Willkommen beim Vote unseres Fanfiction-Wettbewerbs!
Beim Voting könnt ihr den einzelnen Abgaben zwischen 1 (nicht gut) und 10 (sehr gut) Punkte vergeben. Dabei sind auch halbe Punkte (wie 2.5) möglich. Wichtig ist dabei, dass ihr alle Abgaben bewertet. Das gilt auch für teilnehmende Voter! Um eure Anonymität in dem Wettbewerb zu erhalten, vergebt auch ihr an alle Abgaben Punkte. Bei der späteren Auswertung werden diese Punkte natürlich nicht gezählt. Stattdessen erhaltet ihr einen Punkteausgleich für die Unterstützung des Votes.
Begründungen eurer Votes sind freiwillig!
Der Vote läuft bis zum 04. Februar 2018 um 23:59 Uhr.
Die Siegerehrung wird im Laufe des 05. Februar bekanntgegeben.
Verwendet für euren Vote bitte folgende Schablone:
ZitatAbgabe 01 - x/10.0
Abgabe 02 - x/10.0
Abgabe 03 - x/10.0
Abgabe 04 - x/10.0
Abgabe 05 - x/10.0
Zur Erinnerung hier noch mal die Aufgabenstellung:
ZitatEin neues Jahr, eine neue Reise, eine neue Freundschaft -- Neuanfänge begegnen uns immer wieder in den unterschiedlichsten Formen.
Manchmal musste davor etwas kaputt gehen, damit wir einen Grund haben einen Neuanfang zu starten, manchmal geschieht es ohne unser Zutun, weil eine Zeit in unserem Leben einfach zu ihrem Ende gekommen ist und wir nun auf eine neue Phase zugehen. Nicht immer ist so ein Neuanfang nur positiv, wenn wir uns schwer damit tun uns von der Vergangenheit zu lösen. In vielen Fällen ist ein Neuanfang aber eine wertvolle Chance auf eine Veränderung an der wir wachsen können.
Und das ist letztendlich auch eure Aufgabe in diesem Wettbewerb mit dem wir unsere Saison starten möchten. Schreibt über einen Neuanfang!
Unsere Liste von Usern, die gerne bei unseren Wettbewerben voten. Wenn du auch auf diese Liste möchtest oder von dieser gestrichen werden willst, merke das bei deinem Vote an oder melde dich bei der Fanfiction-Moderation.
@Obscuritas @Nexy @Rusalka @*Miro* @Galileo @Thrawn @Wenlok Holmes @Naoko @Alphys @Chess @Frechdachs @Caroit @#shiprekt @Schnee @Vynn @Gray Ninja
Abgaben
Es war laut um sie herum. Stimmengewirr bahnte sich einen Weg in ihr Gehör, während sie versuchte, sich zu konzentrieren. Wo war er? Sie blinzelte, konnte jedoch nur schemenhafte Gestalten erkennen, während sie versuchte, die tanzenden Menschen um sie herum nicht zu berühren, da sie nach Schweiß und Alkohol rochen. Und von dem Geruch drehte sich ihr der Magen um. Eindeutig nur von dem Geruch.
Es war die letzte Nacht des Jahres und zugleich die kälteste, die das Mädchen seit Monaten erlebt hatte. Sie trug ein enges, bodenlanges Kleid, welches sich in den Farben des Ozeans wellte und ihre Beine bei jedem Schritt umschmeichelte. Am letzten Abend des Jahres konnte man sich schonmal so anziehen, fand sie. Sie war auf eine Party gegangen, mit vielen Menschen, die ihr fremd waren, mit viel Alkohol, welchen sie gleichwohl schon ausgiebig konsumiert hatte. Mit ihm. Mit diesem Jungen, der ihr alles bedeutete. Den sie schon seit einigen Monaten als den ihren bezeichnen durfte, was bei ihr noch immer eine liebliche Röte auf den Wangen hervorrief, wenn sie daran dachte. Und doch, kaum hatte sie sich umgedreht, um noch ein Glas des roten, süß duftenden Weines zu trinken, war er fort gewesen, keine Spur mehr von ihm, obgleich er doch vor wenigen Sekunden noch hinter ihr gewesen war, seine Hand schützend und warm an ihrer Taille. "Bleib genau hier", hatte er gesagt, in einem Tonfall, der ihr nicht neu war, bestimmend und so, dass niemand auf die Idee kommen würde, ihm zu widersprechen. Und sie war geblieben und hatte getrunken. Doch er war weg. Wie ein Schatten, als wäre er nie da gewesen. Seitdem hatte sie mit den Augen die Menge abgesucht, was nicht leicht war, war ihr Blick doch mittlerweile mit einem hypnotischen Schleier bedeckt, was sie dem Alkohol zusprach. Laute Musik dröhnte in ihren Ohren, überschallte alles andere, ein bekanntes Lied aus den Charts, eine Melodie, die zum Tanzen anregte, das Mädchen aber nur noch mehr beunruhigte. Wo war er?
Es war kurz vor Mitternacht, sie sollte sich keine Sorgen machen, nicht jetzt. Nicht, wo das Jahr, welches sie auf so viele erdenkliche Weisen verändert hatte, so gut wie vorbei war. Sie hatte in diesem Jahr einen Jungen gefunden, den sie so gern hatte, dass es ihr den Atem raubte. Ihre Freunde sagten, er behandele sie wie einen Vogel - was genau das heißen sollte, verstand sie nicht. Ihre Freunde führten das nie weiter aus. Also zuckte sie stets mit den Schultern, lächelte ihr unschuldiges Lächeln, so dass ihre Lippen schief wurden, und küsste den Jungen. Manchmal küsste er zurück.
Sie konzentrierte sich nun wieder auf die Menge vor sich. Sie fokussierte ihren Blick, so dass sich ihre Pupillen kurz im Einklang mit der Musik weiteten und dann wieder schrumpften. Und dann sah sie ihn. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, wie jedes Mal, wenn sie ihn sah. Wie jedes Mal machte sich ein merkwürdig zu beschreibendes Gefühl in ihrer Brust breit, gleichwohl warm und auch kalt, abwechselnd und doch gleichzeitig. Dort tanzte er, alleine und doch gemeinsam mit allen anderen, mitten in der Menge. Solche Dingen waren ihm immer leicht gefallen. Dem Mädchen nicht. Doch das kümmerte sie nicht. Erleichtert, ob der Tatsache, ihn endlich gefunden zu haben, atmete sie die angehaltene Luft aus, auch wenn sie gar nicht mitbekommen hatte, dass sie kurz aufgehört hatte zu atmen. Sie wollte auf ihn zugehen, die letzten Minuten des verbleibenden Jahres mit ihm, ihrem Freund, tanzen und das Leben genießen, das sich ihnen bot. Wollte ihn küssen und sich unbeschwert fühlen. So leicht, wie es war, einen Schritt nach vorn zu gehen. Und doch blieb sie stehen, rührte keinen Fuß. Das Lächeln auf ihren Lippen erstarrte, merkwürdig verformt, irgendwie falsch. Dort tanzte er nämlich. So völlig selbstlos und losgelöst von allem. Sie beobachtete ihn. Er hatte die Augen geschlossen und gab sich völlig der Musik hin, die ihn erfüllte. Ähnlich so, wie sie sich ihm hingegeben hatte, völlig hilflos und sich einfach mitreißen lassend. Sie versuchte sich angestrengt daran zu erinnern, wann er sich ihr einfach hingegeben hatte, so, wie er es jetzt tat, mit völliger Leichtigkeit und glücklich. Doch sie erinnerte sich nicht.
Er sprach mit Mädchen. Zeigte dabei sein Lachen, das sie über alles liebte. Das seine Zähne zeigte, immer nur ein klein wenig, aber doch genug, um alle Mädchen zu verzaubern. So wie es einst sie verzaubert hatte. Und dennoch schluckte sie, ein Kloß machte sich in ihrem Hals breit. Sie verstand den Grund nicht, es musste am Alkohol liegen. An der Sentimentalität, welche der Jahreswechsel mit sich brachte. Das musste es sein. Anders konnte es nicht sein. Er tanzte mit Fremden und sah das Mädchen nicht. "Das ist okay," sagte sie sich. Schließlich war es immer so gewesen. Er wusste nicht, dass etwas nicht stimmte. Schließlich hatte sie es bis jetzt selber nicht gewusst.
