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Vote
In diesem Thema habt ihr eine bestimmte Anzahl an Punkten zur Verfügung, die ihr den Texten im Tab "Abgaben" geben könnt. Dabei ist zu beachten, dass ihr nahezu frei wählen könnt, wie ihr die Punkte verteilt und welche Texte mehr Punkte als andere bekommen. Achtet jedoch darauf, dass ihr die Punkte, die euch zur Verfügung stehen, komplett ausschöpft. Votes, welche zu wenige oder zu viele Punkte enthalten, können leider nicht gezählt werden. Des Weiteren solltet ihr eure Punkte mindestens auf drei Texte verteilen, eure Wahl begründen und natürlich nicht für eure eigenen Texte voten.
Es ist außerdem hilfreich, euch das "How to vote-Topic" anzusehen. Schreibt ihr in dieser Saison besonders viele Votes, habt ihr die Chance auf Medaillen. Weitere Informationen findet ihr hier: Informationen und Regeln zu den Wettbewerben.
Wer neben den Votes noch weitere Kritik für sein Werk erhalten möchte, aber kein eigenes Thema erstellen möchte, der kann dies gerne in unserem Feedback-Thema für fertige Texte tun!
Zitat von AufgabenstellungFreie kurze Erzählung
Inzwischen ist es definitiv eine Tradition und auch dieses Jahr sollt ihr wieder die Möglichkeit bekommen, eine Abgabe zu verfassen, bei der ihr euch weder an ein bestimmtes Thema noch an eine bestimmte Form halten müsst, solange es sich um eine kurze Erzählung handelt. Ihr könnt eurer Kreativität also ungezügelt freien Lauf lassen! Also, worauf wartet ihr noch? Ran an die Tasten und viel Spaß! Ein Pokémonbezug ist hierbei selbstverständlich nicht verpflichtend, aber ebenfalls erlaubt.
Ihr könnt 10 Punkte verteilen, maximal 5 an eine Abgabe
ZitatAlles anzeigenID: [DEINE USERID]
AX: X
AX: X
Beispiel:
ID: 27258
A16: 3
A1: 5
A3: 1
A7: 1
A9: 2
Wenn ihr nicht wissen solltet, wie ihr eure ID herausfindet, könnt ihr dies unter anderem hier nachlesen.
Der Vote läuft bis Sonntag, den 25.10.2015, um 23:59 Uhr.
[tab=Abgaben]
"Mein bleicher Bruder", Kurzgeschichte von Wolfgang Borchert
Kurze Beschreibung: In der Kurzgeschichte geht es um einen Offizier, welcher seinen Unteroffizier, Korporal Heller, zum Bataillon schickt, diesen auf dem Weg dorthin allerdings ermordet auffindet und man erfährt, dass Heller und der Offizier Schulkollegen gewesen waren und das der Offizier von Heller immer als "bleicher Bruder hängendes Lid" bezeichnet und im Allgemeinen gemobbt wurde. Dies ist nun eine Situation, die sich vor dieser Kurzgeschichte abspielt.
Er stand in der Ecke des Schulhofs und verhielt sich still. Den Blick auf den Boden gerichtet, den Atem anhaltend. Bloß keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Alles, nur nicht das. Vielleicht würden sie ihn dann einmal in Ruhe lassen. In seinen für sein zartes Alter viel zu knochigen Händen hielt er ein Bündel aus transparenter Folie, durch die die Umrisse eines Pausenbrotes zu erkennen waren. Er klammerte sich daran. Noch hatten sie es ihm nicht abgenommen. Noch konnte er sich daran festhalten.
Sein Magen grollte und er erschrak. So etwas würde ihn früher oder später noch verraten. Sollte er etwas dagegen tun? Nein, er konnte es sich nicht erlauben, sein Pausenbrot jetzt auszupacken. Er würde sich bewegen müssen. Sie würden ihn bemerken. Ein zögernder Blick in die Richtung der anderen. Noch war er in Sicherheit. Noch vergnügten sie sich mit sich selbst und den Mädchen. Brüllten, lachten, gaben mit ihrem Humor und ihren Muskeln an. Vielleicht hatte er es heute ja tatsächlich geschafft. Vielleicht war er ja unsichtbar, so wie er es sich schon seit Monaten gewünscht hatte. Vielleicht waren die Mädchen heute ja doch interessanter als er. Ach, wie oft er sich das schon eingeredet hatte.
Gänsehaut überzog seine bleichen Ärmchen. Ob vor Kälte oder aus Angst, das konnte er sich selbst nicht erklären. Ein Blick auf die Kirchenuhr verriet ihm, dass seit Beginn der Pause erst zwei Minuten vergangen waren. Zwei kurze Minuten von langen zehn und er wünschte sich jetzt schon, es wäre vorbei. Er schielte hinüber zu den Lehrern. Sie tranken Kaffee und unterhielten sich, wie jeden anderen Tag auch. Seine Mitschüler brüllten, so wie jeden anderen Tag auch. Sie würden sich wieder über ihn lustig machen, genau wie jeden anderen Tag auch. Und die Lehrer würden es geschehen lassen, ganz genau wie jeden anderen gottverdammten Tag auch. Seine knochigen Finger gruben sich in sein Pausenbrot. Sein Atem ging schneller, obwohl er schon seit gefühlten Stunden versuchte, ihn anzuhalten, sodass sie ihn nicht hören konnten. Er kniff seine Augen so fest zusammen, dass es wehtat. Biss auf seine Unterlippe und kaute darauf herum. Er war nicht da, er war einfach nicht da.
In dem Moment, als sich der Geschmack von Blut in seinem Mund breit machte, da hörte er ihn. Heller, ihren Anführer, mit seiner lauten, durchdringenden Stimme.
„Na, wen haben wir denn da!“, brüllte er über den ganzen Pausenhof. Seine Finger bohrten sich tiefer in sein Brot hinein. Er spürte, wie die Folie unter seinen Nägeln riss. „Ist das nicht unser bleicher Bruder hängendes Lid?“ Lautes Gelächter. Noch waren sie weit weg, doch er spürte, dass sie näher kamen. Das taten sie immer. Sie waren jetzt schon nicht mehr aufzuhalten. Das Lachen wurde lauter, er zitterte stärker.
„Ach, ist unserem Bläßling etwa kalt? Was für ein armes Ding. Aber wie soll man auch nicht frieren, wenn man nur aus Haut und Knochen besteht?“ Immer derselbe Spott. Immer dieselben Sticheleien. Ein Klumpen bildete sich in seinem Hals. Er konnte das nicht mehr. Er konnte ihnen nicht länger standhalten. Doch würde er jetzt anfangen zu weinen, hätten sie noch einen weiteren Grund, über ihn herzufallen. Daher biss er sich einfach nur stärker auf die Lippe. Vielleicht würde er ja verschwinden, wenn er es sich nur wünschte. Vielleicht könnte er sich ja in Luft auflösen. Doch noch immer hörte er das Gelächter. Er hörte das nahende Unheil auf sich zukommen. Sie waren in unmittelbarer Nähe.
„Was ist denn das für eine Begrüssung für einen so guten Freund wie mich, Brüderchen?“ Das war Heller, direkt vor ihm. Er konnte ihn riechen, fühlen, ihn atmen hören. Er drehte den Kopf so weit weg wie nur möglich. Dieser Gestank nach Schweiss ekelte ihn an.
„Ach, ich sehe schon. Hast mir wieder ein Geschenk mitgebracht!“ Oh nein. Nicht sein Pausenbrot. Nicht schon wieder sein Pausenbrot. Wie zur Rebellion brüllte sein Magen laut auf. Das Gelächter steigerte sich weiter. Das dreckige Lachen von jedem einzelnen dieser verdammten Bande.
„Ach Bruder, warum schenkst du mir denn immer deine Brötchen? Könntest doch selbst etwas mehr auf den Rippen vertragen, nicht wahr?“ Er spürte, wie ihm sein Pausenbrot aus den Händen gerissen wurde. Hörte, wie es herumgereicht wurde und schlussendlich im Mülleimer landete, nachdem jemand die Folie heruntergerissen hatte, zusammen mit dem Kommentar: „Igitt, diesen Frass kann doch keiner essen!“ Vielleicht würde er es dort später wieder herausholen. Er war so unglaublich hungrig. Gerede. Gelächter. Oh, immer dieses Gelächter.
Er versuchte, die Kommentare zu ignorieren. Hielt seine Augen geschlossen. Und plötzlich ein schallender Schmerz an seiner rechten Wange. Er fiel zu Boden, landete auf Händen und Knien, fühlte die Schürfwunde, noch bevor er sie sah.
„Weisst du denn nicht, dass es unhöflich ist, seinem Gegenüber nicht direkt in die Augen zu blicken, wenn man sich unterhält?“ Seine Wange brannte, seine Handflächen pochten. Er versuchte gar nicht erst, sich wieder aufzurappeln. Er würde so oder so direkt wieder zu Boden gehen. Der Kloss in seinem Hals wurde unerträglich. Es fühlte sich an, als hätte jemand eine Faust in seinen Rachen gestopft. Er konnte nichts dagegen tun, so sehr er auch dagegen ankämpfte, und seine Augen füllten sich mit Tränen. Er hielt sie nicht weiter geschlossen, denn durch den Trauerschleier konnte er auch so kaum mehr etwas erkennen. Er weinte leise und nur für sich, doch natürlich blieb auch das nicht unbemerkt.
„Oh seht, unser bleicher Bruder ist traurig, meine Freunde!“ schrie Heller. Kommentare aus der Menge. „Wenn ich so bescheuert aussehen würde wie der, da wär mir auch zum Weinen zumute!“ Doch das konnte er schon nicht mehr hören. Dort lag er, am Boden, und hielt sich fest die Ohren zu. Ein zusammengekauertes Bündel Lumpen, das sich hin und her wiegte, nichts mehr von der Welt hören wollte. Er bemerkte sie immer noch, die Stimmen. Die bösen Sprüche. Und er spürte den einen oder anderen Fuss, der ihn in seine Magengrube kickte und noch gekrümmter zurückließ, als er es eh schon gewesen war. Er hatte Hunger. Ihm war schlecht. Und er fühlte sich mickrig und entblößt. Machtlos vor der Überzahl der anderen. Die dumpfen Stimmen, welche er in seinem Kopf zu überhören versuchte. Das noch immer anhaltende Gelächter. Er brauchte die Sprüche nicht zu hören, um zu wissen, was sie über ihn sagten. Über ihn und sein Hängelid.
Es waren immer dieselben Dinge. So wie es gestern gewesen war, und auch morgen wieder sein würde. Und als endlich die Schulklingel ertönte und sie von ihm abliessen, war er froh, dass sie ihm nun immerhin bis Schulschluß eine Pause gewähren würden.
Wenn er Glück hatte.
Der Boden unter meinen Füßen gab nach und ich kippte nach vorn; fiel auf die Knie. Der Sand knirschte als ich krampfhaft meine Finger in den Boden rammte und versuchte, Herr meiner Sinne zu bleiben. Vergebens. Ich spürte bereits wie die Hitze in meinem Inneren anschwoll; mich von innen heraus zerfraß und sich einen Weg an die Oberfläche suchte. Vertrauen. Das ich nicht lache! Ehre. Was für eine Illusion! Liebe. Welch Zeitverschwendung!
Das zischende und züngelnde Geräusch von Flammen holte mich aus meiner Gedankenwelt. Ich spürte es. Roch es. Fürchtete es. Verachtete und liebte es zugleich. Verlangte nach ihm. Feuer.
Das stechend grelle Licht der Flammen blendete mich einen Augenblick lang, ehe ich der Situation gewahr wurde. Das tänzelnde Feuer kroch meine Arme hinauf, versengte meine Haut. Es war unaufhaltsam in seiner alles vernichtenden Zerstörungswut. Allerdings spürte ich keinen Schmerz. Schon seit tausenden von Jahren nicht mehr. Früher oder später würde es so kommen. Ich konnte es weder verhindern noch ändern; ich war nun einmal so. War dazu verdammt, irgendwann in Flammen aufzugehen und der Welt erneut den Rücken zu kehren. Vermuteten sie. Dachten sie. Aber ich ging niemals von ihnen. Sie unterschätzen meine grenzenlose Macht. Die Macht des Feuers!
Meine Augen suchten die Umgebung nach Anzeichen von Gegnern ab. Nur vage erkannte ich die Umrisse des Kraters; die Ränder verschwammen vor mir, sodass ich Mühe hatte, Anhaltspunkte zu finden. Die Hitze und das Flimmern der Flammen machten mir die Angelegenheit keinesfalls leichter. Die Luft war voller Rauch und lastete schwer in meinen Lungen. Doch drückte ich meinen Körper mit den Händen vom Boden ab und erhob mich. Schwankend stand ich auf den Beinen und schloss die Augen, um meine Konzentration wiederzuerlangen. „Dort unten! Da ist sie!“ Ein mildes Lächeln umspielte meine Lippen. Ich bemitleide euch jetzt schon, ihr Narren.
Eine turmhohe Flammensäule umgab mich, versengte meine zarte Haut und lechzte nach mehr. Jede Zelle meines Körpers brannte schon bald lichterloh. Die vielen Pfeile, die man auf mich schoss, drangen erst gar nicht bis zu mir hindurch; bereits im Flug fingen sie Feuer und zerfielen zu schwarzer Asche. Kein menschliches Wesen wäre in der Lage, meine grenzenlose Macht zu durchbrechen. Keines! Alle würden mit mir zusammen in Flammen aufgehen und ihr baldiges Ende finden. Es war unumgänglich. Zischend leckte die Hitze weiter über meine sterbliche Hülle und ein dunkles Lachen verließ meine Lippen. Gleich… gleich ist es vorbei. Endgültig.
Endlich…
Mein Leib brach auseinander. Zum Vorschein kam zunächst eine undeutliche Silhouette, die erst nach und nach Gestalt annahm. Riesige Schwingen durchbrachen die Feuersbrunst, breiteten sich aus und ein Luftstoß fegte alles in der Nähe befindliche weg. Wie Spielzeugfiguren wurden meine Feinde einfach hinweggeschleudert. Sie waren doch tatsächlich so dumm, sich mir zu nähern. Wie bemitleidenswert! Ein schriller Schrei verließ meine Kehle und übertönte jedes Geräusch. Einige meiner Feinde hielten sich die Ohren zu; verstanden nicht, was hier passierte. Ich stieß mich vom Boden ab und entfaltete meine ganze Kraft. Ein riesiges Flammenmehr brach einfach über sie hinweg und vernichtete alles.
Immer wieder schoss ich mit einer atemberaubender Geschwindigkeit in die Tiefe. Packte Menschen mit meinen riesigen Klauen und schleuderte sie weg. Ließ sie in meinem Flammenmehr verbrennen. Schnappte mit meinem Schnabel nach ihren wehrlosen Körpern und zerdrückte sie mühelos. Meine Schwingen trugen mich problemlos durch die Lüfte. Ich spürte den Wind durch meine Federn streichen, spürte für den Moment die Freiheit. Aber es blieb mir nur ein kurzer Moment der Ruhe; denn überall hörte man erstickte Schreie oder Hilferufe. Überall versperrte der Rauch einem die Sicht; erschwerte einem das Atmen. Schutt und Asche waren das Einzige, was man noch erkannte.
Meine wuchtigen Krallen zerbarsten den steinigen Untergrund, als ich landete. Langsam schritt ich über die Ebene, besah mich des Chaoses. Meines Chaoses. Genugtuung durchströmte meinen Körper und es verließ ein erneuter, schriller Ruf meine Kehle.
‚Warum?‘
Ich blieb stehen. Die leise Stimme klang traurig, ja, fast schon verletzt. Kurz sah ich mich um, entdeckte aber niemanden, der dies gesagt haben könnte. War es nur eine Illusion? Spielte mir mein Verstand einen Streich? Ich gab ein belustigtes Schnauben von mir. Das war lächerlich. Meine stechenden Augen besahen sich der Umgebung und ich war mir meines Sieges gewiss. Niemand würde mich aufhalten.
‚Warte!‘ Mein Körper erstarrte und ich hielt erneut inne. ‚Bitte, ich flehe dich an. Tue es nicht!‘ Wieder diese Stimme… Ich kannte sie. ‚Du wolltest so nicht sein. Du bist so nicht! Du unterscheidest dich grundlegend. Vergiss nicht, wer du wirklich bist!‘ Ich kniff die Augen zusammen. Nein, ich wollte mich nicht erinnern. Erinnerungen bargen nur Schmerzen und Leid. Wir wiegen uns ein Leben lang in Sicherheit und vergessen, dass nichts vergänglicher ist als die Zeit! Zeit… Ich öffnete meine Augen und sah an meinem Körper hinab. Sah das Feuer, welches mich mit seinen Flammen umspielte. Aber natürlich. Die Zeit!
Bevor ich einen anderen Gedanken fassen konnte, überfluteten mich die Erinnerungen meiner vergangenen Leben. Menschen, Orte – alles, was ich je sah, spielte sich vor meinem inneren Auge ab. Gefühle, welche ich bis dahin vehement vermieden hatte, drangen in mein Bewusstsein ein und spülten jegliche Zweifel gegenüber ihnen weg. Als wenn es sie nie gegeben hätte. Zeit war für jedes Lebewesen ein entscheidender Faktor. Sie regelte das gesamte Leben; gab uns einen roten Faden, dem wir folgten. Doch was sollte sie mir geben? Jemandem, der die Unendlichkeit sein Eigen nannte? Ich hatte sie all die Jahrhunderte ignoriert. Immer und immer wieder.
Wie oft stand ich bereits mit diesem Gedanken auf der Welt? Zu oft, wie ich sah. Beinahe jedes Mal, kurz vor meinem Tod. Ein Segen oder ein Fluch? Macht oder nur eine Illusion? Ich schloss meine Augen und streckte meinen Kopf gen Himmel. Spürte den Wind, wie er über mein Antlitz strich, meine Federn auf und ab wiegte. Wie er mein Feuer weiter anspornte. Ich blickte hinauf in den Himmel. Die Sterne waren getrübt von dem ganzen Rauch und Qualm, aber man sah sie. Ich sah sie. Ein summendes Geräusch vibrierte in meiner Kehle. Eine Melodie, geschaffen für die Ewigkeit.
Ein Geräusch unmittelbar vor mir ließ mich wieder nach unten schauen. Mein Kopf neigte sich hinab, soweit, dass mir der Mensch ins Auge blicken konnte. In dieser Gestalt war allein mein Haupt so groß wie ein ausgewachsener Mann! Er hatte noch immer seine Waffe in der Hand, zitterte vor Aufregung und Angst. Kurz sah ich an ihm vorbei; betrachtete die Ebene. Zerfallene Felswände und verkohlte Stellen auf dem Boden, umrahmt von glühend heißer Lava des Vulkans. Nirgendwo ein Zeichen von Leben. Wahrlich kein fremder Anblick für mich. Dann besah ich mich wieder des Menschen vor mir. „Wie lautet dein Name?“
„Spielt das eine Rolle!?“ Er stierte mich argwöhnisch an. „Hör auf dich hinter deinen Flammen zu verstecken und zeige mir deine wahre Gestalt, damit ich das ein für alle mal beenden kann!“
„Das tue ich bereits, Mensch.“
Er ließ seinen Arm sinken, den er zuvor noch für wildes Gestikulierend verwendet hatte und sah mich fassungslos an. Kurz zögerte er. „Hör auf mich für dumm zu verkaufen, elende Feuersbrut!“
„Dafür habe ich nicht die Zeit-“
„Sei still! Sei einfach still!“ Er schrie. Verzweiflung stand ihm ins Gesicht geschrieben.
