S A I S O N F I N A L E
- 2016 -
Runde Eins
Informationen / Vote
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Arrr, Mateys! Es ist soweit. Ähnlich wie im letzten Jahr gibt es auch dieses Jahr wieder eine bestimmte Anzahl an Punkten, die ihr den Texten geben könnt. Dabei ist es aufgrund der Berechnung der Gesamtpunkte mit der Formel wichtig, dass ihr alle eure Punkte verteilt. Dazu findet ihr weiter unten eine Schablone, die ihr zum Voten nutzen könnt. Des Weiteren sind Sympathievotes sowie Votes für die eigene Abgabe unerlaubt. Begründungen sind keine Pflicht (für die Vote-Medaillen des Bereichs sind Begründungen allerdings notwendig), aber können geschrieben werden, sofern man möchte (ihr könnt euch als Hilfe unser "How-to-vote-Topic" anschauen). Informiert euch ebenfalls in unserem Informations- und Regeltopic der Saison 2016.
ZitatEure Aufgabe in der ersten Runde besteht darin, eine kurze Geschichte zu verfassen, in ihr das Thema Farben verwendet. Ob ihr über Farbe schreibt oder auch das Fehlen von Farbe, ist euch überlassen.
Euch ist freigestellt, ob ihr in eurer Abgabe einen Pokémonbezug habt; beachtet jedoch, dass in einer der drei Runden eine Abgabe mit dem Thema Pokémon vorkommen muss.
Der Vote läuft bis Sonntag, den 27.11.2016, um 23:59 Uhr.
ZitatID:
AX:
AX:
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Achtet dabei darauf, bei der Schablone zwischen Doppelpunkt und ID/Punktzahl ein Leerzeichen zu machen, damit die Auswertung über den Voterechner ohne Probleme erfolgen kann. Wenn ihr nicht wissen solltet, wie ihr eure ID herausfindet, könnt ihr dies unter anderem hier nachlesen.
Ihr dürft 7 Punkte verteilen. Maximal 4 an eine Abgabe. Bitte achtet darauf, dass ihr alle eure Punkte verteilt. Ihr müsst des Weiteren diese Punkte auf mindestens drei Abgaben verteilen.
„Hey Bernie, bist du in deinem Zimmer?“
Ich seufzte. Es war hoffnungslos diesem Sturkopf auszureden, mich so zu nennen. Nicht, dass es an Wille und Versuchen gemangelt hätte. Aber was sollte ich machen? Gegen diesen Dickschädel kam nun einmal niemand durch. Wahrscheinlich nicht mal seine eigene Mutter.
„Hier“, antwortete ich, ohne von meinem Blatt aufzusehen oder mich zu bewegen.
„Hier ist auch so eine tolle Ortsangabe. Geht's nicht etwas genauer euer Hochwohlgeboren?“
Ich schmunzelte, während sich die Zimmertüre öffnete und David – meinen besten Freund – offenbarte, der erfolglos versuchte eine beleidigtes Gesicht auf zu ziehen.
„Bist du wieder am Zeichnen?“, ertönte es inzwischen vor mir. Ich hatte nicht gemerkt, wie er näher heran getreten war.
„Nein, ich schwimme. Das siehst du doch“, konterte ich, förmlich spürend, wie er die Augen verdrehte.
„Und?“
„Und was?“, fragte ich, immer noch nicht von meinem Blatt Papier aufsehend.
„Und zeigst du mir jetzt was du gerade zeichnest, oder muss ich erst auf den Knien herum rutschen?“
„Daran hätte ich nichts aus zu setzen“.
Ich legte meinen Stift und die Skizze beseite, nur um mich darauf zu setzen und zu grinsen. „Weniger dumm rein sehen, mehr betteln“, grinste ich provokativ.
Es war mir schon vorher klar, dass David, genau das Gegenteil von dem tun würde, was ich wollte. Es hielt mich jedoch nicht davon ab, es immer wieder zu tun. Ich liebte es ihn zu necken. Wenn hat man sonst für sowas? Naja, vielleicht meinen Fisch, aber der war nicht unbedingt der beste Kandidat für diese Position.
„Willst du es wirklich auf die Harte Tour Kleiner? Gut. Ist ja nicht so, als hätte ich dich nicht gewarnt.“
Das war die einzige Warnung die ich bekam, bevor er neben mich aufs Bett sprang und mich unter den Armen kitzelte. Nicht, dass eine andere Stelle weniger Kitzlig gewesen wäre. Lachend trat ich nach ihm, versuchte ihn von mir weg zu stoßen – vergeblich. Konnte man eigentlich vor lachen sterben, denn das war wohl die Folge, die mich ereilen würde, wenn wir weiter machten. An Aufgeben dachte ich nämlich nicht im geringsten! War doch auch eine gute Schlagzeite:
Eilmeldung, Junge hat sich Tod Gelacht
Meine Mutter fände das zwar nicht ganz so toll, aber wenn man schon gehen konnte, wäre das doch sicher die beste Art und Weise zu gehen.
Bevor ich jedoch die Chance hatte in die Geschichtsbücher ein zu gehen, verschwanden die Hände, die mich vor wenigen Sekunden noch zum Lachen gebracht hatten. Ich glaube, dass war der Moment, indem mir klar wurde, dass es David gelungen sein musste, mir die Skizze zu entreisen.
„Gib schon her Doofkopf“, murmelte ich, während ich unsicher nach dem Blatt zu greifen versuchte.
„Also … nicht, dass ich mich nicht geehrt fühlen würde“, sagte er in einem Ton, den ich nicht zu deuten wusste, und der mich dazu trieb die Bettdecke zu Tode zu starren, „aber meine Haare sind eigentlich nicht grün ...“
Grün? Oh … oh. Meine Hand sank nach unten, nicht mehr versuchend das Blatt aus seinen Händen zu entreisen.
„Hmm“, sagte ich, in der Hoffnung dem Gespräch das folgen würde zu entgehen. Es war nicht so, dass David nicht von meinen Milliarden an Trilliarden an Krankheiten wusste, und es war nicht so, dass er nicht über meine Augenkrankheiten informiert wäre, doch immer wenn er diesen Blick hatte, wenn er mich so ansah, wie er es jetzt tat, wusste ich, dass er sich wieder einbildete mir Helfen zu müssen. So, als wäre ich ein kleines Kind, dass nichts alleine auf die Reihe bekam, so als wäre ich nicht fähig mein Leben selbst zu leben, so als bräuchte ich jemand, der mich bemutterte.
„Spar es dir einfach. Ich mache es einfach nie wieder ...“
„Bernie ...“
„Ist schon OK, war eine dumme Idee … „
„Bernie!“
„Ich bleibe einfach bei Bleistift. Daran ist nichts aus zu setzen ...“
„Bernhard!“
„Welchen Teil von 'Lass es einfach' verstehst du mal wieder nicht?! Ich kann es auch an die Wand kleben, wenn es dann besser in deinen Dicken Kopf passt.“
„Mein Gott, du riesen Baby! Lass dir doch einfach einmal Helfen!“, schrie er langsam wütend werdend. Gut. Dann waren wir ja schon zwei.
„Ich brauche keine Hilfe! Ich kann das auch allein! Fang nicht du auch noch an mich bemuttern zu wollen!“
„Darum geht es hier doch gar nicht, und dass weißt du ganz genau!“
Wütend stand ich auf, um die Tür zu meinem Zimmer auf zu reisen, während sich unsere Augen keine Sekunde los ließen, weiter einen Kampf um Dominanz austragend.
„Geh einfach. Los. Kusch. Hau ab!“
Ich sah ihm an, dass er noch lange nicht fertig war, dass er noch einiges zu Sagen hatte. Doch auch er sah mir an, dass ich gerade zu stur war, als dass man mit mir hätte diskutieren können. Also ging er.
Erst als ich die Tür ins Schloss fallen hörte, kehrte ich zu meinem Bett zurück um die Farbstifte unter meinem Kissen hervor zu holen. Einen Augenblick später landeten sie bereits im Müll. Genau so wie das Bild des grünhaarigen Jungen, der natürlich nur zufällig Ähnlichkeiten mit David aufwies.
Es war 9 Uhr am morgen des nächsten Tages als jemand an der Tür klingelte. Da außer mir keiner zu Hause war - meine Mutter musste bereits früh in die Arbeit - blieb mir nichts anderes übrig, als mich aus der Wärme meines Bettes zu quählen. Einen Augenblick spielte ich damit so zu tun, als hätte ich die Klingel nicht vernommen, oder als wäre keiner da. Der Postbote konnte die Briefe einfach unter der Tür durchschieben und unsere Nachbarn nahmen unsere Pakete gerne entgegen.
Die Person an der Tür schien damit jedoch ein Problem zu haben, da sie erneut auf die Klingel drückte. Wer auch immer den Nerv hatte mich am Wochenende zu nerven sollte nicht damit rechnen, dass ich um die Uhrzeit gut gelaunt war.
Gähnend schleppte ich mich zur Tür um dann verdutzt zu blinzeln, als ich die Person vor der Tür als David identifizierte.
"Darf ich herein kommen?", fragte er unsicher.
Einen Moment lang zögerte ich, bevor ich ihm Einlass gebot. Ich glaubte nicht, dass er hier war um dort fort zu fahren, wo wir gestern aufgehört hatten. Dennoch musste ich unweigerlich an unsere Unterhaltung von gestern denken ... und daran, wie sie geendet hatte. Ich sollte mich womöglich entschuldigen. Ich hatte mich unfair verhalten. Vielleicht nicht nur unfair. Ja, eindeutig nicht nur unfair.
Bevor ich jedoch die Möglichkeit hatte David zu sagen, dass ich ein Idiot war, deutete er mir zu schweigen. Kurz darauf kramte er etwas aus seiner Hosentasche - ein Päckchen - dass er mir übergab.
Erneut öffnete ich meinen Mund, um wieder unterbrochen zu werden.
Na schön, wenn er unbedingt wollte. Ich schüttelte den Kopf über Davids Dummheit, bevor ich vorsichtig anfing zu öffnen, was er mitgebracht hatte.
"Hör erst zu bevor du mich anschreist. ... Ich halte dich nicht für unfähig, ich halte dich auch für alle s andere als schwach. Im Gegenteil! Du bist einer der stärksten Menschen die ich kenne Bernie! Aber ... es ist doch keine Schwäche Hilfe an zu nehmen. Das heißt ja nicht, dass du es nicht alleine Schaffen würdest. Es heißt nur, dass es da jemanden gibt, dem du wichtig bist. Und naja, ich dachte, vielleicht ... keine Ahnung".
Inzwischen hatte er angefangen irgendeinen Unsinn vor sich her zu brummen. Nicht, dass ich seinen Worten noch viel Bedeutung schenkte. Viel mehr sah ich auf die Buntstifte, die mir David geschenkt hatte, und auf denen groß und fett die Farben der Stifte geschrieben waren: Hellblau, Dunkelblau, Rosa, Rot, Hellgrün, Dunkelgrün, Türkis ...
"David ...", hauchte ich und unterbrach ihn in seinem Redeschwall.
"Hör zu ich ... "
"Danke David ...", lächelte ich ihn, was ihm auch ein Lächeln entlockte. Erleichtert lockerte sich auch endlich seine Haltung, so als hatte er bis dato geglaubt, dass ich ihn erdolchen würde, nachdem er mir die Stifte gegeben hatte.
"Vielleicht habe ich nicht die Besten Augen, aber dafür hab ich dich. Und ich denke, ..."
"Wehe, du sagst jetzt was schnulziges", lachte er.
"..das macht es wieder gut."
"Und er hat es trotzdem gesagt."
"Blödmann", grinste ich, bevor ich an ihm vorbei ging, wissend, dass er mir folgen würde.
Denn wenn ich mich auf eines verlassen konnte, dann war es dass.
Rot, blau, gelb, orange, weiß, rosa, so viele verschiedene Farben leuchteten in der frühen Morgensonne. Die jungen Blüten streckten sich dem Himmel entgegen und wiegten ihre Häupter im sanften Frühlingswind. Inmitten dieses Blumenmeers saß ein Mädchen. Sein schwarzes Haar bildete einen starken Kontrast zu den strahlenden Farben um es herum. Sein ebenso schwarzes Kleid reichte nicht bis zu seinen Knien, welche sich in die Erde zu bohren schienen. Sah man dem Mädchen ins Gesicht, dann würde man es ganz sicher nicht kniend zwischen bunten Blumen erwarten. Seine Augen waren schwarz bemalt und sowohl seinen linken Nasenflügelals auch die Oberlippe zierte ein kleiner, goldener Ring. Auch sein rechtes Ohr war mit Piercings nur so übersäht. Seine gesamte Erscheinung wirkte fehl am Platz und doch saß es da und ließ den Wind mit seinen langen, glatten Haaren spielen.
Das Blumenmeer, in dem es kniete, befand sich in einem abgegrenzten Teil einer Art Park, welcher sich um ein großes Haus herum erstreckte. Überall in diesem Park sah man junge Pokémon spielen. Azurill und Togepi, genauso wie Schwalbini oder Knospi, jedoch keine Entwicklungen.
Gerade hob das Mädchen den Kopf, um ihr Gesicht von der Sonne wärmen zu lassen, da trat eine junge Frau aus dem weiß gestrichenen Haus. Ihre hellbraunen Haare trug sie kurz und auch sonst war sie mit ihrem rot-karierten Hemd, ihrer Arbeitshose und ihren braunen Stiefeln eher funktional gekleidet, auch wenn man nicht behaupten konnte, sie wäre keine schöne Frau. Im Arm trug sie einen großen Karton, den sie, als sie auf der Wiese angekommen war, neben dem Mädchen abstellte. Hinter der Frau kam ein kleiner Junge von etwa sechs Jahren aus dem Haus. Seine braunen Haare saßen verwuschelt auf seinem Kopf, er trug eine kurze Jeans und ein rotes T-Shirt. Anders als die Frau ging er nicht direkt auf das Mädchen zu, sondern blieb am Holzzaun, der rund um die Blumen reichte, stehen, ehe er auf die erste Planke kletterte, um hinüberschauen zu können.
„Das da ist mein Sohn Jonas“ - die Frau nickte in Richtung des Jungen am Zaun – „Sein Freund, mit dem er heute verabredet war, ist krank geworden und er würde deswegen gerne zugucken. Ist das okay für dich?“
Das Mädchen nickte und wandte sich zu dem Jungen um: „Hallo. Ich bin Sela.“
„Ich weiß“, meinte Jonas, „Mama hat mir alles über dich erzählt. Du heißt Sela, du bist sechzehn und du arbeitest für eine Weile hier.“ Von seiner erhobenen Position sah er grinsend, weil er so viel wusste, auf Sela hinab.
„Und weißt du auch, was wir jetzt machen?“, stellte das Mädchen eine weitere Frage. Obwohl es von seinem Aussehen her nicht so wirken mochte, so ging es doch sehr freundlich mit dem Jungen um und begegnete ihm auf Augenhöhe; auch wenn es immer noch kniend zwischen den Blumen saß.
„Irgendetwas ganz Wichtiges“, antwortete Jonas ausweichend. Ob ihm seine Mutter nicht mehr Details verraten hatte oder er sie nicht mehr wusste, konnte man nicht sagen.