"Wie ein Vogel, also?" fragte sich das Mädchen und ging leise, beinahe, als wäre sie unsichtbar, an dem Jungen vorbei, dem sie scheinbar weniger bedeutete als die Menschen auf der Party. Sie schob die Tür zum Balkon auf, erzitterte ob der nächtlichen, stechenden Kälte und sah hinauf in den schwarzen Himmel, der von einzelnen Sternen und noch vereinzelteren Feuerwerkskörpern erleuchtet wurde. "Gleich ist Mitternacht."
Ihr Herz fühlte sich eigenartig an und noch eigenartigere Gedanken schossen durch ihren Kopf, begleitet von einem dumpfen Schmerz, den sie nicht zu identifizieren imstande war. Sie blickte zurück, sah die vom Leben erfüllte Wohnung, die tanzenden, betrunkenen Menschen, und sah wieder ihn. Weil sie ihn immer sah. Doch jeder sah ihn und niemand sie, wie sie dort auf dem Balkon stand und in ihrem dünnen Kleid zitterte. Plötzlich schlich sich die grausame Gewissheit in ihren Kopf, dass sie vom Balkon hätte springen können, ohne dass es jemand gemerkt hätte. Vielleicht hätte er es bemerkt. Hätte ihr dann Aufmerksamkeit geschenkt. Sie blickte hinab, es ging gut zwanzig Meter in die Tiefe. Sie umklammerte das Gerüst, so dass sich ihre Knöchel blau verfärbten, was nicht zuletzt auch an der Kälte lag. Sie atmete die kalte Luft ein, die ihre Lungen beinahe zum bersten brachte. Entfernt hörte sie, wie eine Kirchturmuhr Mitternacht schlug. Die Menschen in der Wohnung jubelten, fielen sich in die Arme, Feuerwerkskörper explodierten nur wenige Kilometer über ihr und ließen feinen, schwarzen Staub vom Himmel rieseln wie Schnee. Und dann lachte sie.
Das allgegenwärtige Feuerwerk übertönte ihr Lachen, als wäre es nur ein Flüstern gewesen, doch das machte ihr nichts. Hatte sie gerade ernsthaft daran gedacht, zu springen? Wegen ihm? Wegen jemandem, dem sie komplett egal war? Der sie all die Zeit hingehalten hatte? Sie merkte, wie Tränen ihre Wangen hinunterliefen und seichte Spuren dort hinterließen. Und dennoch konnte sie nicht anders, als weiter zu lachen, während sie die Himmelskörper dabei beobachtete, wie sie explodierten und alle Formen und Farben in den Himmel schrieben, der so weit war, dass es ihre Vorstellungskraft übertraf. Sie malten Bilder an das Firmament, Bilder von Freude, Liebe und Leid. Und von einer besseren Zukunft. Ihr Herz wurde leichter. Mit jedem Schlag, mit jedem Dröhnen der Raketen.
Sie hörte schwach, wie die Balkontür geöffnet wurde. "Da bist du ja, Baby!", lallte eine Stimme, die ihr bekannt und doch so fremd war. Ihre Nackenhärchen stellten sich auf. Sie drehte sich um und sah ihn. Diesen Jungen. Und plötzlich war alles fort, was sie einst in ihm gesehen hatte. Das Leuchten in seinen Augen war nur der Schleier der Suchtmittel. Seine Stimme klang nicht wie Samt, sondern wie eine Parodie von allem, was gut sein wollte. Sein Lächeln hatte seine magische Anziehungskraft verloren, was blieb, war ein animalisches Grinsen, das ihr beinahe Angst einjagde. Doch sie stand da und wusste, was sie wollte. Sie wollte nicht ihn.
Er kam auf sie zu, strauchelte, sein Blick abwechselnd auf sie und wieder auf scheinbar einen Punkt hinter ihr geheftet. Es widerte sie an. Ihr Lächeln blieb bestehen.
"Frohes neues Jahr, Baby! Jetzt küss' mich endlich!"
Er hielt die Arme auf in gewissenhafter Erwartung, dass sie hineinlaufen und sich erneut in ihm verlieren würde. Doch nicht jetzt. Nie wieder.
Sie wusste nicht mehr, was sie gesagt hatte. Ob sie überhaupt etwas gesagt hatte oder ob ihre Erinnerungen die Geschehnisse nur ein wenig verdreht hatten. Letztlich war es unbedeutend. Sie war an ihm vorbei gegangen, und dabei hatte sie nichts empfunden als Genugtuung. Sie schloss die Balkontür, ging geraden Weges aus der Wohnung raus und hatte diesen Jungen seitdem nie wieder gesehen. Und während diesen Weges hatte sie sich so befreit gefühlt wie schon lange nicht mehr. Ihr Herz schlug mit jedem Schlag leichter. Nun konnte sie fliegen. Der Vogel hatte seinen Käfig verlassen.
Andrina schloss das Buch. Sie lächelte ihr einzigartiges, wenn auch trauriges, Lächeln und legte das Buch wieder auf ihren Nachttisch. Ein Vogel also... Sie schaute auf, ihre hellblauben Augen brachen sich in etlichen Facetten im Sonnenlicht, als sie ihren Vogelkäfig begutachtete, in dem sich ein kleines Rotkehlchen befand. Es zwitscherte fröhlich, als könnte nichts seine kleine Welt erschüttern. Andrinas Handy vibrierte zwei Mal. Obwohl sie nicht auf das Display sah, wusste sie, von wem die Nachricht stammen musste. Sie griff sich ihr Handy und las seinen Namen und die Nachricht, die sich dahinter verbarg. "Wo bist du, was machst du?" Es war eine Nachricht ohne Emotionen, ohne ein Anzeichen, dass es böse gemeint war. Und doch spürte sie, dass er nicht ohne Grund fragte. Das seine Art und Weise der Grund des Mädchens in der Geschichte war, ihren eigenen Weg zu gehen. Sich von jedweden Ketten zu lösen. Sie sperrte das Display, so dass es wieder dunkel wurde. Sie blickte zu ihrem Vogel hinauf. Ihrem Vogel, der freier war als sie selbst.
"Bin nur Zuhause, magst du vorbeikommen?."
Wir schreiben das Jahr 1076 vor Christus (wer auch immer dieser Christus sein mag, gebt mir noch 1076 Jahre und ich finde es heraus!) und richten unseren Blick auf Griechenland, das Zentrum der zivilisierten Welt – oder zumindest sehen sich die Griechen ganz gerne so…
Großartige Sachen wurden hier geschaffen: Kunst, Kultur, Mathematik, Medizin, Philosophie, Demokratie und auch Religion. Ihr wisst ja, die Griechen haben's mit ihren Göttern. Zeus, Hera, Ares, Aphrodite – die ganze Palette, die da oben auf dem Olymp haust.
Aber mit diesen Unsterblichen ist es so eine Sache. Man muss sie ehren und fürchten gleichzeitig. Sind sie mächtig? Aber hallo! Sind sie unfehlbar? Not really.
Ich meine, allgemein geht man ja davon aus, dass es irgendwie vorteilhaft wäre, wenn ein Gott ein wohlwollendes Auge auf einen wirft, nicht? Aber habt ihr schonmal die Geschichte von Daphne gehört? DAS war vielleicht eine Frau! 90, 60, 90 – huuhaa! Da saß alles, wo es sitzen sollte, kann man nicht anders sagen.
Na jedenfalls ist das Apollon irgendwann auch aufgefallen, so dass er es für eine tolle Idee hielt, Daphne mal auf ein Date zu bitten. Die jedoch fand das nicht so geil und als der gute Polly nicht locker ließ, hat sie sich von ihrem Vater, dem Flussgott Ladon, in einen Baum verwandeln lassen. Tja, da hat sie's dem Apollo aber so richtig gezeigt, wie sie da jetzt einfach für immer festgewachsen ist und er sich einfach 'ne Neue suchen gegangen ist – well played!
