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In diesem Thema habt ihr eine bestimmte Anzahl an Punkten zur Verfügung, die ihr den Texten im nächsten Beitrag geben könnt. Achtet jedoch darauf, dass ihr die Punkte, die euch zur Verfügung stehen, komplett ausschöpft. Votes, welche zu wenige oder zu viele Punkte enthalten, können leider nicht gezählt werden. Des Weiteren solltet ihr eure Punkte mindestens auf drei Texte verteilen, eure Wahl ausreichend begründen und natürlich nicht für eure eigenen Texte voten.
Es ist außerdem hilfreich, euch das "How to vote-Topic" anzusehen. Schreibt ihr in dieser Saison besonders viele Votes, habt ihr die Chance auf Medaillen. Weitere Informationen findet ihr hier: Informationen und Regeln zu den Wettbewerben.
Zitat von AufgabenstellungDas Thema dieses Wettbewerbs lautet:
Wünsch dir etwas!
Wer hat sie nicht: Wünsche? Gerade zu Beginn eines neuen Jahres machen sich viele Menschen Pläne und Vorsätze für das neue Jahr; dabei spielen oftmals auch Wünsche eine sehr große Rolle! Und genau um diese soll es im ersten Wettbewerb der Saison gehen! Schreibt eine kurze Geschichte zum Thema "Wünsche"! Dabei ist es vollkommen irrelevant, um was es für einen Wunsch geht, hauptsache ihr beschreibt ihn und was er für eine Bedeutung für euch hat! Ein Pokémonbezug ist nicht notwendig.
Ihr könnt 12 Punkte verteilen, maximal 6 an eine Abgabe
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Achtet dabei darauf, bei der Schablone zwischen Doppelpunkt und ID/Punktzahl ein Leerzeichen zu machen, damit die Auswertung über den Voterechner ohne Probleme erfolgen kann. Wenn ihr nicht wissen solltet, wie ihr eure ID herausfindet, könnt ihr dies unter anderem hier nachlesen.
Der Vote läuft bis Sonntag, den 07.02.2016, um 23:59 Uhr.
Pünktlich zur Mittagsstunde endete die Vorlesung und ich atmete erleichtert auf. Normalerweise fielen mir Vorträge zur Biologie doch recht leicht, aber heute konnte ich einfach keine Konzentration dafür aufbringen.
Lustlos schlurfte ich hinter den anderen Studenten her und wartete bereits darauf, draußen von der heißen Juni-Sonne begrüßt zu werden. Welch Ironie, dass sie meine Erwartungshaltung nicht widerspiegeln konnte, aber war das nicht der Standard schlechthin? Fast schon fühlte ich mich, als wäre ich selbst Protagonist einer Geschichte. Wie paradox.
Mein Weg bis nach Hause war nicht besonders weit und eigentlich wartete Manuela sonst immer beim Eingang auf mich. Heute war sie jedoch etwas später dran und hastete an mir vorbei, drehte sich jedoch noch rechtzeitig um.
„Sorry, Kerstin, es hat heute etwas länger gedauert“, schnaufte sie und versuchte mit ihrer neu gelernten Atemtechnik Luft zu holen. Irgendwie beneidete ich sie, da sie nebenher auch noch in einer Theatergruppe beteiligt war und sie ihr Talent regelmäßig in den Vorlesungen von Herrn Tremo unter Beweis stellte. Er spielte dabei natürlich mit, sehr zur Belustigung des ganzen Kurses.
„Schon okay. Ich will sowieso nicht wirklich nach Hause gehen“, meinte ich daraufhin nur schulterzuckend. Manuela zog die Augenbrauen hoch.
„Ist was passiert, weil du heute so demotiviert bist?“
Ja, ihre direkte Art fühlte sich manchmal doch einengend an, wie ich eben wieder feststellen musste. Ich schlug vor, dass wir das auf dem Weg besprechen sollten, da es uns an der Uni nicht viel brachte.
„Weißt du, ich habe Zuhause ja dieses Terrarium aufgebaut. Mit dem einen Schmetterling.“ Sie nickte wissend. „Er ist jetzt schon ziemlich lange in seiner Puppe, länger als es für die Art eigentlich vorgesehen sein sollte und ich mache mir Sorgen, dass er womöglich gar nicht mehr schlüpfen wird. Gegen ein paar Tage ist ja nichts einzuwenden, aber zwei Wochen sind doch viel.“
„Und das ist alles?“, meinte Manuela daraufhin. Meine Augen weiteten sich und ich versuchte, wutentbrannte Tränen zurückzuhalten.
„Ist das nicht schon genug? Ich hatte mich drauf gefreut, einen Schmetterling heranzuzüchten, aber ...“ Ich hielt inne und versuchte mich zu sammeln. „Okay, es ist noch was. Ich weiß nämlich nicht mehr, was ich wegen der Ferienarbeit machen soll. Jede Bewerbung wird abgelehnt und langsam gebe ich die Hoffnung auf, dass mich überhaupt jemand nehmen will.“
Ich ballte meine Hände zu Fäusten, wohl um Manuela davon zu überzeugen, wie ernst mir die Sache war. Sie nickte erneut, nachdem sie zu Ende gelauscht hatte und grinste.
„Okay, dann spielen wir jetzt ‚Gute Fee‘!“
Ich stutzte. Zwar mochte ich übernatürliche Dinge schon gerne, aber warum fing sie jetzt mit so einem Kinderkram an?
„Das ist kein Kinderkram“, fuhr sie unbeirrt fort und machte einen ernsten Eindruck, als sie im Gehen in ihrer Tasche zu wühlen anfing.
Konnte sie jetzt etwa auch noch Gedanken lesen?
„Nein, kann ich noch immer nicht. Und das solltest du eigentlich wissen.“
Mist.
Mit einem Mal jubilierte Manuela und zog einen kleinen Holzstab hervor. Diesen fuchtelte sie mehrere Male durch die Luft und stoppte schließlich, als ich meinen Kopf fragend zur Seite legte.
„Das ist mein Zauberstab“, war ihre trockene Antwort.
„Sieht ziemlich billig aus.“
„Wenn ich zuschlage, tut er trotzdem weh!“, bellte sie daraufhin und ich zuckte zurück. Manchmal war ihre Art von Humor schon seltsam.
„Also, wo waren wir ... Ach, stimmt.“ Sie räusperte sich und hob die Hand mit dem Holzstab. „Oh Kind, das sich in der Dunkelheit verirrt hat, schau mich an. Schau mich ganz fest an!“
Ich verdrehte die Augen. Mit diesen Worten klang sie eher wie ein Hypnotiseur und nicht wie eine Fee!
„Du wirst mir nun deinen Herzenswunsch verraten. Denke allerdings gut nach, welcher dein innigster Wunsch ist, denn nur dieser kann erfüllt werden!“
Mit offenem Mund dastehend wusste ich gar nicht, wo ich anfangen sollte. Zwar hatte ich schon gehört, dass Manuela in der Theatergruppe wohl in all ihren Rollen bis zum Äußersten ging, um sie überzeugend zu spielen, aber selbst außerhalb schaffte sie das auf eine Art und Weise, die mir Respekt einflößte.
Einen Finger auf die Lippen legend blickte ich kurz zur Straße und wusste nach kurzem Nachdenken auch schon schon, was ich antworten sollte.
„Ich wünsche mir einfach nur etwas Glück im Leben. Dass ich die Dinge schaffe, die ich möchte und dass sich auch einmal etwas für mich zum Guten wendet.“
„So sei es!“ Sie fuchtelte erneut mit dem Holzstab, murmelte eine Beschwörung, die in sich vermutlich keinen Sinn ergab und gab mir schließlich den Segen. „Dein Wunsch wurde erfüllt.“
Ich seufzte. „Und was hat das jetzt gebracht?“
Manuela ließ von ihrer angespannten Haltung ab, legte einen Arm auf meine Schulter und suchte wohl nach den richtigen Worten.
„Weißt du, Kerstin, Wünsche sind vorrangig für Dinge reserviert, die in deinem Leben machbar sind. Etwa eine Arbeit finden oder meinetwegen auch anderen etwas Gutes tun. Glück ist etwas, das du nicht so einfach finden und dir schon gar nicht durch einen Wunsch erfüllen lassen kannst. Du musst es schon selbst suchen, um Glück erhalten zu können und daher bist du auch selbst darauf angewiesen, das Beste aus deiner Situation zu machen.“
„Also hast du mich auf den Arm genommen?“
Sie schluckte. „Ja.“ Wusste ich es doch. „Allerdings will ich dir auch von ganzem Herzen sagen, dass ich dir das Glück, um eine gute Arbeit zu finden, gerne geben möchte. Und gegen ein bisschen Magie ist doch nie was einzuwenden, oder?“
Mittlerweile waren wir vor meinem Haus angekommen und ich überlegte kurz. Eigentlich war die Prozedur ja umsonst gewesen, wenn sie es so schnell zugab. Aber wie konnte ich ihr das übel nehmen? Unweigerlich musste ich schmunzeln, da sie doch Mühe in diesen Versuch gesteckt hatte.
„Stimmt. Und du weißt ja, wie sehr ich eigentlich diese übernatürlichen Dinge mag“, antwortete ich mit einem in diesem Fall doch recht gestellten Lächeln. „Danke, dass du mir das so gesagt hast. Ich hab dich lieb.“
Sie lachte daraufhin und umarmte mich zur Versöhnung. „Aber gerne doch! Ist ja nicht das erste Mal, dass ich dich aufheitern musste.“ Sie ließ von mir ab und schien sich plötzlich an etwas zu erinnern. „Sag mal, kannst du mir nachher über Skype vielleicht dabei helfen, ein paar Fotos für eine Präsentation rauszusuchen? Ich muss demnächst etwas über Schmetterlinge vorhalten und kann mich dann sicher nicht entscheiden, welche es sein sollen.“
Meine Stimmung ließ wieder etwas nach, da ich mich an meinen Schützling erinnert fühlte.
„Ja, klar. Natürlich. Hab ja sonst auch nicht wirklich was zu tun.“
„Sieh’s mal so“, meinte sie daraufhin, klopfte mir auf die Schulter und zwinkerte mir zu. „Immerhin kannst du so heute mindestens einen Schmetterling sehen. Ganz egal, ob er nun seine Flügel entfaltet oder nicht. Ich bin mir sicher, dass er einfach nur auf den richtigen Moment wartet, um dich zu überraschen und dann freust du dich umso mehr.“
Wortlos nickte ich und verabschiedete mich schließlich von ihr an Ort und Stelle. Mit einem merkwürdigen Gefühl im Bauch ging ich zur Haustür und merkte erst hier, wie angenehm kühl es im Vorraum eigentlich war.
„Schatz, du hast einen Brief erhalten“, rief meine Mutter, die gerade aus dem Wohnzimmer lugte und wedelte dabei mit einem Umschlag.
Ich riss ihr denselben aus der Hand, nahm den kürzesten Weg die Treppe hoch und trat in mein Zimmer ein. Ohne noch den Brief angesehen zu haben, blickte ich zu meinem kleinen Terrarium und glaubte, dass sich dort etwas sichtlich bewegt hatte. Neugierig begab ich mich auf die Knie, um auf einer Höhe mit dem Schaukästchen zu sein und sah, dass die Puppe aufgebrochen wurde. An ihrer Stelle flatterte nun ein Schmetterling durch das Terrarium: Ein Blauschwarzer Eisvogel, der besonders durch seine dunkelblauen Flügel und das weiße Muster auffiel.
Meine Augen weiteten sich. Sofort riss ich den Umschlag auf, überflog geschwind die Zeilen und musste plötzlich zu lachen anfangen. Ich legte das Papier behutsam auf den Schreibtisch, ließ die Finger knacken und startete den Laptop, der auf meinem Bett lag, um Manuela anzuschreiben.
Scheint so, als hätte heute nicht nur die Raupe ihre Schmetterlingsflügel entfaltet.
Wünsche sind vielfältig. So vielfältig, dass man ihre Bedeutung gar nicht in wenigen Worten zusammenfassen zu vermag. Manch einer behauptet sie seien die Personifikation der Sehnsüchte eines Menschen. Andere halten dagegen und sprechen von Träumen oder gar Wundern. Du hingegen machtest dir darüber keine Gedanken. Sehnsucht, Traum oder Wunsch – was spielte das schon für eine Rolle? Es war irrelevant, als was man sie letztendlich bezeichnen wollte; schließlich ist alles in einer gewissen Art und Weise vom Blickwinkel abhängig aus dem man es betrachtet. Und da jeder Mensch bekanntlich anders sieht und fühlt, könnte man sich auch über das Wetter unterhalten, als das man in der Lage wäre, eine eindeutige Definition von Wünschen zu erarbeiten. Zumindest war das deine Meinung.
Mit einem vagen Lächeln betrachtetest du deinen Schreibtisch. Deine Mutter würde dir wohl die Ohren lang ziehen, wenn sie das hiesige Chaos sehen würde. Eine leere Flasche, unzählige Papierschnipsel, Bücher, Stifte, Notizen, Skizzen… alles was ein Künstlerherz begehrte, konnte man auf deinem Tisch finden. Aber wie sagte man sie schön: was sie nicht weiß, macht sie nicht heiß. Davon abgesehen warst du ohnehin aus dem Alter raus, in dem du dir noch sonderlich viel sagen ließt, wenngleich das deine Frau Mama nicht wirklich interessierte. Eltern… nervten des Öfteren und dennoch waren sie das Wichtigste in Jedermanns Leben. Dein Mundwinkel zuckte belustigt, als du darüber nachdachtest, wie ihr euch zu Zeiten deiner jüngsten Jahre gegenseitig das Leben zur Hölle gemacht hattet. Abgesehen vom Treppengeländer, einigen Vasen und Glasgegenständen, der Wohnzimmertür und des Wandregals war zum Glück nie jemand wirklich zu Schaden gekommen. Ohnehin wurde es mit der Zeit immer schwieriger Streitpunkte zu finden; meist musstet ihr irgendwann anfangen zu lachen, weil ihr euch der eigenen Dummheit und der Sinnlosigkeit der Situation bewusst wurdet. Aber trautes Glück im Heim allein wurde wohl nicht jedem Teenager vergönnt.
Nachdenklich schautest du aus dem Fenster. Es hatte beinahe den Anschein, als wenn der Wind mit den hohen Baumwipfeln der Tannen spielen würde. Sanft stupste er sie an; immer und immer wieder. Es ähnelte einem Spiel mit seinen ganz eigenen Rhythmus. Dabei schoben sich einige Bilder der Vergangenheit in dein Bewusstsein. Konfliktsituationen mit ehemaligen Schulkameraden und unzählige Diskussionen mit alten Freunden. Du erinnertest dich noch sehr gut an all dies; so, als wenn es erst gestern passiert wäre. Die Probleme waren damals so vielfältig wie die Blätter eines Baumes im Herbst. Du schmunzeltest. Die erste Liebe, Klassenfahrten, Klausuren… und die allseits gefürchtete Frage, was man denn nach seinem Abschluss weiterhin tun wird. Würde dich heute jemand danach fragen, so würdest du wahrscheinlich mit einem sanften Lächeln auf deinen Schreibtisch deuten. Die ungläubigen Blicke genießen und dich innerlich darauf einstellen, dich gleich erklären zu müssen. Seufzend wandtest du dich vom Fenster ab und schlosst einen Moment die Augen.
Wie oft dachten Menschen eigentlich über die „Was-wäre-wenn“-Frage nach? Es war dir schleierhaft, warum man dies eigentlich tat. Dennoch kamst du nicht umhin, dir genau dieselbe Frage von Zeit zu Zeit zu stellen. Es waren wohl die eigenen Sorgen, die einen dazu trieben. Und sollte man gescheitert sein oder es nicht so verlaufen sein, wie man sich das vorgestellt hatte, so würde man sich wohl der Wünsche bedienen. Und damit warst du wieder beim Ausgangspunkt deiner heutigen Gedanken. Generell betrachtet begleiteten Wünsche einen das gesamte Leben. Sie veränderten sich nur mit dem Älterwerden. Angefangen mit der Wunschliste des Weihnachtsmann, hinweg über jugendliche Träume und Spinnereien, bis hin zu den Sehnsüchten eines Erwachsenen. Du selbst ertapptest dich auch in den harmlosesten Situationen dabei, wie du dir etwas wünschtest; sei es auch nur, dass der Bus heute mal nicht zu spät kommen würde. Es gab wohl nichts im Leben eines Menschen, was so aussagekräftig sein konnte, wie ein stummer oder lauter Wunsch.
Du öffnetest die Augen und zogst ein Blatt Papier hervor. Die gesetzten Linien tanzten wie von selbst über das Blatt. Geradezu akribisch achtetest du darauf, dass es erkennbar und gut lesbar war. Warum nicht ein kleines Experiment wagen? Was konnten Wünsche über einen Menschen aussagen und was waren Wünsche, die ein jeder verspürte? Du wolltest es wissen. Es interessierte dich schlicht und ergreifend. Davon abgesehen verfolgtest du auch ein ganz besonderes Ziel damit, dessen Tragweite du dir zu Beginn noch nicht einmal in deinen kühnsten Träumen ausmalen konntest. Zufrieden betrachtest du dein Werk, ehe du deine Jacke ergriffst und zur Tür hinaus eiltest.
~
Einige Wochen später standest du im großen Park deiner Stadt und beobachtest mit einem Lächeln, wie die unterschiedlichsten Menschen um dich herum wuselten. Der sonst eher ruhigere Ort war gut gefüllt, hier und da hörte man ein Lachen oder ein erfreutes Aufschreien. Es machte dich glücklich und das auf eine Art und Weise, die man in der heutigen Zeit nur selten kannte. Es war die Freude darüber, wie sich andere Menschen selbst freuten. Du liefst stumm durch die Reihen der Menschen, um in das eigentliche Zentrum zu kommen. Auf deinem Weg achtetest du immer mal wieder darauf, was um dich herum geschah. Zu deiner linken bekam gerade eine Frau mittleren Alters eine blaue Rose geschenkt. Auf deiner rechten erfreute sich ein Mann im Rollstuhl einer einfachen Umarmung einer ihm wohl fremden Frau. Neugierig bliebst du stehen und schnapptest ein paar Wortfetzen auf.
„Ich dachte ich würde dich nie wieder sehen…“, der ältere Herr schniefte, „… ich bin so unglaublich froh, dich wieder in meine Arme schließen zu können, mein Kind. All meine Wünsche und Hoffnungen…!“
Erneut fingst du an zu lächeln und dieses Mal blieb es auf deinem Antlitz; als wenn es dort eingearbeitet wäre und nie wieder verschwinden würde. Du wusstest nicht, aus welchem Grund sich die beiden wohl verloren hatten. Aber das musstest du auch nicht. Es machte dich nur unglaublich glücklich, dass ein einfaches Blatt Papier wohl dazu beigetragen hatte, einen Herzenswunsch zu erfüllen. Und wo du gerade daran dachtest: vor dir offenbarte sich der Ort, an dem alles sein Lauf genommen hatte. Vor ein paar Wochen war hier nur ein einzelnes Blatt Papier gewesen. Dein Blatt Papier mit der Aufschrift: „Was wünscht du dir?“ Nun lagen hier viele Blätter kreuz und quer auf dem Rasen verteilt oder auf eine der Pinnwände, die im Laufe der Zeit organisiert wurden, geheftet. Du beobachtest einige dabei, wie sie Zettel dazu pinnten oder sich den einen oder anderen genauer ansahen, nur um mit einem Lächeln zu nicken. Wiederum andere liefen mit einem Blatt vor der Brust durch den Park, um besonders viele Menschen auf ihren Wunsch aufmerksam zu machen.
Du hattest nicht im Traum daran gedacht, dass so unglaublich viele Menschen auf die Idee kommen würden, es wirklich zu tun. Und noch weniger hattest du erwartet, dass es dazu kommen würde, dass sich diese ganzen Menschen, die sich wahrscheinlich noch nicht einmal kannten, gegenseitig den einen oder anderen Wunsch erfüllten. Und genau das war es, was dich selig lächeln ließ. Was ein Mensch eventuell nicht erreichen konnte und für ihn auch immer unerreichbar bleiben würde, war für einen anderen unter Umständen vielleicht kein Problem. Unmögliches wurde möglich gemacht! Träume, Hoffnungen, Sehnsüchte - Dinge, die niemals so passieren würden, wurden mit der Hilfe aller hier befindlichen Menschen wahr. Selbst die Nachtigall würde am Tage singen.
Es ist ein Abend wie jeder andere. Das rede ich mir zumindest ein. Der Tag endet wie auch der vorherige geendet hat. Ich will nicht nachdenken. Also lege ich mich ins Bett, ziehe mir die Decke über den Kopf und öffne Musik auf meinem Handy. Lieder klingen so anders, wenn man sie im Dunkeln hört. Als gäbe es nichts mehr außer den Melodien und mir selbst. Doch heute kann nicht einmal die Musik mich ablenken.
Frustriert ziehe ich mir die Kopfhörer aus den Ohren und starre an die Decke. Ich werde das beklemmende Gefühl nicht los, das mich seit Tagen, Wochen begleitet, wenn ich an sie denke. Das letzte Mal, als ich sie gesehen habe, ist schon wieder viel zu lange her. Aber es gibt niemals ein oft genug, wenn jeder Tag der letzte sein kann.
Es gibt Wünsche, an die man lächelnd denkt, wenn man eine Wimper in den Wind haucht oder eine Kerze auspustet. Und es gibt die, die dich nachts nicht schlafen lassen, weil du nichts lieber willst, als dass sich dieser Wunsch erfüllt. Und selten, ganz selten, wünscht du dir, du hättest niemals auch nur diesen Gedanken im Kopf gehabt.
Ich hoffe, ihr geht es gut.
Ich hoffe, es hat bald ein Ende.
Meine Augen fallen zu.
Die drohende Dunkelheit hängt schwer über dem riesigen See, dessen Grund nicht ein einziger Lichtstrahl erreicht. Hohe Berge ragen zerklüftet in den Himmel. Die Oberfläche ist spiegelglatt; nur ein einziges Boot treibt verloren auf dem dunklen Wasser.