„Ja, etwas ganz Wichtiges“, wiederholte Sela. „Jetzt ist es endlich so weit.“ Die freudige Erwartung war dem Mädchen ins Gesicht geschrieben, als es den Karton öffnete. Darin befand sich etwa ein Dutzend winziger Flabébé - allesamt noch ohne eine Blüte, wodurch sie noch kleiner und verletzlicher wirkten.
„Was ist denn das?“, fragte Jonas neugierig, wobei er sich so weit über den Zaun lehnte, dass er fast vorne über fiel. Seine Mutter nahm eines der Baby-Pokémon aus dem Karton und zeigte es ihrem Sohn.
„Das sind ganz junge Flabébé. Sieglinde hat ihre Eier vor einer Weile gefunden und zu uns gebracht; erinnerst du dich?“
„Aus diesen großen Eiern sind so winzige Pokémon geschlüpft?“ Verblüfft betrachtete der Junge die kleine Fee.
„Tja“, meinte seine Mutter und blickte ihn verschwörerisch an, „die Natur ist voller Rätsel.“
„Und warum sind die jetzt hier? Die sind doch noch viel zu jung, um ausgewildert zu werden.“
„Hast du denn schon einmal ein Flabébé in der Wildnis oder bei einem Trainer gesehen?“, fragte nun Sela, während sie ihrerseits behutsam eines der Pokémon aus dem Karton hob. Der Junge schüttelte den Kopf. „Flabébé leben in Symbiose mit einer Blume. Das bedeutet, sie helfen sich gegenseitig. Wenn Baby-Flabébé schlüpfen und ein paar Kräfte gesammelt haben, dann suchen sie sich eine Blume aus, mit der sie ein Leben lang zusammen bleiben.“
Die braunen Augen des Jungen wurden groß. „Und die wissen jetzt schon, was sie für immer machen wollen?“
„Sie spüren es. Ich glaube, es ist ein bisschen, als würden sie sich verlieben.“ Keck zwinkerte sie Jonas zu. „Sieh hier!“ Vorsichtig setzte Sela das junge Pokémon neben sich auf die Erde. Es blickte sich um, als müsse es erst einmal herausfinden, wo es war, dann drehte es sich in die Richtung einer blauen Blume mit spitzen Blütenblättern und einem gebogenen Halm. Als das Pokémon näher kam, begann die Blüte zu leuchten und ein großer, gelber Stempel erschien in ihrer Mitte. Schließlich umklammerte Flabébé diesen Stempel. Wie als Zeichen ihrer neuen Vereinigung strahlten Blume und Pokémon eine wohltuende Aura aus, ehe sich der Stängel vom Boden löste und das Pokémon zu schweben begann.
„Wow.“ Staunend betrachtete Jonas das Wesen, das nun munter vor ihm in der Luft tanzte.
„Die Blume gibt ihnen Energie“, erklärte seine Mutter, ehe sie das zweite Flabébé zwischen die vielen Blumen setzte. Dieses wandte sich zielstrebig einer gelben Blüte zu. So verfuhren sie mit allen Feen, bis man das Gefühl hatte, die Blumenwiese hätte sie auch auf den Luftraum ausgeweitet.
„So viele Farben!“ Offensichtlich hatten die kleinen Feen genauso viel Freude an dem Jungen wie er an ihnen, denn sie wurden nicht müde, um seinen Kopf zu tanzen, dass es aussah, als wäre er in einem Strudel von bunten Blüten gefangen. „Ist es egal, welche Farbe die Blume hat, die sie sich aussuchen?“
„Ja, ist es“, erklärte ihm seine Mutter, „aber man hat herausgefunden, dass die meisten rote, weiße, gelbe, orangefarbene oder blaue Blüten bevorzugen. Eine beliebte Blumensorte ist die sogenannte Feenblume. Sie ist auch von Natur aus darauf ausgelegt, eine Gemeinschaft mit Flabébé zu bilden, während sich die anderen erst im Nachhinein an die Pokémon anpassen.“
„Außerdem“, fügte Sela ergänzend hinzu, „hat man beobachtet, dass junge Flabébé sich oft an der Blüte ihrer Mutter orientieren und ihre Blume später dieselbe Farbe hat.“
„Warum sollte man so was tun?“, fragte der Junge, woraufhin er einen strengen Blick von seiner Mutter erhielt.
Sela hingegen lächelte noch immer und fand ein passendes Argument: „Dein T-Shirt hat doch auch die gleiche Farbe wie das deiner Mutter.“
„Das zählt nicht“, wehrte der Junge ab. „Meins hat nicht diese seltsamen schwarzen Streifen.“
„Ich hab’ ja auch nicht gesagt, dass es gleich ist. Sie sind nur beide rot. Und so ist das auch bei den Flabébé.“
„Reggie hatte total unrecht“, meinte Jonas plötzlich und wechselte so abrupt das Thema.
„Was hat er denn gesagt?“, fragte Sela, die nun fragend eine Augenbraue hochzog.
„Er meinte, du wärst ein schlechter Mensch und hättest total böse Sachen gemacht und nur deshalb wärst du hier. Er meint, bei uns helfen immer nur schlechte Menschen.“
„Jonas, kein Mensch ist schlecht!“, ermahnte ihn seine Mutter, worauf hin der Junge gleich etwas kleiner zu werden schien.
„Ist schon gut“, beschwichtigte Sela, „ich hab wirklich mal etwas Böses gemacht. Und das war auch der Grund, warum ich in der Pokémonaufzuchtsstation anfing, aber ich bereue sehr, was ich getan habe, und versuche es wieder gut zu machen, indem ich mich hier ganz doll anstrenge und viel helfe.“
„Warst du mal bei Team Rocket?“ Jonas sah sie erwartungsvoll an, doch er wurde wieder von seiner Mutter zurechtgewiesen: „Jonas! Das reicht jetzt!“
„’Tschuldigung“, nuschelte nun der Junge und blickte auf die Blumen, die unter dem Zaun wuchsen. Währenddessen schwebten die Flabébé langsam wieder zur Wiese zurück. Auch wenn die Blumen ihnen neue Kraft verliehen, so waren sie doch noch sehr jung und schnell erschöpft.
„Wir sollten die Kleinen jetzt wieder zurück bringen, es war doch sehr anstrengend für sie“, wechselte Jonas’ Mutter nun das Thema.
„Warum denn?“, fragte Jonas, als er wieder aufsah. „Es ist doch so schön hier. Das sind doch Blumenpokémon, die müssen sich doch zwischen all diesen Blumen total wohl fühlen!“
„Du musst aber bedenken, dass dies ihr erster Ausflug war. Das ist alles noch ganz neu für die Kleinen. Jetzt haben sie ihre Blumen gefunden und können sich erstmal erholen.“ Während sie das sagte, streckte Sela ihre Hand aus, damit eines der Flabébé darauf landen konnte. Seine Blüte leuchtete im Orange einer untergehenden Sonne.
„Außerdem fehlt ihnen die Mutterwärme. Da sind sie unter der Wärmelampe im Haus besser aufgehoben.“ Die junge Frau nahm ihrerseits eines der Flabébé auf, dessen gelbe Blume eine so kräftige Farbe besaß, als hätte sie ein Maler auf seiner Leinwand entworfen. Dann legte sie das kleine Wesen wieder in den Karton und auch Sela setzte das Pokémon in ihrer Hand zurück. So verfuhren die beiden Frauen bis mein meinen konnte, sie hätten die gesamte Blumenwiese eingesteckt, denn in dem tristen, braunen Karton schimmerten dieselben Farben, wie um ihn herum. Dann nahm die Ältere den Karton wieder auf und wendete sich dem Haus zu. An ihren Sohn gewandt fragte sie: „Möchtest du auch mitkommen? Das kleine Phanpy bekommt gleich sein Fläschchen. Vielleicht möchtest du es ja mal füttern.“
„Au ja!“, freute sich der Junge, sprang vom Zaun und lief seiner Mutter hinterher. Dann drehte er sich noch einmal zu Sela um, die noch immer auf der Wiese kniete: „Kommst du nicht mit? Djadja ist wirklich toll!“
„Ach nein, geht ihr nur allein“, lehnte das Mädchen ab, „ich muss gleich noch das Haus der Piccolente sauber machen.“
„Na gut“, meinte Jonas, ehe er seiner Mutter hinterher hüpfte, welche inzwischen fast schon das Haus erreicht hatte. Doch als die junge Frau rückwärts die Tür aufdrückte, da sie mit beiden Händen den Karton hielt, drehte er sich noch ein zweites Mal um. „Du bist echt nicht gemein. Du bist sehr nett.“
„Du bist auch sehr nett“, erwiderte Sela, ehe der Junge hinter seiner Mutter im Haus verschwand und sie wieder mit den Pokémon alleine in der Parkanlage war. Sie saß noch eine Weile einfach nur da; ein schwarzer Punkt zwischen all den bunten Blumen. Ihre Augen waren geschlossen und man konnte fast meinen, dass sie traurig aussah, obwohl sie gerade ein außergewöhnliches und atemberaubend schönes Naturphänomen hatte beobachten dürfen. Fast so, als würde sie es selbst gar nicht mitbekommen, griff sie nach einer rot leuchtenden Blume und strich gedankenverloren über ihre Blütenblätter.
Nach einiger Zeit stand das Mädchen auf, die Blume fest in seiner Hand. Seine Knie und Unterschenkel waren mit schwarzer Erde bedeckt, doch darunter schimmerte noch eine weitere Farbe. Seufzend wanderte sein Blick nach unten. Dann ließ es die Blume fallen, ohne es wirklich zu bemerken. Sie segelte zum Boden, blieb dort liegen und stellte ein trauriges Bild dar. Tief atmend, als würde es Überwindung kosten, klopfte sich das Mädchen die dunkle Schicht von der Haut. Da erst sah man seine Tätowierung, die wirkte, als liefen mehrere Blutspuren an den Beinen hinab.
„Und ich kann meiner Vergangenheit doch nie entfliehen“, flüsterte Sela wie zu sich selbst, während sich ein feuchter Film auf ihren Augen bildete. Dann verließ sie die Blumenwiese mit all ihren Farben, in der sie nur ein schwarzer Punkt gewesen war, gebrandmarkt durch fünf Linien, deren Rot alles andere zu übertönen schien.
Sichtlich lustlos lag Melody in ihrem Bett und warf einen Gummiball an die graue Wand ihres Zimmers, sodass er über den Boden zu ihr zurücksprang. Das ging nun schon seit Stunden so. Direkt nachdem sie das Frühstück hinter sich gebracht hatte, anders konnte man das lustlose hinunterwürgen von Lebensmitteln nicht bezeichnen als „hinter sich bringen“, hatte sie sich direkt in ihrem Zimmer eingesperrt. Und nun lag sie eben hier. Seit Stunden den selben Ball gegen die selbe Wand werfend, ohne jede Regung in ihrem Gesicht, ohne jede Hintergrundgeräusche, abgesehen vom monotonen Ticken der Uhr. Zwar tat ihr nach dem stundenlangen Liegen mit aufgerichtetem Kopf der Nacken weh und auch ihr Arm war eingeschlafen, aber wie sagte man so schön, für sie waren das Nichtigkeiten. Seit dem Vorfall gestern hatte sie einfach jede Motivation, jeder Antrieb verlassen. Am liebsten wäre sie einfach den ganzen Tag komplett alleine. Aber natürlich war ihre Mutter der Meinung, mehrmals nach ihr schauen zu müssen. Ohne Erfolg, denn das Mädchen hatte sich einfach geweigert, die Tür zu öffnen. Ein leiser Seufzer verließ ihre Lippen, ehe sie den Ball ein letztes Mal fing, sich dann aufsetzte und den eingeschlafenen Arm ausschüttelte, wobei ihre Haare auf ihren Pullover fielen. Natürlich hatte sie keinen sonderlichen Wert auf ihr Aussehen gelegt, immerhin wollte sie ja alleine sein. Dementsprechend sah sie auch aus – viel zu großer Pullover und Jogginghose, beide in grau. Die fast hüftlangen braunen Haare komplett verstrubbelt, sodass man schon fast Filzballen wie in Katzenfell darin erwartete. Ihre Wangen noch leicht gerötet, von der Nacht. Naja, zumindest die war vorbei. Also etwas Positives.
Denn ihre Nacht ließ sich mit einem Wort beschreiben: Grauenhaft. Sie hatte so lange geweint, bis sie vor Erschöpfung eingeschlafen war. Und das hatte ziemlich lange gedauert. Ihre Bauchmuskeln taten ihr jetzt noch weh. Aber zumindest ihre Laune hatte sich „gebessert“. Wobei sie sich eher dem Wetter angepasst hatte – grau in grau, soweit man sehen konnte. Seit ihr Freund ein paar Tage zuvor mit ihr Schluss gemacht hatte, war sie einfach nicht mehr aus dieser Laune herausgekommen. Und wer konnte es ihr schon verübeln? Nach dem Ereignis wollte sie einfach alleine sein. Alleine bei dem Gedanken daran zog sie ihre Knie zum Körper und rutschte an das Kopfende des Bettes, wo sie sich an die Wand lehnte. Einfach alleine. Am besten ohne Gedanken. Das wäre schön…
Und sie schaffte es tatsächlich, gedanklich abzudriften. Wohin, war Melody eigentlich egal. Hauptsache, sie dachte nicht an das hier und jetzt. Und auch nicht daran. In die richtige Welt kam sie erst wieder zurück, als ihr Handy piepste, um zu signalisieren, dass sie eine Nachricht bekommen hatte. Zuerst schaute sie sich verwirrt um, ehe sie realisierte, woher das Geräusch kam. Na toll. Hatte sie das nicht eigentlich ausgeschaltet? Naja, es würde sicher nicht schaden nachzusehen. Außer es war er. Dann würde das Teil wahrscheinlich sehr schnell am anderen Ende des Zimmers landen.
Allerdings war es eine Nachricht ihrer besten Freundin. Oder eher eine Nachrichtenserie. Leise begann Melody sich selbst den Text vorzulesen: „Hey, ich weiß, dass das gerade keine einfache Zeit für dich ist. Ich verstehe dich auch, aber glaubst du wirklich, dass es eine gute Idee ist, dich fast eine Woche lang wegzusperren? Ich hab‘ was geschrieben, vielleicht hilft es dir ja. Wenn nicht – du weißt, dass du mit mir darüber reden kannst.“ Danach war noch ein Link geschickt worden, zu einer Seite, die sie gut kannte – auf der lud ihre Freundin immer ihre Geschichten hoch. „Naja, was kann schon sein?“, murmelte sie in ihren Pullover hinein, tippte den Link und begann zu lesen:
"Es war einmal ein reinweißer Vogel, klein und zerbrechlich, der war die immer gleiche Umgebung müde geworden, sie ödete ihn an. er wollte neue Orte sehen, sich selbst verändern, neue Erfahrungen machen. "Ich will viele neue Farben und Plätze sehen!", sagte er und flog los.
Zu einem helleren, fröhlicheren Himmel, gefärbt im Orange des Lächelns. Und ihre Federn nahmen die Farbe des Himmels auf, glänzten nun in einem matten Orange.