Oder hier Herakles! Zeus hat mal wieder auf seine zweites Gehirn gehört, kommt nach Hause und sagt einfach „Schatz, ich kann alles erklären!“, und der arme Halbmensch muss sich aber mit zwölf Prüfungen rumplacken. Und wozu das Ganze? Damit Hera ihn in ihrer Eifersucht seine Kinder im Schlaf erwürgen lässt. Super! Vielen Dank auch!
Wenn Götter schlechte Laune haben, ist das einfach immer großartig. Dann jammert da oben in den Wolken wieder einer rum und irgendwann ist Zeus dann so: „Ja, hmm, diese doofen Menschen, die sollte man eigentlich alle mal vernichten und neu anfangen.“
Wie oft ist das jetzt schon passiert? Drei, vier, fünf Mal? Hier eine Sintflut, dort mal Feuerregen, dann wieder Dürre – an Kreativität mangelt's denen da oben ja nicht, das muss man ihnen lassen. Ich warte ja noch darauf, dass sie die Sterne vom Himmel fallen lassen …
Und ihr fragt euch jetzt bestimmt: Moment mal, wieso hat denn da nie einer von berichtet?
Na überlegt mal, wenn alle tot sind, wie soll dann auch einer über das Ende der Welt schreiben? Das geht dann ja wieder ganz frisch von vorne los.
Ich wette, Hades hat da immer noch ein paar Leichen von der letzten Apokalypse im Keller – ihr könnt ja mal nachfragen gehen. Irgendwann werden die ja alle wiedergeboren und dann geht die Scheiße schon wieder von vorne los: Menschen machen irgendwas, Götter regen sich auf, Menschen werden vernichtet, neu geschaffen und so weiter und so fort, immer und immer wieder – und nichts, aber auch gar nichts wird jemals besser!
Dabei sind die feinen Herrschaften ja jetzt nicht so viel unschuldiger! Bei Troja hätten die sich auch alle am liebsten gegenseitig zerfleischt! Wäre vielleicht gar nicht so schlecht gewesen …
Denn womöglich … sind es ja gar nicht die Menschen, die hier das Problem sind?
Naja, lange Rede, kurzer Sinn, ihr wollt sicher wissen: Wer ist eigentlich dieser Typ, der mir das alles erzählt? Dann will ich mich auch mal outen.
Mein Name ist Pan. Ich bin auch ein Gott. Sorry, not sorry. Wiesen und Felder, Schafe und Schäfer, das ist so mein Metier – hier und da gerne auch mit schönen Frauen und 'nem Gläschen Wein! Vielleicht kennt ihr mich auch von der Panik. Das ist, wenn ihr nachts mitten im finsteren Wald plötzlich in Angst verfallt, weil ich euch furchteinflößende Dinge zurufe.
Okay, das findet ihr dann vielleicht nicht so lustig wie ich, aber seien wir ehrlich, gestorben ist daran auch noch keiner. ICH habe jedenfalls keine blutigen Kriege auf dem Gewissen! Nehme das Ganze nur halt einfach nicht so ernst. Muss man auch nicht. Ihr Menschen könnt eigentlich ganz gut auf euch selbst aufpassen – wenn man euch halt mal lässt.
Ich meine, Hand aufs Herz, Götter mischen sich in das Leben der Sterblichen ein, weil sie schreckliche attention whores sind – nicht mehr und nicht weniger.
Aber nicht mit mir. ICH bin tot. Naja, offiziell jedenfalls. „Der große Pan ist tot, der große Pan ist tot!“ – hab ich so verkünden lassen und bin einfach mal ein bisschen in die Wildnis gezogen. War worth.
Habt ihr schonmal von Wikingern gehört? Coole Leute, sage ich euch, die haben auch Götter. Loki zum Beispiel, dufter Typ. Hat mir von seiner Ragnarök-Idee erzählt, interessantes Konzept. Nein wirklich, könnten wir hier auch echt mal gebrauchen. Einfach mal alles auf null setzen – inklusive Götter.
Das sahen die Jungs zuhause übrigens ganz ähnlich; Prometheus, Hyperion, Kronos, Okeanos, die ganze Bande – Atlas hat übrigens so langsam auch keine Lust mehr. Deshalb arbeiten wir jetzt an einem kleinen Projekt, das ich gerne den „Götterhammer“ taufen möchte. Geschmiedet aus den feinsten Erzen Gaias im Feuer der Unterwelt, ist es eine Waffe, die selbst Unsterbliche von der Bildfläche zu tilgen vermag. Wir sitzen gerade noch am Feinschliff, aber bald, sage ich euch, bald geht es los. Dann beginnt endlich auch hier der Götterkrieg. Die Welt wird brennen und vergehen und aus ihrer Asche wird Gaia neue Kinder schaffen. Kinder, die keine Götter brauchen, Kinder, die stark genug sind, auf eigenen Beinen zu stehen. Es ist Zeit, diese unnütze Obrigkeit ein für alle Mal loszuwerden, es ist Zeit für einen richtigen Neuanfang.
Als erstes drang ihm der faulige Geruch in die Nase. Aber er wollte nicht die Augen aufmachen. Und nicht aufwachen. Es war zu bequem in seinem Bett.
''Hey! Du! Ja, du! Wie alt bist du denn? Deine Haare sind ganz weiß!''
Das war bestimmt nur ein Traum. Er konnte wieder einschlafen, wenn er nur liegen blieb. Eine klebrige Hand drückten gegen seinen Oberkörper und begann, ihn herumzuschubsen.
''Wach auf, alter Mann! Wo ist der Boss von euch?''
Bromley öffnete langsam die Augen starrte die Göre vor sich verständnislos an.
''Hä?''
''Ich will bei Team Skull mitmachen!''
Bromley sah sich kurz um. Er lag in seinem Bett. In seinem Zimmer. In seinem Gang-Hauptquartier. In seiner verlassenen Stadt.
''Wie bist du hier reingekommen?''
Als Antwort rülpste das Mädchen ihm nur ins Gesicht. Der Gestank war abstoßend.
''Ich heiße Sleimok!''
Die Art, wie sie das sagte, ließ keinerlei Zweifel daran, dass sie dies als genug Erklärung für ihr Eindringen empfand.
Der große Mann mit dem weiß gefärbten Haar setzte sich langsam auf. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es mitten in der Nacht war. Zu früh für sowas.
''Okay, Knirps. Jetzt mal ganz langsam.''
''Mein Name ist Sleimok!''
''Sleimok ist ein Pokémon.''
Das Mädchen nickte.
''Bist du ein Pokémon?''
Kopfschütteln.
''Aber du heißt trotzdem Sleimok?''
Nicken.
''Na gut, Sleimok. Du willst also bei Team Skull mitmachen?''
Die Jugendliche wurde ganz aufmerksam. ''Ja, ganz genau! Ich will bei Team Skull mitmachen!''
Bromley sah sich den Eindringling genauer an. Sie hatte eine zerzauste Frisur, aber gepflegtes, wenn auch schmutziges Haar. Ihre Kleidung war sehr teuer, aber zerkratzt und schlammverschmiert. Sleimok, wie sie sich nannte, schien aus gutem Hause zu stammen und erst vor sehr kurzer Zeit abgehauen zu sein.
Bromley stand langsam auf. Er streckte sich und zog sich sein Kapuzenshirt über die Schultern.
Da er nichts sagte, nahm Sleimok dies als Anlass, mehr zu erzählen.
''Ich passe perfekt zu Team Skull! Ich bin total schmutzig und böse! Ich mache was ich will und wasche mir nie die Hände!''
Bromley schaute zu ihr herunter. Er war selbst sehr groß, weshalb es ihm das leicht fiel. Sleimok war vielleicht 15 Jahre alt. Eventuell etwas mehr oder weniger, das lies sich unter der Schmutzkruste nicht so genau erkennen.
