In diesem Thema habt ihr eine bestimmte Anzahl an Punkten zur Verfügung, die ihr den Texten im nächsten Beitrag geben könnt. Achtet jedoch darauf, dass ihr die Punkte, die euch zur Verfügung stehen, komplett ausschöpft. Votes, welche zu wenige oder zu viele Punkte enthalten, können leider nicht gezählt werden. Des Weiteren solltet ihr eure Punkte mindestens auf drei Texte verteilen, eure Wahl ausreichend begründen und natürlich nicht für eure eigenen Texte voten.
Es ist außerdem hilfreich, euch das "How to vote-Topic" anzusehen. Schreibt ihr in dieser Saison besonders viele Votes, habt ihr die Chance auf Medaillen. Weitere Informationen findet ihr hier: Informationen und Regeln zu den Wettbewerben.
Zitat von AufgabenstellungIm Laufe seines Lebens wird man Stück für Stück älter und die Sicht auf verschiedene Dinge und Ereignisse verändert sich. Auch die Prioritäten eines jeden Einzelnen wechseln bzw. verschieben sich mit der Zeit. Dieser Wettbewerb schickt euch zurück in das Alter eines Grundschülers oder auch Kindergartenkinds. Schreibt eine kurze Erzählung aus der Sicht eines Kindes. Ob ihr dabei eine alltägliche Situation behandelt, ein besonderes Ereignis oder etwas anderes ist dabei vollkommen euch überlassen. Ein Pokémonbezug ist zudem nicht verpflichtend.
Ihr könnt 6 Punkte verteilen, maximal 3 an eine Abgabe.
ZitatID:
AX:
AX:
AX:
Achtet dabei darauf, bei der Schablone zwischen Doppelpunkt und ID/Punktzahl ein Leerzeichen zu machen, damit die Auswertung über den Voterechner ohne Probleme erfolgen kann. Wenn ihr nicht wissen solltet, wie ihr eure ID herausfindet, könnt ihr dies unter anderem hier nachlesen.
Der Vote läuft bis Sonntag, den 04.09.2016, um 23:59 Uhr.
Ein fruchtiger Geschmack floss in meinen Mund, als ich meinen morgendlichen Orangensaft bis zum letzten Tropfen aus seinem Behälter sog und einen kleinen Teil auf meinem T-Shirt verschüttete. Das Weiß färbte sich so orange wie die Sonne, die gerade aufging. Ich fand es wunderschön, so leuchtend und doch viel bunter als das langweilige Weiß wie das der Tapeten. Doch sofort ertönte die schrille Stimme meiner Mama, die neben mir auf einem großen Stuhl saß: "Oh nein, nicht schon wieder, Lilly!" Sie riss mir die Orangensaftpackung aus der Hand und mit der Geschwindigkeit eines Rennautos hatte sie einen Lappen geholt und versuchte, den orangen Fleck kleiner zu machen. Ich verstand ihre Aufregung nicht. Ich verstand ihre Aufregung nie. Mama bekam doch eh immer alles sauber.
"Lilly, du wirst morgen sieben Jahre alt. Allmählich musst du aufhören, so eine Kleckerliese zu sein." Meine Mama hatte den Fleck wie immer nur größer anstatt kleiner gemacht. Sie strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, auf der ich zuvor herumgekaut hatte, während ich draußen eine Katze beobachtet hatte. Wieso hatten wir keine Katze?
"Ach Schatz, sie wird erst sieben, jetzt lass sie doch, ist doch nicht so schlimm!" Mein Papa schaltete sich ein und sah mit einem warmen Grinsen auf mich hinab. Er war immer auf meiner Seite. Ich grinste ihm zu. Ich wusste, er mochte es, wenn meine Zahnlücke ihm quasi entgegensprang, wenn ich meine Milchzähne entblößte. "Kriege ich eine Katze, Papa?"
Er lachte. Ich hoffte, er würde mir antworten, anstatt zu lachen. "Morgen wirst du ja sehen, was du kriegst. Sei nicht so neugierig!"
"Du kriegst erstmal ein Lätzchen, bevor du eine Katze bekommst!" schaltete sich meine Mama ein . Ich verschränkte die Arme vor der Brust und Tränen sammelten sich in meinen Augen. Ich hatte doch morgen Geburtstag, sie mussten mir einfach was tolles schenken! Ich blickte erwartungsvoll auf die Uhr. Es waren meine ersten Sommerferien, also hatte ich ausschlafen können. Um acht Uhr hatte ich also meine Eltern geweckt und seitdem öfter auf die Uhr geschaut, wie ich zählen konnte. Und trotzdem wollte sie sich einfach kein Stück vor bewegen. Es war noch immer - wie seit Stunden - halb neun.
"Was wollen wir denn heute machen, Lilly?", fragte mich Papa. Er und Mama hatten beide frei. Es war Juli und so warm, dass ich heute barfuß im Haus laufen durfte. Ich sah auf die Uhr. Halb neun.
"Ich will dass es morgen wird!", rief ich, ließ meine Beine vom viel zu hohen Stuhl baumeln und biss aufgeregt in mein Brötchen. Was sie mir wohl schenken würden?
"Ja Lilly, aber morgen kommt noch schnell genug!"
Aber ich hörte schon gar nicht mehr zu. Ich sprang von meinem Stuhl, den Mund noch immer großzügig mit viel Nutella verschmiert (zum Unmut meiner Mama) und rannte in mein Zimmer. Ich würde einfach den ganzen Tag drin bleiben und warten, bis es morgen war. Ich sah auf die rosafarbene Uhr über meinem Bett, auf der eine Barbie abgebildet war. Fünf Minuten nach halb neun. Ich versuche, die paar Rechenversuche, die mein Papa schon mit mir unternommen hatte, wirken zu lassen und zu errechnen, wie viele Stunden ich noch umkriegen musste. Ich ging immer um acht Uhr ins Bett und mein Papa las mir dann immer noch eine halbe Stunde lang eine Gute-Nacht-Geschichte vor. Auf die könnte ich heute verzichten. Conni beim Zahnarzt kannte ich schließlich schon. Meine Eltern hätten bestimmt auch nichts dagegen, wenn ich heute ausnahmsweise mal um halb acht schlafen ging. Das wären zwar trotzdem immer noch ein paar Stunden, die ich umkriegen musste, aber immerhin!
Dennoch musste ich mir erstmal eine Beschäftigung suchen, damit die Zeit überhaupt eine geringe Chance hatte, umzugehen. Zuerst legte ich mich auf mein Hochbett und starrte an die Decke. Ich wusste, dass das nicht das beste Mittel gegen die Zeit war, aber ich wusste anfangs noch nichts besseres mit mir anzufangen. An meiner Decke klebten ganz viele Leuchtsterne in den unterschiedlichsten Größen. Ich könnte lesen!, dachte ich mir und griff mir das Buch, das neben meinem Kissen lag. Meine Mama las manchmal so lange, dass ich mir sicher war, sie hatte die Zeit vergessen. Das musste doch bei mir auch klappen! Ich schlug das Buch auf, in dem es um eine Prinzessin und einen Drachen ging, und versuchte angestrengt, die Zeit zu vergessen.
Nach ungefähr zwei Kapiteln war ich sicher, es müsste inzwischen Mittag sein. Doch ich wollte noch nicht auf die Uhr gucken - sobald man auf die Uhr sah, blieb die Zeit erneut stehen.
Ich ging also wieder in die Küche und fragte, ob es denn bald Mittag gab. Mama antwortete: "Lilly, es ist erst elf Uhr, das dauert noch ein bisschen."
