4.350 Wörter, eine Nebengeschichte zu Min ohne Min (Es ist keinerlei Wissen zu dieser Geschichte erforderlich, um diese hier genießen zu können). Wer gerne etwas über Nordkorea lesen und lernen möchte, ist hier genau richtig. Wer Gesellschaftskritik mag, ist hier ebenso genau richtig. Wer wegen Pokémon kommt ... naja, sie werden erwähnt, da in dieser Galaxie Pokémon und die reale Welt verschmolzen sind, aber sie spielen eine sehr untergeordnete Rolle und werden nur kurz im Gespräch angeschnitten.
Zusammengefasst: Es geht um eine Reise nach Nordkorea.
Viel Spaß!
Katze hinterm Zaun
Ein knapp zweistündiger Flug, mit einem merkwürdig anmutenden Hamburgerverschnitt als Mahl serviert, sowie eine langatmige Einreiseprozedur lagen bereits hinter dem ungleichen Duo, als die Lektüre der englischsprachigen Pyongyang Times abrupt ihr Ende fand. Die jüngere, Fei-Fei, hatte das Glück, als Chinesin einen besonders angesehenen Ruf zu besitzen, sodass man der jungen Frau nicht allzu böse war, dass sie unbekümmert einige Kaugummiblasen formte, an ihren zwei Pferdeschwänzen spielte und ihre Hüfte aufgeregt hin- und herbewegte, um die Aufmerksamkeit noch mehr auf ihren kurzen Jeansrock zu lenken. Jeans waren in Nordkorea nämlich verboten, denn sie verkörperten den Imperialismus. Die einen Kopf größere Satsuki, Tierärztin in ihren Mittzwanzigern, war zurecht etwas angespannt wegen ihrer jüngeren Begleiterin. Besonders an Fei war, dass sie Missgeschicke wie ein Magnet regelmäßig anzog, sodass die brünette Brillenträgerin aus Japan zähneknirschend verfolgte, was sich neben ihr abspielte.
"Vermisst du Miiiiyuuu?", fragte Fei plötzlich, ihren zuckersüßen Rehblick auf die Ältere gerichtet.
Satsuki, deren Schultern und Saum ihres schwarzen, knapp knielangen Rocks von den kleinen Fingern ihrer Begleitung fest umklammert wurden, senkte ihren sanften Blick: "Dass Min nicht hier ist, ist das Beste, was passieren konnte. Nicht, weil die armen Nordkoreaner eine verletzende Ladung Satire abbekommen könnten, sondern weil unsere Punkmieze sich zu 100% in gefährliches Fahrwasser begeben würde ... die Chance ist bei uns bereits hoch genug." Vor allem bei Fei, dachte Satsuki sich, denn die Intelligenz der kleinen Kampfsportlerin bewegte sich in einem Bereich, der deutlich unter ihrem lag, ohne ihr mit diesem Gedankengang irgendwie zu nahe treten zu wollen. Die Zeit des unkontrollierten Smalltalks endete jedoch, als eine saphirblau uniformierte Dame in elegantem Militärdress vor ihnen erschien. Schicke Mütze mit dem typischen roten Stern, noble Abzeichen, eng sitzender Rock, genauer gesagt ein Mini, der im Vergleich zu dem von Feis nur unwesentlich länger war und Lederstiefel, die in der westlichen Welt sicher genauso begehrt gewesen wären. Bis auf die Farbe ihrer Uniform, normalerweise olivgrün, hatte die Offizierin die Vorstellung der beiden Ausländerinnen genau erfüllt. Ihre pechschwarzen Haare, die ihr zierliches, katzenartiges Gesicht einrahmten, reichten der um die 30 wirkenden Frau etwas bis über die Schultern und vermittelten damit einen besonders femininen Eindruck. Einen Lächeln verstrahlte sie jedoch nicht ... ernst starrte sie ihre beiden Gäste mit Sondergenehmigung an ... normalerweise kamen Touristen in Gruppen ins Land und wurden nicht von einer Marinegeneralin wie ihr, sondern von geschulten Fremdenführern, sehr gut die Sprache ihrer Zielgruppe beherrschend, entlang der geplanten Route manövriert. Satsuki war klar, dass sich die auf den ersten blick eitel, kühl und ernst wirkende Maschinengewehrträgerin von den gewöhnlichen Betreuern abhob, denn sie wirkte eher wie eine Polizeichefin.
"Ni hao und konnichi wa, sehr geehrte Gäste aus unserem großen Bruderland China und ... Japan. Mein Name lautet Su und ich werde Ihre Führerin sein. Ich stamme aus Sinuiju, einer Stadt im Nordwesten unseres faszinierenden Landes. Zögern Sie nicht, uns zu unserem faszinierenden Land zu befragen", kündigte die Schwarzhaarige mit ruhigem Tonfall und einem weit überdurchschnittlich guten Englisch an, konnte ihren Blick jedoch kaum von der zappeligen Fei ablassen.