''Hör zu, Sleimok. Ich weiß deine Begeisterung für unser Thema ja zu schätzen, aber ich glaube, du hast da was verwechselt. Wir sind Team Skull. Nicht Team ''Schmutz''. Unser Thema ist nicht Dreck, sondern Totenschädel.
Sleimok überlegte kurz.
''Soll ich jemanden umbringen?''
Bromley zuckte kurz zurück. Das wurde langsam gruselig. Bestimmt hatte die Kleine das nur als Scherz gemeint. Hoffentlich.
Sie sprach Kapu-Riki sei Dank weiter. Über etwas anderes.
''Ich kann mir auch ein schwarzes Shirt besorgen und die Haare mit billiger Farbe eincremen, falls das hilft.''
Reflexartig fasste sich Bromley an den Kopf. ''Das war nicht billig! Und ich muss die ständig nachfärben lassen!''
Sleimok zuckte nur mit den Achseln. ''Und wieso trägst du Lidschatten?''
''Um gruseliger auszusehen.''
''Okay.''
Das Gespräch entwickelte sich langsam in eine völlig falsche Richtung. Bromley war übermüdet und musste dringend schlafen. Und er wollte von diesem Gestank befreit werden. Er starrte mit einem möglichst kalten Blick auf die Jugendliche herab und fing an zu brüllen: ''Ich bin der große, böse Bromley! Ich bin die fleischgewordene Zerstörung! Und du kleine Ratte glaubst, dass du taff genug bist, um bei mir mitzumachen?''
Sleimok starrte ihn ungläubig an. ''Der große, böse Bromley? Ernsthaft? Sind wir hier in einem Märchen, oder was?''
Sie lachte. ''Du hast auch die drei kleinen Spoinks gefressen, oder? Oder?''
Bromley starrte weiter auf sie herunter.
''Du kennst doch die Geschichte? Von dem großen, bösen Pokémon, das die drei kleinen Spoinks auffr-''
''Ja, ich kenne die Geschichte. Du musst sie nicht nacherzählen.''
''Wie du meinst. Aber ich will auf jeden Fall mitmachen bei euch! Ich bin schlimmer als dein schlimmster Albtraum! Und schmutziger obendrein! Ich bin Sleimok!''
''Wieso genau willst du zu Team Skull?''
''Was geht dich das an?'' Sleimok warf ihm einen unnachgiebigen Blick zu.
''Ich bin der Chef von Team Skull.''
''Mir doch egal. Ich bleibe auf jeden Fall hier! Ich denke sogar ständig an schmutzige Dinge! Willst du wissen, woran ich gerade denke?''
''Bitte nicht.''
''Ich stelle mir dich in Unterwäsche vor.''
''Danke für die Albträume.''
''Das erfordert nichtmal besonders viel Fantasie.''
Bromley sah an sich herunter. Er hatte sich, seit er aus dem Bett war, noch keine Hose angezogen. Er griff sich eine vom Boden und zog sie sich schnell über die Beine.
Immer wieder kamen Leute zu ihm, die bei Team Skull mitmachen wollten. Und das war auch gut so, weil es genug Menschen in Alola gab, die nirgendwo anders willkommen wären. Das war einer der Grüne, warum er seine Gang überhaupt gegründet hatte. Das Problem war natürlich, dass die Polizei und allerhand andere Gruppen immer wieder versuchten, sich einzuschleichen. Er sah, wie Sleimok gedankenverloren auf den Boden spuckte. So etwas Exzentrisches konnte niemand vorspielen.
''Okay, Sleimok. Ich habe entschieden.''
''Oh, wow. Hast du dich entschieden, deinen Lidschatten nachzuziehen?''
''Nein, du darfst zu Team Skull.''
''Das sage ich doch die ganze Zeit!''
''Wasch dich bloß hin und wieder. Du stinkst abartig.''
Plötzlich wurde das Mädchen sauer. ''Hast du nicht zugehört? Ich bin Sleimok! Das Leben ist aus dem Schmutz entstanden! Ich wasche mich nicht! Und damit wird die Welt leben müssen!''
Hygiene war wirklich ihr wunder Punkt. Sleimok war so wütend, sie begann zu keuchen. Ihr Gesicht wurde ganz rot unter dem Schlamm.
Bromley versuchte, sie zu beschwichtigen. ''Okay, okay. Dann wäscht du dich eben nicht.''
Sleimok warf ihm einen Blick zu, der sogar Bromley kurz erschrecken ließ.
''Du kapierst es auch nicht. Ich bin schmutzig. Ich bin der personifizierte Schmutz! Ich werde dir eine so harte Lektion erteilen, dass du nie wieder daran zweifeln wirst!''
Die Kleine zückte einen Pokéball.
Bromley unterdrückte ein Gähnen. Ein neues Teammitglied? Okay. Ein ganz besonders seltsames? Klaro. Auch noch ein Pokémon-Kampf um drei Uhr morgens? Was tat er nicht alles für seine Mitmenschen.
''Los, mein Freund! Lassen wir ihn Dreck fressen!''
Die Kleine warf ihren Pokéball an Ort und Stelle auf den Boden.
Bromley versuchte noch, sie aufzuhalten: ''Nein, warte! Können wir das nicht draußen regeln?''
Zu spät. Der Pokéball kam auf und öffnete sich mit einem leisen Zischen. Eine amorphe Gestalt materialisierte sich.
''Ha, mein Sleima ist neben mir das stinkigste Wesen auf der Welt!''
Der lebendig gewordene Haufen Giftmüll starrte mit großen, glasigen Augen im Zimmer herum. ''Smaaaah?''
Bromley war weiß Kapu-Riki nicht der sauberste Mensch, aber ein Sleima in einem menschlichen Wohnraum hieß, dass er das ganze Zimmer wohl wochenlang nicht benutzen können würde, bis es wieder zumutbar war.
''Willst du wirklich nicht lieber draußen kämpfen?''
''Nö, da regnet es gerade.''
Bromley sah aus dem dunklen Fenster. Tatsächlich prasselten erste leise Tropfen auf die Dachterrasse, die an sein Zimmer angebunden war.
''Argh, auch egal. Dann eben hier drinnen.''
Der Boss von Team Skull zog ebenfalls einen Pokéball aus seiner Hose. ''Los, bringen wir es hinter uns!''
Aus seinem Pokéball entsprang ein großes, auf zwei Beinen stehendes Insekt. Sein blasser Chitinpanzer erinnerte ein wenig an eine Samurai-Rüstung und die Bestie überragte sogar den groß gewachsenen Bromley um ein paar Zentimeter.
''Los, Tectass! Zeigen wir ihr unsere Allmacht!''
Das Rieseninsekt hob eine seiner beiden gepanzerten Klauen und ließ sie in Richtung Sleimas heruntersausen – welches nicht mehr da war.
''Höhö – Sleima und ich kämpfen immer auf unfaire Art und nutzen die schmutzigsten Tricks, die uns einfallen!'' Die Selbstzufriedenheit des Mädels war beinahe physisch greifbar.
''Na, das ist zwar ein toller Trick, aber er funktioniert nur unter einer Annahme. Einer Annahme, die nicht stimmt.'' Bromley grinste.
Sleimok wurde kurz unsicher. ''Was denn für einer Annahme?''
''Dass dein Gegner nicht Bromley, die fleischgewordene Zerstörung, ist!''
Tectass hob diesmal beide Hände, sprang mit einem Schritt zum Bett – dem einzigen intakten Möbelstück im Raum, das groß genug war, um ein Pokémon zu verstecken – und schlug es mit einem kräftigen Hieb auseinander.
Das Mädchen war sichtlich erstaunt. ''Whoa, du bist ja krass drauf! Du machst dein eigenes Bett kaputt, um einen Pokémon-Kampf zu gewinnen!''
Unter den Trümmern kroch tatsächlich eilig das Sleima hervor. Es wirkte etwas eingedellt und aus seinem schleimigen Körper ragten einige Holzsplitter.
