übertrug ich die ernüchternden Gewinne aus dem Handel mit den Fellen der einheimischen Pelztiere, die bereits vor diesem Jahr weitestgehend ausgerottet zu sein schienen und nun in letzten Verstecken Schutz vor der Jagd der Indianer suchten, die auf diese Weise die so dringend benötigte Medizin für ihr Volk ertauschten. Mein Blick glitt zum grob gewebten Wandteppich mit den feinen Stickereien, den ich zusammen mit den frischen Häuten entgegengenommen hatte. Gemischte Gefühle befielen mich, als ich die heroisch dargestellte Jagdszene betrachtete.
Just in diesem Augenblick glitt ein Tropfen Tinte von der Spule und fraß sich in das Pergament wie frisches Blut in Schnee. Ich zögerte, drückte jedoch erneut auf und zuckte zusammen, als der Kiel mit filigranem Knacken brach. Mit einem Anflug von Abscheu sah ich auf meine Aufschrift und erhob mich. Das dunkle Holz meines Zimmers erschien mir mit einem Male bedrohlich, hämisch und gemeinsam mit dem schuldlosen Weiß hinter den Wänden wie eine Metapher für den Kontrast dieses auf Ausbeuterei gestützten Lebens. Irgendetwas drängte mich nach draußen, wo einem die kalte Luft die Atemwege versengte wie sonst nur der heiße Rauch der englischen Fabriken. Fabriken gab es hier nicht. Und ebenso wenig die Hitze, die diese mit sich brachten. Ich sehnte mich nach dem warmen Kitzeln der Sonnenstrahlen, doch auf mildes Wetter warteten wir vergebens. Es schien, als wäre 1816 ein Jahr ohne Sommer.
Erneut trat ich ans Fenster und hoffte auf ein Zeichen, dass mich anwies, was nun zu tun war. Ein Hinweis, wie der Sommer wieder Einzug in unserer beschaulichen Gemeinde halten würde? Doch kein Zeichen erschien. Meine Gedanken schweiften ab zu dem Ort, an dem ich meine letzten Federn lagerte, aber ich konnte mich nicht aufraffen, meine Arbeit fortzusetzen. Bedeckt von einem dicken Mantel aus Leder und Fell trat ich so kurze Zeit später ins Freie und setzte meine ersten Spuren in den feinen Neuschnee zu meinen Füßen. Wie mit einem leichten Grollen gab die weiße Masse nach und schien mich verzweifelt festzuhalten, war ich erst einmal darin versunken. Mit steifen Fingern kratzte ich die juckenden Bartstoppeln und fluchte innerlich über meine planlose Situation. Zwar hatte sich das Schneetreiben seit Wochen nicht mehr zu einem Sturm verdichtet, doch schienen die Straße und der wolkenbedeckte Himmel ineinander überzugehen, beide nur Flecken auf dem einzigen, weiten Laken, das sich über mein gesamtes Sichtfeld spannte.
Ohne wirkliches Ziel folgte ich eine Weile dem Weg, der mich jenseits der Stadtgrenzen, hinaus in die nur von Indianern durchstreifte Wildnis führte, als ein schwarzer Schatten, der über den Boden glitt, meine Aufmerksamkeit bannte. Ich blickte gen Himmel. In endloser Stille majestätisch gleitend zog ein prächtiger Adler seine Kreise über den niedrigen Häusern und Baracken europäischer Siedler, um nach einigen Sekunden seinen Weg landeinwärts fortzusetzen und mich mit einer schwermütigen Sehnsucht zurückzulassen. Zunächst meine Augen, dann meine Beine folgten der Route des stolzen Tieres und mein Kopf zeichnete das Bild einer glänzend schwarzen Schreibfeder, die in Nistnähe des Vogels aufzufinden sein musste. Den Sommer mochte ich niemals finden, aber zumindest meinem Broterwerb würde ich bald wieder nachgehen können. In diesem Moment verschenkte ich keinen Gedanken mehr an meine Sicherheit, sondern folgte nur meinem inneren Drang, der mich fort von der schützenden Zivilisation trieb, immer weiter in die so außergewöhnlich kalte Landschaft in diesem eisigen Juli.