"Befragen ... aber sicherlich nur die Fragen, die EUCH lieb sind", wagte Satsuki nicht, ihren spontanen Gedanken auch nur in einer der von ihr beherrschten Sprachen auszusprechen. Ihre beste Freundin Min, eine rebellische und teils kratzbürstige auftretende Japankoreanerin, hätte da sicherlich keinerlei Skrupel gekannt, nach dem Befinden des "Dicken" zu fragen, auch wenn sie alles andere als dumm war. Nachdem das Gepäck in einen Van eingeladen war, konnte das Abenteuer in Richtung des Hotels mit Tausend und Einem Raum beginnen!
Wie erwartet gelang es Fei, bereits auf der Fahrt meisterhaft von einem verbalen Fettnäpfchen ins Nächste: "Suuuu-chaaaaan? Gehen wir auch Tempel gucken? Also ich will gerne mal einen nordkoreanischen Zoo sehen! Und welcher K-Pop ist eigentlich so am angesagtesten hier?" Bange blickte die japanische Veterinärin zu ihrer Freundin, bevor sie im Rückspiegel die Reaktion ihrer Tourleiterin abzulesen versuchte.
Lustig fand "Su-chan" das Ganze weniger: "Vermeiden Sie es, Leute '-chan', 'kawaii', 'gangnam' oder sonst irgendwie zu nennen. Es gibt Genossen und drei Führer. Einen Tempel gibt es in den Bergen, um die reichhaltige Geschichte des großen Korea am Leben zu erhalten - aber der steht nicht auf dem Programm. Genauso wenig ein Zoo ... langweilt mich, ich kenne genug Gehege und Zäune. Und K-Pop? Gibt es, aber die Bands sagen Ihnen sicher nichts, auch wenn sie hier äußerst erfolgreich sind."
"Ich mag Miss A, da gibt es auch eine Fei."
"Toll. Sammelt die Milchzähne?", knurrte die Fremdenführerin leicht genervt, auch wenn sie trotz der auf südkoreanische Girlgroups gelenkten Konversation um eine höfliche Haltung immer noch bemüht war. Fei besaß ein erstaunliches Talent darin, Menschen zu entnerven.
Fei schien so überrumpelt, dass sie ihre Kaugummiblase ploppen ließ: "Hä?"
"Vergiss es ... oh und hör auf mit den Blasen, das macht mich WAHNSINNIG!"
Besorgt beobachtete Satsuki den weiteren Gesprächsverlauf, aber Fei tat sich schwer damit, ihre eigenen Grenzen anzuerkennen: "Oh, du duzt mich! Sind wir jetzt Freunde?"
"Ja, sind wir! Da du sonst keine zu haben scheinst, tut dir das vielleicht mal gut ...", hauchte die kleine, in Blau gekleidete Frau ausdruckslos, bevor sie einmal tief durchatmete. Fei schien hingegen zufrieden zu sein und genoss schweigsam die Fahrt ...
Mitten im Beton- und Glasturmparadies Pyöngyang, einer zugleich futuristisch als archaisch anmutender Sozialistenhauptstadt voller von fleißigen Arbeiterhänden errichteten Alleen und Protzpromenaden, auf denen die verschiedensten Fahrzeuge umherfuhren, versorgte die aquatische Lebensader Taedong die nordkoreanische Hauptstadt und umspielte eine kleinere Insel, auf der ein über 150 Meter hoher Turm emporragte. Das anthrazitfarbene Yanggakdo International Hotel, das seine Gäste mit dem freundlichen Schriftzug "양각도국제호텔" begrüßte, diente dem Großteil der Touristen als Unterkunft.
"Voilà. Fühlt euch wie zuhause", lud Su ihre Gäste mit einer wenig bescheidenen Geste ein. Bescheidenheit war in Pyöngyang kein Wert, den es zu bewahren galt. Das prachtvolle Lichtermeer bestimmter Sektoren war genau das, was den wenigen einreisenden Journalisten nicht nur ans Herz gelegt, sondern aktiv vor die Linse geschoben wurde. Nordkorea war schließlich das glücklichste Land der Erde und jeder, aber wirklich jeder sollte diese unumstößliche Tatsache von dem Land der Menschen so hart und lieblich zugleich, wie das Kumgangsan-Gebirge, nähergebracht bekommen. Gespeist von einem Wunsch nach einer starken und unabhängigen Autarkie, die Korea aus den Einflüssen Chinas und Japan befreite, nährte die Juche-Ideologie die konfuzianistische Grundordnung des Staates, die die Unterordnung vor dem Übervater Kim Il Sung selbstverständlich machte.