Schmollend ging ich zurück in mein Zimmer. Ich wollte nicht mehr lesen. Die Prinzessin würde ohnehin gerettet werden.
Also griff ich zu meinen Puppen, die mir der liebste Zeitverteib waren. Papa sagte immer, ich konnte stundenlang mit ihnen spielen, ohne dass mir langweilig wurde. Ich hoffte, er hatte Recht.
Doch schneller als gewöhnlich fand ich es langweilig, meiner kleinen Aurora ihre Kleider anzuziehen und meinen Elsa-Kopf zu schminken und zu frisieren. Ich ging erneut in die Küche und hörte, wie der Uhrenzeiger unnachgiebig tickte. Ein Uhr Mittags. Wenigstens gab es jetzt Essen. Spaghetti. Damit konnte ich noch eine halbe Stunde totschlagen, wenn es gut lief. Ich hatte bestimmt noch nie so behutsam die Nudeln auf den Löffeln und den Löffel in meinen Mund befördert. Ich kleckerte nicht einmal. Ein Blick zur Uhr bestätigte meine Vermutung - halb zwei. Noch sechs Stunden, dann konnte ich schlafen gehen.
Apropos Schlaf. Ich konnte eigentlich auch endlich mal wieder einen Mittagsschlaf machen, zu dem mich Mama und Papa schon seit Tagen anhielten. Ich legte mich also erneut aufs Bett und schloss die Augen. Vor meinen Augen tanzten Sterne und Prinzessinnen, die Spaghetti aßen und sich dabei mit blauem Lippenstift schminkten.
Ich hatte erwartet, nicht einschlafen zu können, aber dass dabei nur so wenig Zeit verstrich, fand ich dann doch enttäuschend. Halb drei. Dauerten Tage eigentlich immer so lange?
Draußen würde die Zeit doch gewiss schneller vergehen, dachte ich mir. Ich zog mir also meinen Helm an, Papa trug verwundert mein Fahrrad aus dem Schuppen und ließ mich mit den Kindern der Nachbarschaft einige Male die Straße hinauf und wieder hinunter fahren. Es hat Spaß gemacht, danach noch mit Kreide unsere ganz eigene Fahrbahn zu erfinden und niederzuzeichnen. Meine Kleidung wurde dabei wunderbar bunt, ebenso wie meine Hände und mein Gesicht, und ich fand es wunderbar, auszusehen wie ein kleiner Regenbogen.
Als ich nach einer gefühlten Ewigkeit wieder ins Haus kam, stieß meine Mama einen kleinen Schrei des Entsetzens aus und zog mich so schnell in die Badewanne, dass ich nichtmal die Chance bekam, auf die Uhr zu sehen. Aber langsam wurde die Sonne so dunkel und voll wie mein Orangensaft am Morgen. Es musste also bald Abend sein.
Als ich mit nassen Haaren und einem blumigen Duft versehrt aus der Badewanne stieg und mich ins Wohnzimmer setzte, war es sieben Uhr. Ich war glücklich wie schon lange nicht mehr. Das Glücksgefühl wurde perfekt, als ich ein Stück Schokolade bekam, was in meinem Haus wohl so selten vorkam wie der Besuch des Weihnachtsmannes. Ich konnte gar nicht glauben, dass ich den Tag tatsächlich um bekommen hatte. Er war länger gewesen als gewöhnliche Tage, das schwöre ich!
Um zwanzig nach sieben stahl ich mich dann in mein Zimmer, während meine Eltern nur milde lächelten und ein wenig mit dem Kopf schüttelten. Die Sterne leuchteten über mir. Ich schloss die Augen und dachte voller Vorfreude an morgen. Doch eins kann ich euch sagen - egal, wie lange der Tag gebraucht hatte, umzugehen, es war gar nichts gewesen im Vergleich zu der Ewigkeit, die ich brauchte, um in der Nacht vor meinem Geburtstag den Schlaf zu finden.
Ich bin froh, keine berühmten Eltern zu haben. Warum fragen sich jetzt viele? Ich erkläre es euch, wie ich mir mein Leben vorstelle, wenn meine Eltern berühmt wären.
So zuerst würden ich nicht mehr leben, wo ich es jetzt tue, denn sicherlich ist das nicht sicher genug und vor allem ein Star wohnt doch in einer Megavilla. Die ist dann von einer sehr hohen Mauer umgeben, vor der dann Sicherheitsleute stehen, damit keiner einfach zu dir hin kann. Das Haus in dem ich dann lebe, hat riesengroße Zimmer. Also wirklich ganz groß, größer als so ein normales Zimmer. So groß wie eine Wohnung, in der normal Leute leben. Dann ist das ganze Haus mit so komischen, alten, aber total überteuerten Möbel eingerichtet, wovon jedes einzelne schon 1 Millionen € kostet. Überall hängen dann Bilder, die noch mehr Millionen kosten. Sie sehen natürlich nicht schön aus, aber das ist ja auch egal, Hauptsache sie sind teuer, denn das ist ja das wichtigste.
Im Haus und vor dem Haus haben wir dann einen Swimmingpool. Im Garten einen Golfplatz und einen Tennisplatz. In der Garage super teure Luxusautos.
Die werden nicht von meinen Eltern selbst gefahren, nein dafür gibt es extra Angestellte, die einen dann herum fahren.
Wie auch für alles andere. Gärtner, Sportsacheninstandhalter, Reinigungskräfte, Koch und was man sonst so noch hat, wenn man reich und berühmt ist.
Aber am schlimmsten ist es dann mit mir. Ich habe ein Kindermädchen, da meine Eltern nur 1-2-mal im Jahr zuhause sind. Das Kindermädchen will dann das ich immer mein Zimmer aufräume und ins Bett gehe. Sie ist dann auch überall dabei, weil meine Eltern ja auf Tournee sind oder was auch immer sie tun, also keine Zeit für mich haben. Deshalb stellen sie dann eine Frau ein, die sich um mich kümmert. 24 Stunden 365 Tage im Jahr.
Kommen dann meine Eltern nachhause, haben sie auch keine Zeit und das Kindermädchen sagt dann, die haben keine Zeit für dich, lass sie sich mal ausruhen. Wenn ich mal zu ihnen gehe, wo auch immer auf der Welt sie sind, kommt das Kindermädchen mit, um auf zu passen.
Jeder will etwas von Mama und Papa, überall sind Leute die Bilder machen und eine Kamera. Die liegen dann vor unserem Haus im Gebüsch und warten darauf, ein Foto zu schießen. Dieses ist dann in den Zeitungen und im Internet und es werden dazu Sachen geschrieben, die gar nicht stimmen. Aber die Leute glauben es trotzdem.
Egal wo Mama und Papa auftauchen, die Leute wollen ein Autogramm. Die stellen sich dann um sie herum, machen ganz viele Bilder und filmen alles.
In den Zeitschriften und Zeitungen können die Leute alles über unsere Leben lesen, weil es jeder wissen will. Dort steht dann einfach alles, egal was es ist.
Genau aus diesen Gründen, bin ich froh, nicht berühmt zu sein, sondern einfach nur jemand, den keiner kennt.
'Nicht der schon wieder', dachte ich, als ich Henry armwedelnd auf mich zulaufen sah. Henry war ein Junge aus der Nachbarschaft und wir gingen in die gleiche Grundschule. Aber ich mochte ihn nicht besonders, denke ich. Ständig zog er mich am Zopf oder malte Bilder von mir oder machte sonstwas, um mich zu ärgern!