Wir Menschen siedeln unbedarft
Opfern Flora und Fauna dem Handel
Doch die Welt, die wir unberührt fanden
Ist uns doch niemals untertan
Ich war wohl etwa eine Stunde gelaufen, als ich das erste Mal anhielt und begann, mich um meine steif gefrorenen Füße zu sorgen. Es dämmerte bereits, die Sonne wanderte wohl gen Nordwesten, um die Welt über der undurchdringbaren Wolkendecke in sanfte Goldtöne zu tauchen. Den Adler hatte ich nicht wieder erblickt, doch stattdessen breitete sich hinter einem Schleier aus leichtem Nebelfrost eine unberührte Landschaft aus, in der hohe Fichten brüderlich zusammenhielten und ihre weiten Zweige schützend über moosbedeckte Steine und verkümmerte Sträucher reckten. Der Wind fuhr durch die schweren Äste und wehte von Zeit zu Zeit kleine Mengen Neuschnee zu Boden. Als ich mich gerade umdrehen wollte, um in anderer Richtung weiterzugehen, huschte ein kleiner Körper durch das morsche Unterholz. Interessiert schritt ich näher, gespannt, was ich sehen würde. Starr wie ein Eisklotz, verharrte ein kleines Hermelin und sah mit vibrierendem Schnurrhaar in meine Richtung.
Ich zog leise die Luft ein, war das Pelztier doch mittlerweile ein halbes Vermögen wert. Instinktiv griff meine Hand zu einem stabil geschmiedeten Messer, das ich zu meinem eigenen Schutz stets in meinem Mantel trug. Doch mitten in mein Zögern mischte sich der gellende Schrei eines Adlers, der sich über die Wipfel senkte und mich schließlich von einem tief hängenden Ast aus zu beobachten schien. Blauschwarz glänzten die Federn und ich fühlte, wie mich eine seltsame Aura umhüllte. Für mich stand außer Frage, dass es dasselbe Tier wie zuvor war.
Das Hermelin ergriff seine Gelegenheit und war in Sekundenschnelle verschwunden, ohne auch nur das Interesse des Greifvogels geweckt zu haben. Doch ich selbst blieb an Ort und Stelle. Würde mich der gewaltige Vogel zu seinem Unterschlupf führen?
Langsam ging ich näher.
Als hätte er nur darauf gewartet, breitete er jedoch die weiten Schwingen aus und war hinter den hohen Tannen abgetaucht, kaum, dass ich einen Schritt getan hatte. Ich verlor keinen Gedanken mehr und eilte in das unwegsame Gestrüpp vor mir. Zweige kratzten meine trockene, gerötete Haut und immer wieder stolperte ich über Wurzeln und verrottendes Holz, das unter der Schneeschicht den Boden des Nadelwaldes bedeckte. Schnee stob mir ins Gesicht und mittlerweile spürte ich, wie auch der so dick geglaubte Mantel eher spärlichen Schutz vor der gnadenlosen Außenwelt bot. Zum ersten Mal erwischte ich mich bei der stillen Frage, wie ich ohne auch nur einen Kompass bei mir zu haben zu meinem Wohnort zurückfinden sollte.
Ich war erneut eine Weile gelaufen und war bereits schwach von Hunger und Durst, als ich mit dem Fuß ins Bodenlose trat. Entsetzliche Panik brach aus mir heraus, als ich in Sekundenbruchteilen stürzte und mitten durch scharfkantiges Gehölz und Gestein einen Abhang hinunterrollte, wo ich reglos liegen blieb.