자주 Chachu, politische Souveränität.
자립 Charib, wirtschaftliche Selbstversorgung.
자위 Chawi, militärische Eigenständigkeit.
Unter dem Banner von Pinsel, Hammer und Sichel sollte eine Troika bestehend aus den Intellektuellen, den Arbeitern und den Bauern dem großen Führer eine solide Basis für die Verwirklichung der Ziele nach ursprünglich marxistisch-leninistisch orientierter Grundordnung bescheren. Der scharlachrote Flyer, den Satsuki in ihren Händen hielt und ausgiebig untersuchte, setzte wirklich alles daran, um nicht nur informativ, sondern auch äußerst meinungsbildend zu sein. Eine übermüdete und nach Kaffee dürstende Su führte Satsuki und Fei in eine helle, prächtig dekorierte Lobby mit schief absinkender Decke. Marmor ... Leder ... edles Holz ... nichts ließ das Empfangsportal vermissen, außer jemand verlangte nach lebhaften Touristenmengen, denn diese existierten nicht.
"Gibt 'ne Bar ... im Keller findet ihr 'ne Bowlingbahn ... einen Pool, ein Drehrestaurant, ein Casino mit chinesischen Angestellten, Souvenirshops, eine Massageecke und einen Karaokeraum. Alles was das Herz begehrt", klärte die Nordkoreanerin ihre Gäste auf: "Nur keinen Mc Donald's, aber ihr hattet ja schließlich schon im Flugzeug Burger."
Dass Su sie ausgerechnet an die verschrumpelte Speise erinnerte, gefiel der japanischen Ärztin weniger, doch Fei setzte unbeeindruckt mit ihren gewagten Aussagen fort: "Und eine mysteriöse Kammer!" Die junge Frau hatte hierbei ein unglaublich liebreizendes Strahlen und Glänzen in den Augen, das ihre Aufpasserin jedoch nicht verzaubern konnte. Dass sich Leute vorab über die verbotene fünfte Etage informiert hatten, war jedoch nicht wirklich ungewöhnlich. Wortlos schnaubend nahm Su die Zimmerschlüssel von der perfekt gestylten und dauerlächelnden Rezeptionistin entgegen und überreichte sie wortlos den beiden Touristinnen. Sobald diese die Insel verlassen wollten, stände sie wieder in der Pflicht, weshalb sie ihre wohlverdiente Ruhepause nach einer anstrengenden Fei-Emission kaum abwarten konnte!
"Su ist eine Hübsche, aber ein Lächeln würde ihr mal wirklich gut zu Gesicht stehen", seufzte Satsuki, wohlwissend, dass andere Fremdenführer sie für die von Fei getätigten Aussagen auch genauso gut in die Pfanne hauen hätten können. Ihr Blick glitt entlang der edel, aber zugleich spartanisch silber und braun getäfelten Aufzugswände, die den beiden für einen Moment das Nordkoreagefühl nahmen. Wie bereits erwartet war von einem Knopf für die ominöse 5. Etage, in der sich Unmengen an geheimem Propagandamaterial verbergen sollten, keine Spur auszumachen.
Fei, die sich etwas eingeschüchtert wirkend an die Ältere kuschelte und ihren Kopf an deren Schulter rieb, fühlte sich offenbar unwohl: "Sie sieht etwas aus wie Miyu, nur so ernst ... aber wie die anderen hier wohl sind?"
"Sei einfach vorsichtig. Es kursiert das Gerücht, dass sowohl öffentliche Räume als auch die Hotelzimmer abgehört werden. Also. Nur lustigen Smalltalk, okay? Du kannst doch sonst immer so gut über Nonsense referieren ...", warnte die Medizinerin den Kopf ihrer Begleiterin liebevoll tätschelnd und rückte ihre Brille zurecht, als sie sich Zutritt zu ihrem im internationalen Stockwerk 43 liegenden Hotelzimmer verschaffte. Zurückhaltende Farbtöne dominierten den Raum, der sich unter anderem durch ein weiß gekleidetes Doppelbett, weiße Tapeten, einen beigen Vorhang, braune Sessel, einen dunkelgrauen Teppichboden, schwarze Schränke und einen ebenfalls dunklen, modernen Flachbildfernseher auszeichnete. Alles in allem war kaum ein Unterschied zu westlichen Unterkünften festzustellen, auch wenn dieses Hotel eine einsame Ausnahme in dieser Kategorie bildete, ebenso was das angenehm beheizte Wasser im Bad betraf. Auch die Betten waren im Landesvergleich überdurchschnittlich weich, sodass die beiden Reisenden nur all zu schnell ihrer verlockenden Versuchung erlagen und in einen tiefen Schlaf verfielen, bevor ein Abendessen mit ihrer Führerin anstehen würde.