„Was ist denn, Nina?“, fragte er mit tomatenrotem Gesicht, als er bei mir angekommen war und legte den Kopf ein bisschen schief. Wollte er etwa so tun, als ob er nett wäre?
Ich schwieg einen Moment, sagte dann aber doch etwas zu ihm. Wenn er unbedingt wollte ...
„Oma ist jetzt im Himmel“, erzählte ich langsam, während ich meinen Weg zur Schule weiterstapfte. Warum interessierte ihn das überhaupt?
Einen Moment war er still, dann murmelte er: „Das tut mir Leid, Nina ...“
„Schon gut, Papa ist nur so traurig, ist ja seine Mama. Aber im Himmel sagen sie doch immer ist es sooo schön, warum sind sie dann alle so traurig, wenn Oma jetzt da ist?“
Henry zuckte nur mit den Schultern und ging langsam neben mir her. Warum fragte er denn, wenn er nichts dazu sagen wollte?
Als wir die letzte Kreuzung vor unserer Schule erreicht hatten (ich konnte schon die bunten Flatterbänder sehen, die wir vor ein paar Wochen an den Zaun gehängt hatten), mussten wir warten, dass der Verkehr uns rüberließ. Da fing Henry wieder an zu sprechen. “Schön ist das nicht, wenn einer weg ist, oder?“
Traurigkeit überkam mich. „Naja, dass die Erwachsenen so traurig sind, ist viel schlimmer, finde ich ...“
Ich seufzte und blickte zu Boden. Toll, jetzt hatte der Doofkopp mich runtergezogen, danke auch!
„Hey!“, rief der Idiot da plötzlich und deutete auf das Grundstück, das direkt hinter uns lag. Ich glaube, die Besitzer sind komisch. Gar keine Pflanzen und nur ein kleines Stück Rasen im Vorgarten, dass ist doch voll langweilig! Aber Henry deutete auf etwas anderes, etwas bestimmtes, das er wie gebannt anstarrte.
Er hatte sich über den Zaun gelehnt, der uns gerade bis zum Kinn reichte. Auf dieser Seite stand das Haus so dicht am Bürgersteig, dass nur ein kleiner Weg aus Steinplatten am Zaun entlanglief. Noch viel langweiliger und unschöner als der ganze Rest!
Dann sah ich, was er meinte. Auf einer der Platten lag ein Vogel. Ein kleiner schwarzer mit glänzenden Federn, eine Amsel vielleicht. Der Vogel lag auf dem Rücken und rührte sich nicht. Er war tot.
„Da krabbelt schon was, siehst du?“, fragte Henry fasziniert.
Interessiert schaute ich genauer hin und beobachtete das Gewusel und die Kriecherei zwischen dem Gefieder des kleinen, toten Piepmatzes. Was mit dem Vogel wohl passieren würde …
Plötzlich hupte es so laut hinter uns, dass wir beide gleichzeitig zusammenschraken. Mir wäre fast das Herz stehengeblieben! Ein Autofahrer, der die Straße für uns freihielt, trommelte ungeduldig auf seinem Lenkrad herum und sah uns böse an.
„Wer zuletzt an der Schule ist ist eine Stinkmorchel!“, rief Henry, der sich früher wieder gefangen hatte als ich, und rannte auch schon los auf die andere Straßenseite.
„S-selber!“, schrie ich noch, bevor ich mich hastig beeilte, ihm zu folgen.
Der Vogel war auch die nächsten Tage und Wochen noch da, wo wir ihn entdeckt hatten. Mit jedem Tag veränderte er sich etwas mehr und wir schauten jeden Morgen fasziniert zu, was wir Neues entdecken konnten. Beobachteten, wie der kleine Körper immer kleiner wurde und zusammenschrumpfte, wie die schönen Federn nach und nach verschwanden und die kleinen Käfer immer weniger wurden, bis sie schließlich ganz fort blieben. Irgendwann waren nur noch die weißen, dünnen Knochen übrig.
„Wow, guck mal, wie klein die sind!“, meinte Henry eines Tages, als wir erneut vor unserem Forschungsobjekt standen. Da musste ich ihm mal zustimmen. So kleine Knöchelchen hatte ich noch nie gesehen!
„Die brechen doch bestimmt leicht durch“, meinte ich und überlegte, was wohl als nächstes passieren würde. Gespannt machten wir uns am nächsten Tag wieder auf den Weg, doch irgendjemand hatte die Überbleibsel schon weggeräumt.
„Schade“, kommentierte ich enttäuscht. „Wer weiß, was wir noch hätten entdecken können!“
„Ja, echt blöd“, pflichtete Henry mir bei. Ein letztes Mal schaute ich noch zurück, bevor wir unseren Weg zur Schule fortsetzten. Das hätte wirklich noch interessanter werden können, davon war ich überzeugt. Warum nur hatte man die Knochen weggemacht?
Erwachsene hatten wirklich komische Ideen!
Ich fürchte mich vor dem Donner. Schon immer. Obwohl Mama mir immer sagt, ich sei mit dem Donner zur Welt gekommen. „Als du geboren wurdest, herrschte draußen ein schlimmer Sturm“, sagt sie immer, wenn ich mich fürchte.
In meiner ersten Erinnerung, als es so richtig gewitterte, wachte ich nachts im Dunkeln von einem Donnerschlag auf. Harter Regen trommelte auf die Fensterscheiben meines Kinderzimmers, als wollte er durch die bunten Vorhänge hindurch auf meinen Teppich einschlagen und zuckende Blitze warfen verzerrte Schatten der Bäume vor dem Haus an meine Wand. Ich begriff nicht, was dort draußen vor sich ging und bekam schreckliche Angst. Meinen Stoffhasen umklammernd kletterte ich zittrig aus meinem Bettchen und tapste langsam aus meinem Zimmer in den Flur. Ein weiterer Donnerschlag ließ mich zusammenzucken und ich hätte beinahe meinen Hasen fallen lassen. Das Stofftier so fest wie möglich an mich gedrückt, wagte ich mich weiter in Richtung des Zimmers meiner Eltern vor. Vor der hohen Fensterfront im Flur peitschten Wind und Regen durch die Trauerweiden im Garten und drohten sie beinahe aus der Erde zu reißen. Im grellen Licht eines Blitzes sahen die langen, dünnen Äste aus wie Arme, an denen gewaltsam gezerrt und gezogen wird. Nur mühsam drehte ich mich weg und rief leise nach meiner Mama, aber jedes Geräusch ging in dem tosenden Lärm des Sturms unter. Dort am Ende des Flurs wartete die rettende Tür, aber sie hätte genauso gut am anderen Ende der Stadt liegen können. Mein kleines Gehirn war vollkommen überfordert von der Naturgewalt, die sich um das Haus herum abspielte. Blitz um Blitz, Donner um Donner hielten mich vor Angst an Ort und Stelle und zwangen mich schließlich in die Knie. Zusammengerollt, mein Gesicht in meinem Stoffhasen vergraben harrte ich auf dem kalten Flurboden aus und weinte leise in das Kuscheltier hinein. Ich verlor jedes Zeitgefühl, versuchte mir die Ohren zuzuhalten, um den Donner auszublenden, als sich schließlich zwei starke Hände um meinen zitternden kleinen Körper schlossen und mich die tiefe, vertraue Stimme meines Papas aus meiner Angststarre löste. Er hatte nach mir sehen wollen und mich als tränennasses Nervenbündel nur wenige Schritte vor seinem eigenen Schlafzimmer gefunden. Statt in meinen Hasen weinte ich nun in seine Brust, als er mit mir behutsam die wenigen Schritte zurück zu dem Ehebett ging, in dem auch meine Mutter lag. Meinen erstes richtiges Gewitter verbrachte ich geschützt zwischen meinen Eltern, wohlwissend, dass uns Regen und Blitze hier nichts anhaben konnten. Dennoch habe ich seitdem schreckliche Angst vor Gewittern.