Bromley konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. ''Nachdem ein Giftmüll-Pokémon hier herumkriecht, werde ich sowieso alles aus diesem Zimmer rauswerfen müssen! Deswegen ist es mir egal, was hier drinnen passiert!''
Jetzt begann Sleimok zu grinsen. ''Na, das werden wir ja sehen! Wie viel Ekel erträgst du, wenn du es mit dem ultimativen Albtraum zu tun bekommst? Sleima, Matschbombe!''
Sofort richtete sich Sleima etwas auf und atmete tief ein. Das gab Bromley und seinem Pokémon gerade noch genug Zeit, um aus der Bahn zu springen, als das kleine Wesen auch schon begann, eine unerwartet große Menge an säurehaltigem Schlamm herauszuspritzen. Die Wand, welche zur Dachterrasse führte, begann sich langsam zischend aufzulösen.
Bromley zog eine Grimasse. ''Okay, dann halt auf die extrazerstörerische Art! Tectass, Kalkklinge!''
Tectass hob seinen rechten Arm. Die einzelnen Segmente des Panzers verschoben sich leicht, sodass mehrere kleine Drüsen sichtbar wurden, welche spritzendes Wasser ausstießen.
Beim Anblick der drohenden Nässe wollte das Mädchen noch protestieren, als Tectass mit dem durch den Wasserdruck beschleunigten Arm Sleima erwischte und durch das dünne Material der beschädigten Wand hinaus auf die Dachterrasse schleuderte.
''Nein, Sleima!''
Die Terrasse wurde durch das Licht aus der klaffenden Wand beleuchtet. Der kleine Giftmüllhaufen lag zusammengekauert auf dem nassen Boden. Dicke Tropfen fielen auf seine klebrige Haut. Die Trainerin rannte eilig zur offenen Wand, aber blieb zögernd stehen. Sie sah zu Bromley. ''Du kämpfst auch ziemlich pragmatisch.''
Er zuckte nur mit den Achseln. ''Das Zimmer war eh Schrott.''
Es war leicht zu sehen, dass es Sleimok einige Überwindung kostete, in den Regen hinauszugehen. Aber für ihr Pokémon riss sich das Mädchen zusammen. ''Ich komme, Sleima!''
Die Trainerin sprang durch das Loch in der Wand heraus, rutschte schnell über den nassen Boden und berührte mit einer Hand sanft ihr Pokémon. ''Mein Kleiner. Du hast gut gekämpft. Nächstes Mal wirst du nicht gewaschen. Versprochen.'' Das Pokémon sah sie mit seinen glasigen Augen an. Es verzerrte sein Gesicht, bis es einem menschlichen Lächeln gar nicht unähnlich war. Das Mädchen nahm seinen Pokéball und beförderte Sleima wieder hinein.
Dann stand sie schnell auf und ging mit steifen Schritten wieder hinein zu Bromley. Sie zitterte.
''Ich... Ich wasche mir niemals die Hände. Ich bin Sleimok. Schmutziger geht’s nicht.''
Bromley kam nicht umhin, kurz auf ihre Hände zu starren. Vorher waren sie unter dem Schmutz nicht erkennbar gewesen, aber durch den Regen hatte sich viel davon abgelöst. Ihre Hände waren äußerst spröde und schrumpelig. An einigen Stellen war die Haut sogar aufgerissen, als wären sie viel zu oft gewaschen worden.
Bromley wusste nicht, ob sie das selbst getan hatte, oder jemand sie dazu gezwungen hatte. Und es war auch nicht an ihm, die Trainerin namens Sleimok mit Fragen zu belästigen.
''Komm, gehen wir. Unten haben wir etwas Vaseline.''
''Was ist das?''
''Das wirst du lieben. Das ist total klebriges Zeug, das man benutzt, um offene Stellen in der Haut zu versiegeln. Dadurch geht keine Feuchtigkeit verloren.''
Sleimok nickte schweigend und folgte Bromley zur Tür. Er blieb noch einmal stehen und drehte sich zu ihr um.
''Sleima und Sleimok sind zwei sehr starke und wilde Pokémon.''
Ein leichtes Grinsen schlich sich auf das Gesicht des Mädchens.
''Mit denen legt man sich besser nicht an.''
Bromley begann auch zu grinsen.
''Genau so viel Stärke und Wildheit erwarte ich auch von Team-Skull-Mitgliedern.''
Sleimok nickte.
''Und genau so viel Schmutz natürlich.''
Die beiden Pokémon-Trainer lächelten und gingen los.
Requiem
„Na komm schon, jetzt lächle doch mal!“, Alana sah Zoey mit großen, hoffnungsvollen Augen an, musste aber seufzen als sie erneut keine Antwort bekam. „Maaaan, du bist die ganze Woche schon so schlecht drauf.“ Die beiden Mädchen saßen bestimmt schon zwanzig Minuten auf der hölzernen Bank, doch bis auf leichte „Hm“ oder „Ah“ Töne hatte Zoey bisher kein Wort von sich gegeben. Sie ignorierte alles um sie herum. Alana, die Autos, die eines nach dem anderen langsam wenige Meter weiter an ihnen vorbei fuhren, die Menschen, die ausstiegen und sich - jeder für sich - auf ihren Weg machten und auch das Zwitschern der Vögel in den Baumkronen über ihnen. Ihre gesamte Aufmerksamkeit lag auf ihren eigenen Händen, genauer gesagt auf der Kette darin. Silbern, schlicht und etwas kindlich gehalten, mit einem kleinen Herz in welches die Inschrift „In Love - D.“ eingraviert war. Es war genau in diesem Moment als Alana gerade die Hoffnung aufgeben wollte, dass ihre Freundin leise zu sprechen begann.
„Ich weiß einfach nicht, ob es das wirklich ist, wie ich fühlen sollte.“
„Machst du Witze? So wie der Typ dich behandelt hat? Sei froh, dass er jetzt weg ist, wirklich!“
„Aber“, Zoey wollte widersprechen, brauchte aber einen kurzen Moment um die Worte zu finden. „Das Ganze ist einfach noch so neu für mich. Ich - “, sie schluckte kurz. „Ich brauche einfach noch etwas Zeit bis ich weiß, wie ich damit umgehen soll.“
Alana traute sich nicht, noch weiter zu argumentieren. Wenige Minuten saßen die beiden noch still da, bis eine Stimme hinter ihnen ertönte. „Kommt ihr zwei? Es geht gleich los.“
Als sie dann da stand war ihr Gehirn vollkommen durcheinander. Es war still und doch so laut. Tausende Gedanken flogen ihr durch den Kopf, aber sie konnte keinen davon fassen. Was war passiert, dass es zu dem kam, wie es war? Was war geschehen, dass ihn so veränderte? Was hatte sie falsch gemacht, dass er so wurde? Wieso hatte er sie immer so behandelt? Wieso hatte er sie so verletzt? Wieso war er immer so wütend auf die ganze Welt um ihn? Warum musste er seine Sorgen im Alkohol ertränken? Und warum ist er in dieser Nacht noch rausgefahren? Warum stand sie überhaupt hier? Wieso weinte ihre Mutte hinter ihr? Und warum wollte sie weinen, aber konnte es nicht?
Sie wendete den Blick von der Kette in ihren Fingern ab und schaute in das Grab ihres Vaters.
Wer bestimmte welche Menschen leben dürfen und welche nicht? Und wer hatte bestimmt, dass er es nicht darf?
„Ich weiß, ich werde dir noch nicht vergeben können“, sie streckte den Arm aus, während sie leise die Worte in den Wind flüsterte, ohne dass jemand anderes sie hören konnte.
Wie sollte sie nur ohne ihn weitermachen?
„Aber ich weiß auch, dass ich dich nicht vergessen werde.“
Zoey ließ die Kette in das Loch vor ihr fallen und drehte sich langsam um. Sie hatte keine Antwort auf all die Fragen in ihrem Kopf und sie war sich auch nicht sicher, ob sie jemals eine finden würde. Aber sie wollte sich nicht mehr von ihnen qüälen lassen.