Ich hob meinen Kopf wieder an, faltete meine vier Flügel zusammen und wartete.
Welch Ironie! Ich war der Ewigkeit mächtig und geriet in Zeitnot. Aber würde ich erst einmal in Flammen stehen, so würden all meine Erinnerungen ebenso verbrennen. Als Phönix lebt man zwar ewig und immer wieder, aber so, als wenn es das erste Mal sein würde. Ich würde mich nicht an diesen Tag erinnern können, nicht an das, was mir die letzten 25 Jahre zugestoßen ist. Erst, wenn ich wieder meine wahre Gestalt annehmen und erneut kurz vor meinem Tode stünde… erst dann würde ich mich erinnern. Wüsste die kleinsten Wahrheiten und die größten Lügen dieser Welt. Wüsste wer ich bin.
„Hör mir zu, Mensch.“
Der junge Mann sah zu mir auf. Misstrauen spiegelte sich in seinen Seelenspiegeln wider, allerdings blieb er ruhig.
„Ich erinnere mich. An meine vorherigen Leben und Taten.“ Das Feuer umfing meine Federn nun stärker und ich wusste, dass meine Zeit gleich abgelaufen sein würde. „Mein Leben neigt sich nun erneut dem Ende. Lehre mich. Unterrichte mich. Weise mir den richtigen Weg. Verhindere, dass ich zu einem Monster heranwachse.“
Fassungslosigkeit stand dem Knaben ins Gesicht geschrieben - er glaubte mir nicht. Vertraute nicht. Verstand nicht. Doch ich war mir sicher; er würde. Er würde verstehen, er … musste einfach.
Ein letztes Mal sah ich dem Menschen vor mir in die Augen, ehe ich meinen Kopf in die Höhe streckte und meine Schwingen ausbreitete. Es ertönte die wunderschönste Melodie, die ein Lebewesen hören konnte. Ich sang. Von den guten und schlechten Dingen der Welt. Von der Zeit und vom Schicksal.
Das Flammenmeer was mich nun umgab schmerzte. Führte mir meine Dummheit vor Augen, zeigte mir, dass nichts auf dieser Welt ewig währte. Nur am Rande nahm ich wahr, wie der Mann vor mir zurückwich. Mich beobachtete und verstand. Das Leben eines Phönixes verstand.
Und ich zerfiel zu Asche.
Joey sah auf den Weg, der vor ihm lag. Im Vergleich zu dem, den er schon hinter sich gelassen hatte, schien er geradezu nichtig. Er müsste nur noch diesen felsigen Berg hier erklimmen, nur diese Geröllmassen hinter sich lassen, dann stünde er endlich dem Drachen gegenüber. Dem Drachen, der dem finsteren Kaiser gehörte, der das Land Norom an sich gerissen hatte. Joey wusste, dass er den Drachen besiegen konnte. Er war der stählerne Krieger, der Auserwählte aus den alten Legenden. Es war unmöglich, dass er den Frieden nicht zurückbringen würde. Und wenn es erst so weit wäre, dann würde er als Held gefeiert werden. Er wäre der Retter Noroms, unsterblich durch seine Taten.
Der Junge sah das stählerne Schwert an, das er vom weisen Magier Snyf bekommen hatte. Daran klebte das Blut unzähliger Trolle, die ihn daran hindern wollten, den Berg des finsteren Kaisers zu besteigen. Sie alle hatten nicht die geringste Chance gehabt. Sie hatten sich den falschen Gegner ausgesucht. Und bald würde sich zum Blut der Trolle das Blut des Drachen gesellen. Joey betrachtete sein Abbild, das sich auf der Schwertklinge spiegelte. Seine langen, schwarzen Haare wehten im Wind. Seine schwarze Rüstung war ebenso blutverklebt wie sein Schwert. Er war in der besten Verfassung, die er sich hätte wünschen können. Er steckte sein Schwert wieder zurück und fuhr mit seinem Weg fort. Schritt für Schritt kämpfte er sich den schroffen Fels entlang den Berg hinauf.
Nachdem er endlich alle Abgründe, Felsen und Hindernisse hinter sich gelassen hatte, stand er am höchsten natürlichen Punkt des Berges. Vor ihm baute sich eine riesige Burg auf. Staunend betrachtete er das Bauwerk, das majestätisch in den Himmel ragte. Die schwarzen Steine schimmerten unter der sengenden Mittagssonne grünlich. Ein gigantisches Tor zeigte den Weg an, auf dem man hinein gelangen konnte. Joey zog sein Schwert, hielt es fest in seiner Rechten. Langsam und vorsichtig näherte er sich der Burg, als mit einem grölenden Donnern ein riesiger Schatten aus dem Tor über seinen Kopf hinweg huschte. Ein eisiger, stinkender Windstoß ließ ihn einige Schritte zurückweichen. Das musste er sein -- der Drache, den er zu besiegen hatte. Die Erde bebte, als er vor ihm auf dem Boden landete.
Gut fünf Meter hoch ragte er vor ihm auf, seine schwarzen Schuppen glänzten smaragdgrün. Auf seinem unglaublich beweglichen Hals saß ein verhältnismäßig kleiner Kopf, der spitz zulief und dessen Maul gespickt war mit langen, spitzen Zähnen. Er brüllte Joey eine nach Verwesung stinkende Wolke ins Gesicht, sodass dieser husten und erneut einige Schritte zurückweichen musste. Der Drache breitete seine Schwingen aus, die an die Flügel von Fledermäusen erinnerten. Er schwang sich in die Luft und setzte zu seinem ersten Angriff an. Mit seinen langen, scharfen Klauen griff er nach Joey. Dieser schwang sein Schwert herum und schlug den Drachen so zurück, doch wie dieser sich umdrehte, ließ er seinen langen, mit Stacheln besetzten Schwanz herumfahren, um Joey unerwartet an den Beinen zu treffen, sodass er auf die Knie fiel.
Mit einem donnernden Brüllen spie das Ungeheuer lodernde Flammen aus seinem Maul. Nur knapp schaffte Joey, sich zur Seite zu rollen und dem Feueratem auszuweichen. Er spürte die Hitze deutlich am ganzen Körper, um ein Haar hätte es ihn erwischt. Er richtete sich wieder auf und stürmte auf den Drachen zu, sein Schwert fest umklammert. Mit einem gekonnten Hieb traf er das riesige Tier an der Brust, doch prallte er an der schuppigen Haut einfach ab. Sie war wie eine Rüstung, jeden Hieb, den Joey landete, fing sie ab, sodass er keine Chance sah, den Drachen auf diese Weise in die Knie zu zwingen.
Dieser holte erneut Luft, hob seinen Kopf und sammelte Energie. Joey fixierte den Drachen an, um seiner nächsten Bewegung sofort ausweichen zu können, als ihm eine Stelle an seinem Hals auffiel, die anders aussah als der Rest der Haut des Untiers. Es war wie ein grüner Ring, an dem anscheinend keine Schuppen verliefen. Ob dies der einzige verwundbare Punkt an seinem Körper war? Aber wie sollte er ihn erreichen können? Der Drache würde ihm wohl nicht freiwillig die Möglichkeit, ihn zu erlegen, gewähren.
Begleitet von einem Röhren und Kreischen fuhr Joey erneut ein Feuerschwall entgegen. Er duckte sich und rettete sich mit einem Sprung zur Seite. Es musste doch irgendeinen Weg geben, den Feind zu besiegen. Er rannte auf den Drachen zu. Dieser wollte ihn mit einem Hieb mit seinen Klauen vom Berg fegen, doch Joey sprang rechtzeitig ab, sodass er sich am Arm des Drachen festhalten konnte. Der Drache wollte ihn abschütteln, er wedelte wild in der Luft herum, doch Joey krallte sich an den Schuppen seiner Haut fest. Er wusste, wenn er jetzt loslassen würde, würde das sein Ende bedeuten.
Der Drache brüllte aufgebracht. Sein Kopf schnellte mit weit aufgerissenem Maul auf den Jungen zu und hüllte ihn in eine stinkende Rauchwolke. Voller Todesmut sprang dieser ab und griff nach der Schnauze des Ungeheuers. Er spürte, wie eine raue Zunge an seinen Füßen entlang streifte, wie das Tier versuchte, ihn in sein Maul zu bekommen. Der Drache hob seinen Kopf nach oben, versuchte, sich die Schwerkraft zunutze zu machen, doch Joey gab nicht auf, er griff nach Schuppen, die etwas abstanden, um sich an ihnen festzuhalten und sich aus dem Maul des Untiers hinauszuziehen.
Der Drache schwang seinen Kopf durch die Luft. Joey rutschte mit einer Hand etwas ab, doch er griff noch einmal nach. Noch durfte es nicht enden! Stück für Stück arbeitete er sich den Kopf des Drachen entlang, bis er endlich der Stelle, an der seine Schuppen weniger dicht waren, ganz nahe war. Das musste einfach funktionieren, es gab keine andere Möglichkeit, als dass es funktionieren würde! Er holte mit seinem Schwert aus, setzte zu einem perfekt gezielten Hieb an, als --
„Joey, Essen ist fertig!“ Er blickte auf. Vor ihm in seinem Zimmer stand seine Mutter.
„Gleich, Mama. Ich will nur noch dieses Lied --“
„Nein, nicht gleich, Joey. Das Essen ist jetzt fertig!“, sagte seine Mutter und sah ihn böse an. „Immer meinst du, noch ein Lied zu Ende hören zu müssen. Und dann bist du zehn Minuten später immer noch nicht da! Du kommst jetzt sofort mit!“
„Ja, Mama ...“, antwortete Joey kleinlaut und schaltete seine Stereoanlage aus. Er fuhr sich mit der Hand durch seine kurzen blonden Haare.
Seine Mutter verstand es einfach nicht. Sie würde es nie verstehen. Daran sah man mal wieder eindrücklich, dass sie keine Ahnung davon hatte, wie viel diese Musik ihm bedeutete. Für ihn war es fast schon ein Verbrechen, ein Lied unter der Hälfte abzubrechen.
Er konsumierte die Musik nicht einfach nur, nicht so, wie all die Popmusik-Hörer um ihn herum. Er liebte die Musik. Und er lebte sie.
Leise raschelt das Gestrüpp vor mir, war es bloß sanfter Windhauch oder endlich ein Erfolg; nach etlichen Stunden wurde es auch langsam mal Zeit. Die Warterei muss endlich Früchte tragen, ich will endlich nach Hause, denn die Dämmerung setzt bald ein. Eine weitere, unnatürliche Bewegung reißt mich aus meiner Unzufriedenheit. „Ich weiß, dass du da bist“, flüsterte ich hochmütig in Richtung des Ereignisses. Das Netz schon bereit, angewinkelt wie es im Handbuch stand, welches ich vor einigen Wochen durchblätterte. Ein Funkeln. Eine schnelle Bewegung. Mit meinem Mal setzte es sich in Bewegung und trat die Flucht an – nicht mit mir. „Du bist mein, Raupy, ich werde dich fangen und endlich das zurückbekommen, was ich einst verloren habe“, rief ich, zum Sprint angesetzt. Ein erneutes Aufblitzen ließ mich rätseln; waren es die Augen oder ein Gegenstand? Vielleicht gehört es bereits einem Trainer, aber sowas lässt sich später klären. Die Sonne kam kaum durch die Baumkronen, welche einen kühlen Rückzugsort boten, für die unterschiedlichsten Pokémon. Doch mich interessieren keine anderen Käfer-Pokémon, nein, ich will dieses Raupy. Mein Kescher diente zur Abwehr von möglichen Wegsperren, von runterhängenden Ästen bis hin zur undurchsichtigen Pflanzenschichten, welche sich in diesem tropischen Wald frei entfalteten. Wer braucht schon Pokébälle, wenn er die neuste Sensation hatte – aerodynamisch und federleicht, so priesen Fachzeitschriften mein Fangwerkzeug an, bisher eine Empfehlung, die sich nicht bewährte. Kein einziges Raupy ließ sich von mir lumpen und erwischen, dabei sind diese kleinen Nervensägen doch gar nicht schnell. Stopp. Wo ist es? Die Beute führte mich in einen dicht bewachsenen Abschnitt, den ich bisher nicht kannte. „Aruu!“, ein lauter Aufschrei ertönte vor mir, unterbrach mein akribisches Suchmanöver und ließ mich erneut rätseln - was war das? Leise kämpfte ich mich durch die verflochtenen Büsche, welche überall aus dem Boden ragten. Unter einem kleinen Beerenstrauch lag es, ein Evoli, was für eine Zeitverschwendung! „Du bist kein Raupy, wie nutzlos“, schrie ich dieses zierliche Lebewesen an, welches entkräftet im Staub des Urwaldes atmete. „Hau ab“, fügte ich mit frustrierter Laune hinzu, jedoch machte es keinen Anstand zu reagieren. Mit beugender Bewegung untersuchte ich das fragwürde Verhalten, ich dachte, dass Evolis ängstlich sind und sofort die Flucht ergreifen, wenn mögliche Gefahr droht. Schließlich scheuchte ich es ein gutes Stück durch den Wald und plötzlich gibt es auf? Nach motorischem Feingefühl der Spitzenklasse - na gut, ich schob ein paar Sträucher beiseite, zufrieden? – entdeckte ich den Übeltäter. Jemand kaltherziges positionierte eine Schnappfalle, direkt unter einem Beerenstrauch, wie krank kann man nur sein? Vorsichtig versuchte ich die Falle zu öffnen, doch sie kniff sich immer fester an das kleine Bein des Evolis. Kurzes Nachdenken brachte mir die Lösung – mein Werkzeug kommt heute doch noch zum Einsatz! Langsam schob ich das untere Ende meines Keschers zwischen die Kneifer, die Evoli fest im Griff hatten und bog sie, soweit es mir möglich war, auseinander. „Los jetzt, das ist gar nicht so leicht“, schnaubte ich heraus. Sichtbar erschöpft erhob sich Evoli; kaum war die Gefahr gebannt, zerspringt das untere Ende meines Keschers und zieht die Falle in Mitleidenschaft. „Toll, soviel dazu“, blaffte ich dem Fellknäuel entgegen, welches mich mit Blicken zu mustern schien. Während wir uns minutenlang anstarrten, bemerkte ich eine unscheinbare Halskette, die das Evoli mit sich führte und wohl der Grund dafür war, dass ich es überhaupt erst entdeckte vorhin. „Ziemlich unklug beim Verstecken, wenn du ein glänzendes Accessoire mit dir führst“, aber Moment mal, warum rede ich mit einem Pokémon? Den Kopf schief geneigt und eine Pfote kaum aufgesetzt; Evoli schien michebenfalls für verrückt zu halten und trug eine kleine Wunde am zuvor gefangenen Bein. „Kannst du nicht sehen, dass ich beschäftigt bin?“, bemühte ich mich, es endlich loszuwerden – keine Reaktion. „Na gut, du bist verletzt und ich will von hier verschwinden“, Verhandlungsgeschick meinerseits folgte zugleich; „Ich trag dich aus diesem Wald, direkt ins nächste Pokémon-Center und dann suchen wir deinen Trainer, ok? Der soll meinen Kescher bezahlen!“, lächelte ich, denn der lässt bestimmt das Doppelte springen. Vorsichtig hob ich dieses flauschige Ding auf, sogleich machte es sich auch bequem auf meinem Arm; hat es denn keine Angst mehr? Schließlich drängte ich es in diese missliche Lage…
Zwei Stunden Fußmarsch lagen bereits hinter uns und noch kein Ende zeichnete sich ab. Trotzdem, irgendwie tat mir Luna leid. Ja, ich hab ihr einen Namen gegeben, warum nicht? Mir gefällt er, warum weiblich? Ganz einfach: Evolis sind für mich immer weiblich, sie wirken feminin und sind total niedlich, irgendwie zumindest. „Weiß du, tut mir Leid wegen vorhin. Ich wollte dich nicht in Gefahr bringen“, was ist jetzt denn los? Hat mich diese steigende Hitze und Dehydration sentimental werden lassen? Das letzte Mal, als ich wirklich etwas für ein Pokémon empfunden habe, war damals. „Ich mag Pokémon eigentlich nicht mehr, ich wollte bloß endlich ein Smettbo wieder“, teilte ich Luna in melancholisch gehauchtem Tonfall mit. „Es ist einfach weggeflogen damals, weil andere Smettbo kamen und da ich keine Pokébälle mag, dachte ich mir, dass eine Leine reichen würde. Kaum hab ich sie einmal weggelegt, ist es einfach abgehauen“, schmerzlich verließen diese Worte meinen Mund, der ganz trocken geworden war, schließlich ist es nicht mal 2 Jahre her und seitdem stand mir kein Partner zur Seite – hab ich sowieso nicht nötig. Doch irgendwie war Luna beruhigend, ihre Atmung war sanftmütig und ihr Fell ganz weich.
Völlig orientierungslos irrten wir in der Dämmerung umher, bestimmt schon für weitere Stunden, jedoch gab es einen Lichtblick, oder eher noch, ein rettendes Rauschen, welches sich schräg von uns hervorhob. Schnell folgten wir diesem Zusammenspiel von Klängen, die Rufe vielerlei Pokémon schallten durch den endloswirkenden Wald und wurden nur von einem lärmenden Fluss überboten, der sich vor uns erstreckte. „Endlich Hoffnung, zumindest bleiben wir noch eine Weile im Spiel“, lachte ich beim aussprechen dieser Worte heraus und lies mich nieder. Aufgeregt bediente sich meine Gefährtin dem Angebot der Natur und auch ich genehmigte mir ein wenig Wasser, kühl und rein zugleich, genau wie man es sich wünscht. „Auf geht’s, wird Zeit, dass wir von hier verschwinden“, rief ich euphorisch heraus, aber wieso? Machte es mir etwa Spaß? Stundenlang unterhielt ich mich nun schon mit Luna, obwohl sie kaum Laute von sich gab, es war einfach ein tolles Gefühl – endlich hatte ich eine Partnerin; endlich war ich wieder glücklich über Gesellschaft. „Hey, Finger weg!“, ertönte eine aufgebrachte Stimme vor mir. „Siehst du die Kette? Das ist mein Evoli, ich hab nur leider keinen Pokéball, um es zu beweisen“, verteidigte das Mädchen ihre Aussage, wahrscheinlich war sie sogar in meinem Alter, zumindest hat es den Anschein. „Luna ist verletzt, deshalb trage ich sie. Du kannst sie nehmen und ins Pokémon-Center bringen, wenn sie bei dir sein will, und somit ihre Zugehörigkeit ausdrückt“, versuchte ich, die Glaubwürdigkeit des Mädchens zu ermitteln - tatsächlich,Evoli streckte die Pfötchen nach ihr aus. Mit einem Mal umschlang das Mädchen Luna und umarmte diese voller Freude. „Danke, ich hab sie schon überall gesucht“, lächelte sie unaufhörlich. „Ich bin übrigens Lana und das ist nicht Luna, sondern Miria“, lachte sie höhnisch, dabei war es doch nur ein Übergangsname, der mir im Übrigen immer noch besser gefällt, aber sowas behalte ich lieber für mich. „Weißt du, die Verletzung ist indirekt meine Schuld, ich hab sie gejagt und dabei ist sie in eine Falle getapst. Zwar konnte ich sie befreien, wollte sie auch behandeln lassen, aber irgendwie haben wir den Ausgang nicht gefunden“, gab ich verlegen zu, bereit eine Standpauke zu erhalten. „Keine Sorge, ich bin einfach froh sie wiederzuhaben, der Rest ist mir egal. Außerdem ist sie tapfer, im Handumdrehen wird sie wieder auf den Beinen sein, pass nur auf!“, so glücklich, ohne nachbleibendem Groll oder Ähnliches, aber warum nur? „Sie scheint dich zu mögen, denn sie lässt sich normalerweise nicht tragen, auch dann nicht, wenn sie völlig am Ende ist. Da ist sie ziemlich eingebildet und zu Stolz, vielleicht hat sie es ja von mir?“, sprach sie aus, um kurz darauf in herzhaftem Gelächter zu verfallen. „Kann ich dich mal was Fragen?“, wollte ich doch diese Frage stellen, hoffend auf eine Antwort, die mir klar macht, was ich damals falsch gemacht habe. „Schieß los“, kurz und knapp erwidert. „Wäre eine Leine nicht viel besser, da du keine Pokébälle magst“, mit einem Mal verstummte es, als wäre die Geräuschkulisse im Hintergrund abgeschaltet, ihr Lachen wandelte sich zu ernstem Blick und selbst Evoli starrte nur noch geistesabwesend zu mir. Sekunden wie ewiglange Minuten, jetzt beende doch endlich dieses grässliche Schweigen. „Dummkopf, du hast nicht das Recht, einem Pokémon jegliche Freiheit zu berauben. So verscheuchst du es nur, sobald du es aus den Augen verlierst, das weiß doch jeder“, die erhofften Worte, die mein Zeitgefühl endlich wieder in Gang setzten. So simpel? Aber warum ist ein Pokéball besser? So viele Fragen, jede einzelne lehrte Lana mich mit der Zeit. Manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht, so erging es auch mir.