Diese Gedanken gehen mir durch den Kopf, als von weit her der erste dumpfe Donner einsetzt. Von meinem Bett aus starre ich auf die Vorhänge gegenüber von mir, die Hand instinktiv nach meinem schon etwas abgegriffenen Hasen ausgestreckt. Er spendet mir bei Gewittern immer ein bisschen Schutz, bis ich den Weg zu meinen Eltern geschafft habe. In der Grundschule habe ich neulich erst gelernt, dass man erkennen kann, wie weit das Gewitter entfernt ist, indem man zwischen dem Blitz und dem Donner die Sekunden zählt. Aber das kann gar nicht funktionieren, denn der nächste Donnerschlag kommt, ohne dass er durch einen Blitz angekündigt wird. Es prasselt auch kein Regen auf meine Scheibe. Überhaupt ist es seltsam still. Ich horche eine Weile in die dunkle Nacht hinein, als es gleich mehrfach hintereinander donnert. Kurz darauf Schritte im Flur und meine Tür wird aufgerissen. Mein Papa steht schwer atmend im Zimmer, die Haare wirr und die Augen weit. Er sieht so lustig aus, dass ich unwillkürlich lachen muss. Papa lacht nicht mit.
„Komm schnell mit.“ Sagt er nur. Papa scheint mehr Angst vor dem Gewitter zu haben, als ich. Seine Hand ist schweißnass, als ich sie nehme und seine Lippen sind aufeinandergepresst.
„Wohin gehen wir?“ Frage ich verwirrt, als wir nicht zum Schlafzimmer gehen, sondern er mich die Treppe herunterführt. Auch Mama ist schon hier unten und nimmt mich fest in den Arm. Als ich in ihr Gesicht schaue, sehe ich rote Augen und Spuren von Tränen auf ihren Wangen.
„Es ist doch nur ein Gewitter, wie als ich geboren wurde“, versuche ich sie zu beruhigen, aber sie drückt mich nur noch fester an sich und beginnt zu schluchzen. Jetzt bin ich endgültig verwirrt und fange ebenfalls an zu weinen. Schließlich entlässt mich meine Mama aus ihrer Umarmung und geht in die Knie, um mir ins Gesicht zu schauen.
„Du hast ja Recht, Schatz. Das ist nur ein Gewitter, genauso wie als du geboren wurdest“, sie drückt mir einen Kuss auf die Stirn, „aber der Donner wird heute zu laut, deswegen fahren wir mit dem Auto zu Oma auf den Bauernhof, da magst du es doch, oder?“ Sie lächelt mich an und ich nicke heftig, während ich versuche, die Tränen zurückzukämpfen. Es wird langsam auch Zeit, dass ich mutiger werde.
Papa kommt mit einem Koffer aus dem Wohnzimmer, in seiner Hand klimpern die Autoschlüssel. „Kommt ihr beiden, wir müssen uns beeilen.“ Papa lächelt immer noch nicht, als ich mich angeschnallt habe und er den Motor startet. Der Regen hat immer noch nicht eingesetzt und Blitze gab es auch noch keine, obwohl der Donner immer näher zu kommen scheint. Ich habe es noch nie so oft donnern hören wie heute Nacht, aber mit Mama und Papa und meinem Hasen kann mir gar nichts passieren. Wenn wir vier zusammen sind, kann uns weder Regen noch Blitze etwas anhaben.
Als das Auto zum Leben erwacht, springt auch das Radio an. „… die abgeworfenen Bom-„ tönt eine blecherne Stimme aus den Lautsprechern, aber Papa schaltet das Gerät aus, bevor der Mann seinen Satz beenden kann. Mama dreht sich zu mir um und streichelt mir über mein Knie.
„Versuch noch ein bisschen zu schlafen, Kleine.“ Sie weint schon wieder und auch mich verlässt mein neu gewonnener Mut schon wieder.
Ich fürchte mich vor dem Donner.
Ich starrte Rudi an. Er war der Schnellste. Der Allerschnellste. Mit ihm würde ich sie endlich besiegen. Diese nervtötende Lara. Ich hatte lange nach ihm gesucht. Überall. Am Mädchenhügel und am Jungenhügel. Zuhause und auch in der Schule. Doch nun war es endlich soweit. Der perfekte Partner. Ich hatte ihn gefunden. Da würde diese Lara mit ihrer doch ach so tollen Fairy albern aussehen. Wir würden sie abhängen. Dann konnte sie auf dem Schulhof nicht mehr so angeben. Sie war einfach widerlich zu uns anderen. Immer prahlte sie mit ihrer Fairy. Wie schön und schnell sie doch war. Wir anderen würden immer hinter ihr zurückbleiben und könnten sie nie besiegen. Bisher war es auch so gewesen. Leider. Selbst mein letzter Freund Gringo hatte es nicht geschafft. Doch dieses Rennen würde alles entscheiden über die Ehre meiner Familie und auch meine eigene. Dann würde mich mein kleiner Bruder endlich wieder anhimmeln, wie es sich gehörte. Dann hätten ich und Rudi die Fans und die Aufmerksamkeit, die ich zugegebener Weise so sehr liebte.
Heute war es also soweit. Nach einem Gähnen suchte ich mir das beste Kleid raus, das ich besaß. Es war das Sonntagskleid, das meine Mutter mir sonst nie erlaubte. Doch heute wollte ich in allem besser sein als diese Schnepfe, die es irgendwie auf mich abgesehen hatte. Es würden alle meine Freunde kommen und auch ein paar andere Teilnehmer. „Anna!“, rief meine Mutter die Treppe hoch. Ich antwortete nicht. Und das gefiel ihr anscheinend gar nicht. Sie stapfte in Richtung meines Zimmers. Ich keuchte auf. Wenn sie mich so sah! Das durfte ich nicht zulassen. Mit wild klopfendem Herzen stolperte ich zum Kleiderschrank. Ich kroch zwischen die nach Lavendel duftende Kleidung. Das half gegen Motten hatte Mami mal erzählt. Dann schloss ich die Tür von innen. In der Dunkelheit lauschte ich, wie sich Schritte näherten. „Anna?“, fragte meine Mutter in den leeren Raum hinein. Ich unterdrückte ein kichern. Was für ein gelungener Streich! Eine Weile noch hörte ich ihren Atem. Er klang wie der eines Streitrosses, das in den Kampf ziehen wollte! Dann hörte ich sie seufzen: „Wo ist das Kind jetzt schon wieder?“
Irgendwann traute ich mich wieder aus dem Schrank hervor, nur um in die Arme meines Bruders zu laufen. „Kilian!“, rief ich überrascht. „Was machst du hier?“ Mein Bruder musterte mich und brauchte wenige Sekunden um zu verstehen, was ich heute noch mit Rudi anstellen würde. „Du gehst wieder hin. Da wo Lara auch ist“, stellte er trocken fest. Er war nur ein Jahr jünger als ich aber irgendwie schon so gerissen wie ein Bösewicht. „Wenn du mich nicht mitnimmst petz ich Mama, dass du das Kleid anhast!“ Erstarrt sah ich ihn an. Das war echt gemein. „Wieso tust du das?“, fragte ich, die Tränen unterdrückend. „Ich werde heute mit Lara reden und ihr nach dem Sieg gratulieren“, kam es aus seinem Mund. Am liebsten hätte ich mich vor Wut auf ihn gestürzt. Gegen mich kam er eh nicht an. Aber ich erinnerte mich, dass nicht Lara heute die Siegerin sein würde sondern ich. Und daran, was mein Plan war. Also machte ich gute Miene zum bösen Spiel und nickte. „In Ordnung!“ „Wirklich?“, fragte er überrascht. „Bist du krank?“ Nach diesem Kommentar warf ich ihn aus dem Zimmer. „In 15 Minuten unten im Flur ja!“ Verzweifelt sah er mich an: „Ich kann die Uhr doch noch gar nicht lesen Anna du blöde Kuh!“ Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen, als ich die Tür zuschlug. Ja er war so sehr auf mich angewiesen und das würde er nach dem heutigen Tag endlich wieder verstehen.