Es saust herab das Hagelkorn
Das uns Ernte und Leben zerstört
Aber nie unser Flehen erhört
Bringt jeder auch stets Klagen vor
Als ich erwachte, brannte die Welt.
Die Sonne schob sich als flimmernder Feuerball in den eisgesäumten Horizont und tauchte mit letzter Kraft die gesamte Landschaft in ein feurig goldenes Licht. Ich lag weich und blickte von einer Anhöhe aus über ein weites Tal, durch das in der Ferne rauschend ein breiter Fluss mäanderte. Obwohl es erkennbar Abend war, fror ich nicht, vielmehr war ich ergriffen von einer inneren Wärme, die gleichsam mein Äußeres wie eine Decke umhüllte. Aber auch eine leichte Benommenheit erfüllte meinen Körper, sodass ich mir erst nach und nach meines schmerzenden linken Knöchels gewahr wurde, als ich vorsichtig versuchte, meine Position zu verlagern. Wo war ich nur?
Nachdem ich es meiner Unbeholfenheit zum Trotz geschafft hatte, mich aufzurichten, drang eine Melodie an mein Ohr. Sie schien keines natürlichen Ursprungs zu sein und doch wirkte es so, als entspränge sie direkt der Seele der Welt, die vor mir lag. Flötentöne wehten über die Klippe in das Tal und webten einen Klangteppich, der die Kälte fast verscheuchte. Ich war irritiert, hatte ich doch bislang erwartet, alleine zu sein. Ich wandte mich um.
Eine junge Frau mit langem, schwarzem Haar saß mit verschränkten Beinen zu meiner Linken. Sie hatte sich wie ich dem Tal zugewandt und ihre geschlossenen Augen teilten mir mit, dass ihr entgangen war, dass ich mein Bewusstsein wiedererlangt hatte. Etwas unsicher bewegte ich mich an Ort und Stelle, so musste die Frau doch eine Einheimische jener Stämme sein, die einst das Gebiet unseres Dorfes besiedelt hatten und nun ihr Überleben nur durch die organisierte Jagd auf Wild, mit dem sie einst Seite an Seite lebten, sicherten. Vorsichtig beobachtete ich, wie ihre grazilen Finger geschickt über das sonderbar helle Holz ihres Instruments fuhren und lauschte den so fremdartig klingenden Tönen. Gerade wollte ich ansetzen, ihr Spiel zu unterbrechen, als bereits zum zweiten Mal ein Schatten es war, der meine Aufmerksamkeit weckte; erneut der wohlbekannte Adler, der über dem Tal kreiste. Und wie magisch angezogen, heftete sich mein Blick an den Verlauf des gleitenden Fluges. So dauerte es, bis ich mit einem Mal realisierte, dass das Flötenspiel derweil aufgehört hatte. Mit einem leichten Unbehagen wendete ich mich nach links, doch niemand saß mehr im kühlen Schnee. Stattdessen schrak ich bitterlich zusammen, als ich eine Hand auf meiner Schulter spürte.
Doch dem, der reinen Sinnes ist
Reicht Tambora die schützende Hand
Ihre Botschaften schmücken das Land:
Der Einklang kennt kein Hindernis
"Es freut mich, dass es dir besser geht. Du bist gestürzt und hast einige Tage hier verbracht, ohne gänzlich das Bewusstsein wiederzuerlangen, da die Kälte bereits tief in deine Adern gekrochen war. Trink das."
Ich zögerte und sah unschlüssig auf die Schale, die sie mir hinhielt. In ihren dunklen Augen spiegelte sich die golden glitzernde Welt und die plötzliche Harmonie der Szene bereitete mir Unbehagen. Ich schien sie zu amüsieren und schließlich gab ich nach und trank von einem warmen Tee, den sie mir zubereitet hatte.
Sie setzte sich vor mich.
"Mein Name ist Tambora, meine Herkunft von keiner Relevanz. Doch eins will ich euch Siedlern mitgeben."