"Was für eine schöne Welt mit so schönen Farben! Ich will noch mehr davon, ich will alle sehen!", sagte er und flog weiter. Zu einem Himmel in der Farbe der Freundschaft und Liebe, einem hellen Rosa. Auch das wurde von seinen Federn aufgenommen, die nach wie vor zu einem großen Teil weiß waren.
Nach und nach flog der Vogel durch immer mehr Himmel, entdeckte das Blau von Tränen. Das Violett der Antriebslosigkeit. Das Rot der Wut. Jedes Mal sah er neue Sachen, und jedes Mal erfüllte ihn ein Strom der Glücklichkeit, wenn seine Federn eine neue Farbe aufsaugten. Schlussendlich füllte das Gelb der Fröhlichkeit die letzten weißen Stellen seiner Federn aus.
Er war ein wunderschöner, regenbogenfarbener Vogel.
Doch der Vogel wollte mehr sehen. Und als er durch mehr und mehr verschiedene Himmel flog, wurden seine Federn stumpf. Die Farben vermischten sich, langsam, Stück für Stück. Sie veränderten das einst langweilige Weiß in ein neues, hässliches Schwarz, mischten und zerstörten die alten Farben. Vollgesogen mit den vielen Farben konnte der kleine Vogel seine Flügel nicht mehr bewegen. Und so fiel er. Und fiel. Und fiel…
Allerdings fiel er nicht bis zum Boden, wo er starb. Denn im Fallen lösten sich die Farben aus seinem Gefieder, Stück für Stück, bis alle Feder wieder in einem reinen Weiß erstrahlen. Er lässt die alten Farben hinter sich und fliegt weiter, zu neuen Welten."
Melody schüttelte langsam den Kopf. Was sollte das denn jetzt? Wie zur Hölle sollte ihr das in ihrer Situation helfen? Mit langsamen Fingerbewegungen schrieb sie eine Nachricht zurück. „Ich hab echt keine Lust auf schlechte Scherze, solltest du wissen…" Dann legte sie das Handy zur Seite und ließ sich nach vorne kippen, sodass sie auf dem Bauch lag. Was hatte sie sich dabei gedacht? Nie im Leben würde ihr das helfen.
Und dann realisierte sie, was ihre Freundin damit gemeint hatte. Recht hatte sie ja. Das Mädchen schnappte ihr Handy und schrieb ihr wieder.
". . ."
"Warte"
"Ich weiß, was du meintest. Ich bin in 15 Minuten bei dir"
Sie steckte das Handy in ihre Hosentasche und rutschte vom Bett. Der kleine Vogel, das war sie. Und die Farben ihre Gefühle. Sie musste sie hinter sich lassen, sonst würde es wohl nur mehr abwärtsgehen.
Ablenkung war doch zumindest ein guter Anfang, oder?
„Kora, mach mal ein bisschen langsamer!“
Ich versuchte, den schwerfälligen Border Collie zurückzuhalten, jedoch konnte sich die Dame nicht am Riemen halten und sie sprang von einer Seite des Weges zur anderen. Sehr zu meinem Leidwesen, da mich das Gewusel viel Kraft kostete. Dabei bellte sie auch ausgiebig, wohl um auf sich aufmerksam zu machen. Kora war schon immer sehr lebendig und lebensfroh gewesen und ich konnte ihr daher nicht verübeln, wenn wir mal eine größere Runde Gassi gingen als sonst üblich. Die Stadt bot eben nicht so viele Möglichkeiten, die Gegend zu erkunden. Da war ein Abstecher in Richtung der offenen Landschaften eine gelungene Abwechslung.
Als ob ein neuer Geist in Kora eingekehrt war, kehrte sie zu mir zurück und versuchte ein paar Mal, an meiner Seite hochzuspringen. Auch jetzt musste ich sie wieder beruhigen, da sie mich sonst wohl wirklich noch zu Boden gezwungen hätte. Und den Gefallen wollte ich ihr nach dem letzten Mal, als sie das geschafft hatte, nicht tun.
Scheinbar störte sie sich nicht daran, denn kurz darauf war sie schon wieder am Rand des Weges, um die Blumen zu beschnuppern. Ein kräftiger Nieser durchfuhr sie und ließ mich kurz zusammenzucken. Danach lachte ich aber wieder, da Kora einen wirklich belämmerten Ausdruck machte. Dafür musste man sie doch einfach lieben!
Wir gingen weiter unseres Weges, dieses Mal sogar ohne dass sie mich hinter sich her zog. Scheinbar war es Kora nun auch zu viel geworden; oder es sollte die Ruhe vor dem Sturm werden. Interessiert sah ich mich um und bemerkte dabei wahre Farbenmeere in der Wiese. Zu meiner Rechten breitete sich über ein weites Feld das Blau von Kornblumen aus, die ihre Blüten in Richtung der hoch stehenden Sonne reckten. Es beruhigte mich innerlich, diesen Kontrast zwischen Grün und Blau zu sehen. Gleichzeitig bildete sich vor meinem inneren Auge ein Bild; etwas, das ich später gerne selbst malen und verwirklichen wollte. Ich hoffte, die Idee bis zum Abend behalten zu können.
Plötzlich riss Kora abrupt am Seil an, als ich in Gedanken versunken war und küsste nun tatsächlich den Boden. Unter Schmerzen richtete ich mich wieder auf und rieb mir die Nase. Das musste auch wirklich noch passieren! Im nächsten Moment begriff ich, was passiert war, sprang auf und hielt nach Kora Ausschau. Es dauerte auch nicht lange, bis ich ihren massigen Körper erblickte.
„Kora, bleib hier!“, rief ich ihr hinterher, aber wie erwartet hörte sie nicht auf mich. Mit einem tiefen Seufzer setzte ich mich in Bewegung und lief ihr nach. Dass sie dabei nicht allzu lange dem Gehweg folgte, hätte mir auch klar sein sollen, als ich die niedergedrückten Grashalme in der Wiese sah. Darauf bedacht, keine Blumen zu zertreten, arbeitete ich mich durch das Grün voran. Was hätte ich nun dafür gegeben, ein Hund sein zu können; dann hätte mir das sogar egal sein können.
Kurz darauf hörte ich Kora schneller, als ich sie sehen konnte. Ihr Ziel hatte sie offenbar schon erreicht und wie ich bemerkte, war sie nicht allein. In Richtung einer Gruppe weißen Berg-Sandkrauts erspähte ich einen jungen Mann, vermutlich um die Dreißig, der an einer Staffelei saß. Kora hatte sich mit den Vorderpfoten demonstrativ auf seine Beine gestellt und hechelte ihn an, sodass er nicht umhin kam, ihr den Kopf zu kraulen. Ich seufzte erneut und ging auf die beiden zu.
„Endlich hab ich dich wieder“, meinte ich außer Atem, als der Mann auf mich aufmerksam wurde.
„Guten Tag, Fräulein“, grüßte er mich mit einem Lächeln. „Ist das deine Hündin?“
„Ja“, gab ich zurück, während ich mich verlegen mit einer Hand am Hinterkopf kratzte. „Sie ist mir vorhin ausgebüxt, als ich in Gedanken war.“
„Ah, verstehe.“ Es folgte eine sekundenlange Stille, die nur von Koras Hecheln und dem sanften Windhauch unterbrochen wurde, der über uns hinweg zog. „Haben dich etwa auch die Blumen so eingenommen?“
Perplex starrte ich den Mann an, der daraufhin schmunzelte.
„Dachte ich’s mir doch. Aber ich kann’s dir auch nicht verübeln, weil es vielen Menschen so geht.“
„Das stimmt wohl.“ In Gedanken war ich eigentlich nur dabei, wieder Luft zu bekommen und Kora darum zu bitten, den Mann in Ruhe zu lassen. Immerhin, da war ich mir sicher, wollte er mit seinem Bild auch fertig werden.
Erst jetzt kam ich dazu, sein bisher gemaltes Werk anzusehen, das sich auf der Staffelei befand. Vorhin noch hatte mich das Blau der Kornblumen ergriffen und nun sah ich ein regelrechtes Meer an Farben. Blaue, rote, weiße, gelbe und violette Blumen erstreckten sich über eine scheinbar endlos weite Landschaft, die beim Betrachten einfach Eindruck machte. Ich staunte und merkte erst nach einigen Momenten, dass mir der Mund offen stand. Wie peinlich!
„Gefällt es dir?“, meinte der Mann schließlich und deutete auf das Bild.
„J-ja, schon“, brachte ich gerade so heraus und sah wieder die Blumen an. Ich war wirklich fasziniert von diesem Anblick und das nicht nur, weil ich vorhin eine ähnliche Idee hatte. Nein. Viel mehr war es die Tatsache, dass er bei seinem Bild mit Ölfarben arbeitete. Ölfarben! Er war sicher kein Anfänger, wenn er sich das mit diesem Ergebnis zutraute.
„Das ist schön!“, antwortete er mit Freude. Endlich ließ Kora von ihm ab und sie kam schwanzwedelnd wieder zu mir. „Ich mache die Freilichtmalerei noch gar nicht so lange und daher freut mich jedes bisschen Feedback von Vorbeiziehenden. Derer gab es bisher nur noch nicht so viele.“
„Dabei macht das Bild wirklich den Eindruck, als würden Sie das schon sehr lange machen“, gab ich ehrlich zurück. Er reichte mir daraufhin die Hand.
„Robin. Robin Chroma, sehr erfreut. Und du darfst gerne du sagen.“
Ich sah abwechselnd seine Hand und sein Gesicht an, bis ich sie schließlich zögernd ergriff und schüttelte.
„N-Nala Ricke. Und danke für das Angebot.“
„Ein schöner Name, passend zu deinem Aussehen“, sagte Robin daraufhin und zwinkerte mit einem Auge. Ich spürte, wie mir mit einem Mal heiß wurde und ich den Blickkontakt vermied, indem ich zur Seite sah.
„Aber genug der Schmeicheleien. Wenn du mich kurz entschuldigst, ich wollte noch den Feinschliff beenden, dann können wir gerne weiter reden.“
Mit diesem Satz drehte sich Robin wieder um, nahm einen Pinsel mit violetter Farbe in die Hand und machte sich ans Werk. Ein kurzer Blick an der Staffelei vorbei und schon hatte er sein Werkzeug wieder angesetzt. Kunstvoll vereinten sich die wenigen Pinselstriche mit der restlichen Umgebung und ergaben ein in meinen Augen großartiges Gesamtwerk.
Ich wusste, dass Freilichtmalerei darauf baute, sich in die Natur zu begeben und sich von den verschiedensten Einflüssen lenken zu lassen. Dabei war es auch ziemlich schwierig, einen geeigneten Platz zu finden, der ausreichend Inspiration bot. Je nach Tag konnte man dabei auch schon mal von Misserfolgen begleitet werden.
Mein Blick glitt nun zu den Blumen, die er abbildete, bemerkte aber plötzlich den Widerspruch in der Szene. Vor uns erstreckten sich nämlich nur weiße Blumen. Berg-Sandkraut, um genauer zu sein. Erst vor wenigen Tagen hatte ich die Art nachgeschlagen, da mich interessierte, worum es sich bei den Blumen in dieser Gegend handelte.
Robin schien sich davon nicht beirren zu lassen. Geübt wagte er nach einigen Pinselstrichen wieder die Blumen zu beobachten und malte danach erneut die Farbe auf die Leinwand.
„Äh, Robin“, begann ich stammelnd, wusste ich doch nicht recht, wie ich die Frage formulieren sollte. „Wieso … warum hast du dich eigentlich genau hier niedergelassen, um das Bild zu malen?“
Es dauerte erst eine Weile, bis er mir antwortete. Er sah dabei auch nicht zu mir auf und trug weiterhin Farbe auf.
„Das hat keinen speziellen Grund. Mich haben diese Blumen hier zu einem Bild inspiriert, das ich schon längere Zeit malen wollte.“
„Okay. Aber die Blumen sind doch weiß und, äh, nun ja …“
„Findest du?“
Robin überraschte mich mit der Frage und ich wusste nun wirklich nichts darauf zu sagen. Was meinte er damit? Schließlich begann er aber wieder zu reden.
„Wenn du mich fragst, dann sind Blumen nie komplett weiß. Jede trägt ihre eigene Farbe, die man so nicht definieren kann, die sie aber einzigartig macht. Und ich habe mir bei diesem Bild zur Aufgabe gemacht, diese Farben sichtbar zu machen.“
„Und das geht?“
Er grinste mich an. „Ohne die Hilfe kleiner Feen vermutlich nicht.“
Robin mischte aus seinem Kasten eine neue Farbe zusammen und übertrug sie mit dem Pinsel auf die Leinwand. Dabei legte sich ein leichter goldener Schimmer über die Landschaft und die Blumen, die einen zauberhaften Eindruck vermittelten.
„Feen also?“, fragte ich daraufhin unvermittelt.
„Ja. Wenn du genau hin siehst, dann wirst du in allem Farbe erkennen. Die Augen sind nicht der einzige Weg, um sie zu erkennen.“ Dann sah er mich an. „Fantasie ist der Schlüssel für besondere Eindrücke und mit ihr sind die Welten, die du erschaffen kannst, wirklich unendlich vielfältig.“
Ich starrte Robin weiterhin an. Damit hatte ich nicht gerechnet, dass er hier an dieser Stelle anfing, von Fantasie zu sprechen. Auf der anderen Seite war es aber nur natürlich, denn sie treibt jeden Künstler an. Ich hatte schließlich das Bedürfnis, ihm von meiner Idee zu erzählen.
„Weißt du, ich male ja selbst und verstehe in etwa, worauf du hinaus möchtest. Vorhin, als ich die Kornblumen gesehen habe, hatte ich eine ähnliche Idee wie du. Ein Blumenmeer zu erschaffen. Allerdings sollte sie auch bewohnt werden. Dafür stellvertretend sollte eine Fee stehen, die mit einer blauen Blüte über die Lande zieht und darauf achtet, die Magie der Natur zu wahren.“ Ich schloss die Augen und lächelte dabei. „Es beruhigt mich irgendwie zu wissen, dass ich nicht die einzige bin, die solchen Fantasien hinterher jagt.“
Robin stand nun auf, was Kora schließlich auf den Plan rief, die sich wieder um seine Beine rieb. Er legte mir eine Hand auf die Schulter und sah mich bestätigend an.
„Das ist gut. Hör immer auf deine Fantasie und du wirst selbst in den dunkelsten Momenten Farbe sehen und dich an diesem Anblick erfreuen. Und wenn du selbst malst, dann kannst du andere auch an deinem ganz persönlichen Eindruck und deiner Fantasie teilhaben lassen.“
Ich spürte, wie ich erneut rot wurde, begann aber auch wieder zu lächeln. Es motivierte mich ungemein, so etwas zu hören und ich trippelte von einem Bein auf das andere.
„Danke, das bedeutet mir echt viel“, sagte ich daraufhin und deutete mit einem Fingerzeig auf sein Werk. „Hast du schon eine Idee, wie du das Bild nennen wirst?“
Robin überlegte kurz und sah zur Seite. Scheinbar hatte er sich noch nicht so viele Gedanken darum gemacht, schnippte jedoch gleich darauf mit den Fingern. Ich wartete gespannt auf seine Idee.