Das schicke Drehrestaurant im 47. Stock bot Satsuki und Fei am Abend einen faszinierenden Blick über das Lichtermeer der Hauptstadt - dem einzig erleuchteten Fleck des Landes. Aus Stromspargründen wurde jedoch auf das Drehen verzichtet, sodass die beiden sich mit einem simplen Panorama vergnügen mussten. Angeboten wurden neben einigen Speisen anderer asiatischer Länder natürlich auch die lokalen Kostbarkeiten wie das chilidurchtränkte, knackige Kohlgemüse Kimchi, Reis und ein gemischtes Bulgogi aus gegrilltem Schweine- und Rindfleisch, das in dünn geschnittenen Streifen zusammen mit Gemüse als Festessen serviert wurde. An Getränken standen verschiedenste Biere, Weine und koreanische Spirituosen zur Auswahl, unter denen ein Kaffeebier wohl die seltsamste Kreation darstellte. Su, ihre Marinemütze auf dem Nachbarsstuhl abgelegt, schenkte sich beherzt Hochprozentiges ein, der schon bald seinen Einfluss auf die kleine Asiatin ausüben würde.
"Ihr mögt also auch europäisches Bier und europäische Weine, hm? Und sogar Hamburger. Ihr tut wohl wirklich alles daran, dass es eurem Volk an nichts fehlt, oder?", fragte Satsuki, als sie sich zum ersten Mal das landestypische Fleischgericht mit der Gabel in ihren Mund schob.
"Ja, von Freizeitpark als Dank des großen Führers für sein hart arbeitendes Volk angefangen bishin zu den besten Kameratechnologien und den ausgeklügeltsten Verteidigungswaffen, kein Won wird gespart, um das Land zu beglücken! Uns fehlt es an nichts, außer an Reis. Dem Führer sei Dank! Denn wusstet ihr, dass Reis Krebs auslösen kann? Niemand hat etwas dagegen, wenn ihr aus eurer Faszination über England, Frankreich oder Italien keinen Hehl macht. Nur ... seid euch darüber im Klaren, dass im Falle von Japan, den USA oder Südkorea keiner eure Meinung teilen wird ... also spart euch diese entmutigende Enttäuschung", klärte Su die beiden auf und wies auf das Ergebnis einer westlichen Studie hin, das der große Marschall Kim Jong Un so natürlich nie angewandt hatte. Zu sagen, dass das Volk außerhalb der Elitenhauptstadt Hunger litt, war allerdings als etwas taktlos angesehen. Nicht eine Minute verging, ohne dass die in blau gekleidete Offizierin nicht zum Glas gegriffen hatte, sodass die kleinen Glühlampen an Decke schon bald eine rötliche Schattierung auf ihrem Gesicht bestrahlten.
Das letzte Wort würde sie dank der ziellos im Essen herumstochernden, abgelenkten Fei jedoch ohnehin nicht haben, auch wenn es in nordkoreanischen Reisetouren genauso vorgesehen war: "Und wieso können dann welche etwas Japanisch, wenn sie es nicht mögen? Außerdem, gibt es verbotene Pokémon?"
"Rate mal."
"Ja!"
"Also die Sprache eines Feindes oder einer interessanten Kultur zu beherrschen kann ja nie schaden. Und verbotene Rassen gibt es nicht, nur Attacken. So, wie unseren Kindern die Wurzeln des Faschismus und Imperialismus aus dem Herzen gerissen werden, werden den Pokémon die Wurzeln der schädlichen Fähigkeiten aus dem Herzen gerissen. Mehr als vier Attacken benötigen sie meistens ohnehin nicht und mit uns Menschen sehr ähnlichen Pokémon wie Kadabra oder Kirlia klappt das sehr gut. Kommunismus ist die beste Idee, die es gibt, aber Elitenbildung faschistoiden Ausmaßes ist die schlechteste Idee, die es gibt", erklärte Su mit starrem Blick auf die Weiten der nordkoreanischen Hauptstadt, in die nach Anweisung des Führers nur die Fähigsten und Treusten beordert wurden. Fei, die nun etwas Kimchi in sich hineinschaufelte, machte sich keine Gedanken über den tieferen Sinn der Erklärung, doch Satsuki vermutete, dass die genannten Beispiele einen gemeinsamen Nenner haben mussten. Typ Psycho. Intelligenz. Teleport, der ohnehin nur an vom Pokémon selbst bereisten Orten funktionierte. Währenddessen grub sie in ihrer Tasche, um ihrer Reiseleiterin das obligatorische Dankesgeschenk zu überreichen - ein Fläschen chinesischen Pflaumenwein und leckere Schokolade, die die Augen der Koreanerin schlagartig zum Glitzern brachten!