Wir näherten uns der Rennbahn. Schon von weiten erkannte ich sie. Mit ihren blonden Ringellocken und dem lächeln, mit dem sie alle auf ihre Seite zog. Alle außer mir natürlich. Mich bekam sie nicht so leicht. Diese Möchtegern Anführerin. „Anna“, kam es spitz über ihre Lippen. Sie trug ein Kleid, das dem meinen ebenbürtig war. Das stellte ich mit einem Zähneknirschen fest. Dann musste der Sieg eben über Rudi laufen! „Denkst du, du schaffst es heute mich zu schlagen?“, fragte sie. Dabei stieß sie ein seltsames Lachen aus. Wie ein schnaubendes Pferd! „Ja“, sagte ich fest. „Das glaubst du ja selbst nicht!“ Auch ihre Anhänger stimmten nun in ihr Lachen ein. Es war nicht zu übersehen, dass sie von allen geliebt wurde. Selbst mein Bruder verriet mich, indem er sie begleitete. Dann sah ich Leon. Er kam zu mir und legte eine Hand auf meine Schulter. „Ich glaube an dich“, meinte er mit einem Grinsen. Leon war schon 7! Ein Jahr älter als ich und Lara. Er hatte öfter den zweiten Platz errungen, als man es zählen konnte. Heute nahm er nicht teil. Er wollte mich anfeuern. „An die Startlinie!“, rief Daniel, der Wettkampfleiter schließlich. Es gab 20 Teilnehmer. Sie kamen von überall her. Dies war ein wichtiges Rennen. Es gab sogar ein Eis zu gewinnen. So viele Kugeln wie der Gewinner wollte! Das würde ich dann mit Leon teilen. Mein Bruder musste lange betteln aber schließlich würde auch er etwas abbekommen. Wir bereiteten uns vor und bezogen Posten auf unseren Plätzen, um die Teilnehmer anzufeuern. Mein Rudi war sicher ganz aufgeregt. So sah er zumindest aus. „Du machst das schon!“, flüsterte ich ihm zu. Dann sah ich zu Lara und ihrer Fairy rüber. Sie warf mir einen verächtlichen Blick zu. „Du wirst immer ein Loser bleiben Anna. Jemand Gewöhnliches!“ Ich schnaubte nur und wartete auf den Startschuss.
Der fiel kurz darauf. „Start!“, rief Daniel überflüssigerweise noch und wir ließen endlich los. Erste Anfeuerungsrufe erschallen. Der Spielplatz war von unseren Schreien eingehüllt. Jeder hatte einen Favoriten oder eben einen eigenen Teilnehmer. „Annas Rudi liegt vorne!“, rief Daniel aufgeregt. „Ah nein da kommt Fairy!“ Ich hielt die Luft an. So viel Spannung konnte ich nicht aushalten. Fairy war wirklich schnell. Ich dachte ich hätte sie endlich gehabt. Leon packte meine Hand und gemeinsam jubelten wir Rudi zu. „Fairy schiebt sich nach vorne. Sie ist wirklich schnell. Was kann Pfeil da entgegensetzten? Der hat sich an Rudi vorbeibewegt. Ah nein Rudi wird wieder schneller! Wer hätte es für möglich gehalten?“ Hoffnung machte sich in mir breit. Schaffte er es doch? Wir waren so vertieft in die Beobachtung, dass wir die Gefahr erst bemerkten, als es zu spät war. Es machte laut Knacks, als ein großer Fuß sich auf Rudi stellte, der gerade die Führung übernommen hatte. Der Fuß erwischte auch Fairy. Ich schrie entsetzt auf, als sein Schneckenhaus zertreten wurde, doch das übertraf nicht Laras Schrei. Diese stürzte sich auf den Fuß. Vor Wut um sich schlagend. Ich sah nach oben und blickte in die starren Augen meiner Mutter. „Warum?“, hauchte ich nur. Tränen liefen mir die Wangen herunter. Heiße Tränen des Verlustes. Mama sah an sich herab auf die schlagende Lara und die Schnecken, von denen Blitz nur die Führung übernahm und ich schloss mich Lara an. Gemeinsam versanken wir in einem Tal der Trauer. Ich war so weit gekommen. Doch nun war Rudi nicht mehr da. Meine beste Schnecke. Die Allerbeste. Ich hatte den größten und grausamsten Verlust meines Lebens.
„Ist alles in Ordnung Anna?“, fragte meine Mutter einige Stunden später. Ich nickte traurig. „Was willst du?“, erkundigte ich mich dann unhöflich. Sie seufzte: „Ich hab da was für dich. Sie ist sehr schnell. Glaub mir!“ Sie? Neugierig sah ich auf und blickte auf eine hübsche kleine Schnecke, die sie in eine meiner Rennschachteln gesteckt hatte. „Ich weiß das du Rudi geliebt hast aber …“, wollte sie ansetzten doch ich war schon aufgesprungen. Die Kleine sah gut aus. Top in Form. Sicher hatte Lara schon einen neuen Teilnehmer. Ja mit ihr würde ich auch diese Teilnehmerin schlagen. Die war noch besser als Rudi! Rasch nahm ich sie entgegen. „Danke. Sie ist perfekt! Geh jetzt Mama. Ich muss trainieren!“ Das Lächeln, das meine Mutter aufzog, als sie die Tür schloss, verstand ich nicht aber ich hatte wieder Träume und Hoffnungen. Ein großer Sieg erwartete mich und Bibi!
„Es muss so sein wie der Detektiv immer sagt, von dem mir Mama und Papa manchmal vorlesen“, dachte Lucy. „Das Unauffällige ist irgendwie besonders.“
Sie beobachtete fasziniert das Mädchen, das an diesem Tag neu in ihre Klasse, die 1d, gekommen war. Gleichzeitig stellte Lucy aber auch fest, dass sie offenbar die einzige war, die sich für dieses Mädchen interessierte. Sie war nur kurz von der Lehrerin als Xia Lin vorgestellt worden, hatte dann aber darauf verzichtet, irgendetwas über sich zu erzählen. Stattdessen hatte sie sich einfach auf einen freien Platz gesetzt und war ganz still geworden, sodass es schon nach wenigen Minuten so schien, als sei sie gar nicht wirklich da.