„Feenzauber! Das ist ein guter Name.“
Als wir aufwachten, war es ein verregneter Tag. Der Himmel war grau und wolkenverhangen, ich war enttäuscht. Warum musste das Wetter ausgerechnet an unserem besonderen Tag, am schönsten Tag unseres Lebens, so trist sein? Doch du hieltst meine Hand und gabst mir einen Kuss. Es sei ja noch Zeit, sagtest du, es könne ja nicht ewig regnen. Und fast so, als hätte der Himmel dich gehört, brach Sonnenlicht durch die düstere Wolkendecke und ein Regenbogen leuchtete am Horizont. Der klarste Regenbogen, den ich je gesehen habe.
Inzwischen ist es Mittag und die Sonne strahlt, als hätte sie nie etwas anderes getan. Und in ihrem Licht strahlst du, meine Frau. Dein Lächeln ist wie das reine Sonnenlicht, es erwärmt meine Seele und vertreibt jede Wolke des Zweifels. Dein weißes Kleid ist wie ein Prisma, in dem jede Farbe des Regenbogens, den wir heute sahen, steckt. Und jede Farbe ist ein Teil von uns.
Als wir vorhin vor dem Standesbeamten standen, deine Hand tastete langsam nach der meinen, da spürte ich diese Wärme, dieses Gefühl der vollkommenen Vertrautheit, wie es langsam durch unsere Körper und durch unsere Herzen floss. Auf deinem wunderschönen Gesicht zeichnete sich tiefe Entspannung ab, und doch lag deutlich eine Spannung in der Luft, eine erwartungsvolle Vorfreude nicht nur auf morgen, sondern auf jeden weiteren Tag unseres Lebens, den wir gemeinsam verbringen werden.
Der Mann fragte uns noch einmal, ob wir uns auch wirklich sicher seien, dass wir eine eingetragene Lebenspartnerschaft eingehen wollten. Ich sah, wie du deine Augen verdrehtest und musste grinsen. Deine Abneigung gegenüber diesem Ausdruck ist einfach unvergleichlich. Dann setzten wir unsere Unterschriften, ein so unglaublich unwichtig scheinender Akt, und doch wussten wir, dass dieser Moment der Anfang unserer gemeinsamen Zukunft war. Du sahst mich an, deine Augen strahlten. Ich strich dir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Langsam legtest du deine roten Lippen auf die meinen. Ein Moment, in dem unsere Herzen im gleichen Takt schlugen, ein Moment, der ewig währte. Ein Moment der Liebe.
Es ist schon ein ganzes Jahr her, nicht wahr? Dabei fühlt es sich an wie gestern. Es war ein Tag wie aus dem Bilderbuch, die Sonne schien, es war angenehm warm, überall hörte man Vogelgezwitscher. Ich packte dich in mein Auto und fuhr mit dir zu dem Ort, wo wir unser erstes Date verbracht hatten. Wir zogen ziellos durch die Straßen, so wie damals, und fanden so viele altbekannte Orte wieder, dass wir fast glauben wollten, aus Versehen eine Zeitreise angetreten zu haben. Der Tag schien perfekt, aber als wir zurückfuhren, wusste ich, dass er noch perfekter werden würde.
Wieder daheim, nahm ich dich auf einen ausführlichen Spaziergang mit. Es war schon ziemlich spät, sodass wir die Einzigen waren, die um diese Zeit noch dort waren. Hand in Hand liefen wir die große Runde um den Stadtweiher, bis wir an deinem Lieblingsplatz, dem kleinen Bänkchen mit dem schönsten Blick auf das Gewässer, ankamen. Wir setzten uns und redeten bestimmt eine Stunde über alles, was uns bewegte. Die Vergangenheit, die Zukunft, wie wir uns kennenlernten, was wir gemeinsam erreichen wollten.
„Du bist die Frau meines Lebens, die Frau, mit der ich den Rest meines Lebens verbringen möchte“, sagte ich und blickte dir in deine im orangenen Licht des anbrechenden Sonnenuntergangs leuchtenden Augen. Ich kniete vor dir nieder und zog einen Ring aus meiner Tasche, ein Ring, der aus einer goldenen und einer silbernen Hälfte bestand, die ineinander verschlungen waren, unzertrennlich, wie auch unsere Seelen verbunden waren. „Willst du mich heiraten?“
Glitzernde Tränen der Rührung flossen über dein Gesicht, als du mir dein Versprechen gabst.
„Wach auf, wir sind da!“ Verschlafen blicktest du mich an, als ich unser Auto samt Wohnwagen meiner Eltern auf dem Campingplatz parkte. Es war unser erster gemeinsamer Urlaub, auf den wir gefühlt eine Ewigkeit gespart hatten. Jetzt waren wir endlich zusammen hier, im Süden. Ich kannte diesen Ort noch von früher, als ich noch ein Kind war, wir waren fast jedes Jahr hier gewesen. Und doch war inzwischen alles anders. Der Ort wirkte vollgestopft, alles war ausgebaut, anscheinend hatte die Frau, der dieses Stückchen Erde gehört hatte, den Campingplatz verkauft.
„Schau doch nicht so. Veränderung ist etwas ganz Natürliches“, sagtest du, und ja, du hattest damit voll und ganz recht. Wenn ich nur daran dachte, wie viel sich in meinem Leben verändert hatte, seit ich das letzte Mal hier gewesen war … Damals war ich noch Jahre davon entfernt, dich kennenzulernen. Damals war ich noch ein kleines Mädchen, das von einer Zukunft träumte, in der es einen total netten Mann heiraten und ganz viele Kinder mit ihm bekommen würde. Wer hätte damals geahnt, dass sich meine Vorstellung von einer glücklichen Beziehung derart wandeln würde?
„Jetzt zeig mir schon diesen tollen Strand, von dem du so geschwärmt hast“, sagtest du, als wir unsere Behausung aufgebaut hatten. Ich gab dir einen Kuss, dann nahm ich deine Hand und führte dich den alten, von Bäumen umsäumten Weg entlang direkt zum Meer. Vor uns lag ein gelber Sandstrand, über den ich selbst nur staunen konnte. In meiner verstaubten Erinnerung war der Anblick nicht annähernd so atemberaubend gewesen. Ein Strand, ein Meer bis zum Horizont und nicht eine Wolke am strahlenden Himmel.
„Die Letzte im Wasser ist eine faule Seekuh!“ Ich konnte dich nicht mehr festhalten, als du losranntest, um auch ja vor mir schwimmen gehen zu können.
Es war ein grauer, düsterer Nachmittag, als wir den Umzugswagen endlich zum letzten Mal wegfahren sahen. Unsere erste gemeinsame Wohnung war so gut wie eingerichtet, ab sofort konnten wir hier leben. Es war immer ruhig in dieser Siedlung am Stadtrand und wir genossen es. Vor Freude nahmst du mich in den Arm und wir standen einen langen Moment lang nur da und genossen es. Wir genossen es, endlich daheim zu sein.
Als ich dich wieder los ließ, sah ich einige Passanten, die uns misstrauisch beäugten. Einen solchen Anblick war man hier wohl nicht gewohnt. Ich fühlte mich unsicher, und obwohl ich mir nichts anmerken lassen wollte, merktest du es natürlich. Du lehntest dich vor, um mich zu küssen, doch ich zog mein Gesicht zurück und drängte darauf, dass wir endlich hinein gingen. Von überall her schien man uns zu beobachten. Obwohl es klar war, dass es dir nicht ganz passte, folgtest du mir in unsere Wohnung, wo wir die letzten paar Schränke einräumten.
Als wir für diesen Tag fertig waren, saßen wir auf die Treppe an unserer Terrasse, die zum Garten hin zeigte. Es war ein ziemlich großes Stück Rasenfläche, auf dem zwei hohe Kirschbäume standen. Das saftig grüne Gras kitzelte unsere Füße, es war kalt und feucht, doch es fühlte sich gut an. Du nahmst meine Hand und sahst mich an.
„Du solltest keine Angst haben“, sagtest du. Ich schaute dich fragend an. „Du solltest keine Angst haben, dazu zu stehen, wer du bist. Wer wir sind. Was andere denken, kann uns egal sein.“ Ich senkte meinen Blick. Eigentlich hattest du ja recht. Ich lehnte mich zu dir und du bekamst endlich den Kuss, den ich dir vorher verwehrt hatte.
Ich war so nervös wie noch nie. Eigentlich kannten wir uns ja schon ziemlich gut, aber heute … Heute wollten wir auf unser erstes richtiges Date gehen. Wir hatten uns ewig nicht mehr gesehen, aber heute sollte der Tag sein. Wir freuten uns schon seit Wochen darauf. Viel zu lange waren wir zusammen, ohne zu wissen, wie es sich überhaupt anfühlen würde, den anderen zu küssen. Viel zu lange konnten wir uns nicht mehr sehen, hören, fühlen.
Ich suchte den Hauptbahnhof nach dem Gleis ab, an dem du ankommen solltest. Ich fand das Gleis und dich. Du kamst sofort auf mich zugerannt, fielst mir um den Hals, wir blieben ewig so stehen, hielten uns fest und genossen den Moment. Ob es nur Sekunden waren, Minuten oder gar Stunden? Ich hätte es nicht sagen können. Es zählte nicht. Alles, was zählte, war, dass wir vereint waren.
Irgendwann ließt du mich los. „Kennst du dich hier eigentlich aus?“, fragtest du.
Ich grinste. „Kein bisschen. Bin sonst immer nur auf Durchreise hier.“
Und als wir aus dem Hauptbahnhof hinaus unter den blauen Himmel über uns traten, wussten wir, dass dieser Tag unvergesslich werden würde.
Der Tag, an dem wir uns zum ersten Mal treffen wollten, war ein sonniger und heißer Sommertag. Ich hatte es irgendwie hingekriegt, meine beste Freundin dazu zu überreden, mich zu begleiten, wenn ich einen Menschen, den ich nur aus dem Internet kannte, treffen wollte. Auch, wenn ich natürlich von Anfang an nicht daran gezweifelt hatte, dass du wirklich die bist, als die du dich ausgabst, vorsichtig wollte ich trotzdem sein. Man hörte ja leider viel zu viel von schlechten Vorfällen. Als wir aber zu dem verabredeten Treffpunkt kamen, sah ich schon genau die Frau, die ich erwartet hatte.
In einem hübschen, lilafarbenen Kleid standest du da, vor einem Café. Du wirktest unsicher und schüchtern, doch es war eindeutig, dass du dich genauso freutest wie ich, dass wir uns endlich sahen. Meine beste Freundin entschied sich, uns allein zu lassen und selbst shoppen zu gehen, damit wir uns richtig kennenlernen konnten. Und obwohl wir beide lange brauchten, bis wir überhaupt anfingen, ein Gespräch zu führen, war der Tag unendlich schön und uns beiden wurde klar, dass unsere Freundschaft nun nichts mehr zerreißen konnte.
Ja, wir beide sind ein Regenbogen, so wie die Flagge, die ich gerade an unserem Hochzeitsauto befestige. Jede Farbe von uns ist wichtig, denn würde auch nur eine fehlen, wären wir nicht da, wo wir jetzt sind. Und zu jeder Farbe stehen wir.
Die Sonne schien hell vom Himmel und ihr weißes Licht fiel durch die dunkel schattierten Zweige der Bäume. Grey schlich zwischen den dicken Stämmen umher, sorgsam darauf bedacht, keine lauten Geräusche zu machen, damit die beiden Gestalten, die diesen Berg erklimmen wollten, ihn nicht entdeckten.
Midori stolperte vorwärts, den bewaldeten Berghang hinauf, wobei sie hin und wieder über Zweige strauchelte, auf feuchten Blättern oder Nadeln fast ausrutschte und Steine unter ihren Füßen wegkullerten.
„Nicht so schnell“, rief sie atemlos Kumiho hinterher, der viel leichtfüßiger unterwegs war und innehielt, sobald er ihre Stimme vernahm.
„Entschuldige“, sagte er. „Lass dir ruhig Zeit. Wir haben es nicht eilig.“
„Danke“, erwiderte Midori.
Der kleine Fuchs schien aufmunternd zu lächeln. Seine großen klugen Augen blickten Midori sanftmütig an. Sie dachte daran zurück, wie sie fast aufgeschrien hatte, als ihr dieses seltsame Tier im Wald begegnet war und das lag nicht nur daran, dass es sprechen konnte, sondern war vor allem dadurch begründet, dass es einfach nicht in die Welt passte, weil es so ganz anders aussah. Kumiho hatte nicht einfach ein Fell in Schwarz, Weiß oder einer der vielen Abstufungen, die dazwischen lagen, sondern in einem ganz anderen Farbton, der sich zudem ständig änderte. Dieser Anblick hatte Midori zunächst eine ziemliche Angst eingejagt – sie hatte sich gefühlt wie jemand, der gewohnheitsmäßig in zwei Dimensionen denkt und plötzlich zum ersten Mal einen Würfel sieht. Aber nach dem ersten Schock wurde ihr bewusst, wie schön diese vielen Farben eigentlich waren. Sie mochte zwar nicht alle der Farben, zwischen denen das Fell des Fuchses ständig wechselte – dennoch schienen sie alle zusammenzugehören und bildeten eine große wundervolle Einheit. Schließlich hatte ihr der Fuchs gesagt, dass er ihre Hilfe brauchte.
Grey zog sein Smartphone aus der Tasche seines Overalls. Er hatte sie gefunden. Er musste nur noch melden, wo sie waren. Seine Kollegen würden kommen, die beiden mitnehmen und verhindern, dass der eiserne Griff um die Farben sich jemals wieder würde lockern können.
„Weißt du“, sagte Midori, „als ich dir zugehört habe, musste ich an den alten Bibliothekar denken, der bei mir in der Nachbarschaft wohnt und der mir früher immer Bilderbücher geschenkt hat. Er sagte, dass diesen Büchern irgendwie etwas fehle, aber er wusste nicht, was und ich auch nicht.“
„Das kann sehr gut sein“, meinte Kumiho. „Deswegen müssen wir die Farben zurückbringen.“
„Aber warum sind sie überhaupt verschwunden?“, fragte Midori. „Du hast mir zwar ein paar Sachen erzählt, aber doch sicher längst nicht alles. Wer waren dieses Diebe? Und warum wollten sie alle Farben für sich haben?“
Kumiho sagte einen Moment nichts und warnte Midori nur davor, dass sie jetzt einige Brennnesseln durchqueren mussten.
„Die Diebe seid gewissermaßen ihr selbst“, sagte er schließlich. „Und gleichzeitig auch nicht.“
„Das musst du mir erklären“, sagte Midori verständnislos.