Wenn Freiheit einen Geschmack hätte, dann würde sie nach Honig, Tau und Blättern schmecken. Ich weiche einem Baum aus, stolpere beinahe über eine Wurzel, fange mich, und renne weiter. Weit über mir schreit eine Eule den ersten Gruß der Nacht heraus, dabei ist die Sonne noch nicht einmal untergegangen.
„Komm raus, Dian!“, rufe ich laut, wende mich dann nach rechts, und halte nach Spuren Ausschau. So gut hat sie sich noch nie versteckt. Zugegeben: Der Wald ist gigantisch.
„Dian!“ Sie antwortet nicht. Ich bleibe kurz stehen, stütze die Hände auf die Knie und schnappe nach Luft. Dann streiche ich mir die braunen Locken aus der Stirn. Wo kann sie nur sein? Wir hatten doch abgemacht, dass wir vor Einbruch der Dunkelheit wieder zuhause sind. Mutter macht sich sonst unnötig Sorgen. Sie hat mir vorhin extra gesagt, dass ich an Samhain nicht raus gehen soll. In ihren Augen bin ich noch ein kleines Kind, dabei bin ich 14 Sommer alt und kann auf mich aufpassen.
Im nächsten Moment höre ich eine Stimme, die meinen Namen flüstert. Sie klingt nach einer jungen Frau. Das ist seltsam, weil ich im Dorf eigentlich das einzige Mädchen bin, das noch nicht verheiratet wurde.
„Seren“, flüstert sie, „Komm zu mir.“ Ich sehe mich um, kann jedoch niemanden erkennen.
„Wer ist da?“
„Ich warte.“
Ein normales Mädchen wäre jetzt sofort nach Hause gerannt. Statt Angst verspüre ich jedoch nur die für mich typische Neugier. Ich muss wissen, wem diese Stimme gehört. Als ich mich erholt habe, renne ich weiter. Eine unsichtbare Macht scheint meine Schritte zu lenken.
Meine Suche führt mich in einen Teil des Waldes, in dem es viele Felsen und Klippen gibt. Neben mir plätschert ein kleiner Bach vor sich hin. Die Bäume hier sind ziemlich hoch, außerdem gibt es keine tief hängenden Äste, weswegen ich nicht auf einen davon hinaufklettern und von da aus suchen kann. Der Boden ist ziemlich hügelig und von Gras und Moos bewachsen.
Irgendwann gelange ich an eine Art Felsvorsprung und klettere die groben Steine herauf. Etwa auf halber Höhe rutscht mein Fuß ab, mein Bein schrammt am Gestein entlang, gleichzeitig ertönt ein reißendes Geräusch. Nur meinen Reflexen ist es zu verdanken, dass ich im letzten Moment umgreifen und mich abfangen kann. Danach klettere ich bis ganz nach oben und finde mich auf einem Hügel wieder, den ich von der anderen Seite aus auch ohne Kletterei hätte betreten können. Ich habe mir mein Kleid also grundlos zerrissen. Mutter wird sich mal wieder freuen. Sie sagt immer, ich sei zu wild.
„Dian!“ Ich sehe meine Katze in der Mitte des Hügels sitzen. Sie blickt mich aus ihren wunderschönen Augen an und scheint auf mich zu warten.
„Du hast schon wieder verloren. Wenn du lieb fragst, lasse ich mich vielleicht zu einer Revanche überreden“, sage ich großspurig. Dian maunzt mich an, regt sich aber nicht. Ihr Verhalten ist seltsam. Vielleicht ist sie müde. Ich laufe zu ihr herüber und knie mit einem aufmunternden Lächeln vor ihr nieder. Nun merke ich, worauf sie sitzt: Es ist kein Flecken nackter Erde, wie ich vorher dachte, es ist eine kreisrunde Steinplatte mit merkwürdigen Symbolen darauf. Jetzt fallen mir auch erst die drei Steinblöcke auf, die im Abstand von einigen Schritten um uns herum stehen und allem Anschein nach ein Dreieck bilden.
„Was ist das denn“, murmele ich. Ich spüre, wie mir kalt wird. Mein Lächeln erlischt. Das ist kein normaler Hügel. Es ist ein Síd, ein Elfenhügel, und Elfenhügel sind magisch. An Samhain sollte man sich nie auf einem Síd aufhalten. Ein Teil von mir will zwar sehen, wie die Toten wandeln, ein anderer aber will sich in Sicherheit bringen.
„Na los, komm. Wir müssen nach Hause, bevor es dunkel wird. Es ist gefährlich, heute draußen zu sein. Komm schon.“ Doch egal, wie sehr ich sie zum Gehen animieren will, es klappt nicht. Stattdessen faucht Dian mich an und kratzt mich sogar, als ich sie auf den Arm nehmen will. Die Sonne sinkt immer tiefer.
„Hab keine Angst, Seren“, flüstert die Stimme von vorhin plötzlich. Eine Hand berührt meine Schulter. Ich zucke zusammen. Dians Fell sträubt sich, sie macht einen Buckel. Was auch immer da hinter mir ist, es macht ihr große Angst. Mit gewaltiger Willensanstrengung drehe ich mich um.
Eine Frau steht vor mir und lächelt mich an. Ihr Gesicht ist bleich, sie trägt einen indigofarbenen Mantel mit goldener Kordel. Ihr schwarzes Haar reicht ihr bis zum Hintern. Mein Blick fällt auf ihre Hand. Ich kann durch ihren Körper hindurchsehen. Mutters Worte kommen mir in den Sinn. Heute wandeln die Toten auf der Erde.
Ich unterdrücke meinen Schrei, krieche aber hastig rückwärts, um von der Frau wegzukommen.
„Wer seid Ihr? Was wollt Ihr von mir?“, frage ich und merke dabei, wie meine Stimme höher klingt als sonst. Mein Atem geht schneller.
„Komm zu mir.“ Ihre Stimme ertönt in meinem Kopf, ohne dass sie die Lippen bewegt. Sie lächelt mich traurig an. Die Toten beneiden uns um unser Leben beneiden und wollen es uns rauben, so heißt es in den Geschichten. Mir wird schlecht.
Sie macht auf einmal einen plötzlichen Schritt in meine Richtung. Das ist mein Zeichen, hier zu verschwinden. Was auch immer sie will, es kann nicht gut für mich sein.
Ich sehe, wie Dian loshetzt, und folge ihr, so schnell ich kann. Auf der einen Seite geht der Hügel in einen sanften Abhang über, den wir herablaufen. Als wir das Dreieck der Steine verlassen, fühle ich eine merkwürdige Kälte durch mich hindurch fließen, ignoriere sie aber. Ich erlaube mir nicht einmal einen Blick über meine Schulter, so sehr bin ich darauf fixiert, die bleiche Frau hinter mir zu lassen. Die Bäume und Sträucher fliegen geradezu an mir vorbei.
„Weiter, Dian, wir müssen ins Dorf zurück“, keuche ich, als ich sehe, wie meine Katze Anstalten macht, sich umzudrehen.
Zu meinem Entsetzen sehe ich auf einmal ein bleiches Gesicht zu meiner Rechten. Es gehört zu einem alten Mann, der mich düster anblickt. Ich kann das Grün der Sträucher hinter ihm durch seinen Kopf hindurch sehen. Er ist ebenfalls tot.
„Mutter, hilf mir!“ Ich schluchze beinahe. Der Wald scheint sich mit Toten zu füllen. Je länger ich renne, umso mehr von ihnen sehe ich. Hier eine Mutter mit zwei Kindern, dort einen Krieger mit Schwert und Schild. Ich vergehe beinahe vor Erleichterung und Freude, als ich endlich den Waldrand erreicht habe und hinunter auf unser Dorf sehen kann. Die Holzhütten werfen lange Schatten auf die grasigen Ebenen zwischen Dorf und Wald.
Ich hebe den Arm, um mir den Schweiß von der Stirn zu wischen, doch mitten in der Bewegung bleibt mir beinahe das Herz stehen.
Mein Arm ist durchsichtig.
„Oh, nein.“ Panisch sehe ich an mir herab, doch das Ergebnis bleibt das gleiche. Das Gras schimmert durch meinen Körper hindurch.
„Seren. Du musst umkehren.“ Als die Stimme erneut erklingt, widerstehe ich dem Drang, sofort ins Dorf herab zu rennen, und wirbele herum.
„B-bin ich tot?“, stammele ich fassungslos. Die Frau nickt und sieht mich besorgt an.
„Die Grenze zwischen eurer und unserer Welt verschwimmt. Meine Berührung hat dich in unsere Welt gezogen. Du musst noch einmal in den Runenkreis, nur dort kann ich dich zurückbringen.“
Nun wird mir klar, wieso ich die Toten schon vor Einbruch der Dunkelheit sehen konnte. Ohne ein weiteres Wort folge ich der Frau zurück in den Wald.
Während wir denselben Weg entlang laufen, erfahre ich, dass die Frau Cliodhna heißt und bereits seit fünfzig Jahren tot ist. Ihre Knochen liegen in dem Feenhügel, auf dem ich Dian fand. Die Geisterfrau scheint mit jedem Schritt bedrückter zu werden.
„Kann Dian uns sehen?“, frage ich. Meine vierbeinige Freundin wurde nicht von Cliodhna berührt und folgt uns trotzdem.
„Nein. Sie spürt uns. Katzen sind empfänglich für die Schwingungen unserer Welt“, erwidert Cliodhna.
„Woher kennt Ihr eigentlich meinen Namen?“
„Deine Katze hat ihn mir verraten, als sie sich verirrte. Du brauchst mich übrigens nicht so höflich anzusprechen. Ich bin keine Adlige mehr.“
„Verstanden.“
Wenig später haben wir ihr Grab erreicht. Ich stelle mich in den Kreis der drei Steine und sehe Cliodhna an.
„Danke dafür, dass du heute bei mir warst, Seren“, sagt sie. Das Lächeln, welches sie mir schenkt, wirkt mehr traurig als fröhlich. Mir kommt ein ungewöhnlicher Gedanke. Ist sie womöglich einsam? Cliodhna legt ihren Mantel ab und legt ihn um meine Schultern.
„Das ist eine kleine Wiedergutmachung für dein Kleid. Ohne mich wäre es nicht zerrissen.“
„Habt Dank.“
Als sie dann die Hand ausstreckt, um mich zurück zu bringen, weiche ich ihr aus.
„Stimmt etwas nicht?“
„Weißt du...ich würde doch lieber noch ein bisschen hier bleiben. Ich habe so viele Fragen!“, sage ich. Cliodhna sieht zuerst überrascht aus, dann aber lächelt sie, und diesmal ist es ein echtes Lächeln. Ich hatte nicht erwartet, dass eine Tote so menschlich ist.
Ich bin froh, dass meine Neugier stärker ist als meine Angst, andernfalls hätte ich nie Freundschaft mit einer Toten geschlossen. Wir reden die ganze Nacht lang. Erst als die Sonne aufgeht, kehre ich in die Welt der Lebenden zurück.
Eigentlich ist es ja ganz einfach. Die Guten, die ihr Leben lang nett waren, kommen in den Himmel. Die Bösen, die gesündigt haben oder so, die erwartet die Hölle, mit Fegefeuer und Verzweiflung und all dem Kram.
Und dann gibt’s die, die wohl für nichts geeignet sind.
Mein Name ist Lyssa Dolce und ich bin tot. Glaube ich. So wirklich sicher kann man sich nicht sein, wenn man auf der Erde herumwandelt, weil irgendein Gott nicht so ganz wusste, wo man nach der Segnung des Zeitlichen hingehört. Verdammt, ich weiß ja nicht mal, welcher Gott das ist. Mir sagt ja keiner was. Ich bin nur die Blöde, die vor der Himmelspforte stehen und sich fragen durfte, warum keiner aufmacht.
Man sollte doch meinen, so ein armes, siebzehnjähriges Mädchen, das ausgerechnet von einer schlecht getimeten Straßenbahn erwischt wurde, darf etwas Gnade erwarten, aber nein, vor Gott … Oder so … Sind alle gleich.
Und so gehe ich die Straße hinunter, die zwischen Läden und Wurstbuden direkt durch die Innenstadt führt. An diesem regnerischen Dienstagmorgen ist nicht allzu viel los, die meisten Leute sind wohl bei der Arbeit, in der Schule oder einfach zuhause. Ich kann es ihnen nicht verdenken, aber einer der Vorteile darin, tot zu sein, ist, dass man kaum etwas körperlich spürt. Es tut nicht einmal weh, eine Flamme anzufassen. Glaubt mir, das war das Erste, das ich ausprobiert hab. Der Regen könnte mich nicht weniger stören, ich habe nicht einmal die Kapuze meines schwarzen Pullovers über meine ebenso schwarzen, langen Haare gezogen. Dass ich ausgerechnet in meinem Lieblingsoutfit sterben musste, ist zumindest nett – mir ist kein Weg bekannt, mich umzuziehen.
Ich weiß nicht genau, wo ich hingehe. Es zieht mich zum McDonald’s, aber was soll ich da? Essen kann ich auch nicht mehr. Vielleicht bin ich einfach sentimentaler, als ich angenommen habe, und will nur meine alte Heimatstadt in meinem erst vor etwas über einer Woche eingetretenen Zustand durchschlendern.
Da hinten ist zum Beispiel die Seitengasse, auf der sich immer die verfeindeten Gangs getroffen haben, um sich gegenseitig die Schädel einzuschlagen. Das waren noch Zeiten. So im Nachhinein wäre es deutlich spektakulärer gewesen, bei sowas zu sterben. Auf die Mütze gekriegt hab ich immerhin oft genug.
Ich bleibe stehen und schaue für einen Moment hinein. Ja, sie sieht so aus wie noch vor dreizehn Tagen. Ein dunkler, schäbiger Fleck in einer sonst doch so freundlichen und geschäftigen Stadt, und am Ende befindet sich immer noch ein Tattooshop. Ein Bild wie auf einer Postkarte. Einer ziemlich makabren Postkarte.
Gerade, als ich weitergehen will, bemerke ich ein sanftes Licht in der Gasse, direkt hinter der Mülltonne. Wertsachen? Eine Taschenlampe mit Wackelkontakt? Mir kann es eigentlich egal sein, aber ich bin auch neugierig. Vielleicht finde ich ja Geld. Ich könnte es zwar nicht einmal aufheben …
Ohne viel Zögern begebe ich mich in Richtung der Gasse. Erst will ich mich unauffällig geben, vielleicht lauert da einer der Schläger, bis mir auffällt, dass ich ja tot bin. Das nimmt dem Ganzen irgendwie die Spannung.
Ich stecke mir demonstrativ die Hände in die Taschen meiner auf modische Weise zerfetzten Jeans, fange an, Alle meine Entchen vor mir hinzupfeifen und …
Hätte einen halben Herzinfarkt gekriegt, wenn mein Herz noch schlagen würde.
„Jason Lane?“
Er schaut auf.
Er schaut verdammt noch mal zu mir auf.
„Lyssa Dolce“, entgegnet er. Seine aschblonden Haare sind zerzaust, seine hellgrauen Augen wirken irgendwie müde und er ist bleich wie der Vollmond, aber ansonsten sieht er aus wie sonst auch, ein Dreizehnjähriger aus schwierigen Verhältnissen halt.
Bis auf den kleinen Unterschied, dass er leuchtet.
Er leuchtet! Von innen heraus, alles an ihm strahlt mich geradezu an, Himmelherrgott noch eins, das ist gruselig. Noch mehr, weil er eigentlich vor mehr als einem Monat gestorben— Oh. Klar. Das erklärt einiges.
Halt, heißt das, ich leuchte auch? Ich sehe mich in Spiegeln nicht mehr, aber auf mich wirkte es nie so …
„Du leuchtest“, merkt er an. Na gut, Problem geklärt.
Mangels besserer Einfälle sage ich: „Du auch.“
Und ab da sind wir einfach nur für gefühlte zehn Minuten da, er im Sitzen an die Wand gelehnt, ich stehend wie bestellt und nicht abgeholt, und starren uns an.
„Oh crap. Nein. Das ist doch nicht …“
„Wahr? Doch, ist es.“
Ich unterdrückte mein Zittern. Zeig keine Schwäche, Lyss, sagte ich mir im Stillen, aber das war nicht einfach, wenn man bedachte, dass das blutende Bündel Elend da direkt vor uns auf dem Boden lag, ein toter Jason Lane war.
Ich war unbeteiligt gewesen, hatte nicht mal bei der Schlägerei mitgewirkt, aber die vier Jungs um mich herum, die sich meine Gang schimpften, konnte man keine Minute allein lassen.
Sie hatten das gottverdammte jüngste Mitglied unserer Rivalen totgeprügelt.
Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr wollte ich kotzen.
„Äh“, bringe ich irgendwann heraus, um diese elende Stille zu brechen. „Sorry. Für das alles. Und … Ich geh dann mal wieder …“
Ich will umdrehen, gehen und vergessen, dass ich das hier jemals gesehen habe, aber dann spüre ich, wie sich eine kleine Hand um mein Handgelenk schließt. Uh. Körperkontakt. Irgendwie komisch, nach neun Tagen wieder so etwas zu spüren. Aber wenn er mich nun einfach loslassen würde …
Doch das tut er nicht. Er hält mich fest und starrt mich weiterhin an. Als würde er nicht wollen, dass ich gehe.
Er ist … Er war? Jedenfalls sieht er gerade eher aus wie zehn als dreizehn, irgendwie … Gebrochen, trotz des Leuchtens.