Sie wurde ernst und hielt inne. Dann fuhr sie mit Nachdruck fort.
"Achtet, was euch ergeben scheint."
Ein Knacken zu meiner Rechten ließ mich für einen Moment zur Seite blicken und schenkte mir das Bild eines Hermelins, welches mehrere Jungtiere mit sich trieb. Ich spürte eine seltsame Anwandlung von Schwindel, dann drehte ich mich zu meiner Retterin um. Doch statt über das Gesicht der jungen Frau schweifte mein Blick ungehindert über die friedliche Weite Kanadas. Suchend sah ich mich um, doch nirgends war eine Menschenseele zu entdecken. Da bemerkte ich einen Umschlag, der vor mir lag und griff danach… Als eine Stimme in meinem Kopf ertönte:
"Willst du zurück, so folge dem Adler."
In diesem Moment erst bemerkte ich das mir inzwischen wohlbekannte Tier und tat, wie mir geheißen. Unter seinem Geleit, im Schein der letzten Sonnenstrahlen, fand ich irgendwie meinen Weg zurück.
Das nächste, was meine Erinnerung für mich zurückbehielt, war der Augenblick, als ich in meinem weichen Bett erwachte, geweckt durch das zarte Licht einer noch vorsichtigen Sonne, die sich ihren Platz zurückerkämpfen wollte. In meiner rechten Hand lag ein Umschlag, den ich nun öffnete. Eine blauschwarze Feder fiel mir entgegen und landete auf meinem Bauch. Doch mir war nicht mehr nach Buchhaltung. Ich griff nach Pergament und schrieb.
Bewahrt das Land, das euch bewahrt
Wem gegeben wird, wird auch genommen
Und ich bin ihm mit Müh‘ nur entkommen
dem Jahr, von dem ich Zeuge war.
Frustration. Pure, tintenschwarze Frustration!
Ihm entkam ein Stöhnen. Oh, diese Qual! Diese Schande! Heute wollte die Inspiration einfach nicht erscheinen!
Das gelbliche Pergament vor ihm auf dem alten Schreibtisch war vollkommen leer. Kein einziger Buchstabe, nicht einmal ein kleiner Tintenfleck… Vollkommen leer, genauso wie seine Gedanken auch. Das war nicht gut. Gar nicht gut!
„Oh Gott!“, stieß der junge Mann aus. Dabei hatte er längst aufgehört zu beten. Nach vier Wochen wurde ihm allmählich bewusst, dass auch Gott scheinbar die Inspiration ausgegangen war. Oder zumindest wollte er sie nicht mit einem armen Dichterlein teilen.
Dabei brauchte er sie doch so dringend! Er, William Hemfordt, würde schon bald zu den ganz Großen gehören! Er musste einfach! Für seine süße Elise würde er bekannt werden und reich und berühmt! Und bald würden dann die Glocken läuten, nur für sie beide, und das herrliche Pathos der Mengen würde durch die Kapelle schallen!
Für einen Moment nur verlor sich William im Tagtraum, doch als er die Augen öffnete, erwarteten ihn weiterhin nur die flackernde Kerze, der alte Schreibtisch und das vergilbte, leere Papier. Und da entkam ihm wieder ein Stöhnen. Er war so ein Träumer! Vorstellen konnte er sich diese Zukunft, aber sie auch zu erfüllen war etwas vollkommen anderes.
Als sich der junge Mann streckte, knackten alle seine Knochen. Wie lange hatte er heute schon wieder am Tisch gesessen? Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihm die tiefschwarze Nacht. Ein ganzer Tag war vergangen. Und kein Wort war aus der alten Feder geflossen, die neben dem Pergament lag. Oh, diese Qual! Diese Schande! Wie sollte er Elise bloß unter die Augen treten! Ein Tunichtgut wie er war, dünn und schwach, kein Funken von Muskeln! Was fand sie bloß an ihm? Oh, süße Elise!