Eine junge Frau rudert auf einen Felsvorsprung zu, den Blick starr nach vorn gerichtet. Es gibt unzählige Geschichten über diesen See gehört, Legenden über riesige Schlangen und mächtige Wasserdrachen, die rastlos die ewigen Tiefen durchstreifen. Doch die Frau hat diese Gedanken aus ihrem Kopf verbannt, konzentriert sich vollkommen darauf, das winzige Boot, das eher einer Nussschale gleicht, an die Felswand zu manövrieren. Das morsche Holz knarzt laut, als sie sich aufrichtet, um sich an einem Vorsprung hochzuziehen. Vor ihr liegt ein grober Pfad, vor Jahrhunderten in den Fels geschlagen. Hinter ihr treibt das Boot lautlos auf den See hinaus.
Die Frau richtet ihren Blick nach oben; das Ende des Weges, der sich entlang des Felsens windet, liegt in undurchdringlichem Nebel. Entschlossen folgt sie dem Pfad. Noch immer hängt der Tag zwischen Abend und Nacht, es ist weder hell noch vollkommen dunkel. Der Nebel und tiefe Regenwolken tauchen die Welt in ein tristes Grau. Während sie endlos einen Schritt vor den anderen setzt, zeichnen sich in ihrem langen schwarzen Haar deutlich helle Strähnen ab, als würde ihre Umgebung sie voll und ganz durchdringen. In ihren Zügen zeichnet sich deutlich die Anstrengung ab, Falten durchziehen ihr Gesicht und ihre Schritte werden langsamer. Doch die Frau unternimmt keine Anstalten, stehen zu bleiben, immer weiter kämpft sie sich den Berg hinauf. Während der Nebel um sie herum immer dichter wird, weicht jegliche Farbe von ihr und hinterlässt blasse Haut und aschgraues Haar.
Ihr Atem geht keuchend, hin und wieder mischt sich ein rasselndes Geräusch unter ihre Atemzüge, bis sie nur noch röchelnd nach Luft schnappt. Mit einer gebrechlichen, von Falten durchzogenen Hand stützt sie sich an der Felswand ab. Ihr Fuß zittert unkontrollierbar, als sie einen weiteren Schritt geht und sich unter größter Anstrengung zwingt, ihren Weg fortzusetzen. Der Blick der Frau ist vollkommen leer. Vollkommen kraftlos bricht sie auf dem schmalen Pfad zusammen. Steine bohren sich schmerzhaft in ihre Handflächen. Krampfhaft bemüht sich die alte Frau, sich wieder aufzurichten. Gestein löst sich vom Rand des Pfades und fällt rechts von ihr in die unendliche Tiefe. Mit allerletzter Kraft erreicht sie auf allen Vieren ein Plateau.
Vor Erleichterung treten ihr Tränen in die Augen, als sie sich in einer Höhle wiederfindet. Kerzen werfen ein schwaches Licht auf die Felswände. Die Frau kauert sich auf dem Boden zusammen, während ihre Glieder langsam aufhören zu zittern und zwei letzte, schwere Atemzüge ihrem Körper entweichen. Vollkommen still liegt sie da, ein Lächeln auf den Lippen.
Ich wache auf, weil jemand an meine Zimmertür klopft. Es ist noch dunkel, viel zu früh am morgen. Ich blinzle gegen das schwache Licht, das aus dem Flur durch die geöffnete Tür fällt.
Meine Mutter kommt an mein Bett, sieht mich stumm an. Sie hat Tränen in den Augen.
Zittrig hole ich Luft. Es ist vorbei.
Es war kalt, Peter konnte seinen eigenen Atem sehen. Die Kälte kroch mühelos durch den löchrigen Schlafsack und seine zerrissenen Lumpen bis tief in seine Knochen. Mit einem tiefen Gebrumm erhob sich Peter und sah sich um. Während er geschlafen hatte, hatte es geschneit. Der Winter stand vor der Tür. Der Boden um ihn herum war von einer dünnen weißen Schicht bedeckt, er hatte selbst nur nichts abgekriegt, weil er unter dem Vordach eines Geschäfts geschlafen hatte. Langsam schälte sich Peter aus seinem Schlafsack. Seine Glieder waren steif, er streckte sich kurz und rollte dann den Schlafsack zusammen, denn der Besitzer dieses Ladens musste bald kommen und der mochte keine Obdachlosen. Als Peter aufbrach, ließ er die Schnapsflaschen, die er am Vorabend ausgetrunken hatte vor der Tür des Ladens stehen.
Für ihn war der Beginn eines jeden Morgens fast so routiniert wie er es für die meisten „normalen“ Leute war. Während andere sich jeden morgen die Zähne putzten, sich anzogen und frühstückten, schälte sich Peter jeden Morgen aus dem Schlafsack, verfluchte sein Leben und machte sich dann auf den Weg. Jeden Morgen ging es zur Fußgängerzone, zu Peters „Arbeitsplatz“. Früher hatte auch er sich die Zähne geputzt, sich angezogen und gefrühstückt, damals als er noch als Maschienenschlosser gearbeitet hatte. Dann aber ging die Firma, für die er arbeitete pleite, ihm wurde gekündigt. Immer wenn ihm nun von Passanten gesagt wurde, er solle sich einen Job suchen, möchte er am liebsten herzlich lachen. Niemand stellt einen 55-Jährigen neu ein. Diese Leute denken immer, er hätte nie etliche Bewerbungen geschrieben, etliche Absagen erhalten. Als sich dann Miriam scheiden ließ ging es ganz schnell: Das Geld reichte wegen der Unterhaltszahlungen für die drei Kinder hinten und vorne nicht, er konnte die Miete nicht mehr bezahlen und eh er sich versah, war er auch schon auf der Straße gelandet.
Peter kam wie jeden morgen am Hauptbahnhof vorbei. Die Uhr, die an der vorderen Fassade unter dem DB-Zeichen hing zeigte 8:27 Uhr. Eigentlich war es zu früh, um jetzt schon auf der Fußgängerzone zu betteln. Gehetzte Arbeiter, die zu ihrem Arbeitsplatz hechten, haben nie Zeit, um sich mit irgendeinem Obdachlosen auseinander zu setzten, aber wo sollte er schon hin. Peter bog rechts ab, ging ein paar hundert Meter und war schließlich angekommen. Morgens war die Fußgängerzone eigentlich am schönsten. Es war noch nicht so voll, dass man erst einmal mit fünf anderen Fußgängern zusammenstieß, bevor man endlich den Laden erreicht hatte, zu dem man wollte und es war angenehm still. Peter ließ sich auf seinem Stammplatz, vor den Schaufenstern einer „Müller“-Filiale nieder. Vorher rollte er den Schlafsack auf, um nicht auf dem Schnee sitzen zu müssen und legte seinen Hut umgedreht vor sich, damit er diesen Platz nicht ohne etwas Kleingeld verlassen musste.
Diese ungewohnte Stille hatte etwas beruhigendes und es fing auch noch an leicht zu schneien.
Alles sah so friedlich aus, dass Peter plötzlich wieder die Müdigkeit befiel. Nach kurzer Zeit übermannte ihn der Schlaf.
Er erwachte genau so plötzlich wie er eingeschlafen war. Von der stillen, nicht so vollen morgendlichen Fußgängerzone war nichts mehr übriggeblieben. An ihre Stelle war eine andere Fußgängerzone getreten: Menschen überall und ein ungeheurer Lärm – und dann dieses Kreischen. Moment, Kreischen war selbst für diese Fußgängerzone nicht normal. Peter drehte alarmiert den Kopf in die Richtung, aus der das Kreischen kam. Er sah ein Mädchen – wahrscheinlich um die 16 Jahre alt – das vor dem Schaufenster eines benachbarten Bekleidungsgeschäftes stand und mit den Händen vor dem Mund aufgeregt auf der Stelle hüpfte. Plötzlich schrie sie mit einer Stimme, die sogar den Lärm auf der Fußgängerzone übertönte: „O mein Gott, 70% auf alles. Was bitte soll man sich bei diesen total süßen Kleidern mehr wünschen?“ Und schon war das Mädchen durch die Eingangstür verschwunden. Es war einer dieser Momente, in denen Peter gerne gelacht hätte, wenn nicht alles so traurig wäre. Er hatte da sicherlich noch so einige Wünsche: Ein Bett wäre schön, seinem Rücken tat das Schlafen auf dem Boden nämlich gar nicht gut, auch eine Waschmaschine wäre ganz nett, denn er trug seit mehr als einem Monat dieselben ungewaschenen Lumpen. Außerdem wäre sein altes Leben gar nicht so schlecht, eine richtige Arbeit von der man leben könnte, Menschen, die einen lieben, keine Notwendigkeit, seine Sorgen, das Leid und den Schmerz jeden Abend aufs neue in einem Meer aus Alkohol ertrinken zu müssen.
Peter war am Ende. Er konnte nicht mehr an sich halten. Er senkte den Kopf und fing an zu weinen.
Ein neues Jahr, doch dieselbe Aufgabe. Meinen Bruder finden. Ich fühlte mich in der Familie, in der ich aufwuchs, schon immer ein bisschen komisch. Sonderbar. Anders. Als ich an meinem 18. Geburtstag aber erfuhr, dass ich adoptiert war, wurde mir klar warum ich mich so fühlte. Das ist etwas, mit dem man nicht rechnet, niemals und fühlt man sich noch so verschieden. Dass ich noch einen Bruder hatte, wurde mir auch nicht sofort erzählt, erst, als meine Adoptiveltern mitbekamen, dass ich mehr über meine richtige Familie erfahren wollte. Das Gute war, dass sie mich dabei sogar unterstützten; Sie gaben mir meine Geburtsurkunde und schließlich verrieten sie mir auch, dass ich noch einen Bruder hatte, anfangs überlegten sie sogar, uns beide zu adoptieren, aber sie wussten, dass ein Kind erst einmal genug Arbeit machte. Irgendwann letztes Jahr, begab ich mich dann in meine Geburtsstadt, in der Hoffnung, im Rathaus oder sonst wo, Informationen über meinen Bruder oder sogar meine Eltern zu bekommen - doch Fehlanzeige.
Die Suche machte mich müde und dabei verbrachte ich noch nicht einmal zwölf Monate damit, wie sollte die Zukunft da bloß aussehen. Fortschritte waren so selten und minimal, dass sie mich zeitweise eher müde machten, als zufrieden.
Und was ist, wenn er mich nicht kennen lernen wollen würde? Wenn am Ende wirklich alles vergebens war? Was mache ich dann? Manchmal ist es tatsächlich so, dass ich in meinem Tun keinen Sinn sehe. Manchmal konnte ich nur negativ denken und dieses manchmal trat in den letzten Wochen vermehrt auf.
Und irgendwann kamen wieder Fragen auf. Ob er es auch mit seinem 18 Geburtstag erfahren hatte, oder viel eher und mich schon früher zu suchen begann, oder er es vielleicht gar nicht erst versuchte? Vielleicht hatte er es aber auch noch nicht gesagt bekommen. Vielleicht lebte er sein Leben unbekümmert so weiter, mit dieser Information, wunderte sich kurz, verschwendete dann aber keine weiteren Gedanken an seine Familie, die ihn damals nicht wollte. Nur weil ich mich komisch, sonderbar und anders fühlte, musste das nicht auch auf ihn zutreffen. Und manchmal malte ich mir meine Kindheit aus, wie sie vielleicht ohne die Adoption gewesen wäre. Wie ich glücklich mit meinem Bruder aufwuchs und wir unzertrennlich waren. Immer auf den anderen zählen zu können, Mist zusammen anzustellen - das alles war nur Wunschdenken und obwohl es mir nichts außer Trauer brachte, verbrachte ich auch damit immer wieder Minuten und Stunden.
Man hatte mir schon oft gesagt, dass ich doch einfach nicht mehr daran denken sollte, als würde es die Tatsache der Adoption dann ungeschehen machen, oder als könnte ich das wirklich vergessen. Die Menschen können sich nicht vorstellen, wie schwer es ist, nicht an seine Herkunft zu denken, wenn sie ungewiss ist.
Wenn man mich also fragen würde, was ich mir für 2016 wünsche, dann wäre es fündig zu werden; meinen Bruder endlich zu finden.
Positiv denken war der Schlüssel! Es ist die Antwort auf alles.
Ich sitze hier und habe absolut keine Ahnung, was ich in meine Kurzgeschichte schreiben soll. Es ist der erste Wettbewerb der Saison und ich will nicht schon wieder ohne Abgabe dastehen, wo ich mir vorgenommen habe, an jedem Wettbewerb teilzunehmen. Ursprünglich wollte ich von fliegenden Schweinen, weltreisenden Pinguinen oder langhalsigen Giraffen schreiben. Dann hatte ich aber keine Ahnung, was die sich so wünschen könnten. Vielleicht einen BigMac und eine große Cola? Nein. Das klingt zu sehr nach dem amerikanischen Durchschnittsbürger, von dem ich mich lieber distanzieren möchte. Ich habe zwar nichts gegen Amerikaner, aber die sind mir im Zweifelsfall dann doch zu amerikanisch. Also musste was Anderes her. Vielleicht ein Kieselstein, der sich darüber aufregt, dass ihn Kinder achtlos in den Teich werfen. Nö. Das habe ich irgendwann mal gelesen. Nur ging die Reise halt durch eine Ratte. Also. Wer kann sich etwas wünschen, das wir noch nicht gelesen haben?
Am Besten mache ich erstmal einen Spaziergang. Im Park können sich die rosa Elefanten austoben und die quietschgrünen Gummieinhörner anlocken. Dann kommen wieder neue Ideen.
Ich gehe also die Straße entlang, den üblichen Weg zum Park entlang. Ich biege um die Ecke und bamm! Plötzlich ist da kein Park mehr, wo gestern noch einer war. Hab den doch selbst dahin gelegt. Ist schließlich meine Geschichte hier. Ich bin übrigens George. Der sogenannte Protagonist der Geschichte. Irgendwie ist es paradox, wenn ich eine Geschichte schreiben will und gleichzeitig die Hauptfigur bin. Findest du? Da könntest du richtig liegen, aber ich habe zwei Tage vor Abgabe keine Zeit, mir einen Protagonisten auszudenken und mich dann auch noch mit seinen Problemen rumschlagen zu müssen. Mein Problem ist viel schwerwiegender. Ich brauche eine Geschichte. Wie so einer von diesen BILD-Reportern. Mit dem Unterschied, dass ich zu würdig bin, um über Profitratsch, Dschungelcamp und nackte Frauen zu schreiben. Ich suche eine Geschichte mit Niveau.
Ich mache einen Schritt und falle in eine bodenlose Frechheit. Ich meinte natürlich ein bodenloses Loch. Ich lande etwas unsanft auf meinem Hosenboden. Warum ist das Gras hier pink?
Ich merke, dass ich genau in dem Park sitze, den ich vorhin verloren habe. Nur als ich ihn verloren habe, war er noch mit grünem Rollrasen ausgestattet. Jetzt ist er pink. Vor mir steht eine gelb-braune Giraffe, die mit einem der rosanen Elefanten ein Glas Champagner trinkt. Irgendwo spielt ein schwarz-weißer Pinguin mit einer Gummiente Baseball. Der Ball trifft mich am Kopf und ich spüre einen Schmerz, als hätte mich ein Tiger in den Fuß gebissen.
Also einer von den quietschgrünen Exemplaren, die so selten sind. Farbecht sind die auch nicht. Das ist nur quietschgrüner Lack. Eigentlich sind die blau-weiß gestreift.
Ich will hier nur weg. Ich klettere auf den nächten Baum, um Ruhe vor dem Unsinn um mich herum zu haben. Auf dem Baum ist ein Baumhaus, das von ihnen großer ist, als es von außen den Anschein hatte, wie ich beim Betreten erstaunt feststelle.
„Hey. Das nächste Mal klopfst du bitte vorher an!“, brüllt mich jemand an. Ich neige ein wenig den Kopf um es besser erkennen zu können. An einem teakfarbenen Schreibtisch aus Holz sitzt eine schleimige graue Masse, die von Furchen durchzogen ist. Sie hat eine dampfende Tasse Kaffee in der Hand.
„Ähm. Ich wollte nur mal kurz etwas Ruhe vor dem Gedöns da unten haben.“, sage ich mit einem kurzen Blick in den Park hinunter, „wäre nett, wenn ich eine Weile hierbleiben könnte, Herr…“, ich bin noch unsicher, wen ich da vor mir habe.
„Hirn, der Name. Ge Hirn, wenn es recht ist. Ich bin hier der Verwalter des Ressorts für Verschwendung von wichtigen Denkkapazitäten an rosa Elefanten. Kurz: RVDE. Wenn Sie fragen haben, hilft ihnen auch unsere Kundenberatung weiter.“
Etwas verwundert schaue ich den seltsamen Kerl an. Ich werde aus dem nicht so wirklich schlau.
Wie aus dem Nichts schnellt eine glibberige Zunge aus der grauen Masse hervor und zieht mich in sich wie ein Chamäleon eine Fliege fressen würde. Als sich die Klappe schließt, wird mir schwarz vor Augen.
Mit einem leisen Schrei wache ich auf. Ich schaue auf die Uhr. 2:43. Nur ein Traum. Ziemlich bizarr, aber ok. Muss wohl daran liegen, dass ich zuviel gelesen habe.
Ich gehe hinüber an den Schreibtisch. Wenn ich schonmal wach bin, kann ich auch etwas schreiben. Wo ich gestern ein leeres Blatt Papier zurückgelassen habe, auf dem ich eine Kurzgeschichte aufschreiben wollte, schreibt sich wie von allein eine Geschichte über einen verwirrten Schriftsteller, der unbedingt Ideen für eine Geschichte sucht. Das kann sich doch sehen lassen.
Manchmal, da wäre ich gerne ein Nilpferd. Mit ganz vielen bunten Streifen und kleinen Flügelchen hinter meinem Geweih. Dann könnte ich den ganzen Morgen lang mit den Giraffen am Nachthimmel schwimmen. Oder ich könnte den Mond erklimmen. Hach ja, so ein Leben muss schon toll sein. Manchmal, da wäre ich halt einfach gerne ein Nilpferd.
Langsam öffnete ich meine leicht verklebten Augen, blickte stur die weiße Decke, etwa zwei Meter über meinem Kopf, an. Minutenlang bewegte ich mich nicht, lag regungslos auf dem Boden. Warum war die Decke nicht blau? Oder rot? Ja, meinetwegen sogar ein quietschendes rosa. Aber weiß? So ein Schwachsinn! Man spürt einfach keinerlei Emotionen, wenn man aufwacht und sofort diese neutrale Schicht von Farbe erblickt. Der ganze Raum war in Neutralität versunken, bloß kein Aufsehen erregen. Weiße Wände; ein hölzerner, aber doch schon ziemlich mitgenommener, Boden; hölzerne Möbel: ein altes Radio, in einem alten Regal. Schlichter ging es kaum, schlechter jedoch auch nicht. Ich musste nicht um mich herum blicken, wusste was sich wo befand. Nein, stattdessen fokussierten meine inzwischen immer klarer sehenden Augen noch immer die frustrierend langweilige Decke über mir. Ich drehte meinen Kopf enttäuscht zur Seite ab, schloss meine Augen hektisch.
„Wissen Sie ...“, hatte er am Vortag in einer doch recht tristen Stimmung seinen folgenschweren Satz eingeleitet. Er musste kurz schlucken, einmal tief Luft holen. Man konnte ihm anmerken, dass ihm die scheinbar notwendige Routine noch gefehlt hatte, vielleicht kommt diese Art von Routine aber auch nur bei Zynikern. Oder auch gar nicht. Vielleicht hätte ich den Satz einfach übernehmen sollen, das wäre schneller gegangen. Schneller, ja, es wäre schneller gegangen.
„Wissen Sie ...“, wiederholte er sich, „in Anbetracht Ihres sich verschlechternden Zustandes haben Sie vermutlich noch etwa eine Woche, maximal zwei.“ Er wirkte irgendwie traurig. Traurig und monoton. Er sollte nicht traurig sein, nein – ich war es immerhin auch nicht, wieso also hätte er es sein sollen? Es war sein Job, er kannte mich noch nicht einmal, wieso also ... ach, es war mir egal. Es war ohnehin unbedeutend für mich.
Ich dachte nach. Wäre ich genau in diesem Moment aufgestanden; am Tisch, direkt vor dem mit Vorhängen verschlossenem Fenster, vorbeigegangen; bis hin zu dem kleinen Regal mit dem Radio, dann hätte ich auf dem untersten Brett ein paar alte Bücher gefunden. Romane, Gedichtsammlungen, verschiedenste Werke. Ich hätte wohl zwei, drei dieser Bücher gegriffen und mich dann damit an den Tisch gesetzt. Auf dem Tisch selbst hätte ich dann ein paar ungeöffnete Briefe entdeckt: Rechnungen, Mahnungen, Werbung. Unnötig verschwendetes Papier. Ich hätte ein kleines, sehr dünnes Buch mit einem grünen Umschlag geöffnet. “Gedichte“ wäre sein Titel gewesen. Mehr nicht, passend zur Schlichtheit des gesamten Raumes. Entgegen meiner eigentlichen Vorstellungen zum Leben wäre es ein Werk der Romantik gewesen, ich hätte ein paar Seiten überblättert und schließlich die kürzesten dieser 'Gedichte' gelesen. Viel Zeit blieb mir ja ohnehin nicht, hätte ich dabei vielleicht etwas verkrampft gedacht. Nach wenigen Minuten, dem vielleicht dritten Gedicht, hätte ich das Buch zur Seite geschoben. Ich hätte einen kurzen Moment gewartet, noch einmal den grünen Umschlag bewundert und dann nach dem nächsten Buch gegriffen.
Ich öffnete für einen kurzen Moment meine Augen, betrachtete das Regal in der Ferne. Stille. Meine Gedanken waren leer. Ausharren. Den Moment akzeptieren, die vorübergehende Leere akzeptieren und anschließend wieder die Augen schließen, um in Gedanken zu versinken.