Jason murmelt etwas, das ich nicht sofort verstehe. „Huh?“, frage ich nicht sehr geistreich, anstatt das Schlaue zu tun, mich loszureißen und vom Acker zu machen.
„Es ist einsam“, wiederholt er, so leise, dass ich es nur ganz knapp mitkriege. „Ich bin allein.“
Verloren. Er wirkt verloren. Und das muss er auch sein, wenn er sich an diejenige klammert, deren Freunde für seinen Tod verantwortlich gewesen sind. Wenn er hier ist, bedeutet das, man hat ihn auch nicht reingelassen oder in die Hölle geschmissen. Er ist genauso … Genauso dazwischen wie ich. Im jetzigen Augenblick sieht er aus, als würde Seine Göttliche Hoheit sich darum reißen, ihn zu den Engeln in den Himmeln zu stecken und vor allem Elend zu beschützen.
Klar, Jason hat viel Mist gebaut … Da war diese eine unschöne Geschichte mit dem Drogenring … Und der Körperverletzung und dem Vandalismus … Aber er war so jung. So einfach zu manipulieren. Ich denke nicht, dass jemand von Geburt an böse ist, ich glaube eher daran, dass wir alle gut geboren werden und sich die finstere Welt einige von uns schnappt und die Dunkelheit in unsere Herzen prügelt, ob metaphorisch oder buchstäblich.
Verdammt, dass ich noch nicht tief unten mit Satan Truthahn esse, beweist dahingehend doch schon Einiges. Hey, ist das hier eventuell eine Strafe? Oder … Ein Test. Ob ihr wirklich richtig steht, seht ihr wenn das Leuchten angeht!
Nein, das hier ist einfach nur Ironie des Schicksals. Oder vielleicht lachen sich die Engel in dem Himmel, dessen Tür ich immerhin begutachten durfte, bevor mir das Warten zu blöd wurde, gerade den heiligen Hintern ab, weil hier eine versteckte Kamera hängt oder was immer das übersinnliche Äquivalent dazu ist.
„Hast du sie auch gesehen? Die Pforte?“
Ich nicke. Offenbar hat uns tatsächlich das gleiche Schicksal ereilt.
„Meinst du, wir kommen irgendwann dahin?“
Ich blinzele. Um ehrlich zu sein hab ich mich das in der ganzen Zeit noch nicht gefragt. Ich bin einfach angepisst gewesen, weil ich draußen stehen musste. Aber vielleicht ist das hier ja gar nicht das Leben nach dem Tod für alle, die nicht extrem gut oder böse genug sind. Vielleicht haben wir noch eine Chance …
Also, er. Ich hab im Leben zu viel Mist gebaut, um zu den anderen im Himmel zu passen. Aber er ist noch klein, niedlich und mitleiderregend. Wenn er genug bereut, wiegelt das sein Leben sicher auf. Oder?
„Bestimmt“, sage ich. Ich bin mir selbst echt nicht sicher, aber er tut mir leid und wenn ich noch länger hier bleibe, fange ich noch an zu heulen. Unerhört – Lyssa Dolce heult nicht.
Als wüsste er, dass ich drauf und dran bin, jetzt tatsächlich abzuhauen, öffnet er jedoch den Mund und fleht mich geradezu an: „Bleib!“
Ich schenke ihm meinen besten mich schert’s nicht-Blick. „Und wieso sollte ich?“
„Ich bin allein“, wiederholt er seine Worte von vorhin. „Keiner sieht mich. Aber du siehst mich. Du bist wie ich!“
Versucht er gerade, mich dazu zu kriegen, mein Leben nach dem Tod mit ihm zu verbringen? Mit dem Typen, den ich kaum ansehen kann, weil er so verdammt traurig aussieht?
Nein, will ich sagen. Sicher nicht. Aber … Aber ich fühle mich auch irgendwie für ihn verantwortlich. Er ist dank meinen Freunden tot, er hat niemanden mehr und ich … Ich ende vielleicht wie er, wenn ich allein bleibe.
Ich könnte mich selbst ohrfeigen, aber gleichzeitig ist da ein klick in mir, das mir versichert, ich habe einmal alles richtig gemacht, als ich seufze und ihm die Hand reiche.
„Aber nerv nicht.“
Schlachtfeld
Es rieselten Schneeflocken, die wahrscheinlich Letzten dieser Jahreszeit, als ein niedergeschlagener Mann, dessen Kurzhaarfrisur den Kopf fast kahl erscheinen ließ, mit einer weißen Flagge, das an einem langen Stock angebunden wurde, durch das Tor des ramponierten Castrum Aeneas, einst die Perle der römischen Verteidigungsanlagen, die Rom vor möglichen Angriffen aus dem Norden beschützen sollte, schritt. Er sah jung aus, war von stattlicher Statur und hatte ein gepflegtes Gesicht, das allerdings von Ruß verschmutzt ist. Obwohl er sein Cassis, ein Helm mit einem längs verlaufenden rotgefärbten Kamm, und seine Waffen zurückließ, konnte man seinem hohen militärischen Rang aufgrund seiner Ausrüstung sofort ansehen. Ein bronzener Muskelpanzer an der Brust, die dem Anschein erweckte, als würde er mit bloßem Oberkörper ins Gefecht stürzen wollte und zugleich einen idealisierten Körperbau zur Schau stellte. Pteryges, Schurzen aus metallbeschlagenen Lederstreifen, die ringförmig die Schultern bedeckten und unterhalb des Brustpanzers rockförmig über den Unterbauch bis kurz oberhalb der Knie herabhingen. Gemeinsam mit seinem scharlachroten Mantel, der ihm bis zu den Knöcheln reichte und an der Rüstung befestigt wurde, erweckte das einen imposanten Eindruck. Doch wieviel wert waren Rang und Ansehen angesichts des Todes? Immerhin waren es seine eigene Soldaten, die ihn zur Kapitulation drangen.
Der Weg vor ihm war mit Blut und Feuer gepflastert, überall lagen tote Männer und brennende Belagerungsgeräte. Der Rauch vernebelte seine Sicht und der beißende Geruch vom verbrannten Fleisch erschwerte ihm das Atmen, so dass er nur langsam vorankam. Drei Tage - nur solange konnte er mit seiner Kohorte, eine 480 Mann starke Truppe, die Festung nördlich des Rubikons im Auftrag des Pompeius gegen seine Angreifer halten. Nicht genug Zeit, um wenigstens das Hauptheer Pompeius‘ gruppieren lassen zu können. Verdammt sei „Der junge Eroberer“! Und es war nicht mal er persönlich, der den Angriff anführte, sondern sein Vorhut unter dem Kommando des Legaten Antonius. Ein ehemaliger Kamerad, mit dem er pflichtbewusst unter seinen alten Herren, sein jetziger Nemesis, diente. Hätte ich vielleicht nicht die Seiten wechseln sollen? Doch für Reue ist es zu spät. Er entschied sich für die Republik die seine Vorfahren mit ihrem Leben verteidigt hatten und nun muss er diesen Weg zu Ende gehen.
Es dauerte nicht lange bis er von zwei Legionären abgefangen und vor ihrem Vorgesetzten hin gezerrt wurde. Als sie ihn unsanft auf den Boden fallen ließen, glitt ihm die weiße Flagge aus den Händen. Schmachvoll blickte der hochrangige Offizier hinauf zu dem Mann, dessen Gnade er ausgesetzt war. Ein Optio, der Stellvertreter eines Centurios. Groß, muskulös und ernstaussehend. Dessen Helm trug in der Mitte einen längsgestellten roten Helmbusch, und obwohl seine Ausrüstung, abgesehen von seiner eisernen Kopfschutz und aufwendigeren Mantel, sich kaum der seiner Mannschaft unterschied, strahlte er eine gewisse Autorität aus. Die beiden Römer starrten sich eine Weile in den Augen bis ein helmloser, bärtiger Soldat mit langen ergrauten Haaren, die er am Hinterkopf durch einen Band zusammenhält, wahrscheinlich ein alter Veteran, an den Optio herantrat. „Herr, dieser Mann ist Tribunus Aemilius. Er ist ein Verräter, wir müssen ihn…“, noch bevor der altgediente Legionär seinen Satz beenden konnte, unterbrach ihm sein Vorgesetzter. „Ich weiß, Decurio. Ich weiß, was zu tun ist.“
Gemächer
„Seht, Vollmond und ein wolkenloser Himmel, mein geliebter Crassus! Mir scheint, die Götter betrachten unseren nächtlichen Treffen mit Wohlwollen.“, verkündete die rothaarige Schönheit mit einer lieblichen Stimme, während sie aus dem Balkon rausblickte. Ihre Haare waren gelockt und sie trug eine türkisblaue Stola, ein überlanges Kleid, das bis zu den Füssen reichte und in der Taille durch einen Gürtel gestrafft wurde und etwas anders war, als anderer ihrer Art, da sie fast durchsichtig erschien. Auffällig war außerdem ihre wunderschöne lange Haarnadel aus Silber. Vestalin Marcia, eine Priesterin der Göttin Vesta und zur Keuschheit verpflichtet. Und doch gehört sie heute Nacht mir. Allein der Gedanke daran, erregte den Consul Marcus Licinius Crassus, dem nachgesagt wurde, dass er der reichste Mann der Welt war. Armer Pompeius, ich vergnüge mich hier noch ein letztes Mal herum, bevor ich dich räche, ja?
Er selbst kam, als sein Partner-Consul Gnaeus Pompeius Magnus, bei der Schlacht am Rubikon mit seinem Leben davon. Jetzt wo sein alter Wegbestreiter weg ist, fiel es Crassus zu, die Republik zu verteidigen. Morgen wird er mit den anderen treuen Senatoren die Stadt verlassen und den Widerstand außerhalb Italiens organisieren. Rom war einfach nicht mehr haltbar, auch wenn das viele nicht wahr haben wollten. Doch zunächst wollte der über 60-jährige, bärtige Mann seinen Spaß haben. Mit seinen beiden Armen packte er die junge Frau Mitte 30 von hinten an den Hüften und begann ihr Hals zu küssen. Marcia begann zu kichern und schubste den alten Römer aufs Bett. Er war bereits halbnackt, als sie sich auf ihn hinsetzte. „Mach die Augen zu, Liebling. Ich möchte etwas mit dir spielen.“, flüsterte sie ihm verführerisch und verspielt ins Ohr. Ohne Widerworte ließ er sich darauf ein und spürte schon bald die warmen, zärtlichen Hände der Vestalin auf seiner Brust. „Ahh, Marcia! Du bist wahrlich ein Geschenk der Götter. Ich bin mit Reichtum und Macht gesegnet, doch nichts macht mich glücklicher als die Liebe einer Jungfrau, die so schön ist, dass sogar Venus vor ihr erblassen würde.“ Die folgenden Streichelspielchen gefielen ihm außerordentlich, nachdem sie, aufgrund seiner Schmeicheleien, wieder begann zu kichern.
Doch plötzlich hörte sie auf und begann mit einer angeekelten, kalten Stimme zu reden. „Oh, mein lieber Crassus…du Narr. Du glaubst wirklich ich würde dir meine Jungfräulichkeit schenken, oder gar, dich lieben? Das ist so naiv, dass ich es wieder süß finde…“ Just in dem Moment, als er die Augen aufriss, sah er wie ein spitzer, silbern glänzender Gegenstand in seinem rechten Brustkorb gesteckt wurde. Der geschockte Mann wollte nach Hilfe schreien, doch Blut strömte bereits aus seinem Mund, weswegen er nicht in der Lage dazu war. Die Attentäterin beugte lächelnd mit ihrem Kopf nach vorn, um ihm noch ein letztes Mal etwas in Ohr zu flüstern, während sie ihre Mordwaffe, getarnt als Haarnadel, noch fester in seinem Körper reindrückte. „Der Mann, den ich liebe…marschiert gerade auf Rom zu. Süße Träume, Liebling.“
Theater
Ein älterer Herr, gekleidet mit der Toga der Senatoren, stieg in Begleitung zweier Legionäre die Treppen innerhalb des Theaters des Pompeius hinauf um den Tempel der Venus Victrix zu erreichen. Vor den Toren des Heiligtums wartete bereits jemand auf seinen Ankunft, ein junger Senator mit wuscheligen, braunen Haaren. „Ah, Dolabella, mein treuer Freund!“, freute sich der Ältere der beiden, als sie sich sahen. Von all den Senatoren blieben nur Appius Claudius Pulcher und Publius Cornelius Dolabella im Rom zurück, um die Stadt gegen den jungen Eroberer zu verteidigen. Der Rest floh ein Tag nach der Ermordung des Crassus aus Italien.
„Pulcher, welch Freude dich wiederzusehen! Komm!“, empfang Dolabella mit einem sanften Lächeln und ausgestreckten Armen seinen Gegenüber. Doch, bevor der ihn erreichen konnte, wurde er von seinen beiden Wachen zurückgehalten, die zusätzlich noch seine Arme mit Ketten versehen haben. Der Mann vor ihm, der nun sein wahres Gesicht zeigte, nickte zufrieden den zwei Verrätern zu. „Was hat das zu bedeuten Dolabella?! Antworte!“ Der Senator begann zu schreien und zu fluchen, während die Soldaten ihn in den Tempel, deren Tore nun offenstanden, zerrten. „Er wird sich sicher über deinem Kopf, dem ich ihn persönlich ausliefern werde, freuen, Pulcher, mein treuer Freund.“
Militärlager
Seine Gedanken wurden noch immer vom Tod des Tribuns Aemilius geplagt, als er zu seinem Legaten Antonius, der Adjutant des Imperators, beordert wurde. Optio…nein, nun war er Centurio der 2.Kohorte. Ein steiler Aufstieg für jemanden seines Standes, doch trotzdem fühlte der ernsthafte Offizier eine Leere in ihm, die er nicht beschreiben konnte. Ich sterbe für die Republik. Das waren Aemilius‘ letzte Worte, bevor er ihn mit seinem Gladius den Gnadenstoß verpasste. Kopfschüttelnd, in der Hoffnung, dass dieser Satz endlich aus seinem Kopf verschwindet, begibt er sich zur Anhöhe, wo sein General sein sollte. Der obengenannte Mann war, als er ankam, aber er war nicht allein. Auf dem kleinen Hügel hatte man einen ausgezeichneten Blick über Rom, die Stadt, die sein Imperator belagerte. Und eben jener Mann, der 6 Fuß groß war, blickte gerade auf die Mauern der römischen Hauptstadt.
Anders als seine Untergebenen trug der junge Eroberer einen indigoblauen Mantel, und auch ansonsten war seine Kleidung in Blautönen gefärbt. Seine Ausrüstung war reich verziert und aus Silber, sein Langschwert über 4 Fuß lang, geschmiedet in Britannien aus Metall, das vom Himmel fiel. Selbst von hinten sah er majestätisch und erhaben aus, was in dem Centurio Unbehagen auslöste. Möchte er wirklich das Römische Reich retten, oder ist das nur eine Ausrede um König zu werden? Um den jungen Offizier herum waren noch andere Soldaten, der Senator Dolabella, der die Tore der Stadt für seinen Herrn öffnete…und eine rothaarige Vestalin.
„Da bist du ja, Centurio Brutus! Mein Freund, es ist vollbracht. Die Stadt gehört uns, es ist vorbei!“ entgegnete ihm Antonius, als der Legat ihn bemerkte. „Nein, Antonius.“, begann der Imperator plötzlich zu reden. Perplex konnte er nur mit „C-caesar?“ erwidern. Langsam drehte sich Caesar mit einem unschuldigen Lächeln zu seinen Untergebenen um. „Nein, Antonius. Es hat gerade erst begonnen.“
Es ist nicht lustig, wenn man weiß, dass man heute sterben wird. Aber in diesem Haushalt kommt das Ablaufen des Verfallsdatums einem Todesurteil gleich. Heute ist er, der entscheidende Tag. Es ist der erste Freitag im Monat und somit Zeit für die monatliche Lebensmittelkontrolle von Herr Müller. Irgendwann wird er durch die Tür kommen, dann werde ich zum letzten Mal das Licht sehen, welches mich in dieser so dunklen Kammer so selten besuchen kommt.
Gerne würde ich meinem Schicksal entfliehen, aber als Hühnersuppen-Dose kann man schlecht wegrennen. So bleibt mir lediglich übrig zu warten. Ich weiß zwar, dass Herr Müller heute kommen wird, aber nicht genau wann. Jederzeit könnte sich die Tür zur Kammer öffnen und ich könnte mein letztes Gebet sprechen. Es fühlt sich komisch an, absolut nichts gegen den Tod tun zu können. Es ist, als würde ich auf einer Schiene stehen und ein Zug auf mich zurasen, doch ich bin gelähmt und kann mich nicht bewegen.
Quälend langsam schreitet die Zeit voran und ich kann die Hoffnung nicht unterdrücken. Auch wenn Herr Müller seit ich hier in seiner Speisekammer stehe jeden Monat alle Lebensmittel kontrolliert hat, gibt es irgendwo noch dieses Fünkchen Hoffnung, dass er es diesen Monat vergessen hat, oder gar nie mehr macht. Aber dann geht die Tür doch wie jeden Monat mit einem leichten Knarzen auf und nun ist auch dieser letzte Funke Hoffnung ausgegangen.
Ich stehe ganz hinten im Regal, umgeben von anderen Dosen, deshalb kann ich die Person, die die Speisekammer betritt, nicht sehen. Es reicht aber auch aus, die Unheil verkündenden schweren Schritte von Herr Müller zu hören. Dann geht die Lebensmittelschau los. Ich höre wie Marmeladengläser, Nudelpäckchen und Mehltüten aus ihren Regalen herausgenommen werden. Dann folgt entweder ein metallisches Klacken, was bedeutet, dass die Lebensmittel noch nicht abgelaufen sind und zurückgestellt werden, oder ich höre den Müllsack knistern.
Die Dosen stehen im untersten Regal, deshalb werden wir als letztes kontrolliert. Es aber nicht so, als würde Herr Müllers Toleranz gegenüber abgelaufenen Verfallsdaten deswegen steigen. Ich höre das metallische Klacken oder das Knistern des Müllsacks auch weiterhin in regelmäßigen Abständen, als Herr Müller bei meinem Regal angekommen ist. Es wird leerer um mich herum. Unerbittlich holen seine Hände jede Dose, egal ob sie Obst, Gemüse oder Suppe aufbewahrt, aus dem Regal heraus. Einige werden wieder zurückgestellt, aber einige sehe ich nicht noch einmal. Und dann kommen die Hände zu mir. Tastend fühlen sie über den Metallboden und kommen immer näher direkt auf mich zu. Schließlich berührt eine der Fingerspitzen und dann geht es ganz schnell. Sofort werde ich gepackt und herausgezogen. Ich rase meinem Ende entgegen und dann bin ich draußen. Zum letzten Mal sehe ich unter der nackt brennenden Glühbirne das Gesicht von Herr Müller. Aus dem freundlichen schauenden Mittdreißiger, der von der Kassiererin freundlich gegrüßt wurde als er mich einst in einem Schlecker-Supermarkt gekauft hat, ist ein Vierzigjähriger geworden, der zugenommen hat, erste Falten im Gesicht bekommt und sich dem Geruch seines Atems zu urteilen das Rauchen immer noch nicht abgewöhnen konnte. Liebend gern hätte ich ihn angeschrien. Ist das etwa der Dank dafür, dass ich jahrelang eine blöde Hühnersuppe aufbewahrt habe, damit sie am Ende doch nicht gegessen wird? Wie wäre es denn, wenn du mich erst mal öffnest und guckst, ob mein Inhalt wirklich schon ungenießbar ist? Mit 99,9%iger wird dich meine Suppe nicht vergiften, wenn du sie isst! Ich bin doch nicht umsonst in 130 °C sterilisiert worden! Wird mein Inhalt nur nie gegessen werden, weil ich das Pech hatte, im hinteren Teil des Regals zu landen?