"Wow, das ist für mich? Aaaaw, vielen Dank, das ist ja süß!", nahm sie die Geschenke mit einem ehrlichen Lächeln dankbar entgegen - das erste Lächeln, das sie seit Tagen zeigte: "ICH. LIEBE. SCHOKOLADE!" Satsuki freute sich über die niedliche Reaktion ihrer Gastgeberin immens und auch Fei gefiel es, wie sie völlig aus sich herauskam!
Im angeheiterten Zustand war es möglich, den Reiseführern viel persönlichere und interessantere Fragen als die nordkoreanisch korrekten Standardfloskeln zu stellen, wie Fei bewies: "Suuuuuiiiii? Was ist dein Lieblingspoki? Was ist deine Lieblingsschoki? Bin ich deine Lieblingsfei?"
"Die Seeperreihe! Seedraking ist mein ältestes Partnerpokémon, aber ich besitze mehrere, wie es sich für eine Frau in meiner Position gehört. Hmmm ... meine Lieblingsschoki ... dunkel, aber mit vielen Nüssen! Und meine Lieblings-Fei? Schätze, du bist eigentlich eine Süße, die man lieb haben muss!", stand Su der kleinen Chinesen Rede und Antwort, die sich laut quiekend freute!
"Yaaaaaaaaaay! Lass uns ein Selfie machen, okay?" Dass Fei ausnahmsweise etwas richtig machte, nämlich die Leute vor dem Fotografieren zu fragen, zauberte Satsuki ein Lächeln aufs Gesicht ... der Abend war so viel entspannter als die beklemmende Fahrt! Su zwängte sich zwischen die beiden Touristinnen, streckte ihre beiden Arme in der Victory-Pose nach vorne, setzte ein Bein seitlich vor das andere und ließ sich selig lächelnd mit den jüngeren Frauen ablichten, einmal auch mit wild aufgewirbeltem Pony und leicht herausgestreckter Zunge, bevor sie vergnügt kichernd auf ihren Platz zurückkehrte und ihr Mahl beendete. Wenn sie Glück hatten, würde dieses fast schon fotokabinenhafte Lichtbild erfolgreich die Grenze nach China passieren, denn die Kontrollen fanden nur noch unregelmäßig an verschiedenen Orten statt, selbst Laptops und Handys war mittlerweile eine Reise in das mysteriöse Land gestattet.
Die Neugier hielt auch am nächsten Tag Satsuki fest im Griff: "Miss Su? Werden wir auch die Statue von Kim Il Sung besuchen gehen?"
"Also wenn ihr euch das wünscht, werde ich euch das sicher nicht abschlagen", fiel die Antwort relativ gefühlskalt aus. Normalerweise war eine solche Frage vollkommen obsolet, da ein solcher Besuch mit standesgemäßer Verbeugung und Blumenniederlegung selbstverständlich zum Tourprogramm gehörte. Vielleicht hatte Su auch einfach einen verkaterten, euphorielosen Tag erwischt.
Fei starrte immer noch wie gebannt auf das lebhafte Foto des gestrigen Tages: "Das Bild ist so süüüüüüß, oh mein Gott, ich sterbe einen Zuckerschock, waaaah ..." Für einen kurzen Moment, als die Koreanerin ihre wachen Katzenaugen über die Kamera huschen ließ, entflammte ein Lächeln auf ihrem Gesicht, das jedoch nur wenige Augenblicke später wieder erstarb, als die Erinnerungen der Realität wichen. Ein großflächiges Friedhofsareal, symmetrischer aufgebaut als das Château de Versailles, bot sich vor den Augen der Gäste auf. Am Ende war auf einem Hügel das zu Fels gewordene Abbild einer dynamisch wehenden roten Flagge aufgebaut, während ansonsten eine Granitskulptur eines entschlossen voranstreitenden Revolutionärs- und Soldatentrupps sowie zahlreiche linear angeordnete Bronzebüsten das Bild der von niedrigen Betonmauern und darauf angepflanzten Hecken in rechteckige Segmente eingeteilten Ruhestätte bestimmten. Verwundert nahm Satsuki ihre Brille ab ... noch nie hatte sie solche perfekt getrimmten Hecken gesehen wie auf diesem "Friedhof der Revolutionshelden", dessen Schriftzug allein schon einem überzeugten vaterlandsliebenden Nordkoreaner Freudentränen in die Augen trieb: 대성산혁명렬사릉.