Auf dem Umschlag des zweiten Buches wären keine Worte, keine Buchstaben zu finden gewesen. Es wäre lediglich eine Art Block in schwarzer Hülle gewesen, ein leerer Block in Form eines Buches, oder aber ein Buch ohne jeden Inhalt, dazu bereit, gefüllt zu werden. Ich würde sehen, dass ich es in meinem Leben bereits gefüllt hatte, etwa bis zur Hälfte. Beim Lesen hätte ich Namen darin vorgefunden. Namen von Personen, die mich inspiriert hatten, die mich begleitet hatten, die für mich eine Bedeutung trugen. Auf jeder beschriebenen Seite hätte ich exakt einen Namen vorgefunden, darunter jeweils ein Zitat. Vielleicht wäre ich in diesem Moment sogar etwas stolz darauf gewesen, dass die Hälfte gefüllt gewesen wäre. Ja, vielleicht hätte ich ausnahmsweise nicht auf die leere Hälfte geschaut, stattdessen jedoch speziell auf die erste Seite. Auch sie wäre leer gewesen. Ich hätte mich dann daran erinnert, dass ich warten wollte. Warten, wer sich für diese Seite tatsächlich eignen würde. Und ich hatte gewartet, doch nun wäre sie leer gewesen. Dabei hätte ich nicht warten müssen. Seit Jahren wusste ich, welchen Namen ich auf diese, für mich so besondere, Seite schreiben wollte. Ich hätte gezögert. Erneut. Nach langem Überlegen hätte ich im Regal nach einem funktionierenden Kugelschreiber gesucht und mich anschließend wieder vor die leere Seite gesetzt. In dem grünen Buch hätte ich hektisch nach dem einen Gedicht gesucht, welches ich für eben diesen Moment verwenden wollte. Nach gefühlten Stunden des Blätterns hätte ich es gefunden und die “Winternacht“ mit zittriger Handschrift übertragen.
Ich atmete ganz langsam, dachte wirklich kurz darüber nach, meine Gedanken umzusetzen, zu real wurden mir die Vorstellungen. Es war ein bedrückendes Gefühl, zu wissen, dass es vielleicht die letzte Möglichkeit war, diese eine Seite zu füllen.
Ich hätte das Gedicht noch eine Weile betrachtet, bevor ich den Namen tatsächlich darüber geschrieben hätte. Es wäre der letzte Name gewesen, mehr Veränderung hätte das Werk durch meine Hand nicht mehr erfahren. Es wäre fertig gewesen, vollendet. Und doch, ich hätte diese fast symbolische Zeremonie nach einigen Ringen mit mir selbst irgendwann vollzogen. Ich hätte damit abgeschlossen, mir selbst einen letzten Wunsch erfüllt.
Mein Körper begann langsam, zu kribbeln und unterbrach meinen Moment der Stille. Hektisch riss ich meine Augen auf, zuckte plötzlich einmal stark zusammen. Ich versuchte, nach etwas zu greifen, eine Art Griff, an dem ich mich hochziehen konnte. Mit kurzen, leicht humpelnden Schritten lief ich auf das Regal zu, griff nach einem Telefon. Ich setzte mich an den Tisch und starrte auf das Tastenfeld. Meine Pupillen wanderten kreuz und quer von einer Zahl zur nächsten, gaben hunderte Male die eine Nummer ein, die mir so plötzlich im Kopf schwirrte. Minutenlang, wieder und wieder, bis meine Finger sich der Aufforderung meiner Augen nicht mehr widersetzen konnten.
Die schier unendliche Prozedur eines Anrufes nahm ihren Lauf. Unterschiedlichste Laute ertönten in unregelmäßigen Abständen, wurden immer dunkler, immer regelmäßiger. Mein Herz pochte. Meine Arme zitterten, das Telefon wurde zu einem Klotz aus Blei. Vergeblich versuchte ich, mich zu beruhigen, starrte wie wild von der Wand, zur Decke, hin zum Regal, wusste nicht …
„Hallo?“
Ruhe. Lautlosigkeit. Totenstille. Ich war wie gelähmt.
„Hallo?“, wiederholte sich die Stimme in einer etwas höheren Tonlage, versuchte dabei, die letzte Silbe noch stärker zu betonen.
„Mh ja, hi“, mehr als drei verlegene Worte verließen meinen Mund nicht. Das reichte, um mich zu erkennen. Sie kannte mich ja, kannte meine Stimme.
Sie sprach nicht, schien auf einen Grund für meinen Anruf zu warten. Oder auf ein viertes Wort. Oder auf was auch immer.
„Ich wollte nur kurz sagen, dass ich gleich bei dir bin“
Sie wartete kurz.
„Du bist gerade in der Nähe?“
„Nein.“
„Aber dir ist schon klar, dass das so fünf Stunden Fahrt sind, oder?“ Sie begann, leise zu lachen. Ein positives Lachen, sie freute sich, auch wenn sie mir nicht ganz zu glauben schien.
„Na und?“ - eine kurze Pause - „Also bis gleich dann!“
Manchmal, da sagen mir Leute, es gäbe keine fliegenden Nilpferde mit bunten Streifen. Man könne morgens nicht am Nachthimmel schwimmen oder den Mond erklimmen. Und trotzdem – manchmal da sollte man sich seine Wünsche so einfach nicht nehmen lassen.
Tagtäglich dasselbe Spiel, tagtäglich die gleichen Menschen, tagtäglich die gleichen Orte. Es änderte sich nie etwas. Dieses Spiel nennt sich „Alltag“ und es ist so trocken, dass selbst eine Welle an Neuerungen es nicht durchnässen kann. Kurz mag es nass bleiben, doch dieser Zustand ist nie von langer Dauer.
Ich hebe den Kopf, löse den Blick von dem Smartphone in meiner Hand, um mein Umfeld zu betrachten. Rechts von mir zwei Freundinnen, links zwei Klassenkameradinnen.Wie Hühner auf der Stange sitzen wir auf der zweiten Treppenstufe und verbringen die Mittagspause damit uns mit unserer Clique zu unterhalten. Es werden Neuigkeiten und Gerüchte ausgetauscht, immerhin will man ja aktuell sein. Ich stopfe mein Handy in meine Hosentasche und wende mich nach links: „Was haben wir gleich?“
Die erste Person dreht den Kopf zu mir und überlegt: „Sport... nein, Englisch. Oder Deutsch?“ Yasmin könnte glatt Ausländerin sein, mit ihrer mittelbraunen Haut und dem runden Gesicht mit den kleinen Augen, doch sie stammt aus der Gegend.
„Englisch war schon richtig“, mischt sich Melissa, welche ganz am Rand sitzt, ein. Ich mustere ihr Profil, während sie ihre Tasche wieder abstellt. Sie ist mittelgroß, schlank und hellblond, durchschnittlicher geht es kaum noch, trotzdem ist sie ziemlich freundlich und keineswegs eine Tussie, zum Glück.
„Danke“, meine ich, was sie aber eh nicht hört, da sie sich bereits wieder Lea zugewandt hat und mit ihr über irgendein Model, das ich eh nicht kenne, diskutiert. Gleichgültig zucke ich mit den Schultern und stehe mit der Mitteilung, dass ich mal auf die Toilette müsste, auf. Ich springe über die letzte Treppenstufe und drängele mich durch den Halbkreis in den Flur. Auch hier herrscht ein reges Treiben, überall stehen oder sitzen Schüler und gehen diversen Tätigkeiten nach. Meistens sind es vergessene Hausaufgaben oder Videospiele, denen die Aufmerksamkeit der Jugendlichen geschenkt wird. Den Anblick gewohnt, gehe ich nach links, wohl wissend, dass die Toilette rechts näher wäre, doch ich bin aktuell nicht scharf auf die Mädchenhaufen, die sich vor den Spiegeln der Haupttoilette tummeln um sich aufzufrischen, so nehme ich den längeren Weg in Kauf.
Die Einzeltoilette am Ende des Flures ist leer, ganz wie erwartet, und während ich mir die Hände wasche, lehne ich den Kopf gegen den kühlenden Spiegel. Eigentlich dürfte ich mich gar nicht beschweren, mein Leben läuft fast schon perfekt. Ich habe gute Noten, einen großen Freundeskreis und einen ruhigen Alltag. Mir bleibt Zeit für meine Hobbys und auch die Ferien rücken in greifbare Nähe, doch alles fühlt sich falsch an. Das Leben, welches ich führe, ist linear und perfekt, doch gerade das stört mich. Seit Jahren kaue ich auf dem selben trockenen Stück Brot herum und kann mich nicht davon lösen. Ob ich jemals können werde? Das schrille Klingeln reißt mich abrupt aus meinen Gedanken. Hastig drehe ich das Wasser ab und stürme wieder in den Flur. Wohl wissend, dass ich nicht weiß, wo ich nun Unterricht habe.
Atemlos erreiche ich den Zebrastreifen, nur um zu sehen, wie mein Bus geradewegs vor meiner Nase wegfährt. Na super, wieder mal umsonst gerannt. Leicht frustriert schlendere ich den Weg, der zum Bushof führt, hinab und ziehe mein Handy aus meiner Jackentasche. Zwei ungelesene Nachrichten, eine von meinem Bruder und eine von meiner Mutter, und einen verpassten Anruf von meiner Oma erwarten mich. Dass manche Menschen aber auch nie lernen, dass ich in der Schule nicht ran gehen kann. Ich entscheide mich dazu, das Gerät wieder weg zu packen und steuere eine leere Bank an, um mich dort hinzusetzen. Ich greife nach meiner Tasche und beginne darin zu kramen, bis ich zwischen Büchern und Heften mein Portemonnaie ausmachen kann. Ich ziehe den weiße, mit Eulen bedruckten, Stoffbehälter aus der Tasche und öffne den Reißverschluss. In diesem Moment legen sich zwei Arme von hinten um meinen Oberkörper und jemand legt seinen Kopf auf meinem ab.
„Na, Bus verpasst?“, fragt der Kopf auf meinem höhnisch. Oh je, Alina hat mich wohl gefunden.
„Ist doch nix Neues“, erwidere ich und löse ihre Arme von mir, um aufzustehen, wobei ich mein Portemonnaie in meiner Jackentasche verschwinden lasse. Alina grinst mich an und läuft um die Bank herum, um mir ein Küsschen auf die Wange zu geben. Stumm nehme ich es hin und bücke mich nach meiner Tasche.
„Und, was geht so?“, erkundige ich mich gespielt interessiert.
„Nichts Interessantes“, seufzt die Braunhaarige und greift in ihre Hosentasche, aus welcher sie eine Zigarettenpackung fummelt, „Bock mit uns abzuhängen?“ Ich schaue an ihr vorbei zum letzten Bussteg, wo eine Gruppe Jugendlicher beisammen steht und laut lacht. Ich nenne sie Bushof-Clique, um überhaupt eine Bezeichnung für sie zu haben. Eine richtige Clique sind sie eigentlich nicht, vielmehr eine Anhäufung an zufälligen Personen, die zusammen rauchen und Neuigkeiten austauschen. Steht man nachmittags bei ihnen, hat man schnell das Gefühl, jeden von ihnen zu kennen, doch trifft man sich in der Stadt, wird nicht mal ein Nicken ausgetauscht. Inoffizielles Mitglied bin ich wohl durch Alina, welche ich bereits sein ein paar Jährchen kenne, geworden.
Nun habe ich also die Wahl dazwischen zwanzig Minuten alleine auf einer Bank zu sitzen oder zwanzig Minuten mit Leuten abzuhängen, die ich nicht kenne. Klingt beides nicht besonders erstrebenswert. Schließlich nicke ich und folge der Braunhaarigen über den, inzwischen recht leeren, Bushof.
Die Gruppe erreicht, grüße ich kurz in die Runde hinein und lasse dann meinen Blick über die einzelnen Gesichter wandern, auf der Suche nach jemandem, den ich kenne. Zur Antwort erhalte ich hier und da ein kurzes Nicken oder ein Winken. Ich meine, den ein oder anderen gesehen zu haben, kann jedoch keine Namen zuordnen, so bleibe ich bei Alina stehen und lausche den Gesprächen.
„Alter, meine Eltern machen so Stress daheim“, klagt einer der Älteren und gestikuliert mit seinen Händen, „Meckerei hier, Meckerei da. Sie wollen gar nicht wissen, was ich will, ihnen geht’s nur um meine Noten!“
„Klingt richtig hart beschissen, Dude“, pflichtet ihm ein anderer bei und zieht an seiner Zigarette.
„Eltern wollen sich immer nur einmischen und bestimmen“, meint nun auch Alina und beginnt sich, einen Pferdeschwanz aus ihrem dichten Haar zu binden. Ich werfe ihr einen Blick zu, während noch ein paar zustimmende Sätze von allen Seiten folgen. Ich hingegen bleibe stumm. Ich würde meine Meinung äußern, hätte ich eine. Doch ich traue mich gar nicht erst, mir eine zu bilden. Denn im Gegensatz zu den anderen hier, führe ich ein einfaches, perfektes Leben. Was die Wenigsten von sich behaupten können, besonders von denen, die gerade mit mir einen Kreis bilden. Ihr Leben ist nicht linear, es hat Auf und Abs, wie eine Achterbahn. Es ist spannend und abwechslungsreich, wie sehr wünsche ich mir, dass auch meines so ist. Ich seufze und plötzlich liegen alle Blicke auf mir.
„Stimmt was nicht?“, erkundigt sich Alina.
„Na ja“, meine ich, „ich wünsche mir ein Leben, das nicht so perfekt linear ist, wie es es aktuell ist. Ich hätte gerne mehr Action und so. Wenn ihr versteht, was ich meine.“
„Wenn du dein Leben ändern willst, dann tu es einfach“, kommt es wieder von Alina und sie legt mir die Hand auf die Schulter.
„Aber übertreib es nicht, irgendwann kommst du nicht mehr auf den alten Weg zurück“, fügt jemand hinzu. Ich sehe zwischen den einzelnen Personen hin und her.
Alina legt mir den Arm um die Schulter: „Sei nicht unsicher, wenn es jemand kann, dann du.“
Ich sehe in die Ferne, folge den Wolken mit meinen Augen und denke nach. Über die Worte der anderen. So habe ich das alles noch nie gesehen, aber wenn ich so darüber nachdenke, erscheint es mir logisch. Wer soll mein Leben denn ändern, wenn ich es nicht tue? Ich seufze laut auf. Auch wenn mir das nun klar ist, wirkt dieser Wunsch doch so weit entfernt. Wie soll ich ihn mit so kurzen Armen ergreifen? Ich kann doch nicht mein Leben von dem einen auf den anderen Tag ändern. Ich drehe mich um und gehe weiter den Landweg richtig Zuhause entlang. Als ich eine Wiese erreiche, bleibe ich stehen und gehe auf die grüne Fläche zu, bücke mich und knicke eine Pusteblume ab. Zu dieser Jahreszeit blühen sie überall in Mengen und so langsam habe ich mich eigentlich sattgesehen, doch ich kann dem Drang nicht wiedererstehen. Sanft puste ich gegen die weiße Blume und sehe dabei zu, wie sich die einzelnen Achäne lösen und davon getragen werden. Besonders weit kommen sie mit ihrem ersten Flug nicht, doch dann nimmt der Wind sie wieder auf, lässt sie wieder ein Stückchen fliegen und sie dann wieder aufkommen. Sie sind beeindruckend, denn sie brauchen weder Flügel noch Federn zum Fliegen. Sie können etwas, was ihnen eigentlich verboten ist. Ich lasse den Stängel fallen und mache kehrt, gehe zurück. Dabei angele ich mein Handy aus meiner Tasche, um meiner Mutter zu schreiben.
„Brauchst heute nicht mit dem Essen auf mich zu warten.“
Ich ändere mein Leben.
Auch ich kann fliegen ohne Flügel.
Schluchzend streichelte Marie ihr Amulett und eine Träne streifte das Bild, das im Amulett versteckt lag. Jeden Tag war es geöffnet und geputzt, damit sich der Staub des Vergessens nicht daran heftet.
»Marie, warum kommst du nicht auch essen?«, ertönte die ruhige Stimme Annelores, als sie den tristen Raum betrat. Die Betten waren gereiht und alle frisch bezogen, aber den Geruch von Heimweh und Angst konnte niemand reinwaschen. Die Achtjährige saß auf ihrem Bett und rieb sich flink die Tränen aus dem Gesicht, um nicht wieder ärger zu bekommen. Die braunen Haare Annelores flatterten leicht bei ihrem gemächlichen Gang. Die Zeichen der Zeit waren deutlich im stolzen Gesicht der Sechzigjährigen zu sehen, den Scharm ihrer Jugend hatte sie jedoch nie verloren.
»Du hast wieder geweint, stimmt’s?« Sie setzte sich währenddessen neben Marie und strich ihr sanft eine blonde Strähne aus dem Gesicht. Marie schmiegte sich dabei fest an sie.
»Es heißt Kinderheim, aber es ist nicht meine Heimat. Nicht mein Zuhause. Ich will weg von hier«, murmelte Marie, versuchte dabei, die bibbernde Stimme in den Griff zu kriegen. Annelore wusste, dass sie nicht nur traurig ist, sondern auch Angst vor Grete hatte. Die pummelige Frau strafte jedes Kind ab, sobald es ins Bett nässte, nachts nicht schlafen wollte -, während die Tränen flossen, weil alles plötzlich anders war - oder anderweitig auffiel. Regeln und strenge Führung: Gretes Lebensmotto.
Annelore war hingegen die gute Fee, die Gretes Wut in Schach halten konnte und wusste, warum jene überhaupt eine solch unausstehliche Person wurde. Jedoch war sie nicht das große Problem, sondern Maries Sorgen.
Der beißende Geruch von Urin schlich sich hin und wieder durch die Luft. Nur das Sonnenlicht, welches durch die Fenster eindrang, verlieh den Raum hin und wieder etwas Schönes.
»Mama soll zurückkommen.« Diese Worte hörte die Betreuerin nicht zum ersten Mal, aber jedes Mal brannten sie sich wie eine Kerze in ihre Haut. Tränen kullerten über die zarten Wangen der Kinder und die kaum kontrollierbare Stimme wollte regelrecht aufschreien, wenn die Kinder an ihr zerrissenes Familienbild dachten. Es versengte Annelores Glauben an Gerechtigkeit. Es ließ sie nachts weinen.
»Mama wacht über dich, aber ich kann sie nicht herholen, das weißt du doch, Kleines.« Ruhig zupfte sie das Kleid der sonst so tapferen Kämpferin zurecht. Alle anderen genossen ihr Mittagessen, aber ganz alleine zog sich Marie meist zurück und spielte seelenruhig, während sie in die Leere sprach. Hoffte, dass ihre Mutter zuhört. Oft schmuggelten einige Essen, wie z.B. Brot, Süßigkeiten oder andere Beilagen mit, um es ihr zu schenken und Marie nahm es jedes Mal dankend an; sie verschlang es in einem Zug. Grete wurde zu diesen Zeiten meist abgelenkt von anderen Kämpfern oder Annelore selbst, die simple Themen formulierte, damit die Wut über Politik, Löhne oder Eltern immer weiter entfacht wurde. Dass sie ein kleines Fläschchen Alkohol im Büro verstaut hatte, war bereits ein beliebtes Ziel für Problemkinder geworden.
»Cecilia ist auch dort, wieso weinst du nie deswegen?« Erneut peitschten die Flammen der Vergangenheit in Annelore, aber im Gegensatz zu Grete, schlug sie niemals zu. Sie verstand nach all den Jahren.
»Erwachsene weinen nicht, weil sie groß genug sind, um in den Himmel sehen zu können!« Die Worte sollten bestärkend klingen, aber nur mit Mühe gelang ihr die Aufheiterung.
Einige Sekunden der Nachdenklichkeit setzten ein. Gelegentlich schniefte Marie etwas. Vereinzelnd widersetzten sich Tränen der Willenskraft des Mädchens und glitten über ihr Gesicht.
»Annelore! Das Mädchen soll nicht verwöhnt werden und gefälligst essen!« Der kläffende Pitbull des Heims baute sich vor den beiden auf, die angekuschelt auf dem Bett saßen. Maries Hände kniffen sich fest an das Schmuckstück, während sie ihre Arme fest um Annelore presste. Angst erfüllte sie und mit enormer Kraft unterdrückte sie ihre Trauer. Bekämpfte den Schmerz, damit ihre Helferin keinen Ärger bekam. Annelore spürte jede Spannung im Körper ihres Schützlings. Marie erinnerte sie immer an ihre Tochter, deshalb setzte sie alles daran, das Lächeln der Kleinen zu sehen. Ein einziges Mal wieder dieses Lachen sehen oder etwas, was sie an damals erinnerte. Egoistisch konnte sie niemand nennen, denn jeder konnte sie aufsuchen, aber trotzdem trachtete ihr Herz nach dem Gesichtsausdruck. Ihr Herz wollte um jeden Preis die Heimat des Mädchens erschaffen; sie originaltreu nachbauen.
»Warum heult sie schon wieder? Deine Mutter ist weg und jetzt bin ich deine Mutter, also hörst du gefälligst auf mich!« Entsetzen zeichnete sich im Gesicht der beiden ab. Gretes Worte waren wie ein Hammer, der den Nagel des Schmerzes endgültig in jene Kerben der Seele schlug. Marie schrie auf. Ein Schwall an Tränen ran über ihr Gesicht und wütend sprang sie vom Bett.
»Du alte Hexe bist keine Mutter, du bringst Kinder zum Weinen. Du bist genauso blöd wie mein Papa!«
Grete versuchte Marie dafür abzustrafen, aber verfehlte ihren Griff knapp. Schnell suchte Marie das weite und kniff sich vor Schmerz die Augen zu. Sie wusste, wo es lang ging, ob sie sah oder nicht war nebensächlich.
Grete sollte also wie der Vater sein? Der Mann, der Maries Mutter das Ticket für den Himmel kaufte und für unzählige Tränen der Verzweiflung verantwortlich war? Aufgewühlt knirschte Grete mit den Zähnen, aber wusste genau, dass sie die flinke Rebellin niemals einholen würde.
Langsam trotteten die ersten vom Mittagessen zurück. Machten einen großen Bogen um die dicke Frau, was schier unmöglich erschien, da sie den halben Gang einnahm. Flüstern tränkte die Luft. Sie hatten Marie gesehen, aber wussten, dass es nichts bringen würde, sie zu verfolgen.