Das Gesicht von Herr Müller bleibt starr. Es ist schon ziemlich mies, wenn man nicht gehört wird. Ich werde gedreht und er schaut auf mein Verfallsdatum. Mein Todesurteil wurde mir oben auf den Deckel eingestanzt. Herr Müller rümpft die Nase, als könnte er die imaginäre Fäulnis schon durch meinen Deckel hindurch riechen, dann öffnet er den Müllsack. Unter mir befindet sich eine schier unendliche Schwärze. Dieser Sack muss riesig sein, denn ich bin auf jeden Fall nicht die einzige Dose, die durch die Lebensmittelkontrolle gefallen ist. Dann werde ich einfach losgelassen. Ich falle in die Schwärze bis ich im Dunkeln auf einer anderen Dose lande. Menschen sind so grausam. Dann wird der Sack oben zugeschnürt und ich merke, wie der Boden unter mir verschwindet und ich in die Höhe steige. Es ist aus.
Der Raum ist angenehm warm. Licht scheint von einer Lampe hoch oben an der Decke, es ist ein freundliches Licht. Der ganze Raum ist an den Wänden mit Schaumstoff verkleidet. In einer Ecke steht ein Ruhebett aus ähnlichen Weichmaterialien. In der anderen Ecke steht ein Stuhl von gleicher stofflicher Beschaffenheit. Auf diesem Stuhl sitzt ein Mann. Er ist groß, kräftig und hat dunkle Haare. Ein grausames Lächeln umspielt sein bärtiges Gesicht.
„Bist schon ziemlich lange hier drin“, sagt er genüsslich. „Wer weiß, vielleicht darfst du heute ja wieder in dein früheres Zimmer zurück.“
Ich ignoriere ihn.
Nicht hinhören, bloß nicht hinhören...
„Wärst du mit dem Messer mal schneller gewesen!“, höhnt er. „So wie damals, als...“
„Hör auf!“, schreie ich und sehe von ihm weg in die andere Ecke, wo das Bett steht. Jedoch sitzt er nun darauf, als hätte er sich teleportiert. Fast mitleidig blickt er mich an.
„Läufst du immer noch davor weg? Wirklich, es ist ja nicht zu fassen, wie dumm du bist. Kapiere es doch endlich: Ich werde immer da sein, in jeder Sekunde. Ich werde immer da sein, um dich zu quälen und es zu genießen. Ich werde dir immer wehtun, du nutzloses Stück Dreck!“
Mir schießen die Tränen in die Augen. Ich presse mir die Hände auf die Ohren.
„Geh endlich weg!“, brülle ich den Mann an und in meine Angst mischt sich ein Funken Zorn.
„Weißt du noch“, sinniert der Mann, ohne auf mich einzugehen, „als du auf dieses Kind eifersüchtig warst und ihm den Malkasten an den Kopf geworfen hast? Das war im Kindergarten. War nicht schön anzusehen. Das arme Mädchen war danach auf einem Auge blind.“
Ich sage nichts, aber mein Atem geht schneller.
Du willst mich doch nur provozieren, jetzt, wo du mir keine Gewalt mehr antun kannst...
„Gib es zu!“, fährt der Mann fort. „Das frisst dich langsam auf. Oh, all diese Schuldgefühle... Ich frage mich, wie du danach noch in den Spiegel sehen konntest. Oder damals, als du dem armen Bettler nichts gegeben hast, weil du meintest, er würde stinken. Nur deswegen. Und am nächsten Tag stand in der Zeitung, dass dieser Mann gestorben ist. Ja, im Winter kann man leicht erfrieren, nicht wahr? Machst du dir deswegen denn gar keine Vorwürfe? Du bist einfach ein schlechter Mensch, der es nicht verdient hat, glücklich zu sein. Und deshalb wirst du es auch nie sein!“
„Sei still“, wimmere ich. „Sei einfach still...“
„Aber das alles verblasst natürlich angesichts dessen, nicht wahr?“
Das Zimmer verwandelt sich. Ich sehe den gleichen Mann, wie er eine Frau anbrüllt: „Wie oft habe ich dir gesagt, ich will so ein Viehzeug nicht in meiner Wohnung haben?!“
Ich höre die Frau schluchzen: „Sie war verletzt und hatte Hunger, ich musste doch...“
„Halt deine Fresse!“, fährt er ihr über den Mund.
Ein leises Fauchen ertönt.
Der Mann fährt herum und sieht etwas an, das ich nicht sehen kann.
„Du hast sie hierher gebracht. Sieh jetzt, wozu das führt.“
Die Frau fängt an zu schreien, umklammert den Mann und fleht bitterlich, doch er schlägt ihr - schlägt mir - ins Gesicht und die jüngere Version von mir fällt weinend auf das Sofa. Dann holt er mit dem Bein aus und vollführt einen Tritt. Eine kleine Gestalt fliegt mit einem schmerzerfüllten Maunzen gegen die Wand. Er tritt auf die zusammen gekrümmt am Boden liegende Gestalt zu, setzt zu einem weiteren Tritt an und...
„Aufhören!“, schreie ich und mein Schrei vermischt sich mit dem Schrei meines früheren Ichs. Der Raum löst sich auf, formt sich wieder neu und nun sehe ich mich über einer am Boden liegenden Gestalt stehen, in meiner Hand etwas metallisch Glänzendes...
„Ja“, höre ich den Mann mir ins Ohr flüstern. „Siehe, was du getan hast. Du hast mich umgebracht. Du bist eine...“ Das letzte Wort zieht er voller Genugtuung in die Länge: „Mörderin.“
„Du hattest es verdient!“, schreie ich. „Du warst ein grausamer Mensch, du hast mich immer geschlagen und...“
„Ach, olle Kamellen!“, winkt er ab. „Was ist das schon gegen einen bewussten heimtückischen Mord? Du weißt schließlich auch, dass es falsch war, oder? Du konzentrierst dich auf deine Motive, du rufst dir alles, was ich dir angetan habe, in Erinnerung, aber du kannst nicht davor weglaufen, dass es Mord war. Du wirst von innen heraus von deinen Schuldgefühlen zerfressen, Tag für Tag, Nacht für Nacht, jede Woche, jeden Monat, jedes Jahr. Und es ist mir ein aufrichtiges Vergnügen, dich für immer daran zu erinnern.“
„Warum?“, frage ich. „Warum tust du mir das an?“
„Warum habe ich dich immer geschlagen? Es macht Spaß!“, sagt er leichthin und lacht. Doch dann verändert sich sein Tonfall, seine Stimme wird zu einem leisen, bedrohlichen Zischeln, dass sich allmählich zu einem hasserfüllten Schreien steigert: „Weißt du, ich will, dass du leidest. Ich will, dass jeder deiner Atemzüge vergiftet wird. Ich will, dass du irgendwann nur noch ein vom Selbsthass zerstörter Schatten bist. Ich will, dass die ganze Welt dir öde und trist vorkommt. Ich will, dass du keine einzige noch so kleine Freude im Leben hast. Ich will, dass du dir permanent wünschst, tot zu sein, ohne dass du es jemals sein wirst!“
Ich breche zusammen.
Ich muss mich beruhigen, bis der Arzt kommt... Ich muss ruhig sein, wenn er da ist...
Nach ein paar Minuten, in denen ich versuche, dem Mann nicht weiter zuzuhören, öffnet sich die Tür.
„Wie geht es ihnen denn heute, Mrs. Knight?“, fragt die freundliche Stimme des Arztes.
„Gut“, lüge ich. Ich werde hier niemals herauskommen.
Aber vielleicht...
„Das ist schön zu hören. Sehen sie, ich denke, wir machen Fortschritte. Es ist wohl an der Zeit, dass sie mal wieder für längere Zeit hier heraus kommen. Wir werden das Gespräch im Therapiezimmer abhalten.“
Ich nicke zögerlich. Ich darf nicht zu normal wirken wollen, sonst schöpft er Verdacht...
Das Therapiezimmer ist ein etwas gemütlicherer Raum, mit bequemen Stühlen und ein paar Bücherregalen Ein Fenster lässt Sonnenlicht herein.
„Nichts hier, oder?“, fragt der Mann. „Kein Messer, kein Brieföffner, gar nichts. Wirklich, du bist sogar zu blöd dazu, dich selbst umzubringen.“
„Möchten sie über etwas Bestimmtes sprechen?“, fragt mich der Arzt.
„Ja genau, erzähl diesem Quacksalber doch mal, wie ich dich eine Nacht lang auf unserem Balkon ausgesperrt habe. Und das bei deiner Höhenangst. Junge, Junge, das war ein Geschrei. Ich konnte fast nicht einschlafen. Zum Glück stand das Hochhaus fast leer, sonst hätte es Ärger mit den Nachbarn gegeben.“
Höhenangst...
„Ich weiß nicht“, sage ich.
„Möchten sie vielleicht über ihren Mann reden?“
Ich schüttele den Kopf.
„Könnten sie vielleicht das Fenster öffnen? Ich brauche etwas frische Luft.“
„Selbstverständlich.“ Der Arzt steht auf und geht zu dem Fenster hinter seinem Schreibtisch. Langsam, ohne ein Geräusch zu machen, stehe ich ebenfalls auf und ziehe einen schweren Wälzer aus einem der Bücherregale. Als der Arzt das Fenster auf Kippe gestellt hat, ziehe ich ihm von hinten das riesige Buch über den Schädel. Er bricht zusammen. Es ist seit dieser verhängnisvollen Nacht vor zwei Jahren das erste Mal, dass ich versucht habe, einen Menschen zu verletzen. Aber er wird sich wieder erholen. Ich öffne das Fenster. Es geht mindestens 15 Meter in die Tiefe. Ich ziehe einen Stuhl heran, steige darauf und setze einen Fuß auf die Fensterbank. Mir schwindelt ein wenig.
„Vicky, tu es nicht.“
Ich erstarre. Diese Stimme... Ich habe sie die letzten Jahre immer gehört, aber dieser flehende und gequälte Ton...
Ich wende den Kopf zur Seite. Ein junger Mann steht da, das Gesicht glatt und freundlich, doch tränenüberströmt.
„D-das...“, stammele ich. „Das kann nicht sein...“
„Bitte, du darfst nicht springen Vicky“, sagt er zu mir. „Weißt du nicht mehr, wie glücklich wir doch waren? Als wir uns kennen gelernt haben und ich fast zu schüchtern war, dich anzusprechen? Wie wir zum ersten Mal ins Kino gegangen sind? Und als wir rauskamen, hat es geregnet und wir sind schnell zu meinem Auto gerannt, doch ich bin gestolpert und hingefallen... Du hast mir aufgeholfen und gelacht und dann haben wir uns geküsst... Im strömenden Regen... Weißt du das denn nicht mehr?“
„I-ich...“
Albert... Bevor du dich so verändert hattest...
„Bleib bei mir, Vicky. Bitte, ich flehe dich an.“
Doch gerade, als ich vom Stuhl heruntersteigen will, huscht ein flüchtiges und hämisches Lächeln über sein Gesicht. Eines, dass ich nur zu gut kenne...
„Du lügst!“, schreie ich und setze den Fuß wieder auf die Fensterbank, entschlossen und den Schwindel nun nicht mehr spürend.
Als ich ihn noch einmal anblicke, hat sich sein Gesicht erneut verändert, es ist die altbekannte Grimasse des Hasses. Seine Stimme ist voller Zorn.
„Du wirst nicht springen, Vicky, hörst du? Du wirst tun, was ich sage. Dein Leben gehört mir. Nur mir, verstehst du? MIR! Und niemandem sonst, auch nicht dir! Es gehört mir, nur mir!“
Er klingt fast wie ein quengeliges Kind. Ich schließe die Augen. Ich habe keine Angst mehr.
Keine Angst...
Ich schlage die Augen wieder auf. Albert ist verschwunden.
War das... die Erlösung?
Ich steige von der Fensterbank herunter.
Stille. Wundervolle Stille.
Anlehnung an Peter Pan und die Fantheorie, dass Peter Pan eigentlich ein Geist ist, der Kinderseelen ins Reich der Toten begleitet.
Er war wieder da! Ich wusste es, spürte es, fühlte es. Seine Anwesenheit war wie ein elektrischer Impuls, der den Raum zum Glühen brachte, jedes Atom im Raum unter Strom setzte. So, als könnte der kleinste Funke ihn entzünden, so als müsste man das Knistern hören. Und doch war es still. Ganz still. Zu still. Nun, ich hatte keine Beweise, sah ihn nicht, hörte ihn nicht und doch war ich mir sicher. Totsicher!
Ich nahm an,er versteckte sich hinter dem Schrank, im Dunkel der Nacht lauernd, mich beobachtend. Wartend darauf dass, er das Tat wofür er gekommen war. Auch wenn ich noch nicht ganz heraus gefunden hatte, was das sein sollte. Wollte er mich töten, mich quälen, mich entführen? Ich wusste es nicht genau zu sagen.
Ich wusste nicht einmal, wieso ich? Wieso von allen Kindern, die er heimsuchen könnte, ausgerechnet ich? Wer war ich schon? Ich war ein schwächliche Ding,, dem Tageslicht ausweichend wie ein Vampir und des Nachts doch der Sonne nachweinend, so als wäre sie das Blut, das mir Kraft spendete. Faszinierte ich ihn etwa? Oder sah er mich als einfache Beute? Wenn dem so war, wieso tat er es nicht einfach? Als ob ich mich wären könnte? Ich konnte an manchen Tagen noch nicht einmal einen Stift hoch heben, wie hätte ich ihm entfliehen können? Was hielt ihn zurück?
Nun das sollte ich nie heraus finden, was ich jedoch erfahren sollte war, dass er lange genug beobachtet hatte. Heute Nacht sollte etwas passieren, heute Nacht sollte sich etwas ändern. Ob ich mich wohl verfluchen würde, wenn ich das da bereits geahnt hätte?
Es war eine ruhige Nacht. Leise flogen die Gardinen meines Fenster zur Seite, obwohl es windstill war, das Fenster verschlossen. Das ist der Moment in dem ich weiß, dass er da ist. Doch obwohl ich weiß, wie er mein Zimmer betritt, erkenne ich ihn nie, nicht mal einen Schatten. Er ist leise, bedacht, schleicht um mich, vielleicht gar hinter mir. Doch wenn ich mich umdrehe sehe ich nur die kahle Wand, die mir leblos entgegen lacht. Also wende ich mich wieder dem ...
Und dann sehe ich ihn, sehe ihn so klar, wie mein eigenes Spiegelbild. Wie eine Statue steht er vor mir, rührt sich nicht und sieht mich an. Blau trifft auf Rot. Ich würde gerne sagen, dass ich an Blut denken musste, doch nein. Mein erster Gedanke waren Blätter. Seine Augen erinnerten mich an rote Blätter im Herbst, eine fast vergessene Erinnerung, aus schönen Tagen. Rote Blätter, rote leblose Blätter. Und als sie den Boden erreichen ist der Baum kahl, der Winter ist da und das Blatt, das einst so schön war, ist verrottet. Und genau das habe ich vor mir.
Ich rühre mich nicht, wage es kaum zu atmen, denn es ist das erste mal, dass ich ihn seine Augen sehe, die mich zu paralysieren scheinen, obwohl er ansonsten nichts tut. Man könnte fast sagen er scheint harmlos... oh abgesehen von der Tatsache, dass er keinen Körper hat. Denn selbst im Dunkel des Zimmers erkenne ich klar, dass ich vor einem Schatten stehe. Einem Schatten, mit roten Augen.
Ich weiß nicht was ich sagen soll, was ich tun soll, wie ich handeln soll. Oft habe ich mir überlegt wie das hier ausgehen könnte, doch aus mir unerklärlichen Gründen bin ich gar nicht so panisch wie ich sein sollte... das ist ... seltsam. Ist das sein Werk? Versucht er mich so gefangen zu nehmen? Mich so zu verführen? Bevor er - ich kann den Gedanken nicht zu Ende denken, als er auf einmal vor mir steht, so als wäre er die ganze Zeit da gewesen und hätte sich nie am Ende meines Bettes befunden, nie auch nur einen Moment dort verharrt. Ich schlucke, erzittere, als mir auf einmal die Kälte bewusst wird, die von ihm ausgeht... oder sind es nur seine A- Moment! Moment, Moment! Panisch erstarre ich, Pupillen weit aufgerissen, denn die vorher so fesselnden Augen sind nun schwarz. Ich bin mir sicher, dass ich es mir nicht einbilde, bin mir sicher, dass mir mein Verstand keinen Scherz spielt. Dennoch blinzle ich, nur um sicher zu gehen: Immer noch schwarz. Tief schwarz, wie der Tot.
In diesem Moment packt mich die Panik, pure Angst, die ich mir nicht erklären kann. Ich schlage nach ihm, schreie und winde mich, ohne auch nur vom Fleck zu kommen. Ich spüre seine Arme an mir, und doch sehe ich deutlich dass er sich nicht bewegt hat. Meine Schreie werden lauter, panischer, verzweifelter. Ein kalter Schauer läuft mir den Hals hinab, mein Herz wild pochend, da ich merke, dass es sein Atem ist. Kalt, so kalt an meiner Haut.
"Komm mit mir" Seine Stimme so sanft, so falsch, so unendlich falsch. Als würde er versuchen eine Maus mit vergiftetem Käse zu fangen! Doch ich bin nicht dumm, ich rieche das Gift im Käse! Ich werde ihn nicht essen! Ich werde nicht sterben! Nicht heute, nicht hier! Erneut versuche ich mich ihm zu entwinden und ich weiß nicht wie, doch plötzlich liege ich auf dem Boden, meine Augen weit aufgerissen, als ich realisiere, dass ich es geschafft habe, vom Bett zu kommen. Er steht immer noch neben meinem Bett, doch scheint keine Anstalten zu machen, sich zu bewegen. Wie eine Katze, sich ihrer Beute sicher, steht er da. Als wüsste er, dass ich sowieso keine Chance habe. Dennoch renne ich, schreie, weine. Doch niemand scheint mich zu hören. Wieso? Wo seid ihr wenn ich euch brauche? Wo, wenn es wirklich wichtig ist?
Panisch ringe ich um Luft, als ich aus dem Zimmer stürme. Mein Fluchtversuch war nicht durchdacht, und doch renne ich weiter, einfach weiter, mich nicht umsehend. Wer weiß ob er nicht wieder vor mir steht, wenn ich zurück blicke. Mich mit seinen Augen durchbohrend? Erst als meine Lungen zu schreien beginnen, bleibe ich stehen - inzwischen im Bad angekommen - bevor ich mich gegen die Zimmertüre werfe. Meine Knie drohen nach zu geben, doch ein Teil meines Gehirns macht mir klar, dass ich das Licht anschalten sollte. Im Licht fühlt er sich nicht wohl, des Tages lässt er mich in Ruhe.
Und so sitze ich zitternd im Bad, verzweifelt versuchend mein Herz und meine Lungen zu beruhigen, die sich immer mehr zusammen ziehen vor Schmerz. Alles ist gut dummer Körper, wir werden leben, versuche ich mir ein zu reden. Verlasse mich nicht, ich brauche dich, nur noch ein bisschen.