Außerhalb des Bootes erwartete sie beißende Kälte. Kälte, wie sie nur an solch einem abgelegenen Ort existieren konnte. Sie fraß sich durch jede Faser der Kleidung bis sie die nackte Haut erreichte und sich dort ausbreitete. Kira fror bereits in der ersten Sekunde, in der sie den Himmel nach der langen Überfahrt wieder zu Gesicht bekam.
„Willkommen in Blizzach, deinem neuen Zuhause.“ Die Stimme hinter ihr hätte zu diesem Ort gepasst, so kalt wie sie war. Doch in den Augen des Sprechers passte Kira sicherlich auch ganz gut hierher.
Immerzu von Schnee bedeckt; in Blizzach gäbe es keinen Summer. Die Gerüchte schienen zumindest zu stimmen, denn selbst jetzt, wo im Rest Sinnohs bereits der Frühling erwachte, hielt hier der Winter Einzug.
„Frida erwartet dich bereits in ihrer Arena“, sprach die Stimme weiter, „sie wird sich ab jetzt um dich kümmern.“ Kira sah dies als Aufforderung, das Deck des Bootes, das sie bis hier gebracht hatte, zu verlassen und stattdessen nach langer Zeit nochmal Land zu betreten. Ihren kleinen Koffer trug sie bei sich, wobei er nur etwas Kleidung enthielt, denn viel mehr besaß sie gar nicht. Sie beschränkte sich im Leben auf das Wichtigste.
Der Schnee knirschte unter ihren Stiefeln, während sie von der Anlegestelle zum Dorf schlenderte. Sie hatte es nicht besonders eilig, immerhin würde sie noch jede menge Zeit hier verbringen müssen. Monate, vielleicht sogar Jahre. Solange, bis sie entweder sagte, sie sei für den Diebstahl verantwortlich oder bis man sich dazu entschied, dass sie ihre Zeit abgearbeitet hatte.
Kira stieß einen langen Seufzer aus. Verdächtigt zu werden war eine Erfahrung, die sie nicht unbedingt machen musste. Die ständigen Verhöre und Gerichtsversammlungen hatten ihr Leben in den letzten beiden Monaten auf den Kopf gestellt und ihr kaum einen Moment zum Durchatmen gegeben.
Die ersten Häuser traten in ihr Blickfeld. Rauch stieg von den Schornsteinen auf und es waren auch ein paar Leute unterwegs. 'Wer lebt wohl in so einem Dorf?', ging es Kira durch den Kopf. Sie konnte nur ältere Personen erblicken, die ihren Tätigkeiten nachgingen. Hin und wieder erhielt sie einen interessierten Blick, doch keiner schien sich effektiv nach ihr umzudrehen. In ihrer Heimat – Teak City- war das anders gewesen; obwohl der Ort viele Touristen anzog, hatten viele andere Einheimische sie gemustert wie etwas Unerwünschtes, etwas, das sie nicht wollten. Mit ihren grünen Haaren und dem dunklen, eigenwilligen Kleidungsstil war es eine Sache der Unmöglichkeit keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Zumindest hatte sie das gedacht, aber scheinbar stellte sie hier nicht den Mittelpunkt aller Gespräche dar. Die Blicke, die sie erhielt, waren kurz, flogen über sie und vergaßen sie im nächsten Moment wieder. Aus irgendeinem Grund gefiel es ihr. Sie fühlte sich nicht fremd, obwohl sie heute zum ersten Mal dieses Dorf am Ende Sinnohs betreten hatte.
Die Arena zu finden war nicht schwierig, immerhin war es das einzige Gebäude dieser Größe in der gesamten Umgebung. Auch hier war das Dach komplett mit Schnee bedeckt und Frost glitzerte auf den Scheiben der automatischen Türen, die sich surrend bewegten, als Kira in den Sensor trat.
Innen war es genau so kalt wie es draußen gewesen war, was das Layout der Arena zu verschulden hatte; als Eis-Arenaleiterin hatte Frida natürlich auch eine menge Schnee und Eis auf ihrem Kampffeld. Irgendwie taten Kira die ganzen Trainer leid, die den gesamten Weg bis hier auf sich nehmen mussten, um gegen die Arenaleiterin zu kämpfen. Sie selber hatte nie Interesse daran gehabt, berühmt zu werden. Nun war sie es geworden, ohne wirklich etwas dafür getan zu haben, zumindest war sie bei der Polizei und unter Richtern sicher das heiße Gesprächsthema in letzter Zeit gewesen.
„Wer bist du denn?“ Eine junge Frau – Kira schätzte sie auf siebzehn – war im Rahmen der anliegenden Tür erschienen und betrachtete den Neuankömmling. „Aktuell werden keine Herausforderungen akzeptiert.“ Das Mädchen war recht muskulös mit breiten Schultern. Ihre blonden Haare waren zu einem Zopf zusammengebunden und die Spitzen waren weiß gefärbt.
„Ich bin Kira, ich soll in Blizzach aushelfen.“
„Aaaah, Kira!“ Meldete sich plötzlich eine dritte Stimme zu Wort und neben der Blondhaarigen erschien ein dünnes Mädchen mit braunen Flechten. Das war dann wohl die Arenaleiterin Frida.
„Ich habe ganz vergessen, dass du heute kommen sollst, entschuldige bitte.“ Sie duckte sich unter dem Arm der anderen durch und kam zu Kira. „Ich bin Frida, deine Chefin, wenn man so will. Und das ist Yuki, meine Auszubildende.“ Sie deutete auf das stämmige Mädchen, die Kira nur kurz zunickte, ehe sie wieder verschwand. „Sie ist etwas schüchtern“, kicherte die Arenaleiterin. Kira mochte sie. Sie schien aufgeweckt und lebensfroh zu sein.
„Also“, sagte Frida dann, „ich denke, ich mache dich ein wenig mit dem Dorf vertraut. Immerhin wirst du ein wenig hierbleiben müssen.“ Sie schenkte Kira ein Lächeln und übernahm die Führung, indem sie aus der Arena schritt.
Kira sah ihr kurz hinterher. Mit ihrer rechten Hand umklammerte sie den Megaring in ihrer Hosentasche. Es war natürlich töricht gewesen, ihn mitzunehmen, bestimmte er doch gerade in diesem Moment über den weiteren Verlauf ihres Lebens. Aber sie hatte das Gefühl, dass es am sichersten war, ihn bei sich zu tragen.
Sie folgte Frida durch das verschneite Dorf, lauschte jedoch nur mit einem Ohr dem lebhaften Geplapper der jungen Arenaleiterin. Stattdessen betrachtete sie jeden Winkel des kleinen Dorfes und suchte nach Sachen, an denen sie sich später orientieren könnte, wenn es erst mal stark geschneit hatte. Jetzt waren zwar Leute unterwegs, doch mit Sicherheit würde sie sich später noch nachts alleine durch das Dorf bewegen müssen, möglichst ohne sich zu verlaufen. Und mit jeder Minute, die verstrich, jedem Schritt, den sie zurücklegten und jedem neuen Gesicht, das Kira grüßte, fühlte sich besser. Eigentlich hatte sie nur vorgehabt, ihre Zeit hier abzusitzen, aber vielleicht würde es ja gar nicht so schlimm werden.
Am Abend saß Kira auf ihrem Bett. Man hatte ihr ein kleines Häuschen mit einer simplen Einrichtung für ihren Aufenthalt zur Verfügung gestellt. Im Ofen knackte das Feuer, welches den Raum warm hielt. Auf dem runden Teppich lag ihr Hundemon und schlummerte friedlich. Sie fühlte sich nach langer Zeit nochmal irgendwo wohl. Ihre eigentliche Heimat war soweit weg, doch sie verspürte keinen Funken Sehnsucht. Nie wieder wollte sie dorthin zurück. In ihre alte Heimat, in ihr altes Leben.
In einem plötzlichen Impuls griff sie nach dem Mega-Ring, den sie auf ihrem Nachttisch abgelegt hatte, und warf ihn ins Feuer. Sofort verschluckten die Flammen das Metall.