»Ich rede mit ihr. Du darfst dann die Betten im oberen Stockwerk machen, ja?« Ein herausforderndes Zwinkern brachte das Blut von Grete beinahe zum Kochen. Ihre Haut war zuvor leicht gerötet, aber wirkte nun bereits wie eine reife Tomate. Die Kinder kicherten bei diesem Schauspiel, kuschelten sich in ihre Decken oder kramten in Spielzeugkisten herum.
Kommentarlos machte sich die sympathische Leiterin auf dem Weg. Manche formten Grimassen, weil sie niemanden mehr hassten, als Grete. Hatte auch Vorteile, denn es lenkte alle von dem stumpfen Alltag ab und schweißte die Kinder zusammen; sie hatten ein gemeinsames Feindbild. Grete wusste es und genau das war der Grund dafür, dass sie Annelore brauchte. Sie war nämlich die einzige Gegenspielerin, die sich gegen ihre eigene Chefin auflehnen würde. Gut gegen Böse war ein leichtes Spiel, welches alle dort liebten.
Den gemächlichen Gang behielt Annelore bei, denn sie wusste ganz genau, wo ihre kleine Kämpferin verborgen wartete.
Einige Treppen später war sie im Untergeschoss, wanderte durchs Esszimmer und öffnete eine Tür, die in einen Stauraum führte. Unterschiedliche, oftmals kaputte Spielzeuge, lagen hier verstreut. Die Kartons hatten sich wie eine abschirmende Wand aufgebaut und das war sicherlich kein Zufall. Die leere Blockade baute Annelore nach und nach ab.
»Marie, ich hab eine tolle Entdeckung gemacht. Möchtest du mitkommen und sie sehen?«
Der Köder zeigte Wirkung, denn vor ihr krabbelte Marie plötzlich, die sich zuvor in eine Ecke verkrochen hatte.
»Du hast einen Wunsch, den ich nicht erfüllen kann.Ich kann deine Mama nicht zurückbringen, aber ich kann für dich da sein und dich beschützen.«
Marie raufte sich auf und umarmte Annelore fest. Die Zuneigung konnte sie nie deutlich in Worte fassen, deshalb wog sie sich immer in den Armen ihrer Beschützerin, während der Schmerz langsam in Eifersucht verblasste. Er bekam keine Aufmerksamkeit mehr, kein Futter und konnte sich nicht länger an den Gedanken von Marie laben.
»Komm, wir sehen uns etwas Besonderes an, kleine Kämpferin«, flüsterte Annelore sanft und nahm Marie an der Hand. Maries Amulett baumelte im Einklang mit jedem Schritt.
Zusammen hatten sie sich in warme Jacken gehüllt, die Schuhe gebunden und traten den Weg nach draußen an. Von oben betrachtete Grete das Geschehen mit wehmütigem Blick. Sie hätte aus dem Fenster brüllen können, aber kein Frust zeichnete sich jetzt noch in ihrem Gemüt ab.
Die Winterzeit hatte das ganze Land in die weiße Pracht gehüllt. Kühl blies der Wind in die Gesichter der beiden, die durch den hohen Schnee stapften. Eine kleine Statue zierte den Vorgarten des Heims und große Bäume ragen am beengenden Zaun entlang. Marie betrachtete die schlafenden Riesen.
»Siehst du das? Die Blätter sind verschwunden, aber der Schnee umarmt die Zweige zärtlich. Sie ersetzen sie bis zum Frühling.«
»Das ist verwirrend!« Marie blickte in Richtung des wolkigen Himmels.
»Es tut mir leid, Marie. Ich kann deine Mama nicht zurückbringen. Ich kann dich nur umarmen…«
Dieses Mal schlich sich eine Träne über ihre Wange. Sie wusste nicht, wie sie es Marie erklären sollte, damit ihr Lächeln zurückkommt. Sie wusste nicht, wie sie Marie wieder glücklich machen sollte, damit der Schmerz nie mehr die Flammen entzünden konnte.
»Mir ist jetzt nicht mehr kalt.«
Unglaubwürdig sah sie Marie an. Die Worte klangen wie eine fröhliche Melodie und ein breites Grinsen zog sich über die Lippen der kleinen Kämpferin. Schnell stapfte sie Richtung Eingang und winkte in Annelores Richtung.
»Mama Annelore, kommst du?«
Tränen des Glücks liefen über Annelores gerötete Wangen. Sie hatte sich ihren Wunsch erfüllt und noch viel wichtiger; den ihres Schützlings.
„Unfassbar! Unverzeihlich!“
„Mein hochgeschätzter Freund, ich möchte doch betonen, dass eigentlich gar nicht Sie Gegenstand dieser Vorführung gewesen sind. Entsprechend dürfte doch die Schmälerung Ihres Andenkens eine eher geringe sein.“
„Da mögen Sie durchaus recht haben, Verehrtester. Nichtsdestoweniger ist es doch schockierend, was heute für ein despektierliches Verhalten an den Tag gelegt wird, gerade die Jugend scheint keinen Respekt mehr vor der Weisheit des Alters zu haben.“
Zwei Teenager passierten die beiden, als sie den Kinosaal verließen.
„Ey, guck mal!“, rief der kleinere Jugendliche. „Diese beiden Freaks haben sich tatsächlich als Goethe verkleidet!“
„Lol, was für Opfer“, gab der andere zurück.
„Ich muss doch sagen, Ihre Sprechweise scheint mir nicht nur rätselhaft, sondern gar unverständlich, junge Herren. Gleichwohl möchte ich anmerken, dass, obgleich ich mich nicht schäme, für meinen brillanten Freund und Kollegen gehalten zu werden, ich dennoch dachte, meine eigene Reputation sei völlig ausreichend, um meine Person als mich zu erkennen.“
Für einen Moment schwiegen die beiden Jugendlichen, dann prusteten sie los und entfernten sich lachend.
„Ich sehe meine schlimmsten Befürchtungen bestätigt, mein lieber Schiller. Im Übrigen halte auch ich die heutige Sprache für unverständlich, denn mir ist unklar, was ‚Fack ju‘ überhaupt heißen soll.“
„Ich fürchte, dass uns dies ein Rätsel bleiben muss, geschätzter Goethe.“
Die beiden Männer verließen den Kinosaal. Draußen trafen sie auf zwei vertraute Gesichter.
„Meine lieben Herren Humboldt und Gauß! Wie gefiel Ihnen denn Ihre Vorstellung?“
„Grausig!“, rief Humboldt aus. „Eine fürchterliche, sensationsheischende Verzerrung unser beider Leben! Eine Schande zu sehen, wofür die Arbeit des guten Daguerre heutzutage missbraucht wird!“
„Nun, so verzerrt nun auch wieder nicht“, meinte Gauß.
„Ich muss Sie doch bitten, werter Freund! Sie wurden doch mit einem verabscheuungswürdigen Vergnügen durch den Dreck gezogen als ein Mann, der seine Zeit und sein Geld mit Frauen durchbringt, die ihre Leiber für Geld vermieten!“
„Nun, das kann ich schlecht leugnen, bei aller Zurückhaltung. Mir persönlich gefiel jedenfalls die doch mehr als zutreffende Darstellung meines herausragenden Verstandes, auch wenn er nicht mehr das sein mag, was er einmal war…“
„Ich muss sagen, dass ich nicht viele Wünsche in meinem Leben hatte. Einer davon war selbstverständlich, mein Leben der schriftlichen Kunst zu widmen“, sagte Goethe. „Doch obwohl ich bezweifle, dass ich einen konkreten Wunsch für die Rezeption meiner Person nach dem nun einmal unvermeidlichen Tod hatte, so habe ich mit Sicherheit – wenn vielleicht auch unbewusst – nicht die entsprechenden Verhältnisse der heutigen Zeit vor Augen gehabt.“
„Wir haben es noch gut getroffen, meine geschätzten Herren“, meinte Gauß. „Dieser Mann da vorne mit dem auffälligen Schnurrbart wird permanent mit Blicken des Abscheus bedacht.“
Er wies auf einen kleinen Mann, der scheinbar versuchte, nicht aufzufallen.
„Woran mag das liegen?“, wollte Humboldt wissen.
„Vielleicht gibt uns der Titel der Vorführung, die er gerade verließ, Aufschluss darüber“, vermutete Gauß und wies auf ein Filmplakat neben einem Kinosaal. „Jedenfalls sieht ihm der Mann auf dem Plakat hinreichend ähnlich.“
„Ich sehe aber leider keinen wirklichen Hinweis, der von Nutzen wäre“, merkte Humboldt an. „Der Titel seiner Vorführung war offenkundig ‚Er ist wieder da‘, jedoch muss ich gestehen, dass mir das nichts mitzuteilen vermag.“
„Was machst du da?“
„Hast du nie gelernt, vorher anzuklopfen?“
„Nein. Was machst du da?“
„Ich füttere einen Elefanten“, sagte Kira genervt. „Siehst du doch.“
„Haha, sehr witzig.“ Nicolas schnitt eine Grimasse.
„Guck nicht so blöd, als seist du ein Enton mit Kopfschmerzen. Ich schreibe einen humoristischen Roman über diverse historische Persönlichkeiten, die wieder zum Leben erweckt wurden und jetzt damit konfrontiert werden, wie die Nachwelt sie aufgenommen hat.“
„Klingt ja spannend“, gähnte Nicolas.
„Danke für deine Aufmunterung, die brauche ich jetzt.“
„Ich wollte dich eigentlich etwas fragen.“
„Und was?“
„Ob du mit mir jetzt den Mathematikern diesen Streich spielen willst.“
„Der ist nicht witzig.“
„Doch.“
„Ich soll dir helfen, ‚0/0=Pi‘ auf Zettel zu drucken und diese dann in der Fakultät aufzuhängen?“
„Na, so wie du das sagst, klingt es fast wie ein Stück offensichtlicher Exposition.“
„Komisch, warum bloß?“, sagte Kira, seufzte und fuhr dann fort: „Hör mal, ich habe hiermit zu tun. Es ist mein Wunsch, einmal eine erfolgreiche Autorin zu werden.“
„Und du denkst, das gelingt dir mit einem billig zusammengeschusterten Roman, an dem du schreibst, wenn du nicht den Müll auf Parkplätzen aufsammeln musst, um die nächste Tiefkühlpizza kaufen zu können?“
„Ja. Scheiß Studienstiftung. ‚Es tut uns leid, bedauerlicherweise kommen Sie für uns nicht als Teilnehmerin am Stipendium infrage. Bitte betrachten sie das nicht als ein Defizit ihrerseits‘ und blablabla. Arschlöcher sind das.“
„Keine Sorge, es liegt sicher nur daran, dass du schwarz bist.“
„Ist echt so. Hätte mit der Rassismuskeule ankommen sollen. Da wären die aber im Nullkommanix eingeknickt.“
Nach außen ruhig, aber innerlich zitternd wie Wackelpudding, saß der junge Mann auf seinem Stuhl.
„So, Herr, äh, Krakel…“
„Krickel“, sagte der Mann mit trockener Kehle.
„Meine ich doch. Sehen Sie, das ist nicht ganz das, was wir, nun ja, äh, suchen, verstehen Sie?“
Krickel blieb ruhig, aber es war, als hätte eine Hand aus kaltem Titan sich um sein Herz geschlungen und es zerdrückt.
„Sehen Sie, das ist ja ganz nett, aber es ist halt nichts Besonderes. Bei uns gehen tagtäglich tausende solcher Sachen ein. Die Autoren wollen einfach nicht weiter denken als zwei Seiten und verlagern sich deshalb auf Sammlungen von Kurzgeschichten, und das seit dem Erfolg der Känguru-Chroniken meist mit humoristischer Ausrichtung. Diese eine Geschichte mit der Protagonistin, wie sie ihren Roman schreibt, ist ja zum Beispiel auch ganz nett, aber eine Geschichte in einer Geschichte verwirrt nur, das ist auch nicht hilfreich. Und leider sind die Pointen schlecht gesetzt bis nicht vorhanden. Insbesondere dieser Bruch der vierten Wand mit der Exposition – tut mir leid, aber das ist geradezu grässlich. Dann sind da auch noch so Insidersachen, die der Leser nicht kapiert. Was ist denn ein Enton?“
„Pokémon sagt Ihnen nichts?“
„Pokémon? Oh Gott, nein, natürlich nicht. Nicht dieser Schwachsinn.“
„Ich verstehe.“ Krickel ballte unbemerkt die Hände zu Fäusten.
„Jedenfalls, es tut mir leid, aber irgendwie sind Sie meiner Ansicht nach nicht als Autor geeignet.“
Krickel war sich nicht sicher, wie er darauf reagieren sollte. Innerlich kämpften Zorn und Trauer um die Oberhand wie zwei Löwen. Der Zorn war aufbäumend, die Trauer dagegen erdrückend. Wie ein schwerer Fels senkte sie sich und zerquetschte schließlich die Reste an Zorn und Selbstvertrauen, welche Krickel noch hatte. Er wollte es nicht einsehen und doch drang die grausige Erkenntnis in ihn ein wie ein Gift, pulsierte durch seine Adern und trieb ihm beinahe die Tränen in die Augen.
„Vielleicht“, sagte der beleibte, ältere Mann, „sollten Sie es bei einer Zeitung versuchen. So eine Art wöchentliche Kolumne… Das könnte zu Ihnen passen.“
„Ja, vielleicht“, meinte Krickel mit buttriger Stimme und ignorierte die Tatsache, dass er das bereits versucht hatte. Er stand auf. „Danke für Ihre Zeit.“
„Sie wollen schon… Ich meine, haben Sie nicht noch…“
„Nein, danke. Sie haben sicher recht mit Ihrer Einschätzung. Ich werde also… Ich meine, danke einfach.“
Der Mann hinter dem Schreibtisch stand auf und schüttelte Krickel die Hand.
„Ich wünsche Ihnen viel Glück.“
„Danke“, sagte Krickel noch einmal und verließ den Raum. Er nahm den Weg durch das Gebäude kaum war, trat heraus und blinzelte, als die Sonne ihn mit ihrem Strahlen zu verachten schien. Innerlich war er zerbrochen. Zweieinhalb Jahre für die Katz. Und gleichzeitig das bittere Eingeständnis, dass er einfach zu schlecht war. Er war der Erfüllung seines Wunsches keinen Schritt nähergekommen, er hatte sich sogar davon entfernt.
„Wie wars?“, fragte Nicolas.
„Schlecht.“
„Ach, du hast es vermasselt? Na, egal. Dieser dumme alte Sesselpupser hat sowieso keine Ahnung. Hättest ihm übrigens am besten den heißen Kaffee, den er auf seinem Tisch stehen hatte, über den Schoß kippen sollen. Jedenfalls, irgendwann wird es schon.“
Nicolas lächelte und das war ansteckend.
„Ja, irgendwann…“, stimmte Krickel zu. „Warum hast du eigentlich grüne Haare?“
„Ich hatte doch diese Wette mit Kira verloren, schon vergessen? Ich konnte ihr nicht auf die Schuhe pinkeln, ohne dass sie nass werden. Aber das war es wert.“
Krickel lachte kurz.
„Ach ja, stimmt“, sagte er. „Danke jedenfalls, dass du mich aufgemuntert hast.“
„Hey, bin immer für dich da, wenn du mich brauchst.“
„Ich weiß. Das ist es ja gerade…“
„Mach dir nichts draus, dass du bekloppt bist.“
„Du kannst jetzt aber trotzdem gehen.“
„Wenn du mich lässt“, sagte Nicolas und verschwand.
Warum versuchte er es mit humoristischen Geschichten, fragte sich Krickel. Weil es so war, wie Mark Twain gesagt hatte: Die verborgene Quelle des Humors ist nicht die Freude, sondern der Kummer. Ihm blieb also gar nichts anderes übrig, nicht wahr? Er war andauernd deprimiert und wusste nicht einmal genau, warum.
Gedankenverloren ging Krickel weiter, als er plötzlich eine Stimme hörte: „He, Sie da, sind Sie wahnsinnig?!!“
„Hä, wa...?“, machte Krickel, bevor ein Auto dafür sorgte, dass dieser verdutzte, leicht dümmliche Gesichtsausdruck ihm für den winzigen Rest seines Lebens und auch danach blieb.
Und so, mein hoffentlich gnädiger Leser, geht dieser absurd-lächerliche Ausdruck meines einzigen Wunsches, dessen Erfüllung ich als wahrhaft erfüllend betrachten würde, zu Ende. Es tut mir leid, deine kostbare Zeit verschwendet zu haben.
''Los, Iscalar! Setze die Psywelle ein!''
Mein Besitzer hatte wieder einen Befehl für mich. Dieser Stümper. Ich starrte erst zu ihm, dann zum gegnerischen Pokémon. Mein Trainer war ein Mensch. Ein Junge. Eventuell noch recht jung für die Spezies. Auf der anderen Seite ein Clavion, zusammen mit dessen Trainerin. Es sah aus wie ein Schlüsselbund der Menschen. Die Trainerin hatte an seinem Körper sogar dekorative bunte Plastikschlüssel befestigt. Während es so in der Luft herumschwebte, klackerten sie laut. Wie niedlich. Zum Kotzen. Ich wandte mich wieder meinem Trainer zu. Hatte er denn keine Ahnung, dass psychische Attacken gegen Pokémon aus Stahl nur sehr wenig Wirkung zeigten? Als ich keine Anstalten machte, die Psywelle freizusetzen, dachte er wohl, ich bräuchte noch etwas mehr Motivation.
''Komm schon! Du schaffst das, Kumpel! Mach die Psywelle!''
Kumpel, pah. Dieser Trottel hatte mich nicht einmal selbst gefangen. Das war seine Mutter gewesen. Sie hatte ihrem Sohn ein nettes Geschenk machen wollen. Und deswegen sollte ich jetzt der Sklave dieser Kreatur sein?
Das Mädchen lachte auf: ''Ha, dein Pokémon ist zu langsam! Clavion, zeig ihm wie man kämpft! Tackle-Attacke!''
Ich sah, wie der klackernde Schlüsselbund auf mich zuschoss. Heh. Was er bekommen würde, war klar. Ich konzentrierte mich auf meinen Körper. Über meinem Magen befand sich ein spezielles Organ, welches ich immer weiter anstrengte. Die Luft um mich herum lud sich statisch auf und ich verspürte ein wohliges Kribbeln in meinem ganzen Körper. Immer weiter konzentrierte ich mich, bis es fast unerträglich zu vibrieren anfing. Als das Clavion beinahe bei mir war, lies ich alles raus. Der Donnerblitz traf es mit voller Wucht. Es stürzte zu Boden, die Plastikschlüssel waren völlig verkohlt und sonderten einen erbärmlichen Gestank ab.
Mein Mensch wusste, oder hätte zumindest wissen sollen, dass ich über den Donnerblitz verfügte. Die ganze Welt war völlig verkehrt. Ich spürte es in jeder Minute, die ich wach war und wenn ich schlief, verfolgte es mich in meinen Träumen. Ich hatte die Macht. Ich hatte die Intelligenz. Ich sollte die Kontrolle über andere Wesen haben. Und nicht von solch einer dümmlichen Kreatur beherrscht werden. Mit jeder Faser meiner Existenz sehnte ich mich nach der Kraft, die Welt in die richtige Form zu bringen. In die Form, die ich für sie wollte.
''Whoa, das war richtig stark, Iscalar! Du bist so toll!''
Mein Mensch schien sich zu freuen. Natürlich war ich toll. Aber das hatte ich nicht ihm zu verdanken. Das Clavion hatte sich inzwischen wieder aufgerichtet und schwebte knapp über dem Boden. Seine Trainerin hatte die geschmolzenen Plastikschlüssel und den allgemein schlechten Zustand ihres Pokémon bemerkt. ''Vielleicht... Vielleicht sollten wir aufhören? Clavion sieht müde aus.''
Mein Trainer hatte natürlich Mitleid: ''Ja, das ist wohl keine schlechte Idee. Das war ein toller Kampf. Stimmts, Iscalar?''
Nein, das war kein toller Kampf gewesen. Er war nämlich noch nicht vorbei. Mein Trainer nahm meinen Pokéball in die Hand und zielte auf mich. Natürlich. Nun, wo er mich nicht mehr brauchte, wurde ich wieder weggesperrt. Aber ich genoss meine, wenn auch nur kurze, Möglichkeit, Kontrolle über andere Wesen auszuüben, zu sehr. Clavion konnte sich nicht wehren und ich würde den Kampf korrekt beenden. Ich schoss nach vorne und schlug auf es ein. Es war so schwach, einfach erbärmlich. Anders als ich, die sich die Herrschaft so sehr wünschte.
Das Mädchen heulte erschrocken auf und auch mein Trainer starrte mich entgeistert an. ''Iscalar, was ist denn los?''
Das geschah ihm Recht. Ich sollte tun, was ich wollte. Nicht, was er wollte, das ich tat. Die Welt war so verkehrt. Das Clavion verlor das Bewusstsein und sank zu Boden. Es war bezwungen. Ich war die Siegerin. Doch, etwas veränderte sich in mir. Ich spürte etwas, das Potenzial für noch mehr Stärke. Ich würde diese Welt verändern, umkehren, bis sie sich meinem Willen beugen würde. Ich schwebte etwas weiter in die Luft. Mein Körper pulsierte mit einer unvorstellbaren Energie. Im Vergleich zu diesem Sturm war das Vibrieren des Donnerblitzes in mir nur ein schwacher Lufthauch gewesen. Wie in Trance begann ich mich langsam seitlich zu drehen. Meine Muskeln zuckten, pulsierten, bäumten sich auf. Sie wurden immer größer. Auch mein Inneres veränderte sich. Noch während sich mein Sichtfeld drehte, spürte ich, wie sich durch das Zucken der Muskeln meine Organe allesamt verlagerten. Es war kein schmerzlicher Prozess, nein, es war wundervoll. Dies war die Erfüllung meines Wunsches, das spürte ich. Bevor ich komplett auf dem Kopf stand, erhaschte ich noch einen Blick auf meinen Menschen. Ich sah darin freudige Erregung. Wie typisch, er dachte, meine Entwicklung, meine neue Kraft würden ihm weiterhin dienen. Als ich schließlich eine halbe Drehung vollzogen hatte und eigentlich auf dem Kopf hätte stehen sollen, fand ich, dass dies gar nicht der Fall war. Ich sah alles richtig herum. Dies war die Ordnung, die wirklich herrschen sollte.