Ich könnte eingeschlafen sein, oder das Bewusstsein verloren haben. Denn als ich das nächste Mal blinzle, spüre ich deutlich die warmen Strahlen der Sonne, die sacht durch das Fenster ins Badezimmer scheinen.
Sicher. Ich bin sicher! Er ist fort. Ungläubig lächele ich, versuche mich auf zu richten. Wankend erst, und doch stätig. Vorsichtig öffne ich die Türe, als ob ich ihn davor erwarten würde. Doch es ist still. So still wie in der Nacht zuvor. Langsam laufe ich den Gang entlang, der mich zu meinem Zimmer führen wird, meine Türe immer noch offen. Kurz zögere ich, bevor ich hinein spähe. Ich sehe ihn nicht, doch das muss nichts heißen. Also schalte ich lieber das Licht an, nur um sicher zu gehen, bevor ich ausatme, nicht wissend, wann ich die Luft angehalten habe.
Ja, ich lächele, vielleicht sogar für ein paar Sekunden, bis mein Blick zum Bett gleitet. Dann ist das Lächeln verschwunden, vielleicht gar verstorben. Denn als ich zum Bett sehe, die Decke bis nach oben gezogen, die Matratze etwas eingesunken, da sehe ich mich: Ruhig schlafend und still. Ganz still.
"Du bist letzte Nacht gestorben. Als du geschlafen hast" Ich fahre zusammen, als ich die Stimme erkenne, die zu mir gesprochen hat. Es ist der Schatten, dessen Augen inzwischen wieder Rot schimmern, nichts von dem Schwarz erkennen lassen, das ich gestern sah. Ich will ihm widersprechen, will etwas sagen, doch ich kann nicht. Keine Worte wollen meinen Mund verlassen, also schüttele ich nur wild den Kopf, bevor er mich mitfühlend anlächelt. Das ist der Moment, in dem der Schatten eine Form annimmt, eine Gestalt gar.
"Es ist alles gut. Habe keine Angst. Ich bringe dich an einen schönen Ort, weit weg von hier. An einen Ort, an dem Kinder niemals alt werden." Immer noch schüttelte ich den Kopf, ungläubig zu dem Mädchen sehend, dass in dem Bett liegt, in dem ich liegen sollte.
"Weine nicht meine Kleine. Komm, nimm meine Hand" Seine Stimme klingt sanft, so sanft dieses Mal, fast so, als könnte ich glauben der Käse sei nicht vergiftet den er mir anbieten will. Vielleicht weil ich den vergifteten schon gegessen habe? Weil der Vampir schon erdolcht wurde? "Wohin gehen wir", höre ich mich fragen, meine Stimme so weit weg, so fremd, sein Gesicht so verschwommen, als er nach meiner Hand greift. Und doch höre ich ihn flüstern, oder rufen ? Ich weiß es nicht mehr zu unterscheiden. "Flieg mit mir nach Nimmerland. Flieg mit Peter Pan"
„Tiberia, bist du noch da?“, fragte eine Stimme in den Nebel.
„Ja“, antwortete ich, ohne mich umzudrehen. Ich hätte Eriel sowieso nicht gesehen, so dich wie der Nebel inzwischen war. Ich lief einfach geradeaus und machte mir keine Sorgen, gegen irgendetwas zu stoßen. Bevor hier in diesem Nebel irgendetwas außer uns auftauchte, würde er sich so weit lichten, dass man es sehen konnte. „Es dürfte nicht mehr allzu weit sein.“ Der blaue Nebel, in den wir getreten waren, hatte inzwischen eine leicht rosafarbene Note angenommen.
„Ich mag den Nebel nicht“, klagte Eriel. „Ich sehe gerne, wohin ich trete.“
„Warum machst du diesen Job dann überhaupt?“
„Irgendeiner muss es ja tun.“
Ich verdrehte die Augen, auch wenn er es nicht sehen konnte. Mein Schweigen würde für mich sprechen. Da spürte ich, wie ich von hinten gestoßen wurde. Ich schwankte und schaffte es gerade noch so, das Gleichgewicht zu halten. „Hey!“, meinte ich und drehte mich nun doch in die Richtung, in der ich Eriel erwartete. „Das ist noch lange kein Grund, mich zu schupsen!“
„Ich hab dich nicht geschupst!“, verteidigte er sich aus der entgegen gesetzten Richtung.
„Ach ja?“, sagte ich und drehte mich nun schließlich doch ihm zu, „Und wer soll es sonst gewesen sein? Niemand außer uns ist hier!“
Darauf kam keine Antwort. Darauf kam viel zu lange keine Antwort. Auch wenn er sauer war, hier in den Nebeln mussten wir uns aufeinander verlassen können. „Eriel?“, fragte ich in den Nebel.
Keine Antwort.
Ich lauschte auf die Geräusche seines Atems.
Nichts.
„Eriel, das ist nicht lustig!“
Immer noch keine Antwort.
Blind stocherte ich mit beiden Armen in den weiß-rosa Schwaden um mich herum. Doch überall griffen meine Hände ins Leere. Mein Magen zog sich krampfhaft zusammen. Er konnte doch nicht einfach so weg sein! Wieso war er nicht mehr da? Wer hier in den Nebeln verloren ging, konnte wer weiß wo wieder auftauchen! Und das wäre nicht nur für ihn selbst gefährlich. Ich musste ihn finden! Nur wie? Wie sollte man jemanden in einem unendlich wirkenden Nebel wiederfinden, ohne selbst darin verloren zu gehen?
Meine Gedanken rasten. Was sollte ich tun? Was konnte ich tun? Dristoff, der Hauptbestandteil des Nebels und eine Art perfekter Stoff, in dem alle Lebewesen atmen konnten, durchströmte meinen Körper und ließ ihn auf Hochtouren arbeiten. Normalerweise genoss ich seine unverschmutzte Klarheit, aber dieses Mal war er keine Hilfe. Heute war passiert, was niemals hätte passieren dürfen!
„Mach dir doch nicht so viele Sorgen“, meldete sich nun eine Stimme in meinem Kopf, die sich selbst Vernunft nannte. „Wo soll er denn groß sein, wenn nicht schon längt an eurem Ziel? Immerhin ist der Nebel hier bereits rosa.“
Das klang durchaus einleuchtend. Als ich also beschlossen hatte, auf die Vernunft zu hören, mir einzureden, dass es Eriel gut ging und er nur überflüssig eingeschnappt war, und einfach meinen Weg fortzusetzen, um meinen Partner an dessen Ende vorzufinden, wusste ich nicht mehr, aus welcher Richtung ich gekommen war oder in welche Richtung ich gehen musste. Überall breitete sich vor meinen Augen der gleiche rosa schimmernder Nebel aus. Als ich mich in meiner Sorge um Eriel gedreht hatte, hatte ich jegliche Orientierung verloren. Noch größere Panik als zuvor drohte mich zu ergreifen. Selbst wenn es Eriel gut ging, jetzt war ich es, die im Nebel verloren ging.
„Ganz ruhig“, sagte ich in den Nebel, „du schaffst das. Du findest hier schon einen Weg raus.“ Irgendwie musste ich mich ja beruhigen, denn wenn ich ausflippte, brächte mich das auch nicht weiter.
Ich versuchte mich irgendwie zu erinnern, wie oft ich mich gedreht hatte, aber meine Ausgangsposition fand ich nicht wieder. Nun musste ich mich also auf mein Gespür verlassen. Immerhin war dies ja nicht mein erster Job. Und so wählte ich die Richtung, die mir am wahrscheinlichsten vorkam.
In dieser Richtung ging ich einfach geradeaus durch den dichten Nebel, der einen noch nicht einmal die eigene Hand vor Augen erkennen ließ, und merkte nicht, dass die rosa Färbung sich in ein Lila wandelte, bis sich der Nebel lichtete und den Blick auf eine Welt freigab, die ganz anders aussah, als ich es erwartet hatte. Ich war doch in die falsche Richtung gelaufen! Ich musste wieder zurück, bevor ich weit genug aus dem Nebel hinaus war, dass mich jemand bemerken konnte.
Aber was, wenn Eriel sich auch hierher verirrt hatte? Wenn er auch den falschen Weg gegangen wäre? Ich musste mich zumindest so weit vorwagen, dass ich etwas erkennen konnte.
Das erste, was der sich lösende Nebel zu erkennen gab, waren kahle Bäume, obwohl nicht Winter war. Die Landschaft war öde und trostlos. „Eriel hätte sofort bemerkt, dass das der falsche Ort ist“, meldete sich die Stimme in meinem Kopf erneut zu Wort. Und wieder schien sie recht zu haben. Er wäre zurückgegangen, hätte er sich hierher verirrt. Auch ich drehte mich zum gehen. Das war der einzig logische nächste Schritt. Sonst würde noch etwas Schlimmes passieren.
„Hallo Jolina!“
Ich blieb wie angewurzelt stehen. Seit Jahren hatte mich niemand mehr so genannt. Und wieso sollte jemand in dieser fremden Welt meinen alten Namen kennen?
„Das weißt du ganz genau“, mahnte meine Vernunft. Ich wünschte, sie hätte geschwiegen.
„Lange ist’s her. Dabei hatte ich so auf ein Wiedersehen gehofft.“ Die Stimme klang säuselnd, rau. Weiblich.
Als ich mich umdrehte, sah ich eine blonde Frau Mitte Vierzig auf einem der kahlen Bäume sitzen, wo ich sie zuvor nicht bemerkt hatte. Sie lächelte mich an, aber ihr Lächeln war eisig und in ihrer ganzen Art erinnerte sie mich an eine Raubkatze – bereit zum Sprung.
„Du warst das“, sagte ich nur und starrte weiter zu ihr hoch.
„Wenn du etwas genauer wärst, könnte ich dir vielleicht auch antworten.“
„Das war keine Frage.“ Ihre betont freundliche Art hatte auf mich schon immer recht unpassend gewirkt; jetzt war sie einfach nur lächerlich. Sie wusste immerhin genau, wovon ich sprach.
„Du vermisst deinen Freund, nicht wahr?“
Ich antwortete nicht. Ich stand noch immer nur da, umgeben von leichtem Nebel, sodass sie fast wie ein Gespenst aussah. Obwohl das vermutlich nicht einmal am Nebel lag.
„Bring sie zu ihm.“ Sie sah nicht mehr auf mich, sondern blickte hinter mir in den Nebel. Noch ehe ich mich komplett zu dem Unbekannten umdrehen konnte, wurde mir ein Beutel über den Kopf gezogen. Muskulöse Arme hoben mich hoch, als hätte ich keinerlei Eigengewicht. Ich wollte schreien, treten, schlagen, irgendetwas tun, um diesem Kerl zu entkommen, aber meine Vernunft sagte mir, dass ich es eh nicht schaffen würde und am besten meine Kräfte sparen sollte. Und auch wenn sie wieder einmal recht hatte, so hasste ich sie doch in diesem Moment. Zu gerne hätte ich mich wenigstens ein bisschen gewehrt. So hatte sie es zu leicht.
Nach einer Strecke, deren Länge ich beim besten Willen nicht einschätzen konnte, wurde ich unsanft wieder abgesetzt. Der große Unbekannte band meine Hände und Füße an etwas, das sich wie ein Pfahl anfühlte, ließ den Beutel über meinem Kopf und verschwand mit schweren Schritten.
„Tiberia, bist du das?“, fragte eine Stimme in die Dunkelheit.
„Ja“, antwortete ich, ohne mich zu rühren. Ich konnte nicht erleichtert darüber sein, Eriel lebendig und unverletzt wiedergefunden zu haben. Nicht, wenn er hier war.
„Ist sie es?“, fragte er nun.
„Ja.“ Das Wort schmeckte bitter in meinem Mund.
„Sie wollte dich nie haben.“ Eriel sprach den Gedanken aus, den ich die ganze Zeit zu unterdrücken versucht hatte. „Warum sind wir dann hier? Was können wir ihr denn geben?“
„Freiheit“, sagte ich nur. Doch das reichte nicht. Ich spürte, dass dieses Wort nicht genug war. „Wege. Nur wir können durch den Nebel finden.“ Dass wir es nur zu zweit konnten, wie ich ja gerade erst schmerzlich hatte feststellen müssen, verschwieg ich, denn ich spürte die Kälte.
„Sehr gut, Jolina.“ Ich hasste sie noch mehr mit jedem Mal, das sie diesen Namen nutzte. Die Erinnerung war zu schwarz. Ich wusste, was nun kam. Und sie kannte meine Antwort. Sonst wäre ich nicht hier.
„Also, Tiberia, die Weltenwanderin“ – selbst dieser Name klang schrecklich aus ihrem Mund – „zeigst du deiner Mutter den Weg durch den Weltennebel?“
Es war kein Morgen, der durch Vogelschreie hätte eröffnet werden können. Nein, einzig das schrille Klappern des plumpen Messingweckers war angemessen. Ohne die Aufregung des Weckers darüber, dass es bereits halb Acht war, hätte man das Zimmer für ein still und finster daliegendes Gemälde halten können. Abgeschirmt von blickdichten Jalousien vor einem einzigen Fenster wirkte es wie eines jener skizzenhaften Bilder, deren Bleistiftstriche die innere Unruhe des Künstlers kanalisierten. Es erweckte nicht den Anschein von Lebensraum. Der Fernseher war ein bisschen kleiner als das, was die Elektrogeschäfte mittlerweile so anpriesen. Wäschestücke und Essensreste von mindestens drei Tagen erhoben sich als Relief aus dem Dielenboden.
Der Mann, der das Zimmer bewohnte, wachte auf. Für einen ersten Moment veränderte dieser Umstand sein Verhalten kaum. Er öffnete die Augen, kniff sie zusammen, blinzelte, fixierte die Lampe an der Decke. Schlichte LEDs, ausgeschaltet, im Dunkel des Zimmers kaum auszumachen. Und doch so vertraut. Er musste wohl wach sein, bedauerlicherweise. Wenn er sich jetzt zurück in das zerknautschte Kopfkissen fallen lassen würde, er würde in einen traumlosen Schlaf zurücksinken. Er hatte das schon oft so gehandhabt. Doch heute sollte sich etwas ändern. Trotzdem zögerte er und drehte nur leicht den Kopf, sodass er sein Zimmer überblickte. Schmutzig, dunkel. Keine Fotos an den Wänden. Poster von Konzerten und – seit ihn seine Eltern nicht mehr besuchten und seine übrigen Bekannten einen ähnlich geringen Anspruch ans Leben hatten wie er selbst – von Frauen, eine stumpf glänzende Wasserpfeife in der Ecke, ein Haufen CDs und Bücher im Regal, die er seit Jahren nicht mehr gelesen hatte und die zum Teil noch aus seiner Schulzeit stammten. Sein Kopf war ein Lotosblatt für die vielen feinen Tropfen neuer Eindrücke geworden, die er aufzunehmen versuchte. Am Ende verlor sich alles in Weitschweifigkeit. Und oft im Berieseln lassen vom Fallout der Unterhaltungsindustrie.
Er seufzte. In den zähen Minuten des Morgens, dem schmalen Spalt zwischen Aufwachen und Aufstehen, erwischte ihn die Wahrheit, irgendwann im Leben die falsche Abzweigung gewählt zu haben, mit all ihrer deprimierenden Wucht. Er kratzte seine letzten Notreserven Beherrschung zusammen und strampelte sich die Decke vom Leib. Zwischen dem Unrat auf dem Zimmerboden balancierte er zum Fenster und zog die Jalousien hoch. Die blassen Strahlen der Morgensonne schlichen durch den feinen Nebel und tauchten den taubedeckten Rasen des Vorgartens in einen schwachen, silbrigen Glanz. Er musste blinzeln, kniff die Augen zu Schlitzen und ließ das Rollo wieder zur Hälfte herunter. Die Dunkelheit war ihm ein willkommener Rückzugsort. Hier, wo das Grau seiner Haut mit dem Grau der Zimmerwände verschmolz, war er zuhause und in Sicherheit. Isoliert von den Risiken der Welt, von den Gepflogenheiten und Ambitionen. Niemanden interessierte hier, dass er sich seit acht Tagen nicht rasiert und seit drei Tagen nicht geduscht hatte. Dass er sich heute, am Tage des Jobgespräches, zumindest mal wieder unter die dünnen Wasserfäden der kalkverstopften Brause begeben sollte, störte ihn jedoch genau so wenig, wie ihn sein Schmutz gestört hatte. Er wollte nichts Bestimmtes. Wer sich nicht traute, zu träumen, erlangte eine nahezu anheimelnde Zufriedenheit.
Manchmal aber war er ein bisschen traurig. Das konnte daran liegen, dass man sich an Einsamkeit nicht gewöhnt oder daran, dass ihm natürlich insgeheim klar war, was schief lief. Und natürlich wollte er nicht traurig sein. Aber nach ein paar Schlucken aus der richtigen Flasche war ihm meist wieder warm genug, um ansatzweise klarzukommen, und so sickerte sein Alltag die Kehle hinab. Das Wasser in der Dusche war eiskalt. Er stieß einen Schrei aus, der irgendwo auf dem Weg von Überraschung zu Schmerz verebbte, und biss auf die Zähne. Heute musste etwas gehen. Er war kein Eremit, er redete noch hin und wieder mit Menschen, manchmal klingelte jemand, brachte eine Flasche mit und ließ sich auf seine Couch fallen. Aber das waren Personen, die ihn gar nicht so sehr interessierten und von denen er nicht wusste, ob sie sich für ihn interessierten, oder ob sie genau wie er selbst nur eine Möglichkeit suchten, die Zeit mit ungerichteter Gewalt totzuschlagen.
Während der scharfe Minzgeschemack der Zahnpasta in seinem Mund ihm langsam die Übelkeit in der Kehle hochtrieb, betrachtete er sein eingefallenes Gesicht im Spiegel und fragte sich, ob er wirklich regelmäßig Besuch hatte oder das nur vermutete. Oder, ob er selbst Leute besuchte. Er wusste es nicht mehr genau, aber er wunderte sich rückblickend, dass jemand von sich aus auf die Idee kommen sollte, auch nur einen Fuß in das Rattenloch zu setzen, in dem er hauste. Er spuckte in das von Haaren, Fusseln und Zahnpastaresten verkrustete Waschbecken und suchte im Schrank nach sauberer Unterwäsche. Hemd und Hose hatte er sich bereits am Vortag rausgelegt. Es war lange her, dass er sich zuletzt auf etwas vorbereitet hatte. Während er sich anzog, schossen ihm immer wieder Gedanken durch den Kopf. Ob seine Eltern mittlerweile herausgefunden hatten, dass er schon eine Weile nicht mehr studierte? Ihre großzügige Unterstützung landete noch immer Monat für Monat auf seinem Konto und finanzierte ihm mit Ach und Krach seine Existenz. Noch hielt er sich so über Wasser. Vielleicht reichte es nach seinem Jobgespräch heute für etwas mehr als nur dafür, den Schopf noch mit letzter Anstrengung aus den Wellen emporrecken zu können.