Als er in das alte Bett in der Ecke des Raumes fiel, galten seine letzten Gedanken bloß ihr. Wie sehr er hofft, von ihr zu träumen. Von ihr in einem wundervollen Kleid, umringt von Blumen und dem Läuten der Kirchenglocken!
Und das nächste, was er sah, war tatsächlich seine liebste Elise. Ihr Puppengesicht, die zarten Elfenfinger, die sein Gesicht umschlossen, die Himmelaugen mit Wimpern so schwarz wie Rabenfedern, Haare wie Fäden aus goldener Seide.
„Wach auf, mein Liebster!“, flüsterte sie und liebkoste seine Wange mit einem Kuss. Oh Gott, er hatte ihn doch noch nicht ganz aufgegeben! Zumindest in seinen Träumen…
Der kurze, kleine Schmerz in seine Wange ließ ihn aufschrecken. Elise hatte ihn gekniffen, ganz leicht nur.
„William!“, raunte sie ihm zu. Der junge Mann richtete sich auf und fuhr sich über die Augen, fast so, als könnte er nicht glauben, was er sah. Elise, oh süße Elise. Niemals würde er es schaffen, das Gefühl zu beschreiben, das ihr bloßer Anblick in seiner Brust erweckte.
„Liebste!“, stieß er atemlos aus. „Ist etwas geschehen?“ Der Weg hinaus zu seiner Hütte war weit, und sie war ihn ganz alleine gegangen.
Elise lächelte nur.
„Der Tag ist so schön und du verbringst ihn im Haus!“, mahnte sie ihn, aber ihr belustigter Tonfall machte klar, dass sie es nicht ernst meinte. Zumindest nicht vollkommen.
„Möchte mein Liebster nicht an meiner Seite sein und die Arbeit ruhen lassen? Nur für diesen einen Tag?“
William hatte nicht lange gezögert. Ein Tag mit seiner Elise würde ihn ablenken von seinen Sorgen. Aber ganz die Arbeit vergessen konnte er dabei auch nicht. Als sie durch die Tür verschwand rollte er das Pergament zusammen und griff sich Tinte und Feder.
Elise lebte schon lange in dieser Gegend. Sie kannte die schönsten Orte. William folgte ihr bloß, dieser elfengleichen Silhouette, wie sie im letzten Licht der Sterne strahlte.
Sie führte ihn zum Waldesrand. Die hohen Eichen und Buchen wiegten leicht im Morgenwind, der schelmisch an Williams Kleidung zog. Elise griff seine Hand, zog ihn weiter und weiter, bis sie stehen blieb, mit einem erstaunten Blick auf dem Gesicht. Gebadet in dem Licht der aufgehenden Sonne, ein Rot gleich den flammenden Mohnblüten. Wie wunderschön sie aussah. Ein Engel in der Morgensonne. Sein Engel.
Als William die Arme um ihre Taille schlang, legte Elise ihren Kopf an seine Brust. Sie sanken zu Boden, betteten sich auf das Gras. Und während die Sonne langsam aufblühte griff der junge Dichter zu Feder und Papier. Schwarze Letter erschienen auf dem Pergament, leicht und fließend wie der Wind, der sie umhüllte.
Ein sanfter Hauch, ein Gruß dem neuen Morgen,
Verspielt, die Winde wirbeln durch den Wald,
Verheißungsvoll, vertreiben alle Sorgen,
Der Vögel Jubel durch die Blätter schallt.
Und funkelnd, wie von abertausend Sternen,
Im Tau das erste Morgenfeuer strahlt,
Kündet von Glück, dies' Licht aus weiten Fernen,
Ein Farbenfeuerwerk am Himmel malt.