Su hingegen verweigerte sich jeglichen Emotionen, als sie einen kurzen Grundriss zu der Gedenkstätte zum Besten gab: "1975 errichtet. 1985 erweitert. 30 Hektar. Hier werden die 530 wichtigsten Persönlichkeiten aus der nordkoreanischen Geschichte, beginnend im Juche-Jahr 1 mit der Geburt des großen Dynastiegründers, zur Ruhe gebettet. Genau hier findet ihr das Grab von Kim Jong Suk, 1917 bis 1949, zweiter Frau des größten Führers und Mutter des Ewigen Generalsekretärs der Partei, Kim Jong Il. Aufgewachsen als Bauerntochter erkannte sie die Leiden der armen Bevölkerung und somit die Notwendigkeit einer kommunistischen Revolution, weswegen sie sich völlig den Lehren des großen Staatsgründers unterwarf, treu bis zum Tod." Ein Musterbeispiel konfuzianischer Fügung, auf dem die Juche-Ideologie so fest fußte. Die Bronzebüste zeigte eine mit ihrem zarten und sanft gezeichneten runden Gesicht zuversichtlich, leicht gen Himmel blickende junge Frau in Sus Alter, deren knapp über der Schulter endenden Haare lockig endeten.
"Wow, sie ist so hübsch wie du, Su!" Die Koreanerin blieb stumm, dachte sich jedoch ihren Teil dabei, dass sie als leibhaftige Person mit einer auf Perfektion getrimmten Statue verglichen wurde. Sie war wirklich eitel.
Nach einer Verbeugung räumte die militärische Fremdenführerin den beiden Gästen noch etwas Zeit für Fotos ein, jedoch nicht ohne einen entscheidenden Hinweis mitzugeben: "Gebt euch Mühe. Wenn eine Statue oder Büste nicht komplett fotografiert wird, wird man eure Körper bald auch nicht mehr komplett fotografieren können ..."
Entsetzte Blicke.
"Hahaha, das habt ihr jetzt zu wörtlich genommen. Aber vertraut mir ... die Kernmessage ist die Gleiche. Es gilt als äußerst unhöflich, Statuen nicht in ihrer ganzen Würde und Schönheit abzulichten", fügte sie trocken hinzu, aber ihre beiden Schützlinge waren zu angespannt, um erleichtert aufzuatmen. Das musste sicher an der schwülen Luft liegen, die ihnen den Brustkorb zum Lachen zuschnürte.
Fei wusste mal wieder nicht, wann die Zeit gekommen war, ihre mannigfaltigen Gedanken nicht mehr laut auszusprechen: "Ich möchte eine Statue von Su haben und sie dann in ihrer ganzen Würde und Schönheit fotografieren, yaahaaay!"
"Wie? Willst du mich versteinern? Oder einfrieren?"
"Jaaa ... aber so wie du gestern warst. Glücklich! Lächelnd! Lachend! Süüüüüß! Und zwar dann für viel länger als nur eine Stunde ..."
"Äh ... ja, wieso eigentlich nicht, ich wäre sicher eine tolle Statue."
"Du wirkst so traurig ... Fei möchte, dass Suuuu-chaaaan glücklich ist! Sie ist so süß, dass sie es verdient hat!" Su erstarrte, als würde sie tatsächlich zu einer Steinstatue werden. Diese Worte trafen sie bis ins Mark, denn für die üblichen geheuchelten Schleimereien voller Bewunderung für eine exzellente Führung durch das glorreiche Nordkorea und das adrette Aussehen der Touristenführer war Fei viel zu naiv, aber auch viel zu ehrlich. Zugegeben, es war nicht so schwer, dass Fei an einem Menschen ein Narren fraß wie bei anderen, aber das Gefühl war für Su trotzdem so fremd- und neuartig, dass es sie innerlich überwältigte, möglichst, ohne sich allzu viel anmerken zu lassen: "What. Ever. Lasst uns einfach das nächste Ziel anschauen, okay?"
Kurz nachdem die ehrwürdige Ruhestätte verlassen wurde, brannte bereits die nächste Frage auf Feis neugierigen Lippen: "Wie sehen die Pornos bei euch aus?"
"Stell dir vor, dass meine blaue Kleidung heißer, verruchter, von Sünden befleckter Jeansstoff ist, so wie dein Rock. So sehen die aus." Kurzum, was sich nicht auf die unausgesprochenen Gedanken beschränkte, war stand unter schwindelerregend hohen Strafen ... aber Nordkorea tat alles daran, um sich nicht als strafwütiger Kontrollfreak darzustellen - die berüchtigten Arbeitslager wurden hier als Mär vermittelt. Satsuki versuchte sich indes zu entspannen. Lieber sollte die Genossin aus China die unbequemen Fragen stellen als sie, die argwöhnisch betrachtete Kapitalistin aus dem amerikanisierten Japan.