''Whoa, dein Iscalar, das, das ist jetzt ein...'' Das Mädchen konnte den Satz nicht zu Ende bringen.
''Es ist jetzt ein Calamanero!'' Mein Mensch lachte auf. ''Du bist jetzt so groß! Komm, lass mich dich knuddeln!''
Ich spürte, wie er sich in Bewegung setzte. Ich war kein Schmusetier. Ich war nicht seine Gefährtin. Und ich würde auch nie wieder seine Untergebene sein. Mit aller Kraft konzentrierte ich mich auf einen Befehl: ''Auf die Knie mit dir.''
Mitten im Lauf versagten ihm die Beine. Er konnte gar nicht aufschreien, so überrascht war er, als er auf dem Boden landete.
''Was ist los? Meine Beine wollen sich nicht mehr bewegen!''
Das Mädchen rannte zu ihm, während er sich mit den Armen aufzurichten versuchte.
''Auch du, auf den Boden!''
Sie stürzte ebenfalls. In meiner Kehle machte sich ein Geräusch breit, welches ich vorher noch nie ausgestoßen hatte. Es war ein bellendes, kehliges, ja, es war ein Lachen. Ich war so glücklich wie noch nie zuvor! Ich drehte mich um und machte mich auf den Weg. Während ich meine Konzentration von ihnen abwandte, konnte ich noch hören, wie sie sich, erlöst aus meiner Attacke aufrappelten und davonrannten. Diese beiden, sie waren nur der Anfang gewesen. Nichts weiter als bedeutungsloses Ungeziefer. Ich würde meinen Wunsch erfüllen. Ich würde die ganze Welt kontrollieren. Ich war Calamanero.
Langsam fiel eine von tausenden Schneeflocken vom Himmel und ich fragte mich ob ich heute Nacht überhaupt eine Sternschnuppe sehen würde bei alldem Schnee. In mir wuchs das Verlangen, meinen Herzenswunsch erfüllt zu bekommen. Leider, meinen meine idiotischen Eltern Wünsche sindwie Träume, sie erfüllen sich nie. Sofort googelte ich eine Definition zu Wunsch. Ein Wunsch wird als ein Begehren oder Verlangennach einem Objekt... „Schwachsinn“, dachte ich. Ein Objekt? Muss mein Wunsch materiell sein?Etwas kaufbares? Nein, denn dies ist nicht mein Wunsch. Ich will gesund werden und die Krankheit besiegen die meinen Körper von innen auffrisst.Versteht ihr das? Wahrscheinlich, könnt ihr es gar nicht verstehen,denn ihr seid gesund, müsst nicht denken, der heutige Tag könnte euer letzter sein. Ihr müsst doch nicht jeden Tag zu Chemotherapie.Das Leben ist nicht fair, ich bin erst siebzehn Jahre alt und werde wahrscheinlich meinen 18. Geburtstag nicht erleben. Ich bin ein Junge der nie eine Freundin oder Sex haben wird. Mein Leben ist nichts wert. Der Arzt sagte mir letztens eiskalt ins Gesicht:“Tobias, es gibt für dich keine Hoffnung mehr. Wir können dich nur noch für kurze Zeit am Leben erhalten, noch kannst du dich bewegen, aber bald wird der Krebs dich komplett lahm legen.“ „Danke Herr Doktor, sie haben mir wirklich Mut gemacht“,antwortete ich damals trocken. Es wurde langsam dunkel, schnell wechselte ich die Kleidung und zog mir etwas wärmeres an, dass ich während dem Sternschnuppenregen nicht erfrieren würde.Ich entschied mich für einen grauen Pullover mit einem roten Balken in der Mitte auf dem „FRSH“ stand. Schnell rannte ich die Treppe runter, rannte den Flur entlang und öffnete die große Abschlusstür.Arktische Luft strömte mir direkt entgegen. Ich schaute in den Himmel und sah ungefähr eine Millionen Sterne. Die Sterne leuchteten in dieser klaren Nacht. Ein großer Stern leuchtete ganz besonders hell. Ich konnte ihn durch die Zweige eines Baumessehr gut erkennen. Während ich kurz die Augen schloss, rauschte eine Sternschnuppe raus. „Mist!“, fluchte ich. Ich habe die erste Sternschnuppe verpasst.
Ich schaute aus dem Fenster und sah Tobias im Gras sitzen. Anscheinend war er überwältigt von der Pracht der Sterne. Da rauschte die erste helle Sternschnuppe vorbei und ich tat etwas von dem ich nie erwartet hätte zu tun. „Bitte, lass meinen Sohn gesund werden“, flüsterte ich in die Nacht hinaus. Ein Geräusch kam von draußen. Tobias fluchte: „Mist!“. Er hat sicher die erste Sternschnuppe verpasst, hoffentlich erfüllt sich der Herzenswunsch von uns allen trotzdem.
Als ich hoch zum Fenster schaute,sah ich einen Schatten am Fenster. Haben meine Eltern mich etwa beobachtet? Haben sie sich angeschaut wie idiotisch ich gerade bin.Ich sollte am Besten wieder reingehen und mich damit abfinden, das ich demnächst vom Angesicht dieses schönen Planeten verschwinden werde. Langsam öffnete ich die Abschlusstür und ging leise hinein.
Behutsam legte ich meine Kleidung ab und ging zu Bett.
Drei Wochen, nach der Sternschuppennacht wachte ich eines morgens auf. Als ich die Augen aufschlug, schaute ich direkt in die Augen meiner Mutter, die vor Aufregung zitterte:“Tobias, du wirst nicht sterben, die Chemotherapie hat den Tumor komplett gekillt.“ Ich flüsterte:“Du…, Du hast mich in der Sternschnuppennacht nicht ausgelacht, du hast dir meine Genesung gewünscht?Aber wieso?“ Sie lächelte:“ Ich habe erkannt, das Wünsche tief aus unserem Inneren kommen und man die Hoffnung niemals aufgeben darf.“ Ich nickte:Dann lass uns frühstücken, ich muss mein Leben nachholen.
„Tschüss, bis später!“
Der kleine Rotschopf mit den hübschen Sommersprossen drehte sich noch einmal um und ließ ihren Blick durch das einfach eingerichtete Kinderzimmer wandern. Ein tiefes Seufzen entrang sich ihrer Brust, und sofort bildete sich ein Kloß in ihrem Hals, der, so wusste sie, die kleinen noch nicht verglühten Funken von Fröhlichkeit wie ein schwarzes Loch aufsaugen würde, wenn sie ihn nicht sofort hinunterschluckte.
„Ich wünschte, du wärst hier, Isabella.“, murmelte Evelyn in die Leere ihres Herzen.
Ihre kleine Hand umschloss fest den kühlen, eisernen Türgriff. Sanft und behutsam, so, als würde sie etwas hinter dieser Tür wider Willen einsperren, zog sie ihn zu sich, bis sich die hölzerne Tür schloss. Ein kühler Windhauch strömte ihr entgegen und brachte ihre kupferfarbenen Locken zum Tanzen.
Missmutiger Schritte lief das Mädchen den engen, dunklen Flur entlang. Er war in schlichtem Weiß gehalten und nur wenige Bilder dienten als Farbtupfer, die jedoch unnatürlich und erzwungen wirkten. Das Auftippen ihrer festen Schuhsohlen hallte laut wie ein Echo im hohen Raum und brachte die dünnen Wände zum Vibrieren. Unangenehm surrte es im Kopf der Kleinen und in einem Reflex schnellten Zeige- und Mittelfinger ihrer rechten Hand an ihre Schläfen, um einen sanften Druck auszuüben, der Milderung versprach.
Sie setzte ihren Weg fort, bis sie den langen Gang hinter sich gelassen hatte und links um eine Ecke ging, die in einen Abschnitt führte, der den Eingangsbereich der Wohnung bildete. Die vor ihr liegende Tür war aus weißlackiertem Eisen gebaut und somit schwer zu öffnen. So legte sie ihre beiden Hände zugleich um den dicken Knauf und zog fest daran, bis ein „Klick“ verriet, dass der Weg nun frei war. Zügig ging sie durch den dünnen Spalt, ehe die Tür bereits zufiel.
Sie beschleunigte ihren Schritt, öffnete die Glastür, die Eingang zu den vielen Wohnungen im Haus verschaffte. Endlich hatte sie ihr „Zuhause“ hinter sich gelassen und konnte sich auf den Weg zur Schule machen.
„Ich wünsche mir eine Freundin wie dich, Isabella.“, wisperte sie und sie verspürte eine kochende, wallende Hitze auf ihren oberen Wangen, ein Brennen, das sich über ihr ganzes Gesicht erstreckte. Warme, salzige Tränen tropften aus ihren Augen, bemüht, das Feuer in ihrem Herzen zu löschen. Das Kind begann zu schluchzen, es schien, als würde sie nach jemandem rufen, jemandem, der bemerkte, wie schwer ihr dieser Tag und jeder weitere, den sie durchleben musste, fiel. Ängstlich, dass sie jemand hören würde, biss sich Evelyn auf ihre von Kälte aufgerauten Lippen. Ein metallischer, intensiver Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus, angewidert fuhr sie mit ihrer Zungenspitze über die kleine Wunde.
„Warum bist du so schüchtern und zeigst dich nicht den anderen? Ich weiß es, es gibt dich. Irgendwo. Da draußen.“
Elf Uhr und dreizehn Minuten. Die Hexe betrat wie gewohnt das Klassenzimmer.
Wenn ich sie so nannte, entlockte ich dir ein Lachen, ein Lachen, das mich in seinem hellen, melodischen Klang an das Windspiel, das dein Vater in jenem Frühling mit dir gebastelt hatte, erinnerte.
„Aufstehen!“, kommandierte die Alte und plusterte sich dabei wie eine Eule auf. Eine passende Beschreibung, angesichts der runden Gläser ihrer Brille, die ihre Augen lächerlich groß erschienen ließen. Ich sehe dein Gesicht und lese darin Furcht – die Frau, die deine Klassleiterin war und dich in Mathe, Deutsch und Englisch unterrichtete, hatte dich schon oft bestürzt und dir jegliche gute Laune genommen – nein, geraubt! - , die ich dir geschenkt hatte. Du bemühtest dich wirklich, im Unterricht aufzupassen und den Stoff zu verinnerlichen, besonders in deinen Tests strengtest du dich unglaublich an. Ich hätte dir gerne geholfen, und du weißt, dass ich es versucht habe, doch wie soll ein Gedanke, eine bloße Vorstellung wie ich es bin, nur erhört werden? Jeden Tag sitze ich hier auf meinem Stern und flüstere dir leise zu, dass alles wieder gut wird, und dass ich für dich da bin. Doch manchmal verschlingt dein kleiner Kosmos, der voll von Sorgen, Angst und Hoffnungen ist, meine Stimme, und du erkennst mich einfach nicht mehr, glaubst mich verloren. Du versinkst in einem dichten Nebel, der dich von innen und außen umgibt und keinen Klang, kein Licht an dich heranlässt. Ich rufe dich, ich rufe dich wieder und wieder und ich leuchte so hell ich kann. Doch du findest mich nicht.
„Ich habe eure Stegreifaufgaben korrigiert“, setzte die große Frau mit breiten Schultern und stämmiger Figur an, „und ich war echt überrascht, wie gut sie ausgefallen ist. Gut gemacht!“
Plötzlich bricht der Himmel über dir auf und ein kleiner, feiner Lichtstrahl braust durch das verhangene Firmament deiner Gedanken. Du hoffst, das spüre ich. Mit jedem Schritt, den dir deine Lehrerin, die nach und nach jedes Pult abklappert, näher kommt, schlägt dein kleines Herz etwas schneller. Ein zaghaftes Lächeln umspielt deine Lippen, als Frau Zwirner von dem Stapel korrigierter Arbeiten hochsieht, den sie in ihren beiden faltigen, mit Leberflecken übersäten Händen hält.
„Du bleibst hoffnungslos, tut mir leid, Lynn, wieder nur eine fünf.“, zischt sie und legt das Blatt hörbar unsanft auf deinem Pult ab.
Mit geweiteten Augen überfliegst du das Blatt. Ja, du Eimer, das ist eine Fünf. Aber verzag doch bitte nicht, ich … -
Das Meer, das deinen wunderbaren blauen Augen innewohnt, beginnt zu toben, es läuft über und Tränen kullern deine geröteten Wangen mit den Sommersprossen hinunter. Sie tropfen auf das Blatt, dessen viele rote Markierungen herausstechen. In den winzigen Pfützen verläuft die mahnende Farbe, die dich auf deine Fehler aufmerksam machen soll. Fehler. Fehler, von denen ich weiß, dass du sie nicht hast, Kanten, Ecken, an die manch einer stößt, sie hinterlassen kleine Schrammen, die niemand übersehen möchte, obgleich er es könnte.
Zitternd stützt du dich auf das Pult und richtest dich auf. Ich möchte dich stützen, dir aufhelfen, dir ein Lachen auf dein Gesicht zaubern, und dich von deinem Kummer erlösen. Doch als Stern, als bloßer Wunsch, ist mir das einfach nicht möglich.
„Wohin willst du, Evelyn?“, ruft Frau Zwirner durch den Klassenraum, deine dummen Kameraden tuscheln und glotzen dämlich in deine Richtung.
„Ich… ich…“, stotterst du und musst ein Schluchzen unterdrücken, „muss mal … ins Bad…“
„Du kannst auch nach der Stunde gehen, wir müssen erst noch die Arbeit besprechen.“
Deine kleine Welt, die von einem nicht enden wollenden Sturm heimgesucht wurde, stand mit einem Mal in Flammen. Wie ein brennender, heißer Komet, wie eine Sternschnuppe schlägt deine Stimmung um.
„Isabella hatte Recht, sie sind die gemeinste Frau auf der Welt.“
Du sprichst meinen Namen wie eine Drohung aus, doch zugleich wohnt deiner Betonung eine gewisse Liebe, Zärtlichkeit, eine tiefe Freundschaft inne. In all deiner Furcht glaubst du an mich und ich habe dich stark gemacht. Ich brenne, Evelyn, ich brenne vor Leben. All mein Leben als Sternenwächter hast du mich begleitet, und du hast mich ebenso geprägt, wie ich dich. Ich brauche dich, du erfüllst mich. Ich möchte zu dir auf die Erde kommen, ich möchte für immer bei dir sein, ich habe dich so lieb gewonnen! Und ich weiß, dass du mich auch brauchst. Kopfüber stürze ich auf die Erde, mein Körper wird langsam fest und ich bekomme die Gestalt, die ich vor elf Jahren das erste Mal angenommen hatte. Ich lege mich in einen kühlen, frischen Wind und gleite, das Gefühl von Glück überkommt mich. Gleich bin ich bei dir.
„Evelyn Dorn, das verbiete ich –„
Das Herz des Rotschopfs schlug ihr bis zum Hals, als es plötzlich laut an der Tür klopfte. Ein solches Klopfen kündigte nur den einen an, den Direktor der Schule. Reflexartig erhoben sich alle Schüler und starrten gebannt zur Tür.
„Guten Morgen“, rief der dickliche, gut gelaunte Mann mit dem breiten Grinsen und den quietschroten Hosenträgern in den Raum, „ich habe euch jemanden mitgebracht!“
„Hallo, Harald – Herr Direktor, Verzeihung! Von einer neuen Schülerin wusste ich gar nichts!“, formulierte Frau Zwirner verdattert.
„Ja, sie sollte erst Morgen kommen, aber ihre Eltern waren gerade in der Nähe und wollten, dass sie sich bei dieser Gelegenheit schon umsieht. Kinder, begrüßt bitte ganz herzlich eure neue Mitschülerin Isabella!“
Der Schnurrbartträger machte einen Schritt nach links und deutete mit einer präsentierenden Handbewegung auf eine kleine Gestalt hinter sich.
„Hallo …“, flüsterte die Blondine mit den schimmernden grünen Augen und der kleinen, niedlichen Lücke zwischen ihren oberen Schneidezähnen, die aufblitzte, als sich ihr Blick mit dem von Evelyn traf und sie schmunzeln musst. Für den Herzschlag eines Augenblicks wusste Evelyn, dass sie ihr zugezwinkert hatte.
„Das kann doch nicht wahr sein. Das ist sie nicht. Niemals. Isabella, melde dich!“
„Ich bin hier, Dummerchen!“, kicherte die helle, glockenspielhafte Stimme und die Person, die der Rotschopf noch verleugnete, löste ihren Blick noch nicht.
„Neben Evelyn ist noch ein Platz frei, setz dich!“, lud die Hexe ein und deutete auf den Platz neben dir.
Ich folge ihrer Einladung und setze mich zu dir. Wir sehen uns nur an.
„Ich bin es.“
„Ich weiß, Isabella.“, murmelst du und siehst mich dankbar an. Kurz streichst du mit deinem Daumen über meinen Handrücken.
„Ich habe es dir versprochen. Du hast dir eine Freundin gewünscht. Jetzt wird alles gut."
"Öffnen Sie nun ihre Bücher auf Seite dreiunddreißig. Lernen Sie diese Regeln Wort für Wort auswendig. Abweichungen sind nicht erlaubt. Ich erwarte von Ihnen absolute Perfektion. Dies wird ihre heutige Aufgabe sein."
Norman sah aus dem Fenster. Nun gut, das war nur ein Tagtraum. Jeder Schüler an dieser Schule wusste, dass es hier keine Fenster gab, die die grauen Wände schmückten. Dies lag an der potentiellen Gefahr, abgelenkt zu werden. Hier musste sich jedoch jeder anstrengen, um gute Noten zu erhalten. Nur wer gute Noten erhielt, würde einen guten Beruf erhalten. Und nur wer gute Berufe durchführte, war der Gesellschaft von einem großen Nutzen. "Vergesst nicht, was euch beigebracht wurde. Der Nutzen…"
"…ist das wichtigste in unserem Leben." Der Professor schien zufrieden mit seinen Schülern zu sein, auch wenn er dies nicht zeigte. Sein Gesicht schien wie eine regungslose Maske zu sein, die Emotionen nicht durchsickern ließ.
Norman verunstaltete die zuvor erwähnte Seite im Buch. Sein Sitznachbar lauschte währenddessen den monotonen Worten des Professors. Es war immer der gleiche Stoff der durchgemacht wurde. Was anderes wurde nicht gebraucht. Diese Fakten und Verhaltensweisen waren das wichtigste und nichts anderes. "Norman, ich denke, Sie wissen schon auswendig, wie man sich zu verhalten hat, wenn man ein Fenster öffnet?" Der Professor blickte in Richtung des unaufmerksamen Schülers und wartete auf eine Antwort. Diese kam jedoch nicht. "Ihnen ist doch hoffentlich bewusst, wie solch ein Benehmen ihre Zukunft beeinflusst? Sie zeigen nicht die geringste Menge an Interesse." Einen quälend langen Zeitraum über war es still, und alle Personen im Raum starrten denjenigen an, der es gewagt hatte, nicht aufzupassen. Norman starrte nur stumm schweigend auf die graue Tischplatte. Noch mehr Zeit verstrich, und die Lehrperson hatte nicht die Geduld, mehr Zeit für diesen Unsinn zu verschwenden. "Alle anderen Schüler sind hervorragend. Jene, die am Anfang noch Probleme hatten, haben sich angepasst. Warum nur sie nicht? Was hindert Sie daran, es den anderen gleich zu machen? Es wird Ihnen damit geholfen, da Ihr jetziges Verhalten nicht akzeptiert wird." Der Junge wagte es immer noch nicht, aufzusehen. Wenn es etwas gab, was er noch mehr hasste als die graue Farbe eines jeden einzelnen Objekts, dann waren das die aschfarbenen Schuluniformen der Schüler- und Lehrerschaft. "Nun denn... Sie wissen wie es weitergeht, ich weiß es ebenfalls." Norman wusste durchaus was gemeint war. Für gewöhnlich wurde er jeden zweiten Tag zum Nachsitzen verdonnert, inzwischen war es ihm aber auch egal. "Ich sehe sie später beim Papiere einordnen." Wie gesagt, dem Jungen war es egal.
Der Rest des Tages verlief normal. Fakten, Gehorsam, Monotonie und Grau waren die Einzigen Sachen, die den Alltag prägten. Doch in einer der späten Stunden am Nachmittag war auf einmal ein Schüler weniger anwesend. Mathematik stand an, jedoch gab es Sorgen, da nun möglicherweise ein Schüler den Stoff verpassen würde. Nach genaueren Nachforschungen fand man jedoch heraus, dass lediglich der Schüler selber verschwunden war, seine Unterlagen sich jedoch noch vor Ort befanden. Das Buch, welches ein jeder Schüler immer mit sich führte, war noch hier. Der Zustand eben jenes Buches war jedoch mehr als fragwürdig. Dies begann schon damit, dass der Name des Besitzers durchgestrichen und ersetzt worden war. Statt Norman stand dort nun Novato. Beim Öffnen des Buches war zu sehen, dass jemand einen großen Teil der Seiten ausgerissen und versteckt hatte. Zwei Seiten, welche zuvor noch blank gewesen waren, waren nun beschriftet und verziert. Das erste der beiden Blätter ähnelte von der Schriftart den großen Buchstaben die man oft am Kapitelanfang eines etwas älteren Buches wie der Bibel vorfinden konnte. Ein einziges Wort, Neuanfang, stand auf der Seite im Querformat geschrieben, damit genug Platz für Verzierungen war. Die Buchstaben, welche in eben jener Schrift mit eleganten Linien verfasst waren, wurden im Hintergrund von einer gerade aufgehenden Sonne unterstützt. Eine Sonne war zwar etwas alltägliches, doch die Sonne sah anders aus… Sie war nicht grau, sondern strahlend gelb. Jetzt erkannte man auch eine Menge an anderen Farben. Blumen, welche gerade erst zu blühen begannen, wuchsen aus manchen Ecken der Buchstaben. Einige Vögel zierten ebenfalls die Seite, sodass diese weniger leer aussah. Einer der Vögel, welcher sich beim genaueren Hinsehen als Storch herausstellte, ruhte sich auf einem der Buchstaben aus. Manche der Buchstaben wiederum beinhalteten sogar kleine Bäche oder wurden auch mit Ranken geschmückt. Die ehemals weiße Seite war mit Farben verfeinert worden, zeigte jedoch immer noch Züge der ehemals weißen Buchseite.