„Die Menschen neigen dazu, Dinge für sich zu vereinfachen, in vielerlei Hinsicht. Sie erzählen Lügen, weil es für sie leichter ist. Sie hören auf zu träumen, weil sie denken, dass es ihnen nichts nützt. Sie verwenden weniger Zeit für ihre Freunde oder ihre Familie, um sie für sich zu haben. Und irgendwann waren sie der vielen Farben überdrüssig, weil sie alles so kompliziert machten.“
„Also haben sie die Farben weggesperrt?“
„Nein, aber sie hatten den verborgenen Wunsch danach. Und dieser manifestierte sich letztendlich – in Gestalt der Leute, die schließlich die Macht der Farben für sich wollten. Sie sollten damit abgesehen von mir eigentlich das Einzige Bunte sein, das auf der Welt noch existiert, aber die Farben haben sich in ihnen untrennbar zu einem tristen Grau vermischt, sodass sie sich von dieser farblosen Welt gar nicht unterscheiden. Sie selbst haben nichts außer den Farben und wenn es uns gelingt, sie ihnen wieder zu nehmen, dann werden sie verschwinden.“
„Für immer?“
„Vielleicht. Das hängt von euch Menschen ab. Wenn ihr die neuen Farben wieder zu schätzen lernt, dann werden die Diebe vielleicht nie wiederkommen. Aber sobald ihr anfangt, sie wieder zu vergessen, wird die Katastrophe von neuem beginnen.“
„Das ist ja furchtbar!“, rief Midori.
„Wie gesagt: Es muss nicht dazu kommen.“
Kumiho sah Midori mit einem Gesichtsausdruck an, der unergründlich schien.
„Wenn ihr daran arbeitet, die farbige Vielfalt zu erhalten, die euch umgibt.“
Midori nickte, dann erstarrte sie von Neuem.
„Aber… Es geht nicht nur um die Farben, oder? Es gibt noch mehr, das hast du gerade gesagt. Du hast von Lügen geredet…“
Kumiho sprach, ohne stehen zu bleiben: „Ja. Wenn ihr euch nach Einfachheit in den Farben sehnt, dann werden Diebe kommen, die euch die Farben nehmen. Wenn ihr eure Fantasie zum Lügen benutzt, werden Leute kommen, die sie nur dafür einsetzen wollen. Wenn ihr mit eurer Zeit geizt, wird sie euch bald entgleiten. Wenn ihr die Träume scheut, werdet ihr sie verlieren.“
„Ist… Ist so etwas schon einmal passiert? Dass Menschen ihre Fantasie verloren haben oder so?“
„Leider ja. Es gab kurze Zeitspannen, in denen euch diese Dinge fast abhandengekommen wären. Aber es gab immer mindestens einen Menschen, der dagegen ankämpfte. Nicht so mit den Farben, bedauerlicherweise.“
„Da muss man ja auf sehr viel aufpassen“, sagte Midori kopfschüttelnd. „Wobei… Vielleicht auch nicht. Ich meine, wenn ich Farben einfach so hinnehmen kann und mich an ihnen erfreue wie an meiner Fantasie oder an einem Traum, dann reicht das ja möglicherweise schon.“
„Richtig. Das alles lässt sich nur beschützen, wenn man es nicht als Zwang ansieht, es zu erhalten. Daher steht es dir auch völlig frei, mir nicht zu helfen.“
„Sag so etwas nicht! Natürlich helfe ich dir, das habe ich ja schon gesagt. Nur…“
Midori verstummte und blickte ein wenig beschämt zur Seite. Für einen Moment fragte sie sich, welche Farbe wohl ihr Gesicht jetzt eigentlich hätte haben müssen.
Grey verstand es nicht. Er verstand nicht, warum er zögerte. Er starrte auf seine Füße und ließ den Blick an sich hochwandern. Grau. Ein hässliches, tristes Grau. Nicht wie dieser Fuchs, der echte Farben ausstrahlte. Er selbst dagegen – erbärmlich. Sein Smartphone vibrierte, als eine Textnachricht einging.
Etwas Neues?
Er starrte für einen Moment auf diese zwei Worte.
Nein, schrieb er.
„Du bist immer noch unsicher“, bemerkte Kumiho und es war keine Frage, sondern eine nüchterne Feststellung. Midori nickte zaghaft.
„Ich meine nur… Ich bin doch nichts Besonderes. Ich kenne keine Farben, ich habe sie nie gesehen, bevor ich dir begegnet bin. Wie könnte in mir also etwas stecken, was sie zurückbringt?“
Der Wald, den die beiden durchstreiften, schien sich ein wenig zu lichten. Der weiche Waldboden wich mehr und mehr hartem Geröll und Felsen.
„In dir steckt mehr, als du denkst, Midori.“
„Das sagst du, aber sieh dich mal an: Du bist die Farben. Ich nicht, nicht einmal im Geringsten. Ich trage sie doch gar nicht in mir.“
„Als die Farben gestohlen wurden, hat sich ein winziger Teil von jeder Farbe abgespalten. Daraus wurde ich geboren, als eine letzte Hoffnung der wenigen Menschen, die die Farben nicht verlieren wollten. Aber das reicht nicht. Es braucht auch jemanden, der die Farben sieht, der sie erkennt. Und das bist du, niemand sonst, denn du kennst auch ihre jeweilige Natur.“
„Ich weiß nicht einmal, wie sie heißen“, sagte Midori verzweifelt. Sie sah zum grauen Himmel empor, an dem nicht eine einzige Wolke zu sehen war. Wie mochte er wohl aussehen, wenn er Farbe gehabt hätte?
„Das musst du auch gar nicht“, sagte Kumiho und nahm beim Laufen eine ganz bestimmte Farbe an, deren Namen Midori nicht kannte. „Wichtig ist nur, was du fühlst, wenn du eine Farbe siehst.“
Midori besah sich Kumihos Fell und dachte nach. Fühlte sie irgendetwas, dass über den bloßen Sinneseindruck herausging?
„Lass dir Zeit“, sagte Kumiho. „Es dauert noch etwas, bis wir da sind.“
Sie erreichten nun einen Durchgang zwischen zwei großen Felsmassiven, ein schmaler Weg, der den Boden Art schmalen Schlucht bildete und sich durch das Gestein schlängelte. Midori horchte währenddessen weiter in sich hinein.
„Natur“, sagte sie schließlich. „Diese Farbe wirkt irgendwie so … natürlich. Wie von Wiesen und Wäldern. Aber sie ist auch beruhigend, sanft und … hoffnungsvoll.“
„Eine treffende Beschreibung. Übrigens sollte die Farbe sehr gut zu dir passen.“
„Wieso?“
„Was glaubst du denn, was dein Name bedeutet?“
„Er hat keine Bedeutung, hat man mir gesagt.“
„Nun, bald wird er eine bekommen.“
Sie bogen um eine Ecke und standen jäh vor einer massiven Felswand, durch die sich jedoch ein Riss zog, breit genug, dass ein nicht allzu großer Mensch durchschlüpfen konnte.
„Wir sind da“, sagte Kumiho. „Da drin ist der Ort, von dem aus wir die Welt der Farben wiederherstellen können.“
„In einer Höhle?“
„Ja. Die unverdorbenen Farben können sich nur da ausbreiten, wo völlige Freiheit vom vergifteten Licht herrscht. Wir werden da drin zwei Schlüssellöcher finden.“
„Schlüssellöcher?“
„Ja, und wir sind die Schlüssel.“
„Aber können wir denn da drin überhaupt sehen?“
„Ich werde uns leuchten.“
Midori trat auf die Öffnung zu und schlüpfte hindurch. Das Licht von draußen erhellte noch ein wenig das Innere des großen Felsens, doch konnte sie trotzdem nicht weit sehen. Sie hörte ein Rascheln und sah Kumiho leichtfüßig an ihr vorbeispringen. Sein Körper leuchtete in den ständig wechselnden Farben und machte einen größeren Teil der Höhle sichtbar. Sie schien nicht sonderlich groß, doch Midori sah, dass sie wie ein langer Gang beschaffen war, dessen Ende vermutlich ihr Ziel darstellte. Kumiho schlich voraus und Midori folgte ihm. An den Wänden des Ganges glaubte sie im Vorbeigehen Zeichnungen zu erkennen, doch wanderte das Licht zu schnell weiter, als dass sie genau hätte sehen können, worum genau es sich handelte. Schließlich wurde der Gang breiter und mündete in einen größeren Raum, in dessen Mitte eine Art Felsaltar stand, der, wie Midori sehen konnte, als sie sich ihm näherten, auf seiner Oberfläche zwei Vertiefungen hatte. Die eine sah aus, als würde Kumihos Pfote hereinpassen, die andere war eindeutig für eine menschliche Hand geschaffen worden.
„Das sind die Schlüssellöcher?“, fragte Midori.
„Ja.“
„Nun, worauf warten wir dann noch?“, fragte Midori lächelnd.
„Ich muss dir noch etwas sagen.“
Kumihos Stimme klang plötzlich sehr ernst, was Midori gar nicht gefiel. Aber sie wartete still darauf, dass Kumiho fortfuhr, was er nach einem kurzen Moment auch tat: „Es ist so: Ich bin nur eine Ansammlung der Farben und der Hoffnungen der Menschen, sie über diese graue Periode hinaus zu erhalten. Wenn wir das hier tun, dann wird alles, was mich ausmacht, verschwinden: Die Farben kehren zurück in die Welt und die Hoffnung löst sich auf, da sie sich erfüllt hat.“
Midori fühlte sich, als hätte sich eine eiskalte Hand um ihr Herz geschlossen und fest zugedrückt.
„Das heißt“, flüsterte sie mit vom Schock schwacher Stimme, „du … wirst sterben?“
Kumiho nickte langsam.
„Aber…“
„Es muss sein, Midori. Es gibt keinen anderen Weg. Andernfalls wird die Welt für immer grau sein.“
Tränen schossen in Midoris Augen. Es waren nur wenige Tage gewesen, die sie den seltsamen Fuchs gekannt hatte, aber in dieser Zeit hatte sie sich so sehr an ihn gewöhnt, an seine ruhige und sanftmütige Art und sein in allen Farben leuchtendes Fell, seine klugen Augen und seine tiefe, angenehme Stimme. Er war zu einem engen Freund geworden, da konnte er doch jetzt nicht einfach für immer verschwinden.
„Sei nicht traurig“, sagte Kumiho und sprang auf den Altar, sodass er Midori direkt in die Augen sehen konnte. „Dies ist meine Bestimmung, die ich erfüllen muss. Und ich bin dir sehr dankbar dafür, dass du mir dabei hilfst.“
Midori nahm Kumiho in ihre Arme und vergrub schluchzend ihr nasses Gesicht in seinem schönen, weichen Fell. Es vergingen ein paar Sekunden, in denen Kumiho zur Beruhigung leise brummte. Schließlich löste Midori sich von dem kleinen Fuchs.
„In Ordnung“, sagte sie schniefend. „Dann sollten wir wohl…“
Sie brach ab und versuchte einfach, sich auf die Vertiefung in der Felsplatte zu konzentrieren. Sie hatte das Gefühl, dass sie es nicht ertragen konnte, Kumiho in die Augen zu sehen.
„Bitte nicht, Midori“, sagte Kumiho und seine Stimme klang nun auch ein wenig verweint. „Wende bitte nicht deinen Blick von mir ab. Ich… Ich würde dich gerne noch sehen, bevor…“
Midori wischte sich die Tränen weg und versuchte, Kumiho ein Lächeln zu schenken.
„Auf drei?“, flüsterte sie. Der Fuchs nickte mit feuchten Augen.
„Eins“, sagte Midori.
„Zwei“, fuhr Kumiho fort.
„Drei!“, riefen beide gleichzeitig und in dem Moment, in dem Kumiho seine Pfote und Midori ihre Hand in die jeweilige Vertiefung steckte, schoss ein Lichtstrahl aus der Mitte des Altars und erleuchtete die Höhle taghell. Midori sah, wie die Farben aus Kumiho herausgezogen wurden, über Wände und Boden krochen und sich in einem wilden Tanz vermischten, wieder trennten und schließlich aus der Höhle hinausschossen, einen bräunlichen Ton an den Wänden hinterlassend.
Grey sah stumm zu, wie die Farben an ihm vorbeischossen und Felsen, Bäume und Blätter einfärbten. Ein einziger großer Wirbelsturm, der durch die Welt fegte, aber sie nicht zerstörte, sondern neu erschuf.
Zur Hölle mit den Vorschriften…
Das Schauspiel war atemberaubend und Midori war so davon eingenommen, dass sie Kumiho darüber fast vergessen hätte. Nun aber wandte sie sich ihm wieder zu und legte besorgt ihre Hand auf seine Pfote. Sein Fell hatte jegliche Farbe verloren und während sie ihn ansah, schienen seine Konturen zu verschwimmen und langsam durchsichtig zu werden.
„Kumiho…“
„Midori“, erwiderte Kumiho, „ich danke dir für deine Hilfe… Und deine Freundschaft…“
Seine Stimme klang schwach, kaum mehr ein Flüstern.
„Ich werde dich ganz bestimmt nicht vergessen!“, rief Midori und Kumiho lächelte, bevor er sich mit einem tiefen und endgültigen Seufzen vollkommen auflöste.
Midori fühlte, wie die Tränen ihre Wangen herunterrannen und mit leise widerhallenden Geräuschen auf dem staubigen Boden auftrafen. Nach kurzer Zeit jedoch hob sie den Kopf und sah sich um. Das Licht hatte nachgelassen, sie stand in völliger Dunkelheit. Vorsichtig drehte sie sich um und tastete in der Finsternis herum. Behutsam einen Fuß vor den anderen setzend schritt sie vorwärts, fand den Gang, durch den sie gekommen waren und schob sich an dessen Wand entlang.
Die Farben waren in die Welt zurückgekehrt, aber Midori sah sie nicht, denn hier war nur undurchdringliche Schwärze, nicht nur um sie herum, sondern auch in ihr drin. Auf einmal kam ihr alles so unfassbar sinnlos vor; wofür hatten sie das überhaupt auf sich genommen?
Mit einem Mal brach ein goldener Lichtstrahl durch die Dunkelheit und fiel auf Midoris Gesicht. Wenige Meter vor ihr war der Spalt, durch den sie die Höhle betreten hatte. Sogleich spürte Midori eine innere Wärme, die ihre Trauer vertrieb und fühlte, wie sich unwillkürlich ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete. Sie zögerte nicht länger, sondern rannte los, auf den Ausgang zu und durch ihn hindurch, hinaus in die neu eingefärbte Welt.
Unterbewusst nahm Midori vielleicht wahr, dass etwas nicht stimmte; dass die Farben nicht wirklich zu passen schienen. Klar wurde ihr das jedoch erst wirklich nach einigen Tagen, als die Farben endlich ihren richtigen Platz gefunden hatten und so dachte sie sich an diesem Tag noch nichts Besonderes, während sie über den meeresblauen Felsboden spazierte, den violetten Wald als Ziel in der Ferne und die goldene Sonne am Himmel, der wie zum Zeichen der Ehrerbietung einen wundervollen sattgrünen Farbton angenommen hatte.
„Danke, Kumiho.“
Meine Schritte knirschten im weißen, reinen Schnee und störten als Einziges die Stille des Waldes. Keine Blätter, die rascheln könnten, fanden sich an den Bäumen und von Pokémon war weit und breit keine Spur; die meisten zogen sich zu dieser Jahreszeit lieber in ihren Bau zurück oder flogen Richtung Alola, um dort den kalten Winter zu verbringen.