Während ihrer völlig staubefreiten Reise durch Städte und Landschaften begegneten Fei und Satsuki einigen Menschen mit einer klaren Meinung:
Die glückliche Klavierlehrerin Yun-mi, 28: "Musik ist eine große Erfrischung für uns! Nach einer erquickenden Lehrstunde im Komponieren und Wiedergeben großartiger Stücke für unsere wundervollen Führer fühlt man sich wie neugeboren, mit neuer Kraft in den nächsten Tag zu gehen! Mein Herz bebt wie verrückt, wenn wir Auftritte vor den hohen Parteigenossen haben!
Der engagierte Museumsführer Chol-hwan, 36: "Meine Arbeit ist Leidenschaft, Leidenschaft, die unser ganzes Land teilt. Durch diese Leidenschaft werden wir irgendwann auch technologisch das beste und unerreichteste Land aller Zeiten werden!
Die lebensfrohe Reisbäuerin Sol-gum, 49: "Als vorbildliche Einheit machen wir dem großen General eine Freude, in de, wir dem unermesslichen Reistopf des Landes dienen. Unzählige Hektar Reis ernten wir für unseren Führer und unzählige Zeichen des Dankes und des Stolzes ernten wir von unserem Führer.
Der stets gut gelaunte Gläsereimeister Myong-rok, 53 : "Die Arbeit für die Nation und den Führer lässt uns und den großen Marschall zu einer riesigen Einheit verschmelzen! Jederzeit würden wir unsere Werkzeuge ruhen lassen, um uns im Gefecht für sie zu opfern! Ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen!"
Die beiden Ausländerinnen taten gut daran, diesen Meinungen nicht zu widersprechen und auch Su machte keine Anstalten, eine unerwünschte Diskussion vom Zaun zu brechen.
Doch sie selbst hatte ihre Definition von Glück noch gar nicht dargelegt, wie Fei mit großen Augen neugierig feststellte: "Suuuuuiiii? Lebst du eigentlich auch deinen Traum?"
"Bin ich eine Meeresbiologin? Nein ... aber naja, ich bin jetzt Anfang 30, da muss ich auch keine Meeresbiologin mehr werden, Selbstudium reicht da", erwiderte die Koreanerin mit verschränkten Armen und hoffte darauf, dass der Wissensdurst der jungen Kung-Fu-Kämpferin gestillt wurde. Eine Markierung auf einem Schild im südlichen Teil des Landes kündigte bereits den letzten Stop an: 판문점.
Die vier Kilometer breite, unbewohnte Demarkationslinie am 38. Breitengrad zwischen Nord- und Südkorea stellte einen weiteren Meilenstein auf dem Reiseplan der beiden Touristinnen dar. Das Besondere an der demilitarisierten Zone war, dass sie entgegen ihres Namens von Militärs bewacht wurde. Maschinengewehre trugen die an den himmelblauen Barracken stationierten Soldaten allerdings nicht direkt bei sich. Auch hier bestand die Möglichkeit, sich mit nett lächelnden jungen Männern in Uniform fotografieren zu lassen: ein Angebot, das Fei und Satsuki ohne zu Zögern wahrnahmen.
"Sehen Sie? Da hinten sind die Südkoreaner. Sie grüßen Sie nicht ... Sie haben, im Gegensatz zu uns warmherzigen Bürgern der Demokratischen Volksrepublik Koreas, kein Interesse an Ihnen," zeigte ein stattlicher General mit kantigem Gesicht, ein Inbegriff nordkoreanischen Stolzes und nordkoreanischer Männlichkeit, seinen Gästen auf. Manche waren eben nicht so weltoffen und tolerant wie ein Volk, in dem Gastfreundlichkeit groß geschrieben wurde.
Das Gespräch gelangte dann relativ schnell zu einer Volksgruppe, die in Nordkorea ein eher zweifelhaftes Ansehen genoss, als Satsuki ein passendes Thema dazu anschnitt: "Kommen auch viele Amerikaner zu Gast?"
"Etwa 100. Ehrwürdige Menschen, im Zeichen des Kommunismus Abtrünnige des Kapitalistenmolochs, die aufrichtiges Interesse an unserem Land zeigen und uns die Chance aufräumen, sich ihnen offen und ehrlich zu präsentieren", führte der etwas knorrig wirkende Militär, eine starke Schulter neben der zierlichen Su, detailliert aus: "Wir lernen von klein auf, welche Schandtaten die Amerikaner in unserem friedlichen, gerade aus den Krallen der faschistischen Japaner befreiten Land anrichteten, welches Unheil sie brachten. Sie sind gierig und durchtrieben, egomanisch und größenwahnsinnig. Ein guter Koreaner verabscheut dieses dem Bösen verfallenen Land."