Und mit ihm fraßen sie Kiras Vergangenheit.
Deckfarbe
Ich lasse den letzten Umzugskarton in die Ecke meines neuen Wohnzimmers fallen, setze mich auf ihn und lehne mich erschöpft an die Wand.
Mein Keuchen hallt zwischen den Wänden der leerstehenden Wohnung wieder, von unten dringt das ungewohnte Rattern der Züge durch die nur halb so gut wie versprochen dämmenden Fenster.
Es riecht auch seltsam. Die Gerüche des Vormieters, der alten Dielen und der neu überstrichenen Wände hängen in der Luft und kitzeln in der Nase.
Und doch fühle ich mich wie immer. Wieso sollte ich auch nicht? Meinen Schimmel bin ich nicht los und Drübermalen bin ich langsam Leid.
Weit weg
Ulrich „Uli“ Seidel war ein in seiner Firma angesehener Versicherungsvertreter aus Berlin, der es in seinen stolzen rund dreißig Berufsjahren geschafft hatte, dem ganzen westlichen Teil der Hauptstadt eine meist überflüssige Versicherung anzudrehen. Er liebte diese Stadt – nicht nur waren die Menschen so leicht übers Ohr zu hauen, nein, auch wurde er hier geboren und, wie er immer zu sagen pflegte, würde er dort ebenfalls sterben. Jedoch verabschiedete sich diese Vorstellung schneller als ein kalter Eiswürfel im kochenden Wasser, als ein böser Mann mit diskussionswürdigem Bartwuchs sowie ebenso bizarren Weltvorstellungen an die Macht kam.
Es fand an einem warmen Sommertag statt. Ulrich kam – wie so oft – erst gegen Abend zuhause an; seine Ehefrau Elisabeth, seine erste und letzte Liebe, hatte in seiner Abwesenheit bereits das Abendessen vorbereitet. Das Küchenfenster stand offen. Man hörte selbst um diese Uhrzeit noch laute Menschen, fahrende Autos und bellende Hunde – ein normaler Tagesabschluss, wobei dieser nicht gänzlich normal verlaufen sollte.
„Was gibt es?“, fragte er, als er die Küche nach seiner Ankunft betrat.
„Braten“, antwortete sie ihm, während sie die Schalter des Herds betätigte. „Mit Kartoffeln, Rotkohl und Bratensoße.“
„Lecker“, fügte der Mann an. „Rufst du mich, wenn er fertig ist?“
„Ja“, sagte sie flüchtig.
Ulrich ging in das Wohnzimmer und legte seinen schweren Lederaktenkoffer, in dem ein Stapel Verträge, die nur noch unterschrieben werden mussten, um gültig zu sein, gelagert wurde, sowie seinen grauen Arbeitsanzug ab, bevor er sich den Schweiß von der Stirn mit dem rechten Handrücken abtrocknete. Er versuchte, den Knoten in seiner noble Krawatte zu öffnen – dies gelang dem armen Kerl jedoch nicht, weswegen er sie wütend abriss und in eine dunkle Ecke schmiss – und grub sich danach in die bequeme Couch direkt vor dem Röhrenfernseher ein. Er schloss für einen Augenblick die Augen.
„Uli“, rief ihn Elisabeth nach vergangenen zehn Minuten, „Essen ist fertig!“
Der Ehemann sprang instinktiv auf und lief wie von einer fremden Macht gesteuert in das Esszimmer; sein Magen knurrte bereits vor Hunger. Er setzte sich auf seinen Stammplatz – links außen zur Tür, die zum Wohnzimmer führte, hin gerichtet – und wartete darauf, dass ihm seine Frau das Essen auf einem fertigen Teller servierte. Nachdem sie das getan hatte, platzierte auch sie sich – in die zu ihrem Mann hin entgegensetzte Richtung – an den runden Esstisch. Beide begannen, zu essen, ohne zuvor Gott für diese Mahlzeit zu danken.
„Nun“, stoppte sie das Abendessen, nachdem er bereits seine Beilagen verzerrt hatte, „wie war die Arbeit?“
„Ja“, antwortete Ulrich mit vollem Mund. „Gut. Mal hier gewesen. Mal dort gewesen. Ein paar Versicherungen verkauft – nicht viele, aber auch nicht wenige. Nichts besonderes. Ein normaler Arbeitstag.“
„Und?“
„Und?“, wiederholte er ihre Frage. „Was und?“
„An wen hast du heute Versicherungen verkauft?“, fragte Elisabeth.
„Keine Ahnung“, sagte er, bevor er hastig nach seinem Glas Wasser, das rechts neben seinem Teller stand, griff und einen Schluck daraus trank.
„Du weißt ganz genau, wer deine Kunden sind“, erinnerte sie ihn. „Deswegen bist du doch erst so ein angesehener Geschäftsmann geworden, nicht? Also, warum lügst du mich an?“
„Ja, in Ordnung“, erklärte er ihr. „Ein Nazi war dabei – nur dieser eine.“
„Uli!“, schrie die Frau auf. „Ich dachte, wir haben eine Vereinbarung getroffen?“
„Das stimmt“, bestätigte er sie, „aber wir brauchen das Geld. Du weißt genau, dass ich deine Ansichten in dieser Sache teile, aber …“
„Wasfür eine Versicherung? Und wage es nicht, mich erneut anzulügen!“, ermahnte sie ihren Ehemann.
„Verstehe mich doch bitte, es ist für uns …“
„Was für eine Versicherung?“, unterbrach sie ihn, indem sie die gleiche Frage erneut stellte.
„Lebens“, sagte er, „Ich … ich habe ihm eine Lebensversicherung verkauft.“
Elisabeth ließ das Abendessen unberührt stehen, sprang auf und rannte aus dem Raum.
„Lisa ...“, rief er ihr hinterher, „Warte!“
Ulrich folgte ihr in das Schlafzimmer, wo sie bereits ihre Kleidung aus den Schränken zusammensuchte.
„Lisa ...“, versuchte er, sie zu beruhigen.
„Lass´ mich!“
„Nein, warte!“, entgegnete er und zog dabei ihre Hände vom Kleidungsschrank weg, sodass sie davon abgehalten wurde, weitere Gegenstände wie Fliegerbomben auf den Boden zu werfen. „Lass´ es mich erklären!“
„Ich gebe dir nur diese eine Chance“, sagte sie im normalen Tonfall. „Doch wenn mir deine Ausrede nicht gefällt, kannst du dich von mir für immer verabschieden.“
„Ich habe einen Plan“, weihte er Elisabeth ein.
„Kein Plan ist es wert, einem Nazi eine Lebensversicherung zu verkaufen“, motze sie. „Verstehst du es nicht? Das Blut, das an seinen Händen hängen wird – und du weißt bestens darüber Bescheid, dass es das irgendwann wird – wird dann genauso an deinen kleben bleiben!“
„Ich verstehe, ich verstehe! Doch …“, führte er an, „dieser Plan ist es wert. Wir wandern aus.“
„Was?“, reagierte sie deutlich überrascht. „Wohin?“
„Amerika“, antwortete er.
„Weißt du, wie weit es von hier aus bis Amerika ist?“, stichelte die Ehefrau gegen ihn.
„Weit weg“, erklärte er, „und das ist gut so.“
„Wir können doch aber kein Englisch“, verunsicherte sie sich selbst.
„Das ist kein Problem. Das lernen wir noch“, redete der Mann auf sie ein, während er sie in den Arm nahm. „Wir werden diese Hürde auf uns nehmen, wenn wir diesen Neufang starten wollen. Das müssen wir. Wohl oder übel.“
„A-aber wieso ausgerechnet jetzt? Wieso nicht früher?“
„Ich hatte das Geld noch nicht zusammen …“, gestand Ulrich ihr. „Doch nun, dank der Lebensversicherung an den Nazi, habe ich alles zusammen, um uns eine sichere Überfahrt in die neue Welt zu garantieren.“
„W-wann legen wir ab?“, fragte sie.