Ich genoss diese Stille bei meinem Spaziergang durch die verwegenen Wege im abseits liegenden Wald. Hin und wieder nahm ich meine Kamera, die um meinen Hals hing, um das ein oder andere Photo aufzunehmen, doch in erster Linie war ich hier, um mich nach dem Stress der letzten Wochen zu erholen. Journalistin war ein schöner und zugleich schrecklicher Job, denn der Stress nagte oft an einem während man von Termin zu Termin hetzte und zwischendurch auch noch versuchte seine Texte zu schreiben. Eigentlich war ich nicht zum kaloser Modemagazin „Trés chic“ gegangen um über die neusten Modetrends, neue Kollektionen und Gesundheitstipps zu schreiben, sondern um Photos für das Magazin zu machen. Leider kam es nur selten dazu, dass ich wirklich im Namen der Zeitschrift meine Kamera nutzte. Das Photographieren war immer noch eher ein Hobby, zu dem ich dummerweise wegen meines Jobs auch nur selten kam.
Umso mehr genoss ich es, wenn ich die Zeit dazu hatte lange Spaziergänge durch die verschiedensten Wälder zu machen und dabei Momente einzufangen. Wobei man die Schönheit der Natur nur schwer in Bildern einfangen konnte – man musste sie mit eigenen Augen sehen.
Leider war der Winter nicht unbedingt die Zeit im Jahr, zu der man die schönsten Bilder schießen konnte; zwar boten zugefrorene Seen, verschneite Wege oder Eiszapfen schöne Motive, doch besonders das Fehlen der Pokémon machte es schwer interessante Photos zu schießen. Auch fehlten Farben – jedes Bild wurde von einem eintönigen Weiß dominiert.
Ich seufzte und steckte die Hände in die Taschen. Es war ganz schön kalt und auch die Handschuhe wärmten nicht mehr außerordentlich, ich sollte wohl bald den Heimweg antreten.
In solchen Momenten sehnte ich mich nach einem Pokémon, welches mich als Partner begleitete. Ein Arkani, auf dem ich nach Hause reiten könnte, zum Beispiel. Oder ein Tauboss, auf dessen Rücken ich fliegen konnte. Leider hatte ich mich nie für das Aufziehen und Trainieren der Wesen interessiert und war dementsprechend auch nicht dazu befugt Pokémon, die nicht als Haushüter galten, zu halten. Leider zählte weder Arkani noch Tauboss als diese, so blieb mir dieser Wunsch verwehrt.
Jedes Mal, wenn ich mit einem Trainer für das Magazin zusammenarbeitete, hatte ich das Gefühl, eine völlig andere Welt zu erleben. Der Umgang von Ass-Trainern oder Arenaleitern mit ihren Pokémon war atemraubend; sie verstanden sich ohne Worte und man konnte das Band, das sie verband geradezu spüren. Was wäre wohl aus mir geworden, wenn ich den Weg des Trainers eingeschlagen hätte? Wenn ich eine besondere Schule besucht und das Kämpfen mit Pokémon gelernt hätte? Vielleicht wäre ich dann heute Champ!
Ich musste bei der Vorstellung schmunzeln und schob den Gedanken beiseite. Du und Champ der Pokémon-Liga, Megumi? Niemals!
Ich schüttelte meine orange-blonden, schulterlangen Haare, in denen sich dank des leichten Schneefalls einige Flocken verhangen hatten, aus und rückte meine Mütze zurecht. Ich nahm meinen Rucksack von den Schultern und stellte ihn im Schnee ab. Gerade als ich meine Kamera in diesem verstauen wollte, kam rechts von mir ein junges Mädchen, ich schätzte sie auf fünfzehn bis sechzehn Jahre, zwischen den Bäumen hervorgeschossen und rempelte mich an. Ich verlor auf dem rutschigen Boden den Halt, konnte mich jedoch gerade noch so fangen, wobei mir jedoch die Kamera aus der Hand rutschte und auf dem Boden zerbrach.
„B-bitte entschuldige!“, stammelte das Mädchen in schlechtem Französisch. Ihr Gesicht war knallrot und ihr ganzer Körper bebte. Die langen, rosafarbenen Haare waren zerzaust und voller Ästchen und Schnee. „I-ich werde deine Kamera ersetzen, ehrlich versprochen!“, meinte sie dann noch, als sie das zerstörte Gerät auf dem Boden sah, dann rannte sie den Weg hinunter, wobei sie ein mal fast hinfiel.
Verwundert blickte ich ihr nach und erst als sie um die nächste Ecke bog, richtete ich meinen Blick auf die Überreste meiner Kamera. Seufzend begann ich sie aufzusammeln und in meinen Rucksack zu räumen. Man musste ja nicht unbedingt noch die Umwelt verschmutzen.
Ich sah noch ein Mal den Weg hinab. Sollte ich ihr hinterher? Für mich war der Tag eh gelaufen, da konnte ich auch wieder nach Hause gehen. Andererseits würde sie mir so niemals die Kamera ersetzen, sie wusste ja nicht mal meinen Namen.
Ich entschied mich dazu, ihr zu folgen und zumindest zu versuchen sie einzuholen. Also wechselte ich vom gemütlichen Gehen in ein leichtes Joggen und lief so ihren Fußspuren hinterher.
Sie war nicht lange auf dem Weg geblieben, sondern hatte sich mehr im Herz des Waldes bewegt. So orientierungslos wie sie wirkte würde sie sich doch sicher verlaufen. Zumal sie scheinbar nicht aus der Gegend kam – zumindest war ihr Französisch echt nicht besonders gut.
Die kahlen Laubbäume wichen grünen, mit Schnee bedeckten Tannen und gaben der Landschaft wieder etwas Farbe. Sofort vermisste ich meine Kamera, der Kontrast zwischen dem weißen Hintergrund und dem kräftigen Grün des Nadelbaumes wäre ein tolles Photo gewesen.
In der Ferne sah ich die Mörderin meiner Kamera. Sie hatte sich hinter einer Tanne in den Schnee gehockt und sah an dieser vorbei.
Ich stapfte auf sie zu und sprach sie an: „He! Wenn du meine Kamera wirklich ersetzen willst, frage wenigstens nach meinem Namen!“ Erschrocken drehte sie den Kopf, antwortete jedoch nicht, sondern packte mich nur am Handgelenk und zog mich zu ihr in den Schnee. Als ich zu einer empörten Antwort ansetzen wollte, deutete sie auf den Spalt zwischen den Bäumen, durch den sie bis eben geschaut hatte.
Ein riesiger, zugefrorener Teich lag nur ein kleines Stück von uns entfernt. Sein anderes Ufer konnte man gerade so an den Bäumen in der Ferne ausmachen, doch das viel Erstaunlichere war das Pokémon, das sich über den See bewegte. Die langen, dünnen Beine liefen spitz zusammen und verursachten keinen einzigen Laut auf dem Eis. Der Kopf auf dem langen Hals ragte majestätisch in die Höhe und auf diesem thronte ein riesenhaftes Geweih, welches mit Edelsteinen in allen möglichen Farben bestückt war. Das Licht brach in diesen und fiel auf das Eis, welches so in allen Farben des Regenbogens gefärbt wurde. Ein unglaublicher Anblick.
„Was ist das?“, hauchte ich und sah zu der Chaotin, die das Pokémon auf ihrem Block skizzierte.
„Ich weiß es nicht“, flüsterte sie, „ich bin hier um es herauszufinden!“
Ein lautes Krachen ließ uns beide wieder auf den See blicken. Das majestätische Pokémon hatte den Kopf gewandt, sodass sich die Farben anders verteilten und ich einen gelbes Leuchten auf meiner Hand sehen konnte. Zwischen den Bäumen am kam ein Jugendlicher geschossen, ein Absol an seiner Seite. Er sprang auf das Eis und rutschte ein Stück ehe er zum Stehen kam, sein Partner dicht auf den Fersen.
„Wirbelsturm, Yuki!“, rief er und sein kurzer Zopf wackelte aufgeregt.
Es dauerte etwas bis ich realisierte, dass er gerade wirklich das Pokémon angriff.
Die weiß leuchtenden Klingen, die von der Sehne am Kopf des Absols aus verschossen wurden, schnellten auf das Regenbogen-Pokémon zu, das diesen jedoch geschickt auswich. Sein Blick haftete auf seinem Gegner, es griff jedoch nicht an. Als der Trainer zu einem weiteren Befehl ansetzen wollte, sprang die Chaotin auf und rannte auf den See, wobei sie beim ersten Schritt auf dem Eis ausrutschte und hinfiel. Der blau-haarige Junge sah zu ihr und auch das Pokémon bedachte sie mit einem Blick, ehe es auf sie zu kam und seinen Kopf senkte, sodass dieser sich auf einer Höhe mit dem der Chaotin befand. Sie legte ihre Hand auf die Nase des Pokémon und es zog sie wieder auf die Beine.
Ich kam aus dem Versteck hervor und trat zu den beiden. Der Trainer stand etwas abseits und hatte die Arme vor der Brust verschränkt – sichtlich verwirrt von der ganzen Situation.
„Vielen Dank!“, bedankte sich die Chaotin und sah dann zu dem Jungen. „Du darfst es nicht angreifen!“ Die Empörung und der Trotz in ihrer Stimme ließen sie wie ein kleines Kind klingen und ich musste mir ein Lachen verkneifen.
„Meine Güte“, seufzte dieser und wedelte mit der Hand, „brauchst dich doch nicht so aufzuregen. Ist doch nichts dabei ein Pokémon zu fangen!“
„Doch, bei diesem schon. Oder sieht es für dich wie ein durchschnittliches Pokémon aus?“ Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt und starrte ihn zornig an.
„Es hat ein cooles Geweih“, meinte er dann, „aber ich wüsste nicht, warum es mir nicht erlaubt wäre, es zu fangen.“
„Na ja, weil... weil...weil halt!“
„Jetzt beruhigt euch mal“, meinte ich bevor sie sich noch gegenseitig ansprangen und trat zwischen sie, „das ist doch jetzt wirklich kein Grund zum Streiten.“
Das große, majestätische Pokémon trat auf mich zu und blieb direkt vor mir stehen. In den gelben Kristallen an seinem Geweih spiegelte ich mich, während die farbigen Lichtreflexe über uns drei tanzten und uns Farbe schenkten. Viele verschiedene Farben, rot, blau, grün, gelb – sie alle berührten meinen Körper und ich hatte das Gefühl etwas besonderes zu sein. Das Farbenspiel inmitten des ganzen Weiß war ein ganz besonderer Anblick; Ein Regenbogen in einer Schneelandschaft.
Ein wohlbekanntes, nerviges Piepen riss mich aus meinem Traum und ließ mich hochschrecken. Ich sah mich um, fand mich jedoch nur in meinem Zimmer wieder. Kein majestätisches Pokémon, keine Chaotin, kein Trainer, eine funktionierende Kamera auf meinem Nachttisch und mein langweiliges, tristes Zimmer.
Ich schlug die Decke weg und rutschte aus dem Bett. Bereit meinem langweiligen Alltag nachzugehen. Ich war weder Photographin noch Journalistin von Beruf. Ich arbeitete in einem Supermarkt und tat tagein tagaus das Gleiche. Sah tagein tagaus die gleichen, langweiligen und farblosen Menschen, die ihre Einkäufe erledigten.
Ich trat auf die Straße, die voller Schneematsch und schlecht gelaunten Leuten war. Die meisten waren auf dem Weg zur Arbeit oder zur Schule. Sie trugen Uniformen, Hemden und enge Jeans – alltägliche Klamotten in den Farben Schwarz, Weiß und Grau. Sie waren langweilige und farblose Gestalten, genauso wie ich.
Ich reihte mich in die Menschenflut und folgte dem Strom, den Blick am Boden haftend. Als Kind hatte ich mir immer ausgemalt eines Tages ein spannendes Leben voller Abenteuer zu führen, doch ich erlebte in Illumina City nie ein einziges Abenteuer. Ich lebte meinen farblosen Alltag und ging Samstag abends in Bars.
Plötzlich rempelte mich jemand an und schubste mich um. Ich landete auf den Knien und sah hoch.
„Entschuldige“, keuchte eine Stimme über mir und mir wurde eine Hand gereicht. Ich ergriff sie und wurde von einem Mädchen mit leuchtend rosa Haaren auf die Beine gezogen. An ihrer schwarzen Mütze waren Katzenohren und unzählige bunte Buttons befestigt während ihr Gesicht einen rötlichen Schimmer hatte. Ihre Haare waren zerzaust und voller Schnee.
„Mensch Nanami, pass' doch mal auf“, maulte eine Stimme hinter mir und ein blau-haariger Junge gesellte sich zu dem Mädchen. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und seine Haare zu einem kurzen Zopf gebunden.
„Reg' dich mal nicht so auf Katsuro!“, meinte sie empört und blies die Wangen auf, „das ist erst die dritte Person, die ich heute morgen angerempelt habe!“
„Das ist ja das Problem...“, murmelte er.
„Ihr zwei...“, setzte ich an und sofort lagen ihre Blicke auf mir, „kennen wir uns?“
„Nein, nicht dass ich wüsste“, erwiderte das Mädchen.
„Auf dein Gedächtnis ist aber auch kein Verlass“, stichelte der Junge und fing sich wieder eine Bemerkung ihrerseits ein.
Ich begann zu lachen und sie sahen mich verwirrt an.
„Du bist echt komisch“, meinte Nanami, „geht es dir gut?“
„Keine Sorge, mir geht es gut“, stieß ich aus, „ich finde euch nur echt ulkig!“
Katsuro verschränkte die Hände vor der Brust und zog eine Braue in die Höhe, während Nanami mich nur verwirrt ansah.
Inmitten einer tristen Menschenmenge standen wir drei. Drei, die so aus der Masse herausstachen, wie ein Regenbogen in einer Schneelandschaft.
Schritt. Schritt. Noch ein Schritt.
Die Erde bebt unter dem Gebrüll tausender Menschen und man kann die knisternde Elektrizität des Wettbewerbes in der Luft schon beinah schmecken, als Blubella langsam aber mit sicherem Schritt die Bühne betritt. Es ist ein Weg, den schon viele vor ihr gegangen sind und von dem sie immer geträumt hat. Hier und jetzt soll sich alles entscheiden, in der letzten Runde des letzten Wettbewerbs der Saison. Bilder der vergangenen Monate drängen sich in Blubellas Kopf, bittere Niederlagen in den Wettbewerben der gesamten Region, schweißtreibende Trainingseinlagen und frustriertes Aufgeben, wenn etwas wieder einmal nicht geklappt hat. Doch nichts davon kann sich dem Moment entgegenstellen, wenn sie als Siegerin gekürt wird. Niederlagen verblassen grau gegen den strahlenden Glanz des Triumphes, den tosenden Jubelschreien der Massen. Irgendwie haben sie es bis hierher geschafft, das große Finale der Wettbewerbssaison, wo es noch ein letztes Mal heißen soll: Alles geben.
Schritt. Schritt. Noch ein Schritt.