Die nächste Seite wurde von einer kleinen Nachricht eingenommen. Die Schrift war sauber und leicht zu lesen, jedoch auch schön anzusehen.
Obwohl ich eigentlich nie hierher gepasst habe, weiß ich nicht, was ich schreiben soll. Irgendwie ironisch, hm? Naja, wenn ihr das hier lest, und die Seite vorher gesehen habt, wisst ihr, was los ist. Ich will ich sein. Gegen den Strom schwimmen. Auch wenn ich dabei ertrinke, ich möchte mein Leben auskosten und es nicht in Gefangenschaft verbringen. Mit eigenen Augen will ich alle Farben dieser Welt erkennen. Ihr werdet mich nicht wieder sehen. Das ist mein Wunsch… Weitere Worte werde ich nicht darüber verlieren.
Die erste Unterschrift des Textes sollte Norman sein, doch wurde diese durchgestrichen und durch Novato ersetzt. Stille herrschte im Raum, da niemand wusste, was in dieser Situation zu sagen war. Fünf Minuten später jedoch lief an der grauen Schule wieder der geregelte Alltag weiter.
„Sie sprechen mit dem Anrufbeantworter von Jasmin Löhwe. Ich bin gerade nicht da, bitte hinterlassen sie einfach eine Nachricht, dann rufe ich sie sicher zurück.“
Seufzend legte ich auf, bevor ich mich zurück auf mein Bett fallen ließ, das Handy neben mir auf den Boden legend. Ich hatte ja gewusst, dass sie bei ihrem Schneehasen war, trotzdem …
Eine Minute hätte sie sicher für mich erübrigen können. Tja, so hatte ich zumindest gedacht. Wie es schien, lag ich wohl falsch. Wenn sie zwischen ihm und mir wählen musste, hatte ich wohl keine Chance. Auch dass, war mir nicht neu. Nur heute, an Silvester, da hatte ich irgendwie die dumme Hoffnung gehabt, dass … Naja, auch egal.
Erneut griff ich zu meinen Handy, während ich fast unbewusst das Fotoalbum öffnete, mir die Bilder darauf ansah. Für gewöhlich merkte ich an dieser Stelle innerlich immer an, mein Fotoalbum demnächst sortieren zu müssen, um es dann eh nicht zu tun. Heute jedoch, blätterte ich einfach über all die dummen Bilder, bis ich zu denen gelangte, nach denen es mein Herz verzehrte.
Mir lachte ein fröhliches Mädchen entgegen. Ihre Augen strahlend vor Glück, ihre Mundwinkel gegen Himmel gehoben, während ihr langes braunes Haar aussah, als wäre sie gerade aufgestanden. Wenn ich die Augen schloss, dann konnte ich mir fast vorstellen den Tag erneut zu durchleben, dann konnte ich mir fast vorstellen die Wärme eines anderen Körper neben mir im Gras zu spüren, wie sich unsere Blicke trafen, wie ich ihr einen Kuss auf die Nase hauchte. Fast.
Einen langen Augenblick sah ich ihr in die blauen Augen, die mir heute eher grau erschienen, bevor ich es nicht aushielt und das Handy erneut beiseite legte.
Ich hatte noch fünf Stunden bis Mitternacht, fünf Stunden, bevor ich mich mit ein paar Freunden traf, um das neue Jahr zu begrüßen und fünf lange Stunden, in denen ich nichts mit mir an zu fangen wusste. Aber ich musste irgendwas tun, meinem Geist eine Beschäftigung geben, um die Stille zu füllen, die die Luft auf zu saugen schien, mir die Kraft zum Atmen nahm. Irgendwas musste ich tun, und wenn ich zur Not noch anfing meine doofe Wohnung zu putzen. Fünf Stunden. Danach konnte ich mich einfach in mein Bett fallen lassen, mich tief in meine Lacken verkriechen, in der Hoffnung, dass sie mich vor der Kälte beschützen würden, die mich schon seit geraumer Zeit heimsuchte. Ich wusste, dass es ein vergebener Kampf sein würde, genau wie jetzt. Ich würde wieder an sie denken müssen und dann würde ich wieder anfangen zu weinen. Und das, das wollte ich vermeiden. Wie sonst, sollte ich mein Pokerface glaubhaft herüber bringen? Lächeln, obwohl ich weinen wollte? Nein, weinen war gerade keine Option. Mal sehen, in welchem Schrank ich mein Putzzeug versteckt hatte.
„Hey, da bist du ja“, rief mir Kristoff zu, als ich aus dem Auto stieg.Wir hatten beschlossen, die letzten Minuten des Jahres bei ihm zu verbringen, danach gemeinsam noch zu reden, zu feiern, zu essen. Ich würde mich entschuldigen, irgend eine dumme Ausrede murmelnd, bevorich ging. Ich war nicht in Stimmung für Heiterkeit, aber ich wollte ihnen nicht den Abend verderben. Nur weil ich traurig war, hieß es nicht, dass sie es auch sein mussten. Abgesehen davon, dass ich eh nicht darüber reden wollte, darüber reden konnte.
Ich setzte an um zu winken, ein falsches Lächeln auf die Lippen zaubernd. Er glaubte es mir. Dann holte ich meine Raketen aus dem Kofferraum und gesellte mich zu der Truppe im Garten.
„Kann ich dir was anbieten?“, fragte er mich und deutete auf eine ganze Horde an verschiedenen Sekten und anderen alkoholischen Getränken. Ein Teil von mir war versucht sich eine Flasche zu nehmen und sich bis zur Unendlichkeit und noch viel weiter zu besaufen. Der andere Teil in mir – der nicht total verrückt war – lehnte lächelnd ab. Ich würde nämlich sicherlich nicht betrunken Auto fahren. Die anderen schienen wohl zu übernachten, da sie alle eine Flasche bzw. ein Glas in der Hand hielten. Normalerweise würde ich jetzt die Augen verdrehen, einen Kommentar darüber abgeben, dass man auch ohne Alkohol Spaß haben könnte. Heute nicht.
Unauffällig setzte ich mich etwas weiter von der Gruppe auf einen Stuhl, um mein Handy aus der Tasche zu holen. Einen langen Moment starrte ich auf den schwarzen Display, das Bild immer noch vor Augen habend. Ich musste es mir nicht ansehen, es hatte sich bereits in mein Gedächtnis gebrannt, verfolgte mich, wenn ich die Augen schloss. Unser letztes gemeinsames Bild, bevor …
„Hey,ich habe gerade gesehen, dass du versucht hast mich an zu rufen“,lachte es aus der Ecke, in der Jasmin und ihr Freund saßen. Wie sie es überhaupt hin bekommen hatte zu sprechen wunderte mich, da sie in der nächsten Sekunden wieder an den Lippen ihres Freundes klebte. Ich beschloss ihr nicht zu antworten, sie würde sowieso keine Unterhaltung mit mir führen, wieso sollte ich mir also die Mühe machen?
„Leute, könnt ihr das nicht im nächsten Jahr machen?“ Valerie sah zuerst zu den zwei, und dann zu mir, bevor sie mitfühlend lächelte.
„Du kannst doch auch mit deiner Freundin rum machen, wenn es dich stört“, nuschelte Jasmin, bevor Valerie seufzend den Kopf schüttelte, nur um sich neben mich zu setzen.
„Ich bin so froh, dass wir nicht so ein Pärchen sind. Sonst müsste ich dich nämlich beauftragen mich um zu bringen.“ Sie lächelte mir zu.
Für gewöhnlich würde ich ihr jetzt eine total dumme Antwort entgegen werfen. Sowas wie „Bin zu pleite für einen Auftragskiller“. Dann würde ich sie küssen. Heute nicht.
Ich lächelte deshalb einfach nur, bevor ich wieder in die Runde sah. Kristoff und sein Kumpel Jürgen waren damit beschäftigt die Raketen auf zu bauen, - hoffentlich waren die nicht zu besoffen um die richtig ab zu feuern – die zwei Turteltauben machten mit einander rum und Valerie, tja die sah mich seltsam an. Sie kannte mich nun mal am besten, sie wusste, dass etwas nicht stimmte. Egal wie gut mein Pokerface war, wenn sie mir in die Augen sah, wusste sie, ob ich sie belog.
Langsam beugte sie sich zu mir hinüber, bevor sie nur wenige Zentimeter von meinem Ohr entfernt war. Nicht, dass es irgendjemand interessiert hätte, was sie mir zu sagen hatte.
„Was ist los?“
„Nichts.“
Misstrauisch sah sie mich an, verschränkte ihre Arme vor der Brust, bevor sie ihre Frage wiederholte.
„Nichts. Es ist alles OK.“
Sie kaufte es mir nicht ab.
In der nächsten Sekunde stand sie auf und lief in Richtung Haus.
„Ich muss mal auf die Toilette“, murmelte sie, mich auffordernd anblickend.
Aus der Nummer kam ich nicht mehr heraus. Memo an mich selbst, wenn es dir schlecht geht, meide deine Freundin, sie ist wie Charles Xavier.
„Bleibt nicht zu lange, es sind nur noch zwei Minuten!“, hörte ich Jasmin rufen, bevor ich und Valerie im Haus verschwunden waren.
Sie sagte nichts, sah mich nur an, wartete darauf, dass ich mich erklärte. Ich wollte jedoch nicht, wollte es ihr nicht sagen, wollte weiter so tun, als sei alles OK. Konnte sie es nicht auch einfach gut sein lassen? Konnte sie nicht – und dann umarmte sie mich, bevor ich meinen Gedanken zu Ende denken konnte. Das war der Moment, in dem meine Barriere fiel, ich mich an sie drückte, mich an sie presste, meine Arme um sie schlingend. Und dann fing ich an zu weinen. Ich hatte mich so gut beherrscht, hatte meine Gefühle kontrolliert, doch jetzt, jetzt konnte ich einfach nicht mehr. Nicht vor ihr.
Behutsam strich sie mir über den Rücken, während sie mir mit der anderen Hand liebevoll durchs Haar fuhr. Im Hintergrund hörten wir, wie die Raketen in die Luft stiegen, wie unsere Freunde anfingen zu schreien.
„Du musst es mir nicht sagen“, hauchte sie schließlich an mein Ohr.
„Aber ich will, dass du weißt, dass du es nicht alleine mit dir herum tragen musst. Ich bin für dich da. Immer.“
Ich brachte keine verbale Antwort mehr über die Lippen, schmiegte mich nur enger an Valerie, die es mir gleich tat.
Später sollte ich mich ihr anvertrauen, sollte ihr davon berichten, dass ich seit Wochen nicht schlafen konnte, dass mich die Alpträume verfolgten, dass mich der Schmerz zerfraß. Später, sollte ich ihr davon erzählen, dass ich an Neu Jahr nicht hatte kommen wollen, da sich mein einziger Wunsch, das einzige, das ich mir wirklich wünschte, nie erfüllen würde. Später, sollte ich ihr von Maya erzählen, davon, dass ich sie verloren hatte, dass mir nichts geblieben war, außer Bildern und Erinnerungen an eine Zeit, in der die Sonne noch schien und die Luft voll Hoffnung war.
Vielleicht würde es einen Tag geben, an dem ich mir einen anderen Hund kaufen würde, einen Tag, an dem ich nicht in Tränen ausbrach, wenn ich ihr Halsband sah. Doch gerade im Moment, ging das nicht. Und gerade im Moment, während der Himmel über uns hell erstrahlte, zog mich die Vergangenheit zurück ins grau.
Lügner. Du bist ein Lügner. Sonst nichts.
Weißt du noch letzten Frühling? Wir lernten uns kennen, im Netz. Du warst freundlich, du warst nett. Du warst irgendwie süß. Ich habe es geliebt, mit dir zu schreiben, Tag für Tag, bis spät in die Nacht. Müdigkeit am nächsten Morgen? Egal, du warst wichtiger. Du hast mir jeden Tag versüßt. Du warst ein Freund, auf den man sich verlassen konnte.
Ja, du warst ein Freund. Doch nicht mehr lange. Ich wollte mehr, viel mehr, und du machtest keine Anstalten, mir das zu verwehren. Wir wollten uns treffen. Ich war so aufgeregt.
Ich sagte dir, was ich empfinde. Du meintest nur, die Entfernung sei zu groß. Aber geändert hast du dich nicht.
Weißt du denn nicht, was man sich aus solchen virtuellen Küssen alles erhofft, wenn man denn hofft? Ich war erfüllt mit Liebe, mit Sehnsucht, und jedes einzelne dieser kleinen, gelben, für dich anscheinend so unbedeutenden Gesichtern feuerte dies noch mehr an. Ich wollte nicht mehr allein sein. Du gabst mir Hoffnung.
Den ganzen Abend hörte ich nichts von dir. Weißt du überhaupt noch, warum ich an jenem Tag so sehnsüchtig auf dich gewartet habe? Wir wollten gemeinsam das Hotel buchen. Wir wollten über den Tag reden, an dem wir uns endlich treffen würden. Ich freute mich darauf. Ich wartete. Du warst nicht da.
Es war spät, als du doch noch kamst. In jedem deiner Worte konnte man förmlich die Freude spüren. Was war los? Was hatte dich aufgehalten? Ich wusste es nicht. Ich konnte es mir nicht denken.
Zersplitterte Träume. Das war alles, was nach dieser Nacht übrig war. Verzweiflung, Ernüchterung.
Du hattest jemanden kennengelernt. Du hattest dich verliebt.
Mein Herz zerbrach, als ich es las.
Konntest du wirklich nicht verstehen, warum ich in diesem Moment traurig war? Konntest du wirklich nicht verstehen, warum ich mich in diesem Moment nicht für dich freuen konnte?
Du Lügner!
Doch du hattest nicht nur mich belogen. Da war dieses andere Mädchen, das rein zufällig am gleichen Tag Liebeskummer hatte wie ich. Rein zufällig? Nein, wohl kaum.
Ich wusste wenigstens von ihr. Ich wusste, dass ich nicht die Einzige war, die dich für sich beanspruchen wollte. Doch dass du mit ihr genau das Gleiche abgezogen hast wie mit mir? Hattest du mir nicht versprochen, dass du aufhören würdest, ihr all diese Herzchen zu schicken, weil ich dir wichtiger sei? Du Lügner! Hattest du ihr nicht versichert, dass sie die Einzige sei, die von dir träumen dürfte? Du Lügner! Du elender Lügner!
Aber ich muss dir wohl danken. Wäre das nicht geschehen, wer wüsste, ob ich in ihr so eine gute Freundin gefunden hätte? Ha, schon ironisch. Erst durch diesen Schmerz fand ich jemanden, der mich tatsächlich verstand. Du verstandest mich doch nie! So oft ich mir auch eingeredet hatte, dass wir Freunde wären, so oft wurde mir klar, dass es nicht wahr war. Warum ich trotzdem so dumm war? Weil ich jemanden brauchte, der zumindest so tat, als wäre er für mich da. Jemanden, der zumindest so tat, als könnte er mich befreien.
Ich wollte so sehr, dass wir Freunde bleiben. Selbst nach all dem, was du mir angetan hattest, wollte ich dich noch außerhalb des Internets kennenlernen. Nach all dem wollte ich dir immer noch wenigstens ein Mal ins Gesicht sehen können. Ich hielt dich für meinen Freund.
Wir hatten uns damals versprochen, dass wir immer füreinander da sein würden. Weißt du das noch? Ich habe daran geglaubt.
Wir haben ein Treffen ausgemacht. Kurz vorher sagtest du mir ab.
Du sagtest mir, zu einem anderen Termin gehe es sicher. Ich freute mich darauf. Der Tag kam näher, deine Aussagen wurden ungewisser. Und wieder sagtest du mir ab.
Du bist ein Lügner. Konntest du wirklich nicht verstehen, warum ich in diesem Moment wütend war?
Offenbar konntest du es nicht. Du stelltest dich als das wahre Opfer dar. Ich war immerhin so böse, dir wegen einem einzigen Fehler, den du begangen hattest, die Schuld für alles zu geben. Ein einziger Fehler. Das war dein genauer Wortlaut. Erinnerst du dich noch?
Ich lernte jemand anders kennen. Du sagtest mir, ich solle ihm nicht vertrauen, er sei nicht gut für mich. Ich hörte nicht auf dich. Ich wurde verletzt. Ich brauchte einen Freund.
Weißt du noch, was du damals zu mir gesagt hast? Als ich mich benutzt und wertlos fühlte? Du sagtest mir, du hättest es mir doch gesagt, ich hätte nur nicht hören wollen. Meinst du nicht, mir war das selbst klar?
Ich ließ den Kontakt ganz langsam einschlafen. Ich wollte nichts mehr mit dir zu tun haben.
Doch dann kam dieses Treffen. Dieses Treffen, zu dem du mir abgesagt hattest. Ich war bei jemand anderem untergekommen. Ich traf dich. Weißt du noch, wie du mir ganz frech vorschlugst, die folgende Nacht doch noch bei dir zu verbringen?
Du bist ein Lügner. Für mich bist du nichts als ein Lügner. Wusstest du, dass ich Lügner über alles hasse?
Inzwischen habe ich dich begraben, auf dem Friedhof der von mir verdammten Seelen. Dort bist du in guter Gesellschaft.
Weißt du, was du mit den anderen beiden hier gemeinsam hast? Ihr alle seid dreckige, elende Lügner.
Ich wünschte mir bei euch allen so sehr, die Freundschaft zu erhalten.
Ich wünsche mir nur noch eins. Dass ich euch niemals wieder sehen muss.
Es ist ein Café in der Stadt, eines jener im durchmischten Stil. Kein Stuhl kommt doppelt vor, die Inneneinrichtung wirkt zufällig und gemütlich. An einem Tisch jedoch fehlt eine Sitzmöglichkeit und ein Barista hinter dem Tresen deutet einem Kellner an, diesen Fehler – der in seiner Natur eigentlich zur Einrichtung passen sollte – zu beheben. Sogleich macht sich dieser Kellner also daran, die Anordnungen etwas zu richten und findet einen Stuhl, der dort hingehört.
Dieser hat vier Beine, die auf etwa halber Strecke durch Querbalken miteinander verbunden sind. Vier elegant spiralförmig nach oben gehende Streben erschaffen eine abgerundete Rückenlehne. Ein beigefarbenes Polster bietet großen Komfort, den sogleich eine Person für sich in Anspruch nimmt: Einen Kaffee mit Milchschaum und Schokoladensyrup in der einen Hand, ein Stück Kuchen schon auf dem Tisch, die Gabel in der anderen Hand.
Das bin ich.
Ein Mann wie jeder andere in seiner Pause, der die Welt genießt und hinterfragt, der in die Ferne schaut, um zu träumen, der lacht, wenn andere nicht lachen, der einfach ganz normal ist, wenn man es so grob ausdrücken möchte. Natürlich weiß ich, dass es Normalität nicht gibt, aber das wäre mir ein zu großer Aufwand, denn so tief möchte ich gar nicht gehen.
Ich führe die Gabel zum Kuchen, steche in den matschigen Teig rein und ziehe mir ein kleines Stück des süßen Wunders ab, um es in meinen Mund zu führen. Es sei angemerkt, dass ich Kuchen hasse, aber das hier ist nicht irgendein Kuchen, das ist ein richtiger amerikanischer Brownie mit flüssiger Karamellschicht.
Kennt ihr nicht?
Wünscht euch lieber, den bald kennenzulernen, denn der ist all die Pfunde mehr wert, die ihr nur nach einem Stück wiegen werdet.
So sitze ich also in einem nicht ganz so zufällig gestalteten Café mit einem Kaffee und einem Stück Kuchen und denke über Gott und die Welt nach. Na ja, es ist eher die Welt, weil Gott nicht weiter von Interesse für mich ist und ich coolere Sachen durchspielen kann als ihn. Beispielsweise die Konsistenz vom perfekten Brownie. Doch es gibt auch andere Dinge, die mich an diesem Januartag beschäftigen. Ironisch, wie das Leben so ist, ist mein erster Gedanke ein Vorsatz: Iss nicht mehr so viel Süßes, Junge.
Schon im letzten und vorletzten Jahr habe ich mir vorgenommen, etwas Gewicht zu verlieren. Ich meine, ich bin nicht unglaublich fett und passe nirgendwo mehr rein, nein. Aber ich bin halt schon kein Spargel. Eher eine Biotonne mit unglaublich schönen Haaren. Und wie man sich vorstellen kann, denn sonst wäre es ja nicht der dritte Anlauf dieses Wunsches oder Vorsatzes oder wie auch immer man das nennen mag, hat es bisher nicht gut geklappt. Na danke, Brownie!
Was ich mich immer frage, ist der Nutzen von diesen Wünschen.
Ich meine, ich habe schon einen Sinn darin sehen können, dünn zu sein. Beispielsweise weniger Angst davor haben zu müssen, früher dement zu werden. Wäre schon geil, denn meine Gedankengänge sind die besten und meinem Ego täte das auch nicht ganz so gut.
Also ist das sicherlich ein großartiger Wunsch und ich fühle mich an den meisten Tagen dafür auch gewappnet. Wünsche müssen ja auch nicht von jetzt auf gleich realisiert werden, manchmal sind zehn Jahre ja auch in Ordnung.
Ein wenig, das muss ich zugeben, wünsche ich mir auch noch mehr Erfolg auf der Arbeit. Ich habe einen guten Job, keine Frage, aber die Bezahlung ist gering und meine Wunschliste ist eben etwas größer. So gut wie jeder Mensch, den ich kenne, ist nach dem ersten Gehalt zufrieden und wird von Gehalt zu Gehalt unzufriedener. Ist es also wirklich ein Wunsch? Oder viel mehr ein Volksleiden, weil wir alle glauben, wir wären die geilsten und würden alles auf der Welt verdienen?
Wäre ja schon cool, wenn wir alles bekämen, was wir wollen, den Wunsch kann man ja haben.
Aber ja, ich weiß, jetzt gerade werde ich wohl noch nicht ganz so ernst genommen.