„Elise, oh meine Elise, wo bist du nur?“
Seine Stimme hallte durch den smaragdgrünen Wald. Über ihm raschelte das Blätterdach der Bäume und sangen die Vögelein, unter ihm plätscherte der Bach, kühles Wasser liebkoste seine nackten Füße. Und trotzdem hörte er ihr leises Kichern klar und deutlich, hell wie ein Glockenklang. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht pirschte er sich an, dort, hinter der mächtigen Eiche, er sah ihr blütenweißes Kleid. Oh, süße Elise, er würde sie fangen. Sie liebte dieses Spiel. Fangen musste er sie immer wieder, ihr Interesse, ihre Leidenschaft. Sie war wie ein flinkes Rehkitz, schnell und wendig und fort, wenn man es nicht im Auge behielt. Neugierig und wissbegierig, sie wollte immer neues sehen. Ein so freudiges Mädchen, so lebensfroh und mutig wie seine Elise war keine andere. Sein Engel hatte ihm sein Herz gestohlen schon mit dem ersten Blick, dem ersten Lächeln, das sie ihm zugeworfen hatte.
Ein Meter noch, ein halber. Sie wandte sich ihm schon zu, als er seine Arme um sie schlang, sie gefangen nahm in seiner warmen Umarmung. Elise lachte und wandte sich spielerisch.
„Hab dich!“, flüsterte William ihr ins Ohr. Sonnenlicht erhellte den schelmischen Ausdruck in ihrem Puppengesicht.
„Aber auch nur, weil ich es wollte!“ Ihre zarten Finger fuhren über die Stoppeln in seinem Gesicht. Sie drehte sich in seiner Umarmung, Elises Lippen berührten die seine. Süßer, süßer Atem, ihre Küsse schmeckten wie pures Glück.
Die Leidenschaft wurde jäh unterbrochen. Donnerknalle wie Paukenschläge schallten durch den Wald. Elise zuckte in seinen Armen, den Blick besorgt in den Himmel gerichtet. Sie hatten gar nicht bemerkt, wie die Sonne verschwunden war. William ergriff ihre Hand und zog sie zum Waldesrand. Unter einer großen Buche drückte er seine Liebste ins Gras. Elise schmiegte sich an ihn, als er sich hinter sie setzte. Die Wärme von ihrem Körper belebte seinen Geist.
Donner und Blitz waren weit entfernt und konnten ihnen nichts anhaben. Auch der Regen, der wie ein marschierendes Heer auf dem Boden aufschlug kümmerte sie beide nicht. Sie hörten bloß einander, atmeten im gleichen Takt. Und William holte das Pergament hervor, tauchte die Feder in die Tinte, die so tiefschwarz war wie der Himmel über ihnen, und schrieb.
Bald Helios fährt auf über die Welt,
Schenkt Wärme, weckt geheime Leidenschaft,
Verborgen unter grünem Blätterzelt,
Ein kühles Bächlein plätschernd, spendet Kraft.
Schon naht heran ein schweres Donnergrollen,
Und Wolkenheere ziehen auf voll Macht,
Durch Regenfluten Blitze gleißend tollen,
Zerschlagen Sonnenstrahlen in der Schlacht.
Sie mussten eingeschlafen sein. Arm in Arm unter der Buche, inmitten des Gewitters. Denn wenn seine liebste Elise bei ihm war, sein süßer Engel, dann konnte nichts und niemand die Ruhe in seinem Herzen stören. Der letzte Donnerknall in der Ferne verklang und die ersten Rufe der Tiere erschallten schüchtern. Er spürte Elises regelmäßiges Atmen auf seiner Brust, ihre goldenen Haare, die in leicht am Hals kitzelten, und ihre Hand, die seine gefangen hielt. William blieb ruhig am Baumstamm gelehnt sitzen. Alles schien noch so leise, als hätte die Welt nach diesem Feldzug des Herrn die Luft angehalten. Es fühlte sich falsch an, diese Ruhe zu stören.