Das Blumenkleid zurechtzupfend, folgt Blubella ihrer Trainerin bis in die Mitte der großen Bühne. Als Teilnehmer mit den wenigsten gesammelten Punkten, haben sie den letzten Startplatz bekommen und die Erwartungen des Publikums scheinen bereits unendlich hoch gesetzt worden zu sein. Auf einem Bildschirm im Backstage-Bereich hatten sie atemberaubende Flugeinlagen eines Schwalbinis beobachtet, dass in waghalsiger Geschwindigkeit über den Köpfen der begeisterten Zuschauer seine Bahnen gezogen hatte. Während der wunderschönen Wassershow eines Schilloks, das durch unglaubliche Präzision und genaues Timing überzeug hatte, hatte Blubella vor lauter Aufregung unvermittelt die Luft angehalten. Selbstverständlich konnten weder Schwalbini noch Schillok natürlich den Titelverteidiger Pyroleo mit seiner patentierten, rotglühenden Feuerakrobatik überbieten. Der flammende Löwe hatte mit einer Eleganz, die man ihm gar nicht zutrauen würde, ganze Bilder in die Luft der Arena gebrannt. Blubella war nicht umhin gekommen, sich zwischen all diesen erfahrenen Wettbewerbsgrößen klein und unbedeutend zu fühlen, bis sie die Hand ihrer Trainerin warm und beruhigend auf ihrer Schulter gespürt hatte.
„Mach dir keine Sorgen“, hatte sie gesagt und dabei auf die Art und Weise gelächelt, mit der sie sogar ein wildes Tauros in Sekunden gezähmt hätte, „wir verdienen es hier zu sein. Wir haben hart trainiert! Aber heute geht‘s gar nicht so sehr um’s Gewinnen. Hab‘ einfach deinen Spaß da draußen!“
Und jetzt steht sie dort, inmitten der weiß glühenden Scheinwerfer, die brausende Menge alle anderen Geräusche ausblendend. Blubella blickt in die Kameras, die auf und vor der Bühne darauf warten, alles einzufangen, was sie zu bieten hat. Dann lässt sie ihre Augen über die ausladende Bühne schweifen, die entgegen ihrer Erwartungen erstaunlich schlicht gehalten ist. Wahrscheinlich, um die Aktionen der Pokémon noch mehr hervorzuheben. Ein letzter Seitenblick. ein erhobener Daumen ihrer Trainerin am Rand der Bühne, die langsam einsetzende Musik, die das Publikum ruhiger werden lässt. Der klare Klang der vertrauten Stimme:
„Blubella, Blättertanz!“
Schritt. Schritt. Noch ein Schritt.
Die verhaltenen Geigen der Musik in perfektem Einklang mit den bedächtigen ersten Bewegungen. Ruhig, fast schon zäh, hangelt sich die Musik durch den Raum, füllt die ganze Arena und zieht Blubellas Arme und Beine wie in Zeitlupe mit sich. Das einsetzende Piano unterstreicht mit jedem neuen Ton die Schritte des kleinen Pokémon. Es scheint beinah so, als spiele Blubella selbst die Musik mit ihrem Körper und bewege sich nicht einfach nur danach. Zunächst langsam und dann immer schneller, jagen sich die Klänge der Instrumente gegenseitig über die weite Bühne und inmitten des Wirrwarrs aus Klängen tanzt Blubella, wirft ihren kleinen Körper hin und her, Oberkörper steif, alle Konzentration in den Beinen. Der erste Höhepunkt der Musik schleudert Blubella lächelnd in ihre erste Drehung – ihr liebster Teil der Performance, der Farben wegen.
Die erste Drehung – Alles zuvor Gesehene verschwindet im Farbenwirbel, immer ein Ratespiel. Kann sie sich noch an alles erinnern? Was sieht sie noch in der schnell vorbeirauschenden Umgebung? Vornehmend rot und blau, dort vielleicht grün. Gelb, gelb, violett.
Stopp – Marineblauer Anzug, dunkelblauer Hut, tiefrotes Kleid.
Die zweite Drehung – Bei schnellerer Bewegung ziehen sich die Farben lang, verschwimmen wie die Grenzen eines Regenbogens. Trennscharf voneinander getrennte Farben werden eins, die Welt verschwindet in einem einzigen Anstrich unterschiedlicher Schattierungen.
Stopp – Tiefrotes Kleid, grell-gelbe Feder, blassrote Tasche.
Die dritte Drehung – Im Spiel der Farben die Orientierung verloren, hält man sich an Altbekanntem, das im Nexus der Farben untergeht, bis nur noch blindes Raten hilft. Diese rote Schliere dort, ist es die gleiche wie zu Beginn? Wo ist das Blau? Verschmolzen mit der Umgebung zu etwas gänzlich Neuem?
Stopp – Blassrote Tasche, grasgrünes Haar, leuchtend gelbe Spange.
Aus der Drehung kommend und sich auf der rechten Seite der Bühne wiederfindend, gönnt sich Blubella keine Sekunde Pause und setzt zum Sprung an. Einem langgezogenen, einsamen Geigenton folgend, segelt das zierliche Pokémon durch die Luft, um sich wieder mittiger zu positionieren. Grüne und gelbe Blätter ihres Kleides erbeben, als das Pokémon bei der Landung in einer Explosion rosafarbener Blüten verschwindet, die sich nun wie im Traum schwebend in der Wettbewerbshalle verteilen. Das vor dem Auftritt noch so laute Publikum ist nun endgültig gebannt.
Im Zentrum des Blütenregens hat Blubella wieder damit begonnen, sich zu drehen, weiter zu drehen, immer schneller zu drehen.
Die erste Drehung – Das fulminante Spiel der Farben jetzt dominiert von sanftem Rosa, Blubellas Lächeln breiter als je zu vor. Die totale Selbstaufopferung, sie lebt in diesem Moment nur für das Farbenspiel, für die Schönheit ihres eigenen Tanzes. Das ist ihre Performance, das ist ihr Element.
Stopp – Sanft rosa Blüten, unendlich tiefblaue Augen, strahlend weißes Grinsen.
Die zweite Drehung – In die Farben der Gegenwart mischen sich die Farben der Vergangenheit, grell rote Motivation, beruhigend blaue Erinnerungen, tiefschwarze, durchtrainierte Nächte. Das sanfte Licht dieses Momentes reiht sich neben den anderen ein und brennt sich in Blubellas Gedächtnis fest. Alles was jetzt noch zählt ist dieser Auftritt.
Stopp – Strahlend weißes Grinsen, golden glänzender Schmuck, sanft rosa Blüten.
Die letzte Drehung – Alles gebend werden noch mehr Blüten geworfen, die letzten Kraftreserven aufgebraucht. Keine Sekunde mehr daran denken, wo oder was oder wie. Instinkt übernimmt, wo der Verstand nicht mehr wirken kann, das Sichtfeld komplett eingenommen von der Blumenpracht.
Stopp – Rosa Blüten, hellrosa Blüten, dunkelrosa Blüten.
Schritt. Schritt. Ein letzter Schritt.
Komplette Orientierungslosigkeit empfängt Blubella am Ende ihrer Drehung. Die wenigen Minuten, in denen sie wie in Ekstase auf der Bühne getanzt hat, kommen ihr jetzt vor, wie ein wirrer Fiebertraum. Ob sie dem Publikum oder ihrer Trainerin zugewendet ist, kann sie nicht sagen. Wohin sie auch schaut, verarbeitet ihr Gehirn nur Blüten in verschiedenen Größen und unterschiedlichen Tönen von Rosa. Noch schwindelig von der Drehung, macht sie sich nun daran, ihren Auftritt zu vollenden. Zu den abschwellenden Tönen des Klaviers bewegt sie ihre Gliedmaßen langsamer, immer langsamer, blind darauf hoffend, dass sie richtig auf der Bühne positioniert ist. Als das Klavier schließlich ganz aussetzt und Blubella fast vollständig zum Stillstand gekommen ist, nur noch von einzelnen leisen Geigentönen begleitet, da legt sich endlich auch der Schleier aus Blüten und Blubella kann wieder klar sehen. Aus dem tiefen Traum aufwachend, als tauche sie aus einem vollkommen schwarzen Wasser langsam an die Oberfläche, blickt sie direkt in die erste Reihe der Zuschauer. Erleichterter Seufzer. Dort findet sie all das wieder, worauf sie sich während des Tanzes so konzentriert hat, um die Verwirrung so gering wie möglich zu halten.
Der junge Mann im marineblauen Anzug mit einem farblich passenden Hut und seine Begleiterin, eine Dame in tiefrotem Kleid mit der gelben Feder im Haar, die magenta-farbene Tasche auf dem Schoß. Der kleine, grünhaarige Junge zwei Plätze weiter, der Blubella aus großen, tief blauen Augen ansieht, die Hand seiner Mutter drückend, die Blubella an der großen, gelben Spange in den Haaren erkennt.
Und als das Pokémon zum Abschluss den Kopf dreht, um seiner Trainerin entgegenzusehen, nimmt Blubella auch wieder das breite, weiße Grinsen in ihrem Gesicht und den dezenten Goldschmuck im ihren Hals wahr.
Als würde die Trance jetzt erst von dem wie hypnotisierten Publikum abfallen, beginnen sich die ersten Händepaare zu regen und unter einem tosenden Beifallssturm fällt die Trainerin ihrem Pokémon um den Hals. Blubella spürt heiße, nasse Tränen ihren Hals hinunterrinnen. Fest im Arm der Trainerin, flüstert diese ihr zu: „Ich wusste es. Ich wusste einfach, dass du es schaffst!“ Immer und immer wieder, wie ein Mantra wiederholt sie diese Worte, bis das Paar von der Bühne geführt wird.
In ihren Erinnerungen wird dieser Tag auf ewig in einem mild leuchtenden Rosa gespeichert werden. Rosa wie die Blüten ihres Tanzes, rosa wie die Wangen ihrer Trainerin während der großen Zeremonie, rosa wie das große Band, dass ihnen als Zeichen ihres gemeinsamen Sieges überreicht wurde.
"Was siehst du, wenn du an die Sonne denkst?"
Die Stimme war weich gewesen, ein Klang von melodischen Melodien, vereint zu einem symphonieartigen Laut, der Tessa noch lange in den Ohren nachklang. Die Stimme ihrer besten Freundin Lynn war unverkennbar, und sie kannte sie nun schon so lange. Und trotzdem hatte sie erst jetzt ihren wahren Wert zu schätzen gelernt.
"Die Sonne? Ich sehe sie vor mir, du Dummkopf. Groß und rund und gelb und warm wie Feuer. Etwas rot." Tessa atmete laut auf. " Du weißt, dass ich noch nicht mein ganzes Leben blind bin?"
"Natürlich weiß ich das," antwortete Lynn. Tessa konnte sich vorstellen, wie sie nun von ihrer Freundin beobachtete wurde. Welchen Blick sie ihr zuwarf.
"Aber gerade deshalb interessiert mich, wie du Welt siehst. Wie du sie rückblickend siehst."
Rückblickend war natürlich alles besser gewesen. Es war beschissen, blind zu sein. Man kam sich vor wie ein verlorenes Häufchen Elend das auf jedermanns Hilfe angewiesen war und kaum einen Schritt alleine gehen konnte, ohne dass man (und ja, das spürt man) doof angeschaut wird. Tessa war eines Morgens einfach aufgewacht, hatte die Augen geöffnet - und hatte nichts mehr gesehen. Nicht den Lichtstrahl, der sich morgens immer zwischen ihren Vorhängen hindurch in ihr Zimmer stahl. Und nicht die dunklen Umrisse ihres so bekannten Zimmers. Dann, als sie begriffen hatte, hatte sie geweint. Als sie mit ihrer Mutter zum Arzt gefahren war, stellte dieser fest, es sei wohl irgendeine Autoimmunkrankheit gewesen, deren Verlauf man nicht aufhalten konnte. Und Tessa hatte noch mehr geweint. Bis sie sich nach drei Tage aufgerafft, die Tränen mit ihrem Ärmel abgewischt hatte und beschloss, das beste draus zu machen. Auch wenn sie bis jetzt nicht so recht wusste, was "das Beste" daran sein sollte.
"Aber was sagtest du, Tessa?" fragte Lynn plötzlich und riss ihre Freundin damit abrupt aus ihren Gedanken. "Rot? Also Rot sehe ich in der Sonne jetzt nicht, nur Orange und Gelb."
Tessa legte ihre Stirn in Falten und dachte angestrengt nach. Stimmt, ihre Erinnerung an die warmen Sommertage, an denen sie sich noch gedankenverloren in den Garten gelegt und das Leben genossen hatte, verrieten ihr, dass Lynn Recht haben musste. Die Sonne war tatsächlich nicht wirklich rot. Doch Tessa lächelte.
"Stimmt, Lynn. Es liegt am Wort 'Sonne'." Tessa konnte beinahe spüren, wie sich Lynns fragender Blick in sie hineinbohrte. Ohne auf die bald folgende Frage ihrer Freundin zu warten, fuhr sie fort.
"Weißt du, in meinem Kopf spielt sich so ein Phänomen ab. Egal, welches Wort oder welche Zahl, ich ordne allem in meinem Kopf eine Farbe zu. Das nennt sich Synästhesie. Es verknüpft mehrere Sinneswahrnehmungen miteinander. Wenn du jetzt "Sonne" sagst, ist dieses Wort für mich größtenteils gelb. Aber eben auch ein kleines bisschen rot. Wegen dem 'O'." Tessa lächelte erneut und ihre Augen wurden feucht. Das erste Mal, dass ihr seit ihrer Diagnose wieder Tränen in die Augen schossen. Sie blinzelte sie weg. Niemand sollte die Welt nur auf diese grauschwarze Weise erleben müssen, wie es Tessa mittlerweile tat. Jeder sollte das Recht haben, die Farben in ihrer ganzen Pracht erleben zu dürfen. Das Blau des Himmels. Das Grün der Bäume. Das Gelb der Sonnenblumen. Doch wie so oft hatte Tessa den wirklich wahren Wert dessen, was so wichtig war, erst erkannt, als es ihr genommen wurde. Und doch war ein kleiner Funken Hoffnung geblieben. Keine Hoffnung auf Besserung, nein, die würde nicht mehr eintreffen. Aber Hoffnung darauf, niemals zu vergessen, wie schön und besonders und bunt die Welt war. Denn schließlich hatte sie die Farbenpracht bereits einmal erleben dürfen, und diese hatte sich auf ganz besondere Weise in ihr Gedächtnis gebrannt. So dass sie jetzt noch immer Farben sehen konnte. Aber auf ihre eigene Art eben.
"Wow, krass! Und was für eine Farbe habe ich?" Irgendwie hatte Tessa diese Frage erwartet. Sie dachte zurück an die leichteren Tage, an denen sie mit Lynn in ihrem Zimmer gesessen und Magazine durchgeblättert hatte. Lynn hatte für sie schon immer wunderschön ausgesehen. Sie hatte haselnussbraune Augen und dazu tiefbraune Haare, die ihr in Locken über die Schultern fielen. Sie kam ursprünglich aus Sardinien, weshalb ihre Haut immer leicht gebräunt war. Und doch kam es in Tessas Kopf nur auf das Wort an. "Du bist dunkelblau, beinahe lila, Lynn." Sie konnte es sich auch nicht so Recht erklären. Doch dafür musste es keine Erklärung geben. Und trotzdem fragte Lynn: "Wieso denn Lila?" Tessa zuckte die Schultern. "Ich kann es nicht sagen. Es ist einfach so."