Ich überlege weiter und denke so über meine Wünsche und Ziele nach. Meine Mama hat früher immer gesagt, dass Ziele auch nur Wünsche sind, die sich konkret genug äußern. Und dann ist mein Wunsch wohl einfach, dass ich glücklich bleibe und noch glücklicher werde.
Es klingt wahrscheinlich genauso wie beim letzten Wunsch und viele könnten sich denken, dass es nichts weiter ist als ein Gedanke, weil ich nicht genug haben kann. Aber das glaube ich nicht.
Glück ist das Wichtigste für einen jeden Menschen. Glück hält uns gesund und zufrieden; und Zufriedenheit ist leider heutzutage viel zu selten geworden. Ich verstehe das, die Welt ist hektischer denn je und Zeit ist Geld, das niemand hat. Überall sind riesige LED-Anzeigen, die so stark auf die Augen wirken, dass Stress entsteht, der sich unbemerkt über uns ausbreitet, bis wir immer mehr an Lust verlieren. Aber auch Stress kann Glück sein, wenn man sich darauf einlässt.
Mein Wunsch ist also nicht nur für mich, glücklicher zu werden. Ich wünsche jedem, dass er oder sie glücklicher wird und sich auf die Stärken konzentriert, die ihn oder sie auszeichnen. Jeder hat etwas in sich und der Wunsch ist nichts, was man nicht schaffen kann.
Mit jedem Schluck, den ich von meinem Kaffee trinke, wird es mir immer klarer.
Mein größter Wunsch ist es, Glück zu schaffen. Jeden Tag nur etwas tun, sei es noch so winzig, um Menschen das Leben ein wenig angenehmer zu machen, sie Glück erfahren zu lassen. Jede noch so mickrige Tat kann einem anderen Menschen das Leben verbessern.
Aber das ist nicht nur mein Wunsch, das ist meine Anforderung an mich selbst. Die Kleinigkeiten des Lebens zu genießen ist eine Kunst, die uns in den Wahnsinn treiben kann. Eine Portion Wahnsinn hat schließlich noch niemandem geschadet!
Also esse ich noch ein letztes Stückchen von dem Brownie und nicke still. Abnehmen kann ich auch noch nächstes Jahr.
Ein kühler Windhauch streifte ihre blasse Schulter, als sich das Mädchen, milde lächelnd, seinen Weg durch das Dorf bahnte. Es war ein kleines Dorf, am Rande eines Waldes, so klein, dass kaum jemand seinen Namen kannte. Ein jeder wusste nur von einem sagenhaften Brunnen, in der Dorfmitte stehend, welcher, der Legende nach, Wünsche erfüllen sollte.
Auch besagtes Mädchen kannte gewiss den Brunnen, auf dessen Weg sie sich befand. Das Mädchen, das auf den Namen Megan hörte, hatte nämlich so einige Wünsche in ihrem Herzen verborgen, manche klein und unscheinbar, manch andere wiederum groß und voller Hoffnung und bereit, in Erfüllung zu gehen. Da jedoch die Erfüllung bisweilen so lange auf sich warten ließ, hatte Megan beschlossen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Hart hatte sie jeden Tag in der Mühle gearbeitet, um sich einen Taler für ihren Wunsch zu verdienen. Dieser Taler befand sich nun in ihrer geschlossenen, aufgeregt zitternden Faust. Das Lächeln um ihre Mundwinkel wurde breiter. So war ihr größter Wunsch, dass es ihrem Dorf endlich wirtschaftlich besser ginge, denn der König verlangte so viele Steuern, dass es den Dorfbewohnern nur möglich war, sich untereinander mit viel Geduld und Güte wertzuschätzen und bessere Zeiten abzuwarten. Es würde gewiss nicht schaden, dem Glück etwas auf die Sprünge zu helfen.
Megan war am Brunnen angekommen. Sie stand direkt davor, legte ihre Hände behutsam auf die festen Steine und spürte, wie feucht und von Moos überdeckt sie waren. Kalt waren sie, und dennoch schienen Megans Fingerspitzen bei der Berührung zu kribbeln. Sie atmete langsam und tief aus. Kurz richteten sich ihre olivgrünen Augen gen Himmel, wo einzelne Schatten die Ankunft von Vögeln verhießen und einzelne Wolkenfetzen das Himmelblau zierten.
"Ich wünsche..." flüsterte sie. Sie schloss die Augen, ihre Lider färbten sich aufgrund der Sonne von innen lachsfarben. Ihr dichter, schwarzer Wimpernkranz warf kleine Schatten auf ihre Wangenknochen. So, wie sie dastand, könnte man sie fast für einen Teil der Legende des Brunnens halten.
Sie öffnete die Augen und schaute in den Brunnen hinab, den Taler fest in der zum Wurf erhobenen Hand. Doch sie zögerte.
Der Brunnen war metertief, so tief, dass Megan nicht einmal mehr imstande war, den Boden zu sehen. Selbst das Wasser konnte sie nur anhand von kleinsten Wellenbewegungen ganz tief unten ausmachen, es war genauso schwarz wie das Innere des Brunnens selbst. Megan kniff die Augen zusammen. Wie sollte ein solch dunkler Brunnen so verheißungsvoll Wünsche erfüllen können?
Megans Augen waren nur noch Schlitze, sie versuchte, etwas in den Tiefen des Brunnens zu erkennen, etwas anderes außer Dunkelheit. Schlagartig wurde ihr ganz heiß und sie taumelte. Was mochte nur da unten sein?
Ein Vogel schrie. Der Boden begann sich zu drehen. Ihre Füße verloren den Halt und sie fiel. Mit einem einzigen Wimpernschlag fand sie sich dort unten wieder, im seichten, tiefschwarzen Wasser des Brunnens. Doch es war nicht kalt. Megan fühlte nichts, weder Angst noch Kälte noch das Wasser. Sie war einfach nur da. Glaubte sie. Ungewiss, wie sie hergekommen war. Ungewiss, wie sie wieder hinauf kommen sollte. Doch sie fühlte keine Beklommenheit oder Furcht. Ihr Inneres schien nur zu pulsieren, ein großes, pulsierendes Nichts, trotzdem warm und voller Leben. Das Einzige, was sie wirklich wahrnahm, war der Taler in ihrer Hand.
Megan versuchte etwas zu erkennen, doch da war nur taube Dunkelheit. Sie blinzelte. Nichts. Sie versuchte, sich umzudrehen, doch alles sah gleich aus. Sie wollte in Panik verfallen und schreien, doch aus ihrem Mund kam nichts weiter als heiße Luft. Doch auch das schien nicht wirklich von Belang.
Plötzlich schien sich etwas zu regen. Ein Punkt nur - ganz klein, vielleicht nur Einbildung, aber er war da gewesen. Megan versuchte sich auf den Punkt zu konzentrieren, an dem sie die Bewegung vermutet hatte. Ja, ganz gewiss, die Stelle flimmerte, ähnlich den Wellen des Brunnenwassers. Sie ging näher dran, wollte ihre Hand ausstrecken nach diesem Etwas, was zugleich Nichts zu sein schien. Und dann brach eine Welt voller Farben auf sie ein.
Sie musste die Augen erneut gezwungenermaßen zusammenkneifen, da sie geblendet wurde von all den Farben, die aus dieser einen Stelle zu strömen schienen. Sie zogen an Megan vorbei, umhüllten sie, nahmen sie vollkommen ein, völlig unvorstellbar, wie nur einige Sekunden zuvor nichts als Schwärze geherrscht hatte. Es waren Farben, die sich außerhalb von Megans Kenntnis befanden, wunderschöne Lichtspiele und Nuancen aller Helligkeitsstufen - es war gewiss das schönste, was Megan je gesehen hatte.
Als sie nun näher hinsah, erkannte sie, dass es nicht nur Farben waren. Es formten sich langsam Bilder - jeweils nur von kurzer Dauer, nur einen Augenblick greifbar, bis sie sich sogleich wieder verflüchtigten. Dennoch konnte Megan einige Bilder einfangen, ehe sie wieder verschwanden - da war ein Hund, welcher sich vor seinem weinenden Besitzer wieder aufrappelte und von ihm freudestrahlend in die Arme geschlossen wurde. Ein anderes Bild zeigte einen kahlen Apfelbaum, der nur wenige Sekunden später wieder pralle Früchte trug. Wieder ein anderes zeigte einen tapferen Kämpfer aus der Schlacht, der endlich wieder zu seiner Familie heimkehrte. Ein kleines, neugeborenes Kind, welches ein glockenhelles Lachen verlauten ließ. Megan weinte - sie weinte, weil all dies so schön war.
"Junges Kind, du hast dich an diesen Brunnen wenden wollen, weil dir ein Wunsch auf dem Herzen liegt, zentnerschwer und völlig selbstlos." Megan erschrak, als sie die Stimme in ihrem Kopf vernahm. Ein lautes Hallen, wie ein Echo, doch es klang nicht gefährlich. Die Stimme klang wie Geborgenheit, wie Zuhause. So hörte Megan zu und nickte langsam.
"Wie du siehst, ist dieser Brunnen tatsächlich in der Lage, dein Begehren zu erfüllen - " während Megan zuhörte, schossen weitere farbenprächtige Bilder vor ihrem Auge umher: keimende Samen, heilende Wunden, geheilte Menschen. "- es gibt gewiss nichts schöneres, als seinen Wunsch erfüllt zu wissen." Arme bekommen Geld. Hungernde essen sich satt. Trauernde finden Hoffnung. "Dein Wunsch ist rein und voller Güte. Wie dein Herz. Wenn du dir von Herzen wünschst, dass er in Erfüllung geht, wird der Brunnen deinen Wunsch gewähren." Ihr Dorf. Ihr Dorf, dem es gut geht. Megan nickte. Nichts sehnlicher wünschte sie sich. Sie lockerte ihre Faust, in der sich noch immer der Taler befand.
"Doch gib Acht. Jeder Wunsch zieht Folgen nach sich. Manche kleiner. Manche größer. Ungeahnt. Zuweilen katastrophal." Die Farben werden schwächer, und ehe Megan sich versieht, sind sie ganz verschwunden, und die Bilder werden je zu einer monochromen Szenerie. Ein Hund, der nach überstandener Krankheit gleich von einer Kutsche überrollt wird und stirbt. Ein Apfelbaum, der nur verfaulte Früchte trägt. Ein Kämpfer, der ob seiner Taten nie mehr glücklich werden wird. Ein Baby, dass seinen Eltern geraubt wird. "Ein Wunsch ist ein mächtiger Zauber, mächtiger, als den meisten Menschen bewusst ist." Acker, die nicht mehr fruchtbar sind. Innere Wunden, die nicht heilbar sind. Menschen, die mit sich nicht mehr leben können, weil sie dem Tod bereits begegnet waren. "So wähle immer mit Bedacht, was du dir wünschst, mein Kind." Arme töten einander wegen ihrer Gier. Hungernde wegen ihres Hungers. Und Trauernde, weil die Hoffnung nicht von Dauer ist. "Ein Wunsch kann nicht mehr rückgängig gemacht werden." Ihr Dorf. Ihr Dorf, dem es wirtschaftlich nun so gut geht, dass niemand mehr Rücksicht auf den anderen nimmt und Korruption dort herrscht, wo einst Liebe herrschte. Megan weinte - diesmal, weil sie das Grauen nicht fassen konnte. Sie wollte nur, dass die Bilder verschwanden, die Stimme verstummte, sie wieder frei atmen konnte. "So sei dir im Klaren, was dein Wunsch für Konsequenzen haben könnte."
Sie fuhr hoch. Als sie die Augen panisch öffnete, war es wieder taghell, die Sonne schien auf sie herab, kitzelte sie im Nacken. Vor ihr befand sich der Brunnen. Der Taler war nicht mehr in ihrer Hand. Panisch schaute sie sich um, doch sie musste ihn nur aus Angst fallen gelassen haben. Er lag auf dem festen Boden neben ihr. Megan schluckte und blinzelte die Tränen weg, die an ihren Wimpern klebten. Den Taler wieder fest in der Hand, ging sie zurück in die alte Mühle. Sie würde nicht das Glück ihres Dorfes auf's Spiel setzen. Oh ja, sie wünschte noch immer. Doch es war ihr lieber, wenn sie es still und heimlich tat.
Ein paar Monate später trat des Königs Sohn das Erbe an. Er war ein gnädiger König und senkte die Steuern. Dem Dorf ging es besser. Und trotzdem herrschte noch immer Friede und Einheit bei den Dorfbewohnern. Und Megan lächelte jedes Mal, wenn sie am Brunnen vorbei ging. Und sie kam dennoch nicht umhin, sich zu fragen, was geschehen wäre, wenn sie den Brunnen um Hilfe gebeten hätte.
Gischt sprühte gegen die gewaltigen Steinwände, die sich direkt aus dem umgebenden Meer erhoben. Die Schatten der Wolkenmassen ließen das sonst so satte Grün der Hänge fahl wirken. Kein Baum hielt den Wind davon ab, gnadenlos über das Land zu fegen, wo er sich lediglich an den Felswänden der Küste brach. Instinktartig fasste der junge Mann die beiden Seiten seiner Kapuze und zog sie zusammen. Ein letzter, erfolgloser Versuch, sich vor dem strömenden Regen zu schützen. Ja, man konnte es eigentlich auch kurz fassen: Es war ein Scheißwetter.
Viel hatte er von Romantik zwar nie verstanden (Allgemein hatte er Beziehungen stets abgewiesen), aber zumindest war er sich relativ sicher, dass dies ein guter Zeitpunkt für sein Vorhaben war. In ein paar Minuten würde er als schwindender Schatten in die Tiefe stürzen. In Gedanken öffnete er ein letztes Bier (Welches er in der Realität nie gemocht hatte) und stellte sich das Prickeln im Bauchnabel vor. In der Realität war ihm seine Situation eher gleichgültig.
Als die Flasche halb leer war, war die Zeit reif. Im Grunde hatte er eigentlich nur keine Lust mehr, sich unter seinem als wasserdicht beworbenen Regenmantel den Hintern abzufrieren. Entschlossen schritt er nach vorne zur Klippe und blickte in den Abgrund, wo die Wellen ihm wie eine tosende Menge zuzujubeln schienen. Was war dagegen ein kalt-weißer Kreissaal, mit steril gekleideten Ärzten und überschwänglich freundlichen Hebammen, die sich im Endeffekt ohnehin nichts aus der roten Presswurst machten, die er zu seiner Geburt wohl dargestellt hatte?
Feierlich schloss er die Augen, trat nach vorne und rutschte aus.
In der Klinik hatte man ihn schnell wieder eingetragen und dieselben überarbeiteten Ärzte mit den neunmalklugen Brillen hatten ihm die bekannten tiefen Blicke zugeworfen, ehe sie ihn in sein Zimmer gebracht hatten. Er fragte sich, ob sie sich beim Abendbrot nicht klammheimlich eher darüber amüsierten, dass er auch seinen dritten Versuch irgendwie heil überstanden hatte, nachdem er bereits weißblaue Schlaftabletten ausgekotzt und der nette Lokführer mit dem technischen Defekt den verlangsamten Zug rechtzeitig angehalten hatte.
Missmutig lungerte er auf einem Stuhl herum, vor ihm eine braunhaarige Frau im weißen Kittel. Ihr Namensschild fehlte und sie hatte sich nicht vorgestellt. Sie sah aus wie eine Dr. Morris. Erste Strähnen lösten sich aus ihrem streng gebundenen Zopf und ließen sie menschlicher wirken, als manch eine roboterartige Gestalt, die ihm den Sinn des Lebens hatte erklären wollte. Auch wenn sie es natürlich stets anders verpackten.
„Sie waren bereits häufiger hier?“
„Es scheint, als hätten einige Leute Interesse, sich meinen Fall als neuesten großen Erfolg in ihrer Vita zu vermerken.“
Sie widersprach ihm nicht, sondern nahm stillschweigend seine Akte zur Hand. Sein Blick schweifte ab zu ihren Füßen. Tannengrüne Riemen spannten sich über die helle Haut und hinterließen rote Druckstellen. Sie spannte die Sehnen an und er verfolgte mit einer unerklärlichen Faszination, wie sie ihre Füße verschränkte. Sein Blick wanderte nach oben über die schmalen Beine, die in einer weißen Skinny Jeans steckten. Er tippte auf Levis. Der Klassiker.
„Nun …“
Sie legte ihre Stirn in Falten. Dann seinen Bericht zur Seite.
„Ich will nicht um den heißen Brei herumreden. Auf meinem Bericht steht, Sie seien schizoid und manisch-depressiv. Ich halte sie für einen mündigen Mann.“
Er hätte gerne die Augen verdreht, aber er zog es vor, stillschweigend auf ihren klischeehaft wuchtigen Schreibtisch zu sehen, dessen dunkles Holz einen starken Kontrast zu ihrer nahezu feenartigen Erscheinung bot. Ja, sie war hübsch. Nur machte er sich generell aus niemandem etwas.
„Haben Sie sich schon einmal überlegt, weshalb es Ihnen scheinbar nie gelingt, Ihren Todeswunsch in die Tat umzusetzen?“
Machte Sie sich eigentlich über ihn lustig? Etwas verunsichert zog er es erneut vor, zu schweigen.
„Oh, kommen Sie, das ist doch offensichtlich.“
Er spürte, wie er unruhig wurde. Ihre Art reizte ihn und er wünschte sich mehr und mehr in sein Bett. Sollten sie ihn doch mit Medikamenten vollpumpen. Anderswo zahlte er schließlich für einen Trip.
„Sie wollen gar nicht sterben.“
Er starrte sie an, mittlerweile halb belustigt.
„Was soll das heißen?“
„Was ist ihr größter Wunsch?“
„Nun, ich will sterben.“
„Das ist ihr Wille, nicht ihr Wunsch.“
Er sah sie an, sichtlich verwirrt.
„Sie sollten daran arbeiten, Ihre Mazoka zu verlagern. Das wäre eigentlich alles.“
Für einen Augenblick überlegte er tatsächlich, ob man ihn dieses Mal in ein spirituelles Programm gesteckt hatte. Ob das bedeutete, dass man hier mit ein wenig Schauspielerei an bessere Medikamente kam? Vorerst entschied er sich, mitzuspielen.
„Und was ist dieses Mazoka?“
„Mühe, Anstrengung, Zeit, Opfer, Kosten und Ausdauer. Sind Sie bereit, all das für ein Ziel aufzubringen, ist es ein Wille. Liegt das nicht vor, handelt es sich um einen Wunsch. Ich möchte, dass sie ihre Wünsche finden und ihr Mazoka darauf verlagern. Dies zieht mit hoher Wahrscheinlichkeit auch mit sich, dass ihr auf einen Wunsch reduzierter Todeswille im Laufe der Zeit mehr und mehr Bedeutung verliert.“
„Sie wollen also nicht erreichen, dass ich niemals mehr auch nur daran denke, mich umzubringen?“
„Wieso auch? Schon Freud schrieb uns allen unseren Thanatos – Den Todestrieb zu. Ich möchte Ihnen nichts austreiben, was in den Tiefen Ihrer Persönlichkeit verwurzelt ist. Aber ich möchte, dass Ihr Drang zu leben im Kampf dieser Mächte die Überhand gewinnt. Indem wir ihm ein Ziel geben.“
„Das ist der größte Unsinn, den ich je gehört habe.“
„Natürlich. Es ist Psychologie.“
Sie ordnete ihre Blätter und klemmte sich einen Kugelschreiber hinters Ohr. Er fragte sich noch immer, wie er hier gelandet war.
„Ich will Sie für heute nicht weiter irritieren. Wir haben genug Zeit in den nächsten Tagen und … Wochen.“
Ihn kümmerte das nicht wirklich. Hier gab es wenige Regeln und eine Menge Freizeit. Nur die eingeschränkte Freiheit juckte ihn.
Sie nickte ihm zu und lächelte.
„Wir sehen uns.“
In den kommenden Tagen schlug er sich in der Cafeteria den Wanst voll, übernahm Spaziergänge über das Gelände, rülpste im Fernsehraum den Zwangsneurotiker an und wälzte sich abends im Bett von einer Seite auf die andere. Daneben erklärte man ihm in Gruppentherapien den Sinn des Lebens und warf ihm Zeug ein, das ihn benommen machte, aber an seiner Grundstimmung wenig änderte. Zwei Mal hatte er weitere Einzelgespräche, mit den üblichen, austauschbaren Psychiatern geführt. Mittlerweile war er ungeduldig, die seltsame Frau vom Beginn hatte er seitdem nicht wiedergesehen.
Am folgenden Morgen stellte er fest, dass er nicht alleine im Zimmer war. Bislang war ihm dieser bescheidene Luxus vergönnt gewesen und insgeheim hoffte er, dass es niemand mit Panikattacken oder Aggressionsstörungen wäre, als er vorsichtig den Raum durchquerte.
Lange braune Haare lugten aus der weißen Decke hervor. Normalerweise trennten sie Männlein und Weiblein hier rigide. Oder hielt sich sein neuer Kumpane einfach für einen neuen Jesus?
Ein Gähnen erklärte die Situation. Und irgendwie auch nicht. Denn als der Pseudo-Messias sich aufrichtete, war er mitnichten männlich.
„Mazoka?“, begrüßte sie ihn und zwinkerte ihm zu. Er verstand seine Welt nicht mehr.
„Nun, du hast dir gewünscht, mich zu sehen, nicht wahr? Ich sehe es, als einen Anfang. Danke dafür.“
Er wich zurück. Nun ließen sie bereits Irre therapieren? Oder schickten Sie Therapeuten, auch den letzten Rest Privatsphäre ihrer Klienten zu ergründen? Er wusste nicht, was ihm lieber war.