Seine Küchenzeile war schmal und bescheiden, auch die Hängeschränke waren recht tief angebracht. Die Vormieterin war eine kleingewachsene, ältere Frau gewesen. Er hatte sie nur einmal persönlich getroffen, sie hatten wenige Worte miteinander gewechselt, doch er hatte schnell vergessen, wohin es sie in ihrem Alter noch zog. Mittlerweile konnte sie verstorben sein oder in irgendeinem Seniorenheim untergekommen, wo abgespannte Pflegekräfte sie beim Prozess des Versterbens begleiteten. So eine Wohnung war wie eine Schleuse. Wenn man in sie eintrat und wenn man sie verließ, änderten sich die Lebensphasen. Die Farben, mit denen man sich umgab, die tägliche Routine, das Gefühl von Zuhause, all das war im stetigen Wandel begriffen, solange Menschen umzogen. Vielleicht war er deshalb immer noch hier. Die lästigen Obstfliegen an der Schale mit den zwei alten Bananen hielten ihn hier jedenfalls genau so wenig wie die unpersönliche, schmutzige Einrichtung seiner anderthalb Zimmer plus Küche und Bad.
Im Kühlschrank leuchtete ihm weißes Licht aus der gähnend grauen Leere entgegen. Er hatte noch ein Ei und eine halbe Packung abgepackter Salamischeiben. Ein Frühstück machte das noch nicht. Wieder seufzte er. Die urige Kuckucksuhr an der Wand, ebenfalls eine Reminiszenz an seine rüstige Vormieterin, zeigte ihm an, dass er noch eine gute Dreiviertelstunde hatte, ehe er sich auf den Weg machen müsste. Genügend Zeit, um sich im kleinen Geschäft gegenüber mit dem nötigsten einzudecken. Eigentlich verspürte er kein Hungergefühl, doch ohne den nötigen Zucker im Blut schaffte sein Gehirn es noch weniger, sich auf konkrete Handlungen zu konzentrieren, als ohnehin schon. Er ließ etwas Leitungswasser aus den Bleirohren in ein Glas fließen und löste eine Kopfschmerztablette darin auf. In einem Zug kippte er die Lösung den rauen Rachen herab. Per Aspirin ad Astra. Man musste sich nur zu helfen wissen.
Im Sitzen zog er seine ausgelatschten Turnschuhe an. Nikes, aber keine teuren. Auch schon zwei Jahre alt. Das meiste, was er besaß, war mindestens zwei Jahre alt. Zwischen Taschentüchern und Unterhemden schlürfte er zurück an sein Bett und nahm sich Smartphone und Euromünzen vom Nachttisch. Er mochte kein Metallgeld. Es lag ihm schwer in der Tasche und er hatte das Gefühl, schief zu gehen und komisch dabei auszusehen, wenn die Gewichte in seiner Jacke asymmetrisch verteilt waren. Die Münzen waren das Resultat einer Zugfahrt für zwei Euro und dreißig Cent, bezahlt mit einem Zehner. Er hätte sich das Geld auch sparen können. Nie wurde er kontrolliert, dabei wirkte er wie der Prototyp eines Schwarzfahrers: Ungepflegt, unter Menschen nervös, sichtlich verarmt. Doch die paar Euro Bares würden genügen.
Er griff sich die dünne Regenjacke vom Haken der Garderobe, trat ins Treppenhaus und schloss die Tür zur kleinen Wohnung ab. Siebzehn Stufen später trat er ins Freie. Die Sonne versteckte sich inzwischen wieder hinter feingliedrigen Wolkenschleiern. Ein Jogger in kurzärmliger Trainingskleidung kreuzte seinen Weg. Es roch nach Frühling und Baustelle, während er die automatisierten Schritte über Straßen und Wege tat, hin zu dem kleinen Laden, in dem er alles bekam, was er am Morgen brauchte. Ein etwas größerer Kiosk. Wahrscheinlich die Filiale irgendeiner kleinen Kette, in denen uniformierte und uniforme Gestalten sein Geld entgegennahmen, ähnlich optimistisch dreinblickend wie er selbst. Niemand sah auf, als er über die Schwelle trat. Hinter dem Kassentresen kreuzte ein Inder Dinge auf einem Zettel an, eine junge Frau mit Kopftuch suchte sich währenddessen ein Kaugummi aus. Der Mann entschied sich für zwei aufgebackene Brötchen und ein billiges Päckchen Tabak. Scheppernd packte er das Geld auf das Glas des Tresens. Sein Geld klimperte nicht, es schepperte. Klimpern klang zu sehr nach Glockenspiel. Scheppern nach Unfall. Er wusste, welchem Eindruck er sich näher fühlte.
Ohne mit dem Verkäufer auch nur ein Wort zu wechseln, machte er sich wieder auf den Weg. Noch sollte es zwei Häuserbiegungen dauern, ehe er zunächst den schwarzen Audi, dann das bekannte Nummernschild erblicken würde. Er hätte sich einen besseren Tag für eine Familienzusammenführung vorstellen können.
Unter meinen bloßen Füßen knirscht es, als würde ich auf Knochen laufen, die unter meinem Gewicht in tausende einzelne Stücke zerbersten. Mein Blick ist starr auf den Horizont vor mir gerichtet, der nicht mehr als ein glühend roter Streifen ist, unendlich weit entfernt. Obwohl ich nur verschwommen sehe, wandere ich zielstrebig darauf zu, mitten durch diese Einöde. Heißer Wind wischt mir wie der ätzende Atem eines Ungeheuers über das Gesicht, Sand peitscht mir erbarmungslos entgegen, bleibt in meinen Mundwinkeln und Augenlidern hängen. Noch ist es so heiß, dass der Schweiß meine Kleider völlig durchnässt. Doch sobald die Dunkelheit einsetzt werden die Temperaturen so schnell fallen, dass ich die Kälte bis in meine Knochen spüren werde. Dann habe ich verloren. Meine dreckigen, abgenutzten Kleider und ein abgewetzter Rucksack sind alles, was noch von dem übrig ist, das ich einst besessen habe. Meine Beine schmerzen so sehr, dass sie sich beinahe taub anfühlen. Das einzige, das mich vorantreibt, ist die Hoffnung. Hoffnung auf etwas, das weit hinter dem feurigen Horizont liegt.
Um mich herum gibt es nichts außer Sand und Staub. Schwarze, spröde Skelette stehen an der Stelle, an der einst Büsche und Bäume ihre grünen Blätter stolz dem Himmel entgegen gereckt haben. Vielleicht aber haben sie auch schon immer so ausgesehen. Ich versuche schon lange, mich irgendwie abzulenken, damit ich den brennenden Durst in meiner Kehle einigermaßen ertragen kann. Die Zunge klebt mir am Gaumen, meine Lippen sind aufgesprungen wie der trockene Boden unter mir. Meine Gedanken werden zäh, die Hitze des endenden Tages drückt mich förmlich nieder. Mein Atem geht schwer und rau; die Luft vor mir flimmert. Langsam schleppe ich mich immer weiter, begleitet von dem inzwischen vertrauten Knirschen unter meinen Füßen.
Ich mache nur kurz halt, um meiner Flasche die allerletzten Tropfen Wasser zu entlocken. Es schmeckt schrecklich abgestanden, aber es ist ohnehin kaum genug, um meinen Mund auch nur damit zu benetzen. Ich packe die Flasche zurück in meinen Rucksack, schultere ihn und richte meinen Blick wieder auf das, was vor mir liegt. Das Licht am Horizont ist immer noch strahlend rot, doch die Sonne ist schon lange abgetaucht. Hinter mir stehlen sich die ersten dunklen Farben an den Himmel. Ich muss mich beeilen, sonst werde ich keinen Unterschlupf für die Nacht finden. Doch wie soll ich hier überhaupt etwas finden, wo es doch nichts gibt außer Sand und totem Holz? Ich versuche krampfhaft, es zurückzudrängen, aber es hilft nichts. Die Verzweiflung schleicht sich zurück in mein Herz wie ein alter Feind, der nur darauf gewartet hat, mir aufzulauern. Ich hole zittrig Luft und setze meinen endlosen Weg fort.
Ruckartig bleibe ich stehen. Vor dem Licht des sterbenden Tages zeichnet sich eindeutig eine dunkle Gestalt ab. Diese Silhouette würde ich überall wiedererkennen. Mein Herz macht einen Satz und pocht schnell und holprig in meiner Brust; ich verliere die Kontrolle über meine Beine, sie haben sich selbstständig gemacht. Ich fliege der Gestalt entgegen, rufe ihren Namen gegen den Wind, huste Sand, der sich gierig in meine Kehle stürzt. Ich kann es nicht glauben. Sie ist hier. Zu mir zurückgekehrt. Ich bin fast da, rufe sie erneut, Strecke die Hand nach ihr aus, um sie an der Schulter zu berühren. Sie wird sich umdrehen und mich erkennen, ihr Gesicht wird aufleuchten wie früher, als alles noch in Ordnung war. Und ihr Lächeln wird jede Anstrengung, jede Qual der letzten Monate wiedergutmachen.
Doch ich stürze nicht ihr entgegen, sondern dem Boden; anstatt sie endlich wieder in meine Arme zu schließen, falle ich der Länge nach hin. Meine Knie schlagen hart auf, ich schaffe es nicht rechtzeitig, mich abzufangen. Benommen stütze ich mich auf meine Hände, würge Staub und Sand. Ich bin wie gelähmt vor Enttäuschung. Was habe ich mir auch gedacht? Dass sie wie durch ein Wunder doch noch am Leben ist? Meine Wangen brennen vor Wut und Scham. Ich muss die Zähne krampfhaft zusammenbeißen, um die Tränen zurückzudrängen.
Am Rande meines Bewusstseins nehme ich den Schmerz meines Aufpralls wahr. Doch es ist nicht nur stumpfer Schmerz; er ist heiß und stechend. Ich begutachte meine Handflächen – aus tiefen Schnitten quillt Blut. Verwirrt starre ich auf die Wunden. Doch was gibt es so Scharfkantiges in dieser trockenen, leblosen Wüste? Auf dem Boden finde ich die Antwort. Es sind Scherben jeglicher Form und Größe. Scherben, die aussehen, als hätte jemand riesige Spiegel auf dem Boden zertrümmert. Ich drehe mich um und starre ungläubig hinter mich.
Der Weg, den ich eben noch gegangen bin, ist übersät davon. Träume ich? Ist dies schon wieder nichts anderes als reine Illusion? Doch das stechende Pochen meiner Hände spricht für das Gegenteil. Auf einmal ergibt auch das Knirschen unter meinen Füßen Sinn. Wie konnte ich das nur übersehen?
Ohne auf meine protestierenden Hände zu achten, versuche ich mich aufzurichten. Ich kann nicht darüber nachdenken, woher all diese Scherben kommen, denn ich darf keine Zeit verlieren. Doch ich halte inne. Tausende kleine Spiegel zeigen mir das Gesicht eines Mannes, dessen Züge gezeichnet sind von Trauer, Schmerz und Müdigkeit. Unter den dunklen, trüben Augen liegen tiefe Schatten. Voller Hass und Verzweiflung wende ich den Blick ab.
Ich habe alles verloren. Die Menschen, die ich am meisten liebe, sind vor meinen Augen gestorben. So viele Tode sind in meinem Beisein geschehen, und ich konnte nichts tun, um das zu verhindern. Auf einmal bin ich müde, so unendlich müde. Warum kämpfe ich eigentlich? Ich bemühe mich nicht mehr, die einzige Wahrheit zu verdrängen, die ich kenne. Dass dieser Kampf aussichtslos ist. Die Dunkelheit wird jedes Licht aufsaugen bis nichts mehr davon übrig ist. Und ich werde vollkommen hilflos sein, so, wie ich es schon immer gewesen bin. Alles ist umsonst gewesen. Langsam und endgültig schließe ich die Augen.
...Warum kämpfst du?
Stille.
Das letzte, das ich spüre, ist kühles, scharfes Glas an meinem warmen Handgelenk.
Langsam realisierte er es, sie war tot.
Er zitterte am ganzen Körper, betrachtete das Foto, welches er mühevoll in seinen Händen hielt, dachte nach.
Sie hatte strahlend blaue Augen, langes dunkelblondes Haar, lächelte leicht. Oft hatte sie einen sehr konzentrierten Blick, fokussierte willkürlich ausgewählte Gegenstände und verfiel in eine tiefe Trance. Es wirkte dann so, als würde sie über die großen Probleme der Welt nachdenken, komplizierte Gleichungen lösen oder aus einzelnen Wörtern ein harmonisches Gedicht entstehen lassen. Tatsächlich hatte sie in diesen Phasen dann nur ein Lied im Kopf, das sie einfach nicht mehr loslassen wollte. Zumindest hatte sie das immer behauptet. Sie ging es im Kopf durch, wieder und wieder, bis sie schließlich durch irgendetwas aus ihrem Tagtraum geweckt wurde. Ein Windstoß, ein Vogelzwitschern, ein Schatten. Sie zuckte dann immer ganz hektisch. Nicht aber auf diesem Bild von ihr. Sie lächelte.
Noch immer zitterte er, legte das Foto langsam zurück auf den Glastisch vor ihm und griff anschließend nach einem Brief. Er versuchte, den Text zu überfliegen, einzelne Worte zu entziffern, diese verschwammen vor ihm jedoch mit jeder Sekunde mehr und mehr, wurden schließlich unlesbar.
Sie war ein Einzelkind, geboren in der Kältezeit des Dezembers. Ihr Vater scherzte häufig, sie habe sich damals gedrückt, überhaupt geboren zu werden. Es sei ihr viel zu kalt hier draußen gewesen. Das betonte er so oft, dass sie es fast nicht mehr hören konnte. Sie wusste selbst, dass sie stur war, doch sich vor der eigenen Geburt drücken, nur weil ihr die Temperatur nicht zusagt – nein! So etwas hätte selbst sie nicht versucht. Nur wenige Monate nach ihrem vierzehnten Geburtstag wurde bei ihrem Vater die Erkrankung an Leukämie festgestellt, kurz darauf verstarb er. Drei Jahre später folgte ihm die Mutter des Mädchens unter Zweifeln und Vorwürfen, die sie bis dahin nicht überwinden konnte. Sie hätte ihren Mann zur Vorsorge schicken müssen, die Krankheit irgendwie rechtzeitig erkennen müssen.
Er stockte kurz, atmete tief ein, verschluckte sich an etwas, musste husten. Es riss ihn ein wenig aus seinen Gedanken; erneut versuchte er ein paar Zeilen in dem Brief zu lesen:
„Ich weiß ja, wie sehr du Briefe magst, also habe ich mir ausnahmsweise etwas Zeit genommen, um dir zu schreiben“
Nach dem Tod ihres Vaters lächelte das Mädchen kaum noch, vielleicht auch zu sehr geplagt von den Depressionen ihrer Mutter. Doch sie begann, sich stärker auf die Schule zu konzentrieren. Es gab nur wenige Fächer, in denen sie keine überragenden Noten erreichte, Kunst war eines davon. „So was kann man nicht lernen“, rechtfertigte sie sich immer, wenn man sie darauf ansprach. Vielleicht glaubte sie das auch selbst ein wenig, vielleicht redete sie sich das ein. Grundsätzlich mochte sie das Fach aber auch einfach nicht. Daran hätte auch niemand etwas ändern können, wenngleich ihr die Noten trotzdem sehr wichtig waren. Sie benötigte sehr gute Noten, wollte Medizin studieren, wollte unheilbare Krankheiten heilen. Sie hatte ein Ziel, sie wollte helfen.
„Mein Freund sitzt auch gerade neben mir“. Er las diesen Satz. Las ihn wieder und wieder, minutenlang.
Besagten Freund hatte sie während des Studiums kennengelernt. Es war ihr zweiter richtiger Freund. Er selbst studierte nicht, arbeitete zunächst aber gemeinsam mit ihr als Kellner in einer Bar. Nachdem die beiden die Beziehung begonnen hatten, kündigte sie, suchte sich einen neuen Job. Zumindest während der Arbeit wollte sie eine gewisse Distanz bewahren. Das war einfach ihre Einstellung und wenn sie sich für etwas entschieden hatte, setzte sie das auch konsequent um. Ihr Freund war zwei Jahre älter als sie. „Standard“, wie sie den Altersunterschied gerne bezeichnete. Er selbst war eher zurückhaltend, nicht so offen und direkt wie sie. Nach nur wenigen Jahren trennten sie sich, hatten sich auseinandergelebt.
„Mein Freund sitzt auch gerade neben mir“. Er hing an diesem Satz. Er konnte sich regelrecht vorstellen, wie sie da saß, lächelte, und den Brief schrieb. Sie musste glücklich gewesen sein, wie damals als das Foto von ihr aufgenommen wurde. Bei dem Gedanken daran musste er selbst auch ein wenig lächeln. Zögernd löste er seinen Blick von dem Satz, richtete seine Augen auf das Ende des Briefes.
„Wir sehen uns dann ja nächsten Monat“
Nach ihrer Trennung wohnte sie alleine. Sie hatte sich einen kleinen Freundeskreis in ihrer Stadt aufgebaut, wirklich wohl schien sie sich dort aber nicht gefühlt zu haben. Ein bis zwei mal im Monat nahm sie die Bahn, fuhr zurück und besuchte mich.
Ruhig faltete er den Brief, nahm das Foto vom Tisch und legte es in das Papier. Unbeholfen tastete der Mann seinen Tisch ab, suchte nach seinem alten Füller. Mit zittriger Handschrift schrieb er auf den Umschlag „Erinnerungen“ und schob den Brief hinein.
Langsam schloss er die Augen, lehnte sich zurück in seinen Sessel. Eine letzte Träne verließ sein linkes Auge. Niemand war ihm mehr geblieben. Niemand, der die Träne hätte wegwischen können;niemand, der ihm sein Kissen hätte richten können; niemand. Sie lebten noch, dachte er. Sie alle lebten noch in seinem Kopf, in seiner Erinnerung. In seinen Geschichten nahmen sie ihm die Träne, lächelten ihn an. „Sie alle leben noch“, murmelte er still. Doch niemand lauschte mehr der leisen Stimme des Mannes, niemand hörte mehr zu.
Er schlief ein, verschwand.
Das Zitat ist aus dem Lied "Nemo" von Nightwish.
Oh, how I wish for soothing rain,
all I wish is to dream again.
My loving heart lost in the dark,
for hope I'd give my everything.
Mit einer schnellen Bewegung errichte ich eine hellblaue Barriere, um den feindlichen Angriff abzuwehren. Die dunkle Energie prallt an dem durchsichtigen Schutzschild ab und offenbart mir pure Schwärze, die sich zur Seite hin ausbreitet. Ein kalter Schauer überkommt mich aufgrund dessen, doch gilt meine Aufmerksamkeit vor allen Dingen Drake, der hinter mir steht und mich beobachtet.
„Diana!“, ruft er mit heiserer Stimme den Namen, den er mir vor langer Zeit gab. Es veranlasst mich, für einen Moment in Erinnerungen zu schwelgen.
Damals habe ich ihn auserwählt, mein Partner zu sein und ihn im Kampf gegen böse Mächte zu unterstützen. Diese Aufgabe wurde uns erst später bewusst, waren wir anfangs noch nicht davon berührt und konnten unser Verhältnis zueinander aufbauen. Es grenzt schon fast an ein Wunder, dass Drake mich immer für das akzeptiert hat, was ich bin. Bisher wurde ich immer enttäuscht und musste meine vergangenen Partner von dannen ziehen sehen; doch bei ihm hatte ich ein äußerst positives Gefühl. Eines, wie ich es schon lange nicht mehr gefühlt hatte und meine Emotionen waren so stark im Einklang wie noch nie zuvor. Das hat mir Kraft gegeben und mich darin bestärkt, ihm zu vertrauen.