„Und vielleicht ist sie es auch gar nicht“, überlegte Lucy, denn dieses Mädchen mit dem Namen Xia war eine seltsam geisterhafte und geradezu ätherische Erscheinung. Ihre Haut war ziemlich bleich und ihr schwarzes Haar hatte einen merkwürdig stumpfen Glanz. Die ausdruckslosen Augen waren von einem sehr hellen Blassblau und schienen überhaupt nichts in dem Klassenraum wirklich zu sehen, indes sie meistens minutenlang nur auf irgendeinen Punkt gerichtet waren. Das herausstechendste Merkmal an ihr waren wohl noch am ehesten ihre asiatischen Gesichtszüge, die einzigartig in der Klasse waren. Xia meldete sich auch überhaupt nicht, wenn die Lehrerin die Klasse etwas fragte; wurde sie von dieser ohne Meldung dazu aufgefordert, etwas zu sagen, gab sie eine knappe Antwort, die mal falsch und mal richtig war, jedoch immer von einem desinteressierten Unterton begleitet wurde.
„Vielleicht ist die Schule einfach zu langweilig für sie“, vermutete Lucy. Sie schrak jedoch jäh aus ihren Gedanken hoch, als der Xias Blick sich plötzlich direkt auf sie richtete. Für einen Moment sahen sie sich in die Augen, dann wandte Lucy hastig ihren Blick ab; sie wollte nicht, dass Xia sie dabei ertappte, wie sie sie anstarrte. Und außerdem…
„Ihre Augen sind komisch“, murmelte Lucy in sich hinein. „Irgendetwas liegt darin, das merkwürdig ist. Aber was?“
Als es zur Pause klingelte und alle Schüler auf den Schulhof rannten, wollte Lucy beobachten, was Xia tat. Das Resultat fiel jedoch so aus, wie Lucy es eigentlich schon erwartet hatte: Xia setzte sich einfach auf eine Bank und starrte wieder irgendwohin, ohne die vielen Kinder zu beachten, die über den Schulhof rannten, während sie schrien und lachten, die sie genauso zu ignorieren schienen.
Lucy fragte sich, ob sie sie vielleicht einladen sollte, mit ihr und den anderen zu spielen.
„Lucy? Kommst du?“, fragte Annika, eine Klassenkameradin.
„Ja, gleich“, murmelte Lucy. „Sollten wir sie vielleicht fragen, ob sie mitspielen will?“
Sie zeigte auf Xia. Annika zuckte die Achseln.
„Hab nichts dagegen“, meinte sie. „Ist mir egal.“
Die Antwort verunsicherte Lucy ein wenig. Xia schien direkt als ein Teil des Schullebens akzeptiert zu werden, jedoch eben als ein Teil, der irgendwie dazugehörte und dann wieder auch nicht. Sie war einfach da und niemand schien sich groß um sie zu kümmern, sondern nahm ihre Anwesenheit einfach hin. Aber so konnte es doch nicht bleiben, entschied Lucy und ging zu Xia hin.
„Hi, ich bin Lucy“, sagte sie zögerlich und zuckte fast zusammen, als sich Xias Augen schlagartig auf sie richteten. Sie wurde ein wenig rot und begann unzusammenhängend zu erklären, was sie wollte: „Ähm… Wir wollten gleich etwas spielen. Also, wir anderen, meine ich. Wir … haben noch nicht entschieden, was genau, vielleicht Verstecken oder Fangen oder irgendetwas Anderes… Das heißt… Also, ich wollte fragen, ob du nicht Lust hättest, mit uns zu spielen?“
Xia überlegte offenbar kurz, denn ihr Blick richtete sich Lucys Ansicht nach stark nach innen, dann erhob sie sich.
„Gerne“, sagte sie, doch es klang nicht wirklich so, als ob sie sich freute. Es klang aber auch nicht genervt, sondern einfach genauso neutral wie auch schon im Unterricht. Da war kein Lächeln in ihrem Gesicht, sondern nur eine steinern wirkende Miene.
Das Versteckspiel – auf welches man sich schließlich einigte – lief einerseits gut und andererseits nicht gut. Xia gab sich zwar weder weniger noch mehr Mühe beim Suchen und Verstecken als die anderen, aber es stellte sich auch jetzt keinerlei Begeisterung bei ihr ein. Sie arbeitete das Spiel einfach ab wie eine Aufgabe im Matheunterricht. Und so hatte sich am Ende des Schultages nichts geändert: Xia sprach mit niemandem und niemand sprach mit ihr. Abgesehen von Lucy.
„Wo wohnst du denn, Xia?“, fragte sie, als sie beide das Schulgebäude verließen.
„In der Igelallee“, antwortete Mia tonlos. „Wieso?“
„Oh!“, rief Lucy aus. Ihr eigener Heimweg führte zwar nicht direkt durch diese Straße, verlief aber ganz in der Nähe. Sie wusste, dass dort sehr viele schöne und große Häuser standen, in denen hauptsächlich reiche Leute wohnten.
„Ich dachte nur, dass wir dann vielleicht zusammen nach Hause gehen könnten. Ich muss in die gleiche Richtung.“
„Wenn du willst, gerne“, gab Xia zurück.
Die beiden Mädchen gingen also los und Lucy zermarterte sich das Hirn, worüber sie vielleicht reden könnten.
„Und, was machst du sonst so?“, fragte Lucy schließlich, obwohl sie glaubte, dass es verzweifelt klang.
„Nicht viel. Ich male.“
„Du malst?“
„Ja.“
„Etwa so richtige Bilder auf Leinwand und alles?“
„Ja.“
„Oh, das klingt ziemlich cool!“, meinte Lucy aufgeregt.
„Findest du?“
„Aber klar doch! Alles, was ich kann, sind Kritzeleien auf einem Blatt Papier. Und beim Ausmalen von Dingen schaffe ich es nie, nicht über die Linien zu malen.“
„Aha.“
Es trat wieder eine kurze Stille ein. Lucy biss sich auf die Lippe. Es war schwer, ein Gespräch mit diesem Mädchen am Laufen zu halten.
„Jedenfalls toll, dass dir deine Eltern die ganzen Malsachen kaufen.“
„Tun sie nicht“, sagte Xia.
Lucy war verwirrt.
„Sie sind weg“, fuhr Xia fort.
„Wie meinst du das, ‚weg‘?“
„Einfach weg.“
„Das…“ Lucy war ein wenig bestürzt. „Das tut mir leid, ich wollte nicht…“
„Sie sind schon lange weg“, sagte Xia. „Ich kann mich nicht an sie erinnern. Es braucht dir also nicht leid zu tun.“ Tatsächlich klang die Art, wie Xia das sagte, auch wirklich danach. Lucy beschloss aber dennoch, das Thema zu wechseln.
„Aber du wohnst doch nicht alleine, oder?“
„Nein. Ich wohne mit einem Hausangestellten meiner Eltern zusammen. Er ist mein Vormund.“
„Und, ist er nett?“
„Ja.“
Sie bogen in die Igelallee ein. Lucy wusste, dass jetzt nicht mehr viel Zeit für ein Gespräch blieb. Daher wollte sie sich beeilen, noch irgendetwas zu sagen.
„Äh…“, begann sie, doch mehr wollte ihr nicht einfallen.
„Das ist mein Haus“, überging Xia den Fülllaut und zeigte auf einen großen weißen Prachtbau, zu dem ein sich durch einen kleinen Vorgarten schlängelnder Steinplattenweg führte. Lucy vermutete, dass hinter dem Haus ebenfalls ein Garten lag. Sie war sehr neugierig, wie es wohl von innen aussehen musste und einen Moment spielte sie mit dem Gedanken, zu fragen, ob sie kurz mit reinkommen dürfte. Das wäre vielleicht zu aufdringlich, aber sie vermutete, dass Xia das egal sein würde. Allerdings wusste Lucy auch, dass ja im Moment ihre Eltern mit dem Mittagessen auf sie warteten und sie wollte ihnen keine Sorgen bereiten, indem sie sich verspätete. Jedoch fiel ihr plötzlich ein, dass ja heute Freitag und somit ab morgen Wochenende war.