"Ich hasse amerikanische Architektur. Sie ist schuld daran, dass wunderschöne traditionelle Architektur aus allen Ländern der Welt, aber insbesondere in Ostasien, Stück für Stück verschwindet. Alles wird gleich gemacht, dem Erdboden gleich gemacht", stimmte Su sofort in die USA-Kritik ein, wenn auch einen ganz anderen Schwerpunkt fokussierend, und erntete ein zustimmendes Nicken des älteren Generals. Eine wie eine Mischung aus Tempel, Schrein, Bahnhof und Rathaus anmutende Halle in anmutigem Betongrau markierte die Südseite der eigentlichen Verhandlungszonen, während drei langgestreckte, blaue Hütten mit je einem Eingang pro Landesseite die diplomatischen Konferenzräume verbargen. Das Nordgebäude im gleichen Farbton wählte den spartanischen Rathausverschnitt, damit das erarbeitete Geld der fleißig schuftenden Bevölkerung nicht in irgendwelchen protzigen Firlefanz wie schreintorartig gebogene Dachgiebel des Südpendants gesteckt wurde. Auch dieser Panmunjom genannte Ort, war, ohne eine Wertung vornehmen zu müssen, in gewisser Weise beeindruckend.
Nicht nur wahren die Touristen an den Eigenheiten Nordkoreas interessiert, sondern auch die hervorragend belesene und gebildete Su hatte einige Fragen zu ihren so nahen und doch so fernen Nachbarländern: "Ist es eigentlich üblich, dass Leute in Japan den Vornamen des Kaisers tragen dürfen?"
"Seit vielen Generationen tragen Prinzen Nippons einen Namen, der auf -hito endet ... sie sind nicht die häufigsten Namen, aber es gibt einige Bürgerliche, die so heißen", berichtete Satsuki ihrer Reiseführerin lächelnd von ihrer eigenen Kultur.
"Oh ... wirklich? Das wirkt ... etwas befremdlich auf mich. Ab dem Tag der Übernahme des Parteivorsitzes ist den Volk untersagt, den Namen eines Führers ihren Söhnen zu verleihen. De facto handelt es sich, wie du sicher weißt, um drei."
Was für Su völlig logisch war, stieß bei Fei-Fei wiederum auf Unverständnis: "Aber als es den Hitler gab, hatten die doch später auch ganz viele Adölfe ..."
"DU KLEINES D- ...", zischte Su ungehalten, schnell in alle Himmelsrichtungen ausschauend: "Wenn du einen Vergleich mit Hitler ziehst, empfehle ich dir, das Wort 'USA' in deinen Satz einzubauen, sonst könnten Leute deine 'Suuuu-chaaaan' nicht mehr mögen!"
Fei erschrak angesichts dieser Bemerkung, wünschte sie Su doch ehrlich das Allerbeste, sodass sie darauf bedacht war, sich den Rat sofort zu Herzen zu nehmen und ihn umzusetzen: "Dann so: Aber als es den Hitler gab, der mit den USA im Krieg war, hatten die doch später auch gan-" Diesen Satz würde sie nicht mehr beenden, da Su ihr angespannt ihre Hand auf den vorlauten Mund gepresst hatte. Min hätte das Gleiche gesagt, um so provokant aufzutreten wie immer. Fei jedoch war wirklich dem Glauben erlegen, endlich etwas richtig zu machen ... wirklich böse sein konnte die Nordkoreanerin ihr deswegen nicht, vor allem nicht, als die junge Chinesin die Marineoffizierin ganz direkt in einer liebevollen Umarmung umhüllte. Wie eine unglückliche Kätzin in einem Tierheim, die auch den nächsten Tag hinter den Zäunen verbringen musste, seufzte Su auf.
"Suuuuu-chaaaan" ...
Die unzähligen roten Propagandamalereien an den Mauern, die die barbarischen Taten der amerikanischen Imperialisten verteufelten und die glorreichen Taten der kommunistischen Revolutionsbewegung preisten, die allgegenwärtigen Bilder sämtlicher Staatsführer und das Szenario einer perfekten, glücklichen Welt, die sich ihnen dargeboten hatten, würden Satsuki und Fei nie vergessen. Sie hatten viele verschiedene Einwohner getroffen, doch wer es schaffte, Intelligenz und Kritisches Denken zu einen, der könnte vielleicht das warme, optimistische Lächeln, das den großen Führer Kim Il Sung auf den Bildern so sehr auszeichnete, verlernen.
"Sazzy? Miyu? Wisst ihr, wieso ich Su gekuschelt habe?", fragte Fei ihre japanische Tierärztin beim Durchstöbern der Fotos gemeinsam mit Min, ohne eine Antwort wirklich abzuwarten: "Ich glaube, ihr war kalt ... und Leute kuscheln dort wohl nicht so gerne ... oder dürfen es nicht."