"Okay," Tessa hörte in Klang von Lynns Stimme, dass sie sie für verrückt hielt. "Wollen wir vielleicht rausgehen? Also, wenn du bereit bist?"
Tatsächlich war Tessa seit ihrer Diagnose nicht mehr aus dem Haus gegangen. Sie wollte alles meiden, was sie nur noch stärker daran erinnerte, dass sie blind war. Doch heute schien ein kleiner Funken Mut in ihr aufzuflammen, welcher sie sagen ließ: "Ja, ich bin bereit, Lynn."
Doch als die beiden Freundinnen sodann unten vor der Haustür standen, fühlte sich Tessa plötzlich gar nicht mehr so bereit. Sie fühlte Panik ihre Kehle hinauf kriechen. Ihre Nackenhärchen stellten sich auf und sie begann kurz zu hyperventilieren. Sie fühle sich so hilflos, selbst mit Lynn an ihrer Seite. Sie kannte diese Welt nicht mehr. Sie müsste sie erst neu kennenlernen. Und davor hatte sie so eine unheimliche Angst, dass sie an ihrem Vorhaben zweifelte.
Lynn ergriff ihre Hand. "Wirklich bereit?" Tessa schluckte den aufkeimenden Kloß in ihrem Hals hinunter und nickte, während sie den Griff um Lynns Hand verstärkte. Und dann machte Lynn die Tür auf.
Zunächst passierte gar nichts. Tessa wusste nicht einmal mehr wirklich, was sie erwartet hatte. Den Weltuntergang oder den Dritten Weltkrieg vielleicht. Kurz atmete sie auf. Doch dann passierte alles auf einmal.
Als sie einatmete, erschlug sie beinahe der Duft von frischem Gras und dem Fluss ganz in der Nähe. Hatte die Natur schon immer so gerochen? Und die Geräusche. Autos rasten auf der Straße vorbei, der Asphalt vibrierte, Vögel zwitscherten, ein Storch hämmerte gegen das spröde Holz eines Baumes, Kinderlachen erfüllte die Luft. Tessa war überwältigt. Noch nie hatte sie die Umwelt so wahrgenommen. Sie spürte den festen Druck von Lynns Hand. Sie spürte den Luftzug des sachten Windes in ihren Haaren. Und das erstaunlichste war - sie konnte alles sehen. Auf ihre ganz eigene Weise. Als sie ihren Kopf nach rechts wandte, zu dem Ort, wie ihre alte Kinderschaukel stand, konnte sie sie in ihrem Kopf sehen. Sie wusste, wie sie aussah. Wie das Holz aussah. Wir die blaue Farbe der Schaukel mit den Jahren langsam vergilbt war. Und sie sah das Grün des Grases. Sie erkannte das Blau des Himmels. Und das alles in ihrem Kopf.
"Wie geht es dir?" fragte Lynn.
Tessa lächelte selig. Der Wind streichelte ihre Wangen.
"Gut."
Diesen Schritt vor die Tür hatte sie gebraucht. Es war unglaublich. Wie dieser Schicksalsschlag ihr die Sicht auf die Welt genommen hatte. Wie sie nichts weiter war als trübes Schwarz. Und wie sie nun doch wieder in vollen Farben erstrahlte.
„Luisa, Luisa!“, rief die jüngste Anhängerin der Galiren, während sie die Tür aufstieß. „Du weißt, dass heute der Tag ist!“
Luisa war gerade dabei, ihr Buch der heutigen Unterrichtsstunde zurück ins Regal zu legen. Sie erwiderte das überstürzte Eintreten ihrer Schülerin mit einem Lächeln und stellte einige rumliegende Bücher wieder in ihre ursprüngliche Reihe. Kurz darauf trat sie an Ariana heran, sodass sie ihr sanft die braunen Strähnchen aus dem Gesicht streichen konnte. Ariana musste den ganzen Weg von der Schule bis hierher gerannt sein, ohne eine Pause einzulegen, um so schnell nach Schulende anzukommen. Ihre Haare berichteten ebenfalls davon, denn sie waren völlig durcheinander geweht, obwohl der Wind heute relativ still war.
Die Priesterin griff ihre Tasche und nahm die Neunjährige an die Hand, um sich mit ihr zum besprochenen Ort aufzumachen. Ein Ort, der normalerweise nur für langjährige, geschätzte Mitglieder der Gemeinschaft offen war, aber Luisa hatte eine Ausnahme gemacht. Es war eine Art Geburtstagsgeschenk an die Jüngste ihrer Gemeinschaft.
„Sind die Alten auch nicht böse wieder?“, fragte Ariana zögerlich, dabei strich ihre freie Hand an den Sträuchern entlang, dessen Blüten freudig dem Sommerwetter entgegen ragten
„Natürlich sind sie nicht zufrieden, aber lass ihnen den Spaß am Nörgeln ruhig, sowas beschäftigt sie ein wenig“, erwiderte Luisa mit einem Kichern.
Nach einer halben Stunde erreichten die beiden Reisenden ihr Ziel, verborgen hinter unzähligen Bäumen und umgeben von einer Aura, die so undurchdringbar und rein erschien.
Ariana traute ihren Augen nicht und riss sich kurzerhand los, um auf den großen Fluss zuzulaufen. Der Fluss war in die wunderschönen Farben des Regenbogens getaucht, wovon sie bisher lediglich in Erzählungen gehört hatte und wenn sie heimlich geheimen Sitzungen gelauscht hatte, aber niemals hätte sie gedacht, dass es diesen Ort in Wirklichkeit gab. Die junge Schülerin setzte sich so nah es ging an den Fluss, um die schönen Farben zu betrachten. Sie flossen willkürlich, mal mehr und mal weniger, im Strom des Flusses. Keine Statik oder Gesetzmäßigkeit schien hier zu greifen, denn weiter vorne gab es viel Rot, wohingegen in der Mitte ihres Sichtfeldes viel Gelb zu erblicken war.
„Die Farben sind völlig durcheinander!“, gab sie aufregt von sich, konnte ihre Aufregung nicht verbergen.
Luisa nahm neben ihr Platz und lauschte dem Rauschen der Wälder, die um sie herum aufgeregt tratschten. In der Ferne ließen sich Spitzen von Bergen erkennen und das Gras fühlte sich weich wie Watte an.
„Luisa, kannst du mir erklären, wieso es so einen Ort gibt? Ist es wie das Drachenmeer?“ Sie sah die oberste Priesterin mit Kulleraugen an, denn so bekam sie Zuhause immer das, was sie wollte.
Kurz dachte Luisa nach, kam jedoch zum Entschluss, dass sie es zu sehr genoss, die alten Geschichten zu erzählen, vor allem bei solch jungen Seelen. „Ich erzähle es dir, es ist allerdings nicht ganz wie der Mythos des Drachenmeeres.“
Vor unzähligen Jahren gab es einen Schrein, den die Menschen jederzeit aufsuchen konnten, um ihre Wünsche erfüllt zu bekommen. Er gehörte der Göttin Myntes, die die Namensgeberin dieses Waldes ist. Der Handel der Menschen breitete sich über Landesgrenzen hinaus aus, somit erfuhren immer mehr Menschen vom legendären Schrein und unternahmen waghalsige Reisen, um sich die kühnsten Träume erfüllen zu lassen. Andere Götter betrachteten die neuen Umstände argwöhnisch, manche beschwerten sich beim Rat der Götter – oberste Instanz mit der Herrin aller Götter als Vorsitzende – und forderten eine Lösung. Selbst Götter waren voller Emotionen, wenn ihnen ihre Schützlinge entflohen, vor allem verbargen Wünsche allerdings meist auch eine Kehrseite. Myntes kümmerten solch harsche Worte nicht, sie hatte selbst eine Sorge zu tragen. Mit einer enormen Anzahl an Wünschen konfrontiert, fand sie keine Zeit mehr für ihre Liebe. Selbst die höchsten Wesen ersuchten Nähe, um der kalten Einsamkeit in der scheinbar vollkommenen Götterwelt zu entkommen.
Mit der Zeit breitete sich die Verzweiflung in ihrem Herzen aus, sie konnte keine Wünsche aufgrund von Egoismus verwehren, somit ihren Pflichten nicht mehr nachkommen und so wendete sie sich an die höchste Autorität. Lunira, Vorsitzende des Rates, empfing die Göttin sogleich. Lunira war sich dem Problem sehr wohl bewusst und hatte einen Ausweg erdacht. Sie sprach voller Demut und Liebe, obwohl ihrer Weisheit die Lösungen aller Probleme entsprangen, die selbst die anderen Götter nicht lösen konnten. Sei es der Wechsel von Tag zu Nacht oder das Schlichten vom Streit zwischen Mensch und Natur.
„Ich gewähre dir die Gestalt eines Menschen für eine Stunde, sodass du deinen Schrein aufsuchen kannst und einen Wunsch frei hast. Ich werde deine Aufgabe temporär übernehmen und so jeden Wunsch erfüllen, den du hast.“, sprach die Vorsitzende und legte ihre Hand auf Myntes‘ Stirn.
Sogleich machte sie sich auf, im Herzen einen brennenden Wunsch, um der Misere endgültig zu entkommen. Währenddessen lies Lunira alle fremden menschlichen Seelen im Wald umherirren, damit niemand den Prozess verzögern konnte.
Aufgeregt, zitternde ihre Stimme, kniete sich Myntes in ihrem eigenen Schrein nieder. Ihre eigene Statur ragte richtend über ihre, aber dahinter verbarg sich jemand weitaus mächtigeres.
„Ich wünsche mir Freiheit von all den erdrückenden Wünschen, damit die fordernden Stimmen schweigen und ich meinem wahren Wunsch nach Liebe nachgehen kann!“, schrie die Göttin schmerzlich, dabei rannen Tränen von ihrem zarten Gesicht hinunter. Genau diese Tränen bildeten den Anfang eines der bedeutendsten Naturphänomene. Ungläubig vernahm sie ein Rauschen vor ihr, denn plötzlich floss Wasser von den Mauern, die sich nach und nach in einen riesigen Strom aus Wasser verwandelten. An ihr brachen Wassermassen vorbei, die der Wald ehrfürchtig empfang, aber sie blieb unberührt.
„D-Danke“, brachte sie kaum hörbar über ihre Lippen. Vor ihr verschwand der Schrein und wurde zu dem, was wir heute als „Mynterian“ kennen, das so viel wie „Spektrum der Seele“ bedeutet. Die Farbe dieses Flusses war zu der Zeit komplett Violett.
„Das ist ja unglaublich!“, platzte es voller Inbrunst aus Ariana. „Aber wieso ist er jetzt so bunt? Gab es dann keine Wünsche mehr? Kamen die Göttin und ihr Liebester zusammen?“
„Du hast aber viele Fragen, ich versuche es mal, einfach zu halten, wir sollten bald zurückkehren“, antwortete Luisa und holte tief Luft.
„Blau ist die Farbe der Menschen, Indigo ist die Farbe der Natur und was ist dann Violett?“
„Es ist die Farbe der Götter!“
„Ganz genau. Sie war in menschlicher Gestalt, aber ihre Tränen kamen von ihrem tiefsten Inneren, der Seele einer Göttin.“
Ariana lehnte sich nach vorne und betrachtete den Fluss, sie wollte einmal die violette Farbe berühren, wenn sie so göttlich war, dann würde sie sich vielleicht auch mächtig anfühlen.
„Nicht!“, unterbrach Luisa ihren Gedankengang und packte Arianas Hand, um sie von der Berührung abzuhalten. „Keine Seele ist frei von Schmerz, rein und ohne Widersprüche, das bedeutet, wenn du das Wasser einfach berührst, wird es sich nach und nach schwarz färben. Schwarz ist das Mischen von negativen und positiven Emotionen, das ist nicht gut. Der Fluss darf nur wenige Mengen an negativen Emotionen zu Zeit aufnehmen, sonst werden die Götter wütend, vor allem Myntes, die immer noch über den Fluss und die Wünsche wacht.
„Es tut mir leid“, erwiderte Arina und warf sich in Luisas arme, um ihr nicht die Tränen zu zeigen.
„Schon okay, ich wollte dich nur aufklären.“ Sanft streichelte sie über Arianas Rücken, um sie zu beruhigen. Einige Sekunden vergangen bis sich die junge Schülerin aus den Armen der Priesterin löste und ein Lächeln die traurigen Gedanken vertrieb.
„Wie erhält man denn eigentlich seinen Wunsch, wenn man den Fluss nicht berühren darf?“
„Die Menschen lassen an einer bestimmten Stelle ein kleines Bötchen losfahren, welches ein Papier mit einem Wunsch enthält. Wenn ein Wunsch mit negativen Absichten wie Hass gefüllt ist, füllt sich ein bisschen Schwarz in den Fluss. Wenn du komplett in den Fluss fällst, färbt sich deine Haut weiß bis du völlig im Strom verschwindest, denn du wirst das Nichts und dein Wesen wird Teil des Flusses. Deshalb war die Göttin von ihrem Fluss unberührt, damit ihr menschlicher Körper nicht verblasst“, erklärte Luisa mit ernstem Unterton, damit die Warnung deutlich wurde, die sie vermitteln wollte. Ariana wurde langsam klar, warum Kinder niemals in die Nähe des Flusses durften und überall im Wald Siegel waren, um Unwissende abzuwehren. Luisa hielt sie deshalb permanent an der Hand bis sie an einem bestimmten, beschriebenen Stein vorbei kamen.
„Ariana, wir sollten langsam zurück, in Ordnung? Ich kann dir gerne morgen mehr über Myntes erzählen. Sie ist eine spannende Persönlichkeit und es gibt so einige Geschichten, die sich um sie und den Fluss ranken. Du weißt ja, es gibt immer Kehrseiten zu Wünschen. So wurde sie zwar von den Wünschen befreit, aber dennoch bekam sie die Pflicht, auf den Fluss zu achten und wer weiß, vielleicht gab es ja andere Tätigkeiten als Ausgleich?“ Luisas Unterton ließ vermuten, dass es Ariana irgendwann wieder begegnen würde. Vielleicht in den Vorlesungen, die sie unbedingt besuchen wollte, wenn sie älter ist?
„Dann lass uns zurückgehen, aber eine Sache noch, Luisa“, gab Ariana euphorisch von sich.
„Hm?“
„Danke!“
Erneut griff Luisa ihre Hand und die beiden traten summend den Rückweg an, um vor Einbruch der Dunkelheit wieder Heim zu sein.
„Was ist denn eigentlich aus dem Geliebten geworden? Sind die beiden zusammen gekommen?“ Es ließ Ariana einfach nicht locker, ob der wahre Herzenswunsch doch noch in Erfüllung ging.„Wer sagt denn, dass es ein Gott gewesen ist? Das ist weitaus komplizierter gewesen, Ariana“, antwortete Luisa mit einem Kichern und beließ es dabei, denn diese Geschichte wird zu einer anderen Zeit erzählt.
Für jegliche Fehler wird wie immer mein Deckaffe zur Rechenschaft gezogen.