„Weißt du,“ fing sie aufgeregt an, „hättest du vielleicht Lust, dich für morgen mit mir zu verabreden?“
„Wozu?“, fragte Xia.
„Naja…“, Lucy gestikulierte ein wenig ratlos, „einfach, um sich zu treffen, zu reden, irgendwas zu machen?“
„Gut“, sagte Xia achselzuckend. „Wo?“
„Vielleicht bei dir?“, fragte Lucy zögerlich.
„In Ordnung.“
Es war Xia anscheinend tatsächlich gleichgültig.
„So um eins?“, fragte Lucy.
Xia nickte zustimmend.
„Schön, dann ist es abgemacht“, freute sich Lucy, doch Xia erwiderte nichts.
„Dann, also... bis morgen?“, sagte Lucy mit unsicherer Stimme.
Xia nickte wieder. Sie blieben noch kurz stehen.
„Okay, dann tschüs“, sagte Lucy matt. Sie hatte darauf gehofft, dass Xia zumindest irgendeine Art von Reaktion zeigen würde. Aber das war wohl zu viel verlangt. Sie wandte sich zum Gehen.
„Lucy“, hörte sie plötzlich Xias Stimme hinter sich. Sie drehte sich wieder um.
„Du bist sehr nett“, sagte Xia mit unverändert tonloser Stimme.
Lucys Herz machte einen kleinen Hüpfer.
„Danke“, sagte sie glücklich. „Du auch. Irgendwie…“
Sie brach ab. In Xias Gesicht hatte es kurz gezuckt, fast, als wollte sie lächeln. Vielleicht hatte sie aber einfach noch nie gelächelt und wusste gar nicht, wie das ging.
„Danke“ erwiderte sie noch und ging dann zur Haustür. Lucy sah noch, wie sie klingelte und ein freundlich wirkender, älterer Mann ihr die Tür öffnete und sie hinter ihr wieder schloss. Anschließend machte sich Lucy wieder auf den Heimweg. Sie kam sich rückblickend vielleicht ein wenig albern vor, war aber auch glücklich darüber, eine Art Zugang zu diesem zunächst seltsam anmutenden Mädchen gefunden zu haben. So ging sie nach Hause – darauf hoffend, dass sie Xia vielleicht irgendwann das Lächeln würde beibringen können.
Die Hitze war unerträglich in der Höhle, tief unter der Erde. Meterhoch erstreckten sich die Wände aus rötlich-braunem Gestein in die Höhe. Wie weit? Das konnte man nicht sagen, denn die Decke war zu weit entfernt, um sie zu sehen. Es sah zwar faszinierend aus, aber die Höhle war kein Ort, an dem man auch nur daran denken würde, Leben zu finden. Aber doch: an einem Ende der Höhle, vor einem kleinen Eingang, standen zwei Gestalten, die sich angestrengt den Schweiß aus dem Gesicht wischten. Es waren zwei Menschen, voll bepackt mit Ausrüstung aller Art, sichtlich erschöpft vom Abstieg in die Höhle, aber mit einem ungeheuren Ehrgeiz in den Augen. Eine der zwei Personen wischte sich über die Stirn, entfernte den Schweiß, der drohte, in seine himmelblauen Augen zu gelangen und fegte dabei einige Strähnen des blonden Haares mit zur Seite, ehe er sich zu seiner Begleiterin drehte: „Ich denke, wir sind hier ziemlich am Ende. Recht weit kann es gar nicht mehr sein bis zum Schatz.“ Seine Begleiterin nickte, die schulterlangen, brünetten Haare fielen ihr dabei ins Gesicht. „Aber wie kommen wir jetzt weiter?“
Sie deutete etwas weiter entfernt auf den Boden. Oder eher dort hin, wo der Boden sein sollte. Denn anstatt festem Felsuntergrund brodelte dort orangerot glühende Lava vor sich hin, bildete ab und zu Blasen, die schnell wieder zerplatzten und die glühend heiße, zähflüssige Masse durch die Gegend verteilten. Die einzige Lichtquelle in der Höhle. Und der Grund, warum die Luft unwirkliche Temperaturen erreichte. „Ich denke kaum, dass wir da einfach so durchkommen.“
Angestrengt wanderten die Augen des Forschers durch die Höhle. Es konnte doch nicht sein, dass es ausgerechnet jetzt nicht mehr weitergehen sollte! Irgendeine Möglichkeit musste es geben, zur anderen Seite des Raumes zu kommen. Es ging einfach nicht anders…
Tatsächlich meinte er, in der vor Hitze flimmernden Luft etwas erkannt zu haben und kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Gleichzeitig legte er eine Hand über die Augenbrauen, auch wenn das mehr aus Gewohnheit als aus praktischem Nutzen passierte – eine Sonne, vor der man sich schützen musste, gab es hier, tief unter der Erde ja nicht. Aber tatsächlich – etwas war dort hinten. Was genau konnte er nicht sagen, aber es war definitiv nicht Lava. Also konnten sie vielleicht darüber auf die andere Seite kommen?
„Komm mit!“, rief er seiner Begleiterin zu und zog sie am Ärmel ihres T-Shirts in die Richtung, in der er seine Entdeckung gemacht hatte. Die Jacken hatten beide schon lange ausgezogen und um ihre Taillen gebunden, damit ihnen nicht zu heiß wurde. „Ich glaube, ich habe eine Möglichkeit gefunden, wie wir rüberkommen!“
Tatsächlich erwies sich die Entdeckung als eine Möglichkeit, wie man die tödliche Gefahr des geschmolzenen Gesteins umgehen konnte. In der rotglühenden Suppe aus flüssigem Feuer standen einige Plateaus aus Gestein, die noch nicht geschmolzen waren. Über die könnten sie auf die andere Seite kommen! „Also, wir müssen von Felsen zu Felsen springen. Ich gehe voran, pass auf, dass du nicht abrutscht!“, warnte er seine jüngere Begleiterin, die wieder nickte. „Ich bin direkt hinter dir!“ Vorsichtig, Plateau für Plateau, arbeiteten sie sich voran, immer vorsichtig, darauf bedacht, nicht abzurutschen. Denn auch nur ein Fehltritt bedeutete den sicheren Tod. Im Großen und Ganzen funktionierte das auch sehr gut. Bis sie schon fast am anderen Ufer angekommen waren. Der Forscher knickte beim Sprung leicht weg und baute nicht genügend Schwung auf, sodass er den nächsten Felsen nicht komplett erwischte. Er rutschte ab und drohte, in die Lava zu stürzen. Gerade so eben schaffte er es noch, sich am Rand festzukrallen. Seine Partnerin schaffte den Sprung und versuchte sofort, ihm wieder hochzuhelfen. Aber es war zwecklos – er rutschte immer weiter ab. „Lass es“, hauchte er ihr zu. Die Anstrengung war deutlich aus seiner Stimme herauszuhören, da er sich darauf konzentrierte, nicht noch weiter abzurutschen. „Hol den Schatz und bring ihn hier raus. Ich werde es nicht-“
„Elias! Julia! Essen ist fertig!“, tönte der laute Ruf einer Frau aus dem Nebenzimmer. Die beiden Geschwister hoben enttäuscht die Köpfe und blickten fast synchron in Richtung der Tür. „Jetzt schon? Aber…“, wollte Elias protestieren. Aber seine Mutter erstickte jeden Widerstand im Keim: „Nichts aber! Essen ist fertig!“ „Na gut…“, mit einem leisen Seufzen erhoben sich beide von der Sitzgruppe im Wohnzimmer und tappten in die Küche. „So macht ‚Der Boden ist Lava‘ wirklich mehr Spaß“, flüsterte Julia ihrem Bruder noch ins Ohr, bevor sie sich zum Esstisch setzten.