Es dauert nicht lange und der dunkle Strahl löst sich langsam auf, sodass ich den Schutzschild nicht mehr aufrecht halten muss. Ich richte meinen Blick kurz zu Drake und gleich danach wieder auf meinen Feind, der bis eben versucht hat, mich niederzustrecken.
Ein Gengar, welches hämisch grinst und mich mit seinem wahnsinnigen Blick und dem dritten Auge wohl einschüchtern möchte. Dabei hat es selbst ein groteskes Aussehen angenommen.
Normalerweise wirkt es sehr unscheinbar und lässt seine Fähigkeiten nicht so einfach zur Schau kommen, doch merkt man ihm aktuell seine Kräfte deutlicher an als zuvor. Es ist permanent mit den Schatten verbunden und vermag Dinge zu tun, die jenseits jeglicher Vorstellung liegen. Als würde es die Grenzen seiner eigenen Kräfte darlegen.
Das ist ein Zeichen der engen Vertrautheit mit seinem Partner, der sich hinter ihm aufbaut und ohne sichtbare Emotion dem Geschehen beiwohnt. Ein Status, den ich schon lange zu erreichen versuche.
Erneut eröffnet dieses Gengar das Gefecht mit einem Ball aus geisterhafter Energie, der rasend schnell auf mich zukommt. Unfähig mich zu bewegen konzentriere ich meine Kräfte auf das Gebilde und lenke es leicht ab, sodass es weder mich noch Drake streifen kann und weit hinter uns im Boden einschlägt. Eine Druckwelle erfüllt die Luft und lässt mich schaudern. Was ist das nur für eine enorme Stärke, die es so leicht aufbauen konnte? Fast so, als sei sie nicht von dieser Welt.
Mir bleibt jedoch nicht viel Zeit zu überlegen, da bereits die nächste Schattenkugel folgt. Erneut komme ich nicht gegen diese Geschwindigkeit an und überlasse meinem Gefühl die Hand. Obwohl ich mich darauf fixiere, komme ich doch nicht dagegen an. Zu viel war es für meine aktuelle Situation und ich bereite mich innerlich darauf vor, von dieser Kraft übermannt zu werden.
Die dunkle Energie breitet sich bei Berührung in mir aus. Ich spüre sie kaum, da sie etwas Beruhigendes an sich hat und mich verwundert zurücklässt. Sekunden werden zu Augenblicken und die Zeit scheint immer langsamer zu vergehen. Erst als ich glaube, dass ich nicht weiter davon betroffen bin, breitet sich in meinem Inneren ein brennender Schmerz explosionsartig aus und unterdrückt jegliches Empfinden. Ich schnappe schlagartig nach Luft, ohne den nötigen Sauerstoff in meine zusammengedrückte Lunge zu bekommen und würge undefinierbare Laute hervor. Ein Sirren macht sich in meinem Gehör breit und dämpft jegliche Geräusche in meiner Umgebung, sodass ich auch Drakes Rufe nicht mehr vernehmen kann. Seine Gefühle bleiben mir verborgen; ich fühle mich regelrecht wehrlos.
Drake hat sich in der Zwischenzeit neben mich hingekniet. Er scheint um mich besorgt zu sein. Mir ist nicht bewusst, wie lange wir schon so ausgeharrt sind, doch das unangenehme Surren hat etwas nachgelassen. Als ich meinen Blick wieder hebe, hat sich Gengar bereits vor mir aufgebaut und holt mit seinem geisterhaften Arm aus, um Drake einige Meter wegzuschleudern.
Mein Atem stockt erneut, als ich ihm hinterher sehe. Nein! Ich kann nicht ... nein, ich muss ihn beschützen!
Plötzlich vernehme ich ein leises Klatschen aus der entgegengesetzten Richtung. Gengars Partner, ein Junge mit auffällig schwarzen Haaren, scheint nun endlich eine Regung zu zeigen und bewegt sich langsam auf mich zu. Nach wie vor ist es mir nicht möglich, mich zu verteidigen. Meiner Kräfte beraubt kann ich nur zusehen, unfähig etwas zu tun.
„Alle Achtung“, beginnt dieser nun abfällig zu sprechen. Er rückt seine Augengläser mit einer Hand zurecht. „Dass uns ausgerechnet ihr beide so weit treiben würdet, die wahre Kraft zu entfalten, hätte ich nicht erwartet. Aber“, ein Lächeln mischt sich nun auf sein Gesicht, „auch ein schillerndes Guardevoir ist nicht mehr wert im Angesicht dieser Farce.“
Der Junge streckt eine Hand aus und Gengar scheint zu begreifen. Ohne seine Bewegung erfassen zu können, verschwindet es mit einem Mal und lässt meine Augen weiten.
Nein.
Ich richte mich schlagartig auf, kann mich kaum auf den Beinen halten. Meine Konzentration fehlt durch die Umstände und ich falle auf den harten Boden. Ein erneuter Versuch lässt mich wieder taumeln. Fehlanzeige.
Erst, als ich meinen Kopf hebe und zu meinem Partner sehe, wird mir vollends bewusst, was geschieht.
Gengar hat sich vor Drake aufgebaut und lässt dieselbe Energie auf ihn los, die auch mich getroffen hat. Es folgt wenig später ein ohrenbetäubender Schrei, der schließlich in Stille endet. Nur Gengars Kichern erfüllt die Luft.
Schwindel macht sich in mir breit und es fällt mir schwer zu atmen. Sämtliche meiner Glieder fangen an zu zittern, unfähig, die Situation zu erfassen. Mein Sehvermögen verschwimmt und es ist mir unmöglich, einen Punkt zu erfassen. Alles dreht sich um mich herum.
Ich schreie und kneife die Augen zusammen.
In diesem Moment verspüre ich ein Gefühl in meinem Inneren. War ich noch der Meinung, taub zu sein, so erfüllt meinen Körper eine nach und nach größer werdende Kraft, der ich mich kaum widersetzen kann. Sie erfüllt mich mit Mut und Stärke; weit mehr, als ich sie je besessen habe und gipfelt schließlich in einer neuerlichen explosionsartigen Ausstrahlung der Energie.
Ein merkwürdiges Licht umhüllt mich, schließt mich in sich ein und schenkt mir seine Wärme. Ich fühle, wie ich mich langsam verändere, das Feuer sich in meinem Inneren ausbreitet und mir Dinge ermöglicht, zu denen ich nie imstande war.
Als diese göttliche Umarmung endet, befinde ich mich an derselben Stelle wie zuvor. Ich richte mich auf, nicht weiter auf die verzweifelten Rufe meines Feindes bedacht und konzentriere mich auf diesen.
Diese Reaktionen habe ich schon öfter gesehen. Wenn Menschen sehen, dass ihr Leben zu Ende geht, wünschen sie sich nur Hilfe, ohne selbst etwas tun zu können. Dieser Junge ist nicht anders, sieht er Gengar doch nur als Mittel zum Zweck an.
Ich bin es leid.
Im Bruchteil einer Sekunde bildet sich um ihn ein extremer Energiesog, dem er sich nicht entziehen kann und ihn samt und sonders auflöst. Nur wenige Augenblicke mögen vergangen sein, ist der Zauber auch schon vorbei und nichts weist auf seine Anwesenheit hin.
Mein Blick wandert zu Gengar. Dieses hat seine normale Form wieder angenommen und hat sich angesichts der Situation dazu entschlossen zu flüchten. Wobei es keine Flucht in dem Sinne war; wenn ein Pokémon seinen Partner verliert, so hat es keinen Grund mehr für seine Ideale und ist demnach frei.
Unruhig begebe ich mich langsam auf Drake zu. Mit bedachten Schritten gehe ich voran, auf das Schlimmste vorbereitet. Doch ich weiß, tief in meinem Inneren schlummert bereits die Antwort.
Ich knie mich neben ihm hin, stütze seinen Kopf und lege ihn auf mein schwarzes Kleid. Drakes Augen sind geweitet, seine Haut unnatürlich verfärbt. Keines seiner innigen Gefühle dringt zu mir durch. Still betrachte ich ihn weiterhin.
Eine Träne findet ihren Weg zum Boden.
Es ist zu spät.
Ohne meine Trauer zu zeigen, blicke ich zum Himmel auf. Einzelne Wolken ziehen dort, grau und träge, ihrer Wege.
Eine weitere Träne fällt zu Boden.
Ich habe Drake mein Vertrauen geschenkt. Selbst nach unzähligen Bindungen und Enttäuschungen war ich dazu imstande, meine Hoffnung in ihn zu setzen. Er hat mich nicht enttäuscht; und doch erfüllt mich Traurigkeit. Denn obwohl ich ihm vertraut habe, konnte ich ihn nicht retten, als er selbst in Gefahr schwebte.
Es ist meine Schuld, dass es so weit kam. Und sie wiegt schwerer als alles, was ich mir jemals aufgelastet habe.
Ich wünschte, der Regen könnte mich von dieser Bürde erlösen. Mich in den Schlaf wiegen, eine Illusion vortäuschen. Doch wird mir die Hoffnung nicht wohlgesonnen sein. Meine Liebe zu ihm, verloren in der Dunkelheit, wird unsterblich sein. Mein Vertrauen wird nie wieder seinen Weg an die Oberfläche finden. Ebenso mein wahrer Name.
Nemo.
Mit einer sanften Bewegung hauche ich sein Augenlicht aus.
Ich habe mich bei dieser Geschichte stark von den Liedern "Backgammon" (aus welchem das Zitat stammt) und "Letzte Nacht bin ich verrückt geworden" von Prezident inspirieren lassen.
"Und er hat immer was zu tun, aber sobald er sich
Für dich entscheidet, sei dir sicher, findet er auch Zeit für dich"
Prezident ft. Antagonist ~ Backgammon
Es geschah an einem kühlen Herbstabend.
Ich befand mich gerade auf dem Heimweg vom Flughafen. Die Bahn war angenehm leer, kaum eine Menschenseele ließ sich blicken, was mir recht war. Ich schloss meine Augen, ich hatte noch eine knappe Stunde Bahnfahrt vor mir.
Ich wachte wieder auf, als ich von der untergehenden Sonne geblendet wurde. Ich rieb mir die Augen und sah aus dem leicht beschlagenen Fenster und beobachtete, wie sich die neben der Bahn fahrenden Autos die Steigung hochkämpften. Bald erreichte die Straßenbahn die Endhaltestelle. Als ich die Bahn verließ, wehte ein leichter Wind und mir fiel wieder einmal auf, was für einen Temperaturunterschied einige Höhenmeter machen konnten. Eilig knöpfte ich mir den Mantel zu, fuhr die Teleskopstange meiner Reisetasche aus und fing an, die Hauptstraße meines Ortes hinunterzulaufen, die Reisetasche hinter mir herziehend. Autos rauschten an mir vorbei und ich war tief in Gedanken versunken, als ein seltsamer Laut an meine Ohren drang. Keine Sekunde später schlug etwas mit enormer Wucht auf meinen Kopf und mir wurde schwarz vor Augen.
Als ich wieder zu mir kam, brauchte ich einige Augenblicke um zu begreifen, dass die Welt still stand.
Nichts rührte sich, es war kein Laut zu hören. Ich war immer noch auf dem Bürgersteig und sah mich um. Es kam mir so vor, als wäre meine Umgebung eine Filmszene, die jemand pausiert hatte. Alles befand sich an derselben Stelle wie zuvor, nur eingefroren. Die Autos bewegten sich nicht, ebenso wenig wie die Passanten.
"Was zum Teufel ist hier los?", fragte ich mich aufgeregt, während ich zu einem Mann herüber lief, der sich in meiner Nähe befand.
Ich blieb vor ihm stehen und betrachtete ihn eingehend. Er hatte seinen Kopf in den Nacken gelegt, seine Augen waren geschlossen und sein Mund leicht geöffnet, als würde er niesen müssen. Seine Brust bewegte sich nicht, der Mann atmete nicht mehr. Nervös streckte ich meine Hand aus, um ihn zu berühren, aber ich traf auf keinen Widerstand, meine Hand glitt einfach durch ihn hindurch und kam auf der anderen Seite wieder raus.
Ich spürte, wie ich in Panik geriet. Wo bin ich hier gelandet? Was ist mit mir passiert?
„Es ist ziemlich ruhig hier, nicht wahr?“, hörte ich plötzlich.
Es war eine tiefe, ruhige, aber auch geschlechtslose Stimme. Sie schien in meinem Kopf zu hallen und zu vibrieren, bevor ich in der Lage war zu verstehen, was mir gesagt wurde.
Ich fuhr herum.
In drei Metern Höhe, über der Straße schwebte eine düstere Gestalt. Sie hatte lange Gliedmaßen und trug einen grauschwarzen Umhang. Das Gesicht lag im Dunkeln der Kapuze verborgen und doch hatte ich das Gefühl, eingehend gemustert zu werden.
„Auf dich habe ich mich schon besonders gefreut“, sagte das Wesen.
Mir dämmerte es langsam, wen ich da vor mir hatte.
„Bist du der Tod?“, fragte ich mit zittriger Stimme. „Wo bin ich?“
Das Geschöpf gab einen seltsamen Ton von sich und glitt auf den Bürgersteig, sodass sie mir gegenüber stand.
„Deine Frage ist nicht ganz leicht“, antwortete sie. „Der Tod trifft unabhängig von mir ein. Ich bin nur hier, um Ordnung zu halten. Ich bin also ungefähr das, was du unter Gevatter Tod verstehst, ja. Was deine zweite Frage angeht; einerseits ist dein Ich direkt vor mir. Andererseits befindet sich dein Körper hinten auf dem Bürgersteig"
Erst als ich mich umdrehte, bemerkte ich mich. Ich, beziehungsweise mein Körper, lag dort. Meine Reisetasche und ein kaputter Blumenkasten, der Erde und vertrocknete Blumen beinhaltete, lag daneben. Ich ging auf ihn zu und sah nach oben. Direkt über mir im dritten Stock stand eine Frau mit einem verschreckten Gesichtsausdruck. Sie war über das Geländer gebeugt und hatte ihre Hände vor dem Mund verschlagen. Langsam begriff ich, was passiert ist. Ich drehte mich um und wandte mich an die Gestalt, die sich mittlerweile auf den Bürgersteig gesetzt hatte.
"Bin ich tot? Bist du hier, um meine Seele zu nehmen oder etwas in der Art?", fragte ich.
"Nur die Ruhe, wir haben noch etwas Zeit", bekam ich zur Antwort. "Spielst du Dame?"
Ich stutzte.
"Dame?", fragte ich verständnislos.
"Ja, Dame. Oder ist dir Schach lieber?"
"Ich.... Ich kann beides“, antworte ich, noch immer völlig perplex.
„Gut, dann spielen wir Dame“
Neben dem Wesen erschien ein schönes Schachbrett, auf dem sich nach und nach Spielsteine materialisierten.
„Ich spiele mit Schwarz, wenn du nichts dagegen hast“, sagte es.
„Nein“, antwortete ich, setzte mich neben das Brett und starrte es an.
„Weiss fängt an, wie du sicher weisst“, sagte mein Gegner, etwas wie in Ungeduld schwang in der Stimme mit.
Ich griff nach einem Stein, um das Spiel zu eröffnen. Meine Hand zitterte, als ich den Stein verschob.
„Du fürchtest dich“, stellte mein Gegenüber fest. „Vor mir?“
Einige Augenblicke war es still.
„Ich weiss nicht“, krächzte ich zur Antwort. Meine Kehle fühlte sich an, als würde sich eine Wüste in ihr befinden, die Kakteen schienen an meiner Zunge zu kratzen. Ich schluckte.
„Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Ich werde dir nicht wehtun und wie gesagt, ich töte nicht. Selbst, wenn ich es wollte, könnte ich es nicht. Ich halte nur Ordnung“
Ich sah vom Brett auf und versuchte, unter die Kapuze zu blicken. Ich konnte nichts erkennen, eine unnatürliche Dunkelheit verdeckte das Gesicht.
„Bitte“, kam es aus der Kapuze. „Ich muss in einer Nanosekunde bereits weiter. Eine weitere Seele wird meine Hilfe brauchen um diese Welt verlassen zu können. Und Seelen warten nicht gerne, erst recht nicht, wenn sie nicht wissen, was mit ihnen passiert“
Ich sah wieder zum Brett. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass mein Gegenüber seinen Zug gemacht hat.
„Wenn ich es mir recht überlege….“, murmelte ich. „Ich glaube, dass ich Angst davor habe, tot zu sein“
Ich verschob einen weiteren Spielstein.
„Wirklich? Das ist interessant“
Ich sah erneut auf.
„Wieso? Fürchten sich nicht viele Leute vor dem Tod?“
„Oh doch, durchaus“, antwortete die Gestalt und lachte kurz auf. „Ich habe aber bisher die Erfahrung gemacht, dass Menschen mit einem aufregenden und vielfältigen Leben vergleichsweise weniger Angst vor dem Tod haben als der Rest. Und dein Leben ist ziemlich interessant, soweit ich es einschätzen kann“
Ich fragte mich, wieviel das Wesen über mich wusste.
„Du scheinst einen abwechslungsreichen und profitablen Job zu haben, ganz im Gegensatz zu mir. Du reist viel. Du hast Freunde, mit denen du dich regelmäßig triffst und einen Menschen, mit dem du dich niedergelassen hast. Viele Leute würden das als erfülltes Leben bezeichnen, meinst du nicht?“
„Sag du es mir“, antwortete ich gereizt, während ich einen gegnerischen Stein mit meinem schlug. „Wenn du alles weisst, weisst du sicher auch, was mir fehlt. Wieso ich mich fühle, als ob ich nichts in meinem Leben erreicht hätte, obwohl sich viele Menschen sicher wünschen würden, in meiner Haut zu stecken“
Ich sah zu, wie zwei meiner Steine geschlagen wurden.
„Ich kann dir nichts Genaues sagen. Ich bin nicht allwissend, ich habe nur viel Zeit um zu beobachten“, antwortete mein Gegenüber nachdenklich. „Irgendwas scheint dir in deinem Leben zu fehlen, ich kann dir aber nicht sagen, was es ist. Jeder Mensch muss selbst begreifen, was ihn glücklich macht. Wenn du es nicht weisst, kannst du noch so viel erleben, du kommst trotzdem nicht vorwärts“
Ich sah zu meinem Körper, neben dem die schwere Reisetasche lag.
„Vielleicht“, sagte ich und machte meinen nächsten Zug.
Ich weiss nicht, wie lange wir spielten. Und selbst, wenn ich es wüsste, es wäre nur ein Augenblick. Als er meinen letzten Stein geschlagen hatte, stand das Wesen auf. Ich tat es ihm nach.
„Du hast gut gespielt“, sagte es.
„Was machst du jetzt mit mir? Sehe ich jetzt das Licht am Ende vom Tunnel?“
„Ich? Ich tue gar nichts“, lautete die Antwort.
Die Welt schien zu zittern, als würde alles zusammenbrechen.
„Wie meinst du das? Was passiert jetzt?“, schrie ich.
„Wie ich schon sagte, wir haben noch etwas Zeit“
Als ich meine Augen wieder öffnete, wurde ich von hellem Licht geblendet. Mir war warm.
Ein Gesicht, das ich nicht näher erkennen konnte, beugte sich über mich und schien etwas zu sagen.
„Doktor“, konnte ich verstehen. „Der Patient ist wach“
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