Auf der weiten Wiese vor ihnen schimmerte der Nebel. Er bedeckte den Grund mit schemenhafter Leichtigkeit, ein feuchter Umhang als klammer Luft. Als er die Liebenden erreichte, brach er das Licht des goldenen Sonnenuntergangs. Rot, gelb, orange, blau und violett, wie ein Bouquet aus seltenen Blumen, die im Himmel leuchteten. William seufzte. Wie lange hatte er den Sonnenuntergang schon nicht mehr gesehen? Wie lange hatte er mit dem bloßen Gedanken an Elise gelebt, nicht mit ihr selbst?
Sie bewegte sich in seinen Armen und William wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen. Leicht verschlafen, die Wangen rot vor Müdigkeit lächelte sie ihn an. Gemeinsam betrachteten sie den Sonnenuntergang, sahen, wie die ersten Sterne zögerlich zu strahlen begannen. William fuhr seiner Liebsten durch das goldene Haar und Elise umfasste die Hand ihres Liebsten sanft, aber bestimmt. Es brauchte keine Worte, kein einziges. Denn es gab keines, das auszudrücken vermochte, was sie in diesem Moment spürten.
Als der Mond dann endlich hoch am schwarzen Tintenhimmel stand, umringt von seinen leuchtenden Schwestern und Brüdern, beschloss William, dass es Zeit war zu gehen. Er erhob sich, und als Elise ihn wehmütig ansah zerbrach ihm halb das Herz. Aber es wurde zu kalt für seine zarte Blume, und er wollte nicht, dass ihr etwas geschah.
Elise streckte die Hand nach ihm aus und er verstand. Resignierend seufzend ließ er zu, dass sie ihre Arme um Williams Hals schlang. Er beugte sich vor und hob sie hoch in seine Arme. Wie ein Bräutigam seine Braut trug William seine Elise durch die Nacht, begleitet vom sanften Wind und dem Glanz der Sterne.
Elise war schon wieder eingeschlafen, als William sie sanft auf seinem Bett ablegte. Sie sah so friedlich aus, so entspannt, als könnte ihr nichts in der Welt etwas anhaben. William betrachtete sie für eine Weile, dann deckte er sie zu. Mit einem letzten Lächeln löschte er die Kerze neben dem Bett und wandte sich dem Schreibtisch zu. Er fühlte sich herrlich leicht nach diesem Tag. Aber auch ein wenig erschöpft. Aber das war ihm gerade egal. All die Wörter, die hinaus wollten, musste er noch jetzt verewigen, bevor er sie vergas.
Er ließ sich auf den Stuhl sinken und holte die Tinte und das Pergament hervor.
Aus Erdentiefen Nebelfelder steigen,
Und fern der letzte Donnerschlag verhallt,
Die Nachtigall erwacht aus ihrem Schweigen,
Goldener Abendschein durchdringt den Wald.
Schon geht der Mond auf seine stumme Reise,
Hüllt uns die Nacht in ihren Schleier ein,
Flüstert der Wind sein Lied so sanft uns leise,
Der ganze Wald gewebt im Zauberschein.
Kaum hatte er die letzte Zeile vollendet, fielen William schon die Augen zu. Er schob Pergament und Tinte von sich, legte die Arme auf den Tisch und den Kopf auf diese. Er wusste, heute würde er gut träumen. Vom Smaragdwald, vom kleinen Bach, vom Gewitter, von Nebel und von Mondschein. Und dann würde er von Reichtum träumen, von Ruhm und Reichtum.
Aber am Ende seines Traumes, wenn er Elise sah, gekleidet in das schönste Hochzeitskleid, umgeben von Blumen und strahlend hellem Sonnenschein, mit dem Klang der Glocken überall um sie herum, erst dann wäre sein Traum perfekt.
Und er wusste, mit diesem Werk würde er aus seinem Traum Wirklichkeit machen. Für seine süße Elise, seinen Muse, der ihn aus dem tiefsten Kummer rettete, nur mit einem einzigen Lächeln.
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