„Sorry, es ist nur für den Übergang. Nachher bekomme ich einen Platz in einem Frauenzimmer.“
„Du bist eine Verrückte.“
„So würde ich das nicht betrachten. Auf dem Papier bin ich das, ja. Angeblich verweigere ich mich der Realität, indem ich behaupte, dass unser Todeswunsch einen großen Teil unseres Selbst ausmacht, den wir nicht schlichtweg selbstoptimiererisch wegtherapieren sollten. Ich habe mein Fach nie studiert. Aber ich hatte die Ehre, die Bekanntschaft mit Menschen zu machen, die mir mehr über die menschliche Funktionsweise mitgaben, als es ein Professor je vermocht hätte. Gut, da wären auch noch so ein paar nervige kleine Angewohnheiten meinerseits, aber die tun weniger zur Sache.“
„Im Grunde hast du mich verarscht.“
„Hab ich das? Ich habe eigentlich nur ausgenutzt, dass einem hier so ziemlich nichts nachgetragen wird, wenn du nur krank genug bist. Auch nicht, dass du eine Therapeutin weglockst und ihre Therapiestunde übernimmst.“
Er sah sie entgeistert an und schüttelte den Kopf.
„Lass mich raten. Du hast in den letzten Tagen dein verantwortungsloses Leben genossen, deine Aggressionen und Minderwertigkeitsgefühle an den anderen ausgelassen und dich gelangweilt. Aber wirkliche Gedanken, wo du langfristig hinwillst, hast du dir nicht gemacht?“
„Wieso sollte ich?“
Sie sah traurig aus.
„Mir liegt etwas daran, dass du lebst. Ich habe dich hier die letzten Male schon gesehen. Du hast mich nur nie bemerkt.“
Er atmete tief durch und sah nach oben. Ihm war schwindlig und er fühlte sich überfordert von der Situation.
Sie fuhr mit ihren Fingern suchend unter der Decke entlang und holte schließlich ein grünes Kuvert hervor.
„Da ist er.“
„Wer?“
„Dein Lebenswunsch.“
Zögerlich öffnete er das Papier unter ihren wachsamen Blicken. Vorsichtig zog er einen Zettel heraus, auf dem sich lediglich undefinierbares Gekrakel befand.
„Was soll das?“
„Irgendwann wirst du es erkennen. Und ich werde alles tun, um dir dabei zu helfen.“
Sie legte ihre zarten Finger an seinen Handrücken. Er ließ es zu.
Ich tue nichts, liege nur da und lausche den Schritten vor meiner Tür. Ob sie wohl eintreten wird? Mir vorspielen, alles wäre in Ordnung, und sie würde sich Sorgen um mich machen? Heute wohl eher nicht. Und ich bin froh darum. Noch eine einzige Sekunde dieser lallenden Stimme und ich müsste mich wieder übergeben. Das habe ich heute schon oft genug getan. Meine Magen-Darm-Grippe ist immer noch nicht geheilt und das Fieber hoch. Aber das ist mir egal. Ich habe größere Probleme, als mich um ein paar Bauchkrämpfe zu kümmern. An körperliche Schmerzen kann man sich gewöhnen und lernen, sie zu ignorieren. Aber dort draußen vor meiner Zimmertür läuft etwas herum, an das ich mich niemals werde gewöhnen können.
«Du hast wieder getrunken. Die Fahne riecht man bis in mein Zimmer» Enttäuschung und Ekel schwingen in seiner Stimme mit. Ein unklares «Nein, was redest du da» kommt als Antwort. Man kann diese Worte kaum verstehen. Die Stimme, zu der sie gehören, ist kaum noch bei sich. Die beiden werden lauter und aggressiver. «Du bist eine nichtsnutzige Säuferin! Nicht mehr und nicht weniger! » «Und du bist ein sooo kleines Ding in meinem Leben, soo klein. Soo unbedeutend und soo klein» Auch diese Worte wieder unklar und verschwommen, doch deutlich wütend. Ich sehe sie vor meinem inneren Auge, wie sie ihre Hand hebt und mit Daumen und Zeigefinger anzeigt, wie klein er in ihrem Leben denn angeblich war. Doch wäre er wirklich so unbedeutend, würde sie nicht immer so über ihn reden.
So geht der Streit weiter. Unzählige Vorwürfe, die sie einander an den Kopf werfen und die wieder mal gar nichts ändern werden. Und ich liege in meinem Zimmer und lausche. Umklammere die Wärmeflasche und presse den kalten Lappen auf meine Stirn. Habe mich unter meiner Decke verkrochen, doch bleiben mir keine Hände mehr frei, um meine Ohren zuzuhalten. Eine einsame Träne findet ihren Weg über meine Wange, wie schon so oft. Ich schlucke den Kloß in meinem Hals hinunter. Weinen wird es nicht besser machen. Wenn ich weine, wird er ihr wieder die Schuld dafür geben und der Streit wird nur noch mehr entfachen. Man soll kein Öl ins Feuer gießen.
Ich höre einen lauten Knall. Es klingt wie zerbrechendes Porzellan. Es dröhnt laut in meinen Ohren und lässt meine Kopfschmerzen wieder aufflammen. Ich verziehe das Gesicht. Geschrei, Gekreische. Mehr Lärm, der mich ahnen lässt, dass sie wieder mit Sachen nach ihm schmeißt. «Du hast mein Leben zerstört! Du hast es zerstört! Ich habe dich nie geliebt! Du bist hier der Säufer! Lass mich in Ruhe, du verdammter Säufer!» Immer wieder versucht sie, den Spieß umzudrehen. Aber wir wissen alle, dass er seit seiner Therapie keinen Alkohol mehr anrührt. Die Therapie, die sie von Anfang an so viel nötiger gehabt hätte als er.
Manchmal frage ich mich, warum sie das tut. Ich erinnere mich, dass sie roten Wein früher nicht mochte, weil sie davon immer so müde wurde. Heute trank sie teilweise drei Flaschen davon am Tag. Dabei waren wir sowieso schon so knapp bei Kasse. Ich ging zur Schule und mein Vater war der einzige, der Geld nach Hause brachte, da sie wegen ihrer Depressionen nicht mehr hatte arbeiten können. Als es ihr etwas besser ging, hatte sie sich auf Jobsuche begeben. Vergeblich. Das hatte sie so sehr frustriert, dass es sie wieder runterzog. Und sie begann, sich mit dem Alkohol zu trösten, der bei ihr am meisten Effekt erzielte: Rotwein. Ich konnte ihr nie böse sein, denn ich liebte sie zu sehr. Ich tat einfach so, als wüsste ich nichts, und sah elegant über all die leeren Flaschen hinweg, die ich zufällig in irgendwelchen Ecken des Hauses versteckt vorfand.
Doch ich erinnere mich an einen Tag, an dem ich nicht mehr schweigen konnte. Zu groß war meine Sorge um sie. Ich fragte sie nur: «Mama, was habe ich falsch gemacht? Warum bist du so geworden? Wieso kannst du mich nicht mehr ertragen, ohne dich davor zu betrinken?» Sie reagierte nur langsam. Im Zeitlupentempo drehte sie ihren Kopf in meine Richtung, doch sie blickte mich nicht an. Sie sah durch mich hindurch, ihr Blick war verschleiert. Ein falsches Lächeln setzte sich auf ihr Gesicht. «Wovon redest du, Süße? Ich habe heute nichts getrunken.» Es hätte mir weniger weh getan, wenn sie mir ins Gesicht gespuckt hätte. Sie log mich eiskalt an. Glaubte sie denn, ich sei blind? Ich sähe das Glas nicht, das sie unbeholfen unter ihr Bett geschoben hatte? «Mama, bitte…» Tränen verschleierten meinen Blick. «Bitte, lass mich dir helfen» «Mir helfen?» Ihre Augen kniffen sich zusammen. Ich erschrak, als ich erkannte, dass sie wütend zu funkeln begannen. «MIR HELFEN?! Das hättet ihr euch vielleicht früher überlegen sollen! Alles bleibt immer an mir hängen! Ich bin ein einziger Sklave in diesem Haus und werde von allen Seiten ausgenutzt! Keiner sieht, was ich alles für euch tue! Und du, du du du… Du bist eine einzige Enttäuschung! Du hast dein Jahr nicht bestanden! Du bist zu nichts Nutze! Du machst alles nur noch schlimmer! Hört verdammt nochmal auf, alles auf mich zu schieben, der Wein ist nicht das Problem! Ich bin eine erwachsene Frau und ich trinke, wann immer ich will, ohne mich dafür schämen zu müssen!» Ich griff nach ihrer Hand. «Mama, es tut mir leid…» Sie schrie auf, packte meine Hand und drehte sie gewaltsam von sich weg. Ich hörte ein Knacken, spürte einen flammenden Schmerz im Handgelenk und kreischte. «Wenn es dir wirklich leidtun würde, dann würdest du den Fehler bei dir suchen! JETZT VERSCHWINDE UND LASS MICH ALLEIN!» Das war das erste und das letzte Mal gewesen, dass ich sie darauf angesprochen hatte. Und das war der erste Moment gewesen, in dem ich realisierte, dass dies nicht mehr meine Mutter war.
Die Tage darauf brachte sie mich mit meinem gebrochenen Handgelenk zum Arzt. Sie diktierte mir zu sagen, ich wäre im Sportunterricht hingefallen. In ihren Augen sah ich Bedauern. Das war die Frau, die mich aufgezogen und geliebt hatte. Doch sie entschuldigte sich nicht. Dann hätte sie ja zugeben müssen, dass ihr Alkoholismus ein ernsthaftes Problem war. Eine Tatsache, gegen die sie sich zu sehr stemmte.
Die Erinnerung daran macht mich krank. Genau wie das anhaltende Geschrei vor meiner Zimmertür. Mir ist übel und ich drehe mich über die Bettkante, um mich in meinen Eimer zu übergeben. Ich würde sie jetzt so sehr brauchen. Sie wusste immer, was man bei einer Krankheit tun sollte. Doch sie war damit beschäftigt, meinen Vater anzuschreien und ihre eigene Krankheit zu leugnen. Ich hörte, wie sie auf ihn einschlug, und dabei «Verschwinde! Verschwinde und lass dich hier nie wieder blicken!» kreischte. Sie schmiss ihn also wieder aus seinem eigenen Haus, wie schon so oft. Er und ich wussten beide, dass sie vor Sorge verrückt werden würde, wenn er tatsächlich nicht mehr zurückkehren würde. Denn im Gegensatz zu dem Monster in ihr würde sie so etwas niemals sagen.
Es hat ein Ende. Die Haustür knallt zu. Er hat den Hund mitgenommen und ist weg. Wie er es immer nach einem Streit tut. Wahrscheinlich ist er abends wieder da, vielleicht auch erst am nächsten Morgen. Sie läuft planlos in der Wohnung herum. Ich höre sie irgendwo herumkramen. Wahrscheinlich holt sie eine Weinflasche aus ihrem Versteck. Es ist erst Nachmittag. Trotzdem werde ich sie heute nicht mehr nüchtern erleben. Wenn ich Glück habe morgen wieder. Oder übermorgen. Dabei hat sie mir versprochen, später fit zu sein, um mich zum Arzt zu fahren. Aber ich will nichts mehr davon wissen. Ich werde beim Arzt anrufen und den Termin absagen. Ich will nur hier weg. Doch ich kann nicht. Das Fieber hat mich gefesselt.
Manchmal wünschte ich, mein Vater würde tatsächlich gehen und mich mitnehmen. Ich halte das nicht mehr aus. Jeden Tag diese Angst, dass es wieder so ist. Konzentrationsprobleme im Unterricht. Die Unfähigkeit, für Prüfungen zu lernen, während ich meine Eltern wieder streiten höre, schlechte Noten, nicht bestandene Schuljahre. Bauchschmerzen auf dem Weg nach Hause aus Sorge, was man zu Hause vorfinden wird. Jedes Mal ein neuer Schlag ins Gesicht, wenn die Befürchtung sich bestätigt. Und die Angst wächst. Natürlich würde die Einsicht seitens meiner Mutter und ihre Bereitschaft, eine Therapie zu machen, so vieles einfacher machen. Doch diese Hoffnung habe ich schon lange aufgegeben. Das Monster hat sie schon zu sehr verschlungen und die Tage der liebenswürdigen, aufgestellten Frau, die ich früher kannte, werden seltener und kürzer.
Bitte, Papa, nimm mich mit.
"Lupus" zu Deutsch Wolf
Ein sonniger Tag war heute. Jeder genoss ihn, lief dank der warmen Temperaturen mit kurzen Sachen umher und hatte Spaß. Es war Wochenende, also warum nicht dieses schöne Wetter genießen? So denken viele, nur ich nicht. Statt nach draußen zu gehen, versteckte ich mich in meinem Zimmer. Ich ließ die Sonne nicht hinein, verschmähte und verfluchte sie.
Grufti, würdet ihr vielleicht denken. Ein Mensch, der die Sonne mied, der kann nicht normal sein. Stimmt auch. Ich bin nicht normal. Darf ich mich trotzdem vorstellen? Mein Name war Jayden, aber alle nannten mich nur Lupi. Lupi war die Verniedlichung von dem Wort Lupus. Ihr wisst, was Lupus heißt, oder?
Jetzt könnte man natürlich denken, dass das ein ziemlich cooler Spitzname war, aber ganz ehrlich: Ich hasste ihn und zwar wie die Pest! Oder nein, noch besser: Ich hasste ihn wie SLE! Was das war? Werde ich euch später sagen.
Um auf das schöne Wetter wieder zurückzukommen … Nein, ich ging nicht raus. Kein einziges Mal an jenem Wochenende, denn lieber blieb ich drin und zockte am Computer. Zwischendurch checkte ich Facebook und E-Mails und ein paar Leute fragten mich, ob ich mit raus kommen würde. Zum Strand, um baden zu gehen, das wäre doch cool. Ich lehnte jedes Mal ab. Einige waren deswegen pikiert und einige würde ich wegen dieser Absage nicht mehr wiederlesen/-sehen. Sie würden mich meiden. Die Anfragen, ob ich mit ausgehen wollte, ließen in den letzten Jahren nach.
Versteht mich bitte nicht falsch. Ich würde gerne baden gehen, ob nun in der Sonne oder im Meer. Ich würde auch gerne mit ins Kino gehen, einen drauf machen oder einfach nur mit meinen Freunden abhängen.
Manchmal konnte ich das, doch die meiste Zeit ging das nicht. Kurzzeitige Absagen meinerseits förderte nicht gerade die Freundschaft zu anderen. Irgendwann waren sie alle genervt, was mich wiederum selbst nervte.
Da ich erst 16 Jahre alt war, saß ich heute in der Schule. Das Wochenende war vorbei und meine Mitschüler tauschten sich angeregt über die Ereignisse aus. Ich hingegen lag halb auf meiner Bank, kurz davor wegzupennen.
»Mensch Lupi, pennst du schon wieder?« Es war nicht das erste Mal, dass ich mir solche Sprüche anhören durfte. Müde wie ich war – und es lag wirklich nicht am frühen Morgen – hob ich gequält meinen Kopf an. Ich versuchte wach zu bleiben, aber das war wirklich schwer. Ich konnte ehrlich gesagt nichts dafür. Wenn die Müdigkeit über mich kam, dann war es schwer sich dagegen zu wehren. Ich schlief einfach ein und das nicht nur in der Schule, sondern auch des Öfteren, wenn ich doch mal irgendwo mit hingegangen war. Wie oft hatte ich einen Film verschlafen oder eine Feier? Ich konnte es schon nicht mehr zählen.
Der Sportunterricht am nächsten Tag brachte mich halb um. Nicht wegen der Übungen, die wir machen sollten und für alle Schüler nichts Schweres waren. Ein bisschen laufen, ein bisschen springen, mal hier und dort an den Geräten turnen. Es war alles machbar. Nur nicht für mich. Nicht heute. Denn heute war es besonders schlimm. Gestern die Müdigkeit, heute der Schmerz. So war das bei mir. Meine Gelenke taten weh, dass ich mich gar nicht bewegen wollte und meine Lunge brannten wie Feuer nach dem Laufen.
»Jetzt stell dich nicht so an! Mein Opa hat Krebs und muss viel mehr leiden!«, sagte eine Mitschülerin zu mir und warf mir zusätzlich einen vorwurfsvollen Blick zu, weil ich in ihren Augen wieder so weinerlich wirkte. Ich ignorierte es. In solchen Momenten habe ich längst aufgegeben zu versuchen zu erklären, was mit mir nicht stimmte oder warum manche Dinge bei mir nicht so gut liefen, wie bei anderen.
Am Abend wurde es dann sogar noch schlimmer. Ich bekam einen Schub. So nannte man die hohe Krankheitsaktivität. Meine Schmerzen wurden stärker, ich lag nur noch im Bett und wollte mich nicht mehr bewegen. Wegen meiner Krankheit hatte ich auch solche Probleme mit der Sonne. Ich vertrug sie kaum. Wenn ich mir anhören musste, dass andere eine Sonnenallergie hatten und es nicht so schlimm war, wie ich sagte, oder dass ich mir doch einfach Sonnencreme auf den Körper schmieren sollte, dann wurde ich wütend. Wütend darüber, dass die anderen mir mit so wenig Verständnis gegenüber traten. Wütend darüber, dass ich überhaupt krank war. Ja, ich war verdammt wütend auf den Wolf. Aber genau diese Wut half mir dabei weiterzukämpfen. Ich würde nicht klein beigeben und mein Leben leben, so wie ich es konnte. Ich würde es genießen, auch wenn ich nicht immer rausgehen konnte.
Weil ich am nächsten Tag in der Schule fehlte, da ich kaum das Bett wegen der Schmerzen verlassen konnte, kam mich Susann besuchen. Susi war ein Mädchen aus meiner Klasse, die immer wieder fragte, wie es mir ging. Am Anfang hatte ich meistens nicht viel gesagt. Ich wollte nicht jammern und gab nur Standardantworten von mir. Irgendwann aber begriff ich, dass sie ernsthaft besorgt um mich war. Dass sie nicht wie die anderen war, die glaubten, meine Krankheit wäre nur eine Ausrede, weil ich keine Lust auf irgendwas hatte. Sie hatte begriffen, dass es viel ernster war und das ich mein Leben lang damit leben musste. Deswegen hatte ich mich ihr gegenüber auch geöffnet. Ich wollte ihr keine Sorgen bereiten und noch weniger wollte ich ihr Mitleid. Auch das hatte ich ihr begreiflich gemacht.
Heute war Susi für mich eine sehr gute Freundin, die aus meinem Leben nicht mehr wegzudenken war. Sie kam mich besuchen, erzählte, was in der Schule los gewesen war und brachte mir auch die Aufzeichnungen mit. Sie behandelte mich wie jeden anderen, lachte oder meckerte und hörte einfach nur zu, wenn ich mich wieder über meine Krankheit auslassen wollte. Susi war meine beste Freundin. Eigentlich noch viel mehr, aber das traute ich mir nicht zu sagen. Ich hatte Angst, sie würde dann weglaufen. Das wollte ich nicht!
Zwei Tage später ging ich zum Arzt. Im Wartezimmer waren noch genügend freie Plätze. Eine ältere Frau meinte zu mir, ich könne mich hinsetzen, da ich nur dastand, anstatt mich zu setzen.
»Nein danke, ich stehe lieber. Sonst komme ich nicht mehr hoch.« Ein Satz zu viel, den ich da sagte. Die Frau sah mich abschätzig an.
»Du bist doch noch jung und fit!« In diesem Augenblick platzte mir der Kragen.
»Ja, und weil ich so jung und fit bin, gehe ich auch zum Arzt.« Ich war wütend über diese Vorurteile. Nur weil man jung war, durfte man nicht krank sein, oder was? Würde ich mich hinsetzen, würde ich wegen der Schmerzen ganz schön zu tun haben wieder aufzustehen. Aber was wusste die Frau schon? Nur weil man nicht krank aussah, bedeutete das nicht, dass man nicht krank war! Zum Glück wurde ich gerade aufgerufen.
Meine Krankheit nennt sich Systemischer Lupus erythematodes (SLE) und gehört zu den Autoimmunerkrankungen. Ich wurde mit Medikamenten vollgestopft, damit die Krankheitssymptome eingeschränkt wurden, aber geheilt werden konnten sie nicht. Ich würde ewig Lupus haben, da es kein Heilmittel gab. Ewige Schmerzen und das Wissen darüber, dass mein eigener Körper gegen sich arbeitet und auch die Organe anfällt. Wenn ich Pech habe, würde eines Tages ein lebenswichtiges Organ ausfallen und wie es dann weiter ging, wollte ich mir nicht ausmalen.
Weil ich wusste, dass ich den Wolf nie wieder los wurde, wollte ich mein Leben genießen. Die Arztbesuche waren regelmäßig und nervig, aber auch ein Muss.
Als ich die Arztpraxis wieder verließ, kam gerade Susi um die Ecke gebogen. Sie schien sich zu freuen, mich zu sehen. Sie kam zu mir und lächelte mich an.
»Warst du gerade beim Arzt?«
»Mhm«, brummte ich nur als Antwort. Sie merkte, dass ich gerade nicht so gut drauf war. Die Bemerkung der Frau vorhin war blöd gewesen, aber die neue Offenbarung, dass meine Schilddrüse langsam den Geist aufgab, hatte mir auch noch mal zugesetzt. Es war schwer optimistisch zu sein, aber ich nahm mir vor spätestens morgen wieder zu lächeln. Heute musste ich erst mal die Neuigkeit verdauen.
Auf einmal spürte ich die Arme von Susi um mich. Ich hatte nicht gesagt, welche schlechte Neuigkeit ich gerade erfahren habe, aber sie schien instinktiv zu wissen, wie es mir ging. Um mich aufzuheitern, drückte sie mich einfach. Ich war unendlich dankbar, denn sie gab mir das Gefühl, das ich nicht allein war. Dass nicht nur meine Eltern für mich da waren, sondern auch andere. Sie machte erst das Leben so richtig lebenswert und als ich dann auch noch ihre Lippen auf meine Wange spürte, war es endgültig um mich geschehen.
Vor knapp einem Jahr hatte man bei mir die Krankheit diagnostiziert, aber ich besaß sie schon fast mein Leben lang. Da es so viele unterschiedliche Symptome gab, die auch andere Krankheiten hatten, war es schwierig den Wolf zu erkennen. Ich wünschte mir nicht, es gäbe sofort ein Heilmittel, damit ich gesund werden konnte. Den einzigen Wunsch, den ich besaß, war, dass ich solange leben durfte, wie nur möglich, damit ich diese wunderbare Zeit mit den Menschen verbringen durfte, die mir wichtig waren. So wie Susi.