"Lisa, kommst du? Wir gehen."
Ich schaue auf. Vor mir steht Mama. Wir wollen heute wandern gehen.
"Darf Bigler mit?", frage ich und halte ihr mein Lieblingskuscheltier, das die Maus aus der Sendung mit der Maus darstellt, ins Gesicht.
"Ja, natürlich. Jetzt komm. Oma und Opa warten schon im Auto."
Ich drücke Bigler eng an mich und renne zum Auto. Mama braucht natürlich mal wieder voll lang, bis sie den Rucksack und so in den Kofferraum gelegt hat. Aber ich muss mich immer beeilen.
"Wo fahren wir nochmal hin?", frage ich, als sie auch eingestiegen ist.
"Nach Sils auf die Insel", sagt Mama. Ich hab von dieser Stadt schonmal gehört, ich glaube, das ist da, wo dieser total langweilige Zeltplatz ist, auf dem sie als Kind immer war.
"Alle da? Dann geht's jetzt los", sagt Papa und fährt los.
Ich finde es komisch, dass wir nirgends ein Schiff gebraucht haben, wo Mama das hier doch "Insel" genannt hat. Inseln sind doch normalerweise mitten im Wasser und nicht an Land. Aber immerhin ist es hier schöner als auf dem langweiligen Zeltplatz hier in der Nähe. Da waren wir diesen Urlaub auch schon, ich verstehe gar nicht, was sie daran so toll finden.
Hier stehen ganz viele Bäume, in denen Vögel zwitschern. Und ich sehe die ganze Zeit das Wasser. Hoffentlich kommen wir da noch näher hin, dann kann ich mit dem Wasser spielen. Ich halte Bigler immer noch ganz fest. Er findet Wasser auch toll.
"Da vorne auf dem Bänkchen machen wir dann eine Pause", sagt Oma auf einmal und deutet auf eine Bank, die in der Sonne steht.
"Ich bin zuerst da!", rufe ich und renne los. Weil mich niemand verfolgt hat, bin ich dann wirklich zuerst da und setze mich hin. Hoffentlich hat Mama etwas Süßes eingepackt. Eigentlich vergisst sie das ja nie, immerhin ist meine Mama total cool.
Als sie alle angekommen sind und sich zu mir setzen, kuschle ich mich ganz lieb an Mama.
"Du, hast du Gummibärchen dabei?", frage ich.
"Nein, die hab ich daheim vergessen", antwortet sie. Das finde ich schade. Ich mag Gummibärchen.
Als alle etwas getrunken haben, wollen die Erwachsenen weitergehen.
"Jetzt schon?", frage ich.
"Ein bisschen weiter gibt es eine Stelle am Wasser, da essen wir etwas", sagt Papa und nimmt mich an der Hand.
Wasser? Ich schaue Bigler an. Er lächelt zurück. Er freut sich auch schon auf das Wasser.
"Schau, da vorne ist es schon", sagt Oma.
Tatsächlich. Da kann man ans Wasser. Ich drücke Bigler fest an mich und renne los. Ich stolpere sogar noch fast, aber dann bin ich endlich am See. Ich setze mich in den feuchten Sand und setze Bigler neben mich. Dann schnappe ich mir einen Ast und male Formen in den Sand und plätschere mit dem Wasser herum. Ich lasse Steine fallen, damit sie mit verschiedenen Tönen "plopp" machen.
"Lisa, komm doch her, wir essen", ruft Mama. Dann spiele ich eben nicht mehr ...
Ich nehme Bigler und gehe mit ihm zu dem Tisch, wo sie alle sitzen. Opa will, dass ich zu ihm sitze. Mama hat wie immer Brötchen mitgenommen und dazu diese eklige Wurst aus der Dose. Ich bleibe bei einem trockenen Brötchen, das ist mir lieber.
"Wie weit ist es eigentlich noch?", frage ich essend.
"Nicht mehr weit", versichert mir Mama. "Es geht noch über ein paar Hügel, dann kommen wir zum Nietzsche-Stein. Und von da aus ist es nicht mehr weit."
"Was für ein Stein?"
"Ach, darauf steht ein Gedicht. Der, der das geschrieben hat, heißt so."
Der hat ja echt einen komischen Namen. Zum Glück heiße ich nicht so, sondern Lisa.
Ich stehe mit Papa vor dem Stein und versuche, ihn zu lesen. Ich kann das ja schon echt gut, aber halt nicht so schnell wie die Erwachsenen. Und irgendwie verstehe ich den Text hier nicht, der ist so komisch. Er reimt sich total schön, aber was soll das heißen? Warum spricht die Mitternacht? Und mit wem?
Papa filmt den Stein nur. Hat er ihn schon verstanden? Vielleicht muss ich ihn nur nochmal lesen.
Als ich wieder durch bin und immer noch nicht weiß, was das soll, sehe ich auf. Aber statt Papa neben mir stehen zu sehen, sind da nur ganz viele fremde Menschen. Sie sehen total komisch aus, ihre Haut hat so eine komische Farbe und ihre Augen sind total klein. Aber wo sind meine Eltern hin? Ich sehe mich um, aber hier sind sie nicht mehr.
"Mama?", frage ich, doch die seltsamen Menschen sehen mich nur komisch an. Sie reden irgendein wirres Zeug, bestimmt ist das Ausländisch.
Ich laufe hin und her, irgendwo müssen sie doch sein. Warum sind sie einfach ohne mich gegangen? Und warum lassen sie mich an so einem seltsamen Ort stehen? Ich merke schon Tränen in meinen Augen. Ich will jetzt nicht weinen.
Die fremden Menschen sehen mich komisch an, als wäre ich ein Außerirdischer oder sowas. Wo sind sie auf einmal hergekommen? Warum so viele? Und warum sind meine Eltern weg? Warum haben sie mich bei diesen Fremden gelassen? Die verstehen mich doch noch nicht einmal.
Ich laufe zwischen ihnen durch, bestimmt sind meine Eltern hier irgendwo. Sie würden mich nie allein lassen. Und Oma und Opa würden das auch nicht tun. Aber überall sind nur noch mehr komische Leute und keiner versteht mich. Tränen kullern meine Wangen hinunter. Wo sind sie?
Auf einmal merke ich eine Hand an meiner Schulter. Ich drehe mich um.
"Lisa, da bist du ja", sagt Mama und drückt mich kurz. "Ich hab mir schon Sorgen gemacht. Ich dachte, du wärst bei Papa."
Sie hält meine Hand und zusammen laufen wir zu den anderen, die etwas weiter unter Bäumen stehen. Ich habe immer noch Tränen in den Augen. Ich hatte total Angst, dass sie mich vergessen haben.
Ein bisschen weiter im Wald kommen wir an einem Baum vorbei, der total lustig aussieht. Der Stamm geht so zur Seite, dass man draufsitzen kann. Papa hebt mich hoch und setzt mich auf den Baum, während Mama ein Foto von mir macht. Dann gräbt sie im Rucksack.
"Oh, schau mal, ich hab da doch noch etwas für dich gefunden", sagt sie und hält mir eine Tüte Gummibärchen hin. Wie toll! Ich wusste doch, dass Mama die Beste ist!