„Morgen“, antwortete ihr Ehemann auf ihre Frage, „in der Früh. Um sechs.“
„Uli …“, flüsterte die Frau leise vor sich hin, „es tut mir leid, dass ich eben so in Rage war. Du meintest es doch nur gut. Mit uns.“
„Schon vergessen“, beruhigte er sie, „du hattest Grund, sauer auf mich zu sein. Ich war mit dieser Entscheidung auch nicht zufrieden, doch nur so … können wir rechtzeitig verschwinden. Nun, packe jetzt deinen Koffer weiter zusammen – morgen wird ein langer Tag.“
Ulrich „Uli“ und Elisabeth „Lisa“ Seidel erreichten nach einer mehrtägigen Schifffahrt von Hamburg aus am 28. Juni 1942 zum ersten Mal amerikanisches Festland und bauten sich dort innerhalb weniger Jahre ein neues Leben auf – so bekamen sie auch dort trotz ihres fortgeschrittenen Alters ihr erstes und einziges gemeinsames Kind, mich, Lior „Leo“ Seidel, was aus dem hebräischen stammt und „Licht für mich“ bedeutet. Mein Vater flog nach der Wiedervereinigung Deutschland am 01. Dezember 1990, an seinem einhundertsten Geburtstag, ein letztes Mal zurück in die alte Heimat, genauer gesagt nach Berlin, um dort das Land, sein Heimatland, zu sehen, das er einst kannte. Wiedervereint. Und, als hätte er es nicht schon Jahre zuvor vorausgesagt, starb er wenige Tage später auch dort – dort, wo er geboren wurde und wo er, wie er immer zu sagen pflegte, auch sterben würde.
Fandom: Super Mario 64
Ich scrolle durch den eShop auf meiner Wii U. Eigentlich will ich gar nichts kaufen, aber es macht mir einfach Spaß, mir anzuschauen, was ich denn kaufen könnte, wenn ich wollte. Es wäre auch nicht das erste Mal, dass ich ein Spiel finde, das mich spontan anspricht und das ich mir dann herunterlade. Auf diese Weise habe ich schon ein paar kleine Perlen gefunden.
Heute finde ich hier aber nur Zeug, das mich nicht wirklich interessiert. Überall werde ich mit Werbung für Breath of the Wild bombardiert, dann noch Terraria und Just Dance 2018, die mich einfach null interessieren. Etwas ernüchtert beschließe ich, die Neuerscheinungen zu ignorieren und einen ganz anderen Teil des Shops aufzusuchen. „Virtual Console“, seit seiner Einführung auf der Wii ein Hit. Ich habe die Wahl zwischen einer Handvoll Konsolen, deren Spiele ich mir anzeigen lassen kann. Ich entscheide mich für …
„Mama, kann ich zu Weihnachten eine N64 haben?“
„Muss das denn wirklich sein, mein Schatz?“
„Tom hat zum Geburtstag auch eine bekommen!“
„Du bist aber nicht Tom. Und ich möchte nicht, dass du deine ganze Zeit vor dem Fernseher verbringst.“
„Das tu ich nicht! Versprochen!“
Sonderlich viel Auswahl bietet die N64-Sparte mir nicht gerade. Nur zehn Titel, von denen mir drei noch nicht einmal etwas sagen. Aber es sind auch Spiele darunter, an die ich mich noch sehr lebhaft erinnere und die ich als Kind geliebt habe. Ich weiß noch genau, wie ich damals an Ocarina of Time verzweifelt bin, bis einer meiner Freunde ein Lösungsbuch auftreiben konnte, mit dessen Hilfe wir endlich den Wassertempel lösen konnten. Trotzdem war die großartige Atmosphäre des Spiels wohl einer der Gründe, warum Videospiele bis heute so ein großer Teil meines Lebens sind. Es ist aber ein anderes Spiel, das meine größte Aufmerksamkeit auf sich zieht.
„Ich wünsch mir Super Mario 64. Das ist das neue Spiel von Mario und es soll total super sein. Das hab ich in dieser neuen Zeitschrift gelesen, die Tom neulich in der Schule dabei hatte.“
„Warum brauchst du denn noch ein Mario-Spiel? Die sind doch alle das Gleiche!“
„Nein, sind sie nicht! Und vor allem nicht das neueste! Es ist komplett anders als die anderen. Da kann man nicht mehr nur geradeaus laufen.“
„Ach, mein Schatz … Wenn du es dir so sehr wünschst.“
„Hello!“, ruft ein Mario-Kopf vor blauem Hintergrund.
„Hallo“, sage ich und zupfe an seinem Schnurrbart herum. Sein Gesicht verformt sich komisch. Ich weiß noch, als ich das damals entdeckt habe. Es war das Lustigste am ganzen Spiel, bevor es überhaupt begonnen hatte. Heute finde ich es irgendwie gruselig, weil dauernd irgendwelche Texturen an Stellen durchschimmern, wo sie gar nicht hingehören. Und diese frei herumschwebenden Pupillen erst!
Ich drücke Start und wähle die Datei „Mario C“, wie ich es schon früher immer getan habe. Ich habe keine Ahnung, warum, vermutlich hielt ich es aus irgendeinem Grund für cooler. C wie „cool“ eben.
„Lieber Mario, bitte komme mich im Schloss besuchen. Ich habe einen Kuchen für dich gebacken. Peach“, lese ich, während eine weibliche Stimme den englischen Text vorträgt.
„Schau mal, Mama! Da ist Peachs Schloss und ich kann davor herumrennen, wie ich will!“
„Das sieht ja lustig aus. Was passiert denn, wenn du ins Wasser fällst?“
„Ach, das ist auch nicht schlimm. Da kann ich schwimmen und sogar tauchen! Aber so viel zu sehen gibt’s da leider nicht, ich glaube, das kommt erst später so richtig.“
„Ui, da sind ja Fische!“
„Ja, aber die tun nichts. Aber sie sehen total hübsch aus!“
Ich betrete die erste Welt. „Bob-Ombs Bombenberg“ steht auf dem Bildschirm und darüber der Titel meiner ersten Mission, „Besiege König Bob-Omb“. Um mich herum stehen einige pinke Bob-Ombs, die mir nützliche Informationen geben. Ich erinnere mich daran, dass ich einmal in einem Video gehört habe, dass runde Objekte wie diese Bob-Ombs eigentlich zweidimensionale Grafiken sind, weil komplett runde Polygone damals unmöglich waren und sie sonst so seltsam kantig wären wie alle Charaktere in diesem Spiel. Ich muss fast lachen, weil eine tadellose HD-Grafik heute wie selbstverständlich wirkt.
Ich weiß noch ziemlich genau, in welcher Richtung der Berg liegt, also renne ich geradeaus über die Brücke, auf der ein paar Gumbas herumlungern, weiche gekonnt dem Kettenhund aus und laufe auf die nächste Brücke, die sich unter meinem Gewicht bewegt. Ich will schnell hinüberlaufen, als sich die Kamera seltsam bewegt und ich eine Ebene weiter unten im Matsch lande. Mir fällt auf, wie weit Videospiele inzwischen gekommen sind. In den neuen 3D-Marios wie Super Mario 3D World gibt es sogar eine Kamera, die keine Aggressionen mehr hervorruft!
„Ich hab gerade Bowser besiegt, das war voll schwer!“
„Ist das nicht diese böse Schildkröte, die immer die Prinzessin entführt?“
„Ja, genau der! Und er sieht voll gefährlich aus, er hat böse gekuckt und er hatte riesige Zähne und Stacheln!“
„Hast du die Prinzessin dann gerettet?“
„Nö, leider nicht. Ich muss ihn wohl öfter besiegen, er ist diesmal total gut vorbereitet.“
Ich stehe vor meiner letzten Herausforderung in Bowsers Luftschloss. Unter mir ist eine runde Plattform, vor mir ist eine grüne Röhre, hinter der der Spawnpunkt liegt, von dem ich mir gerade meinen einhundertundzwanzigsten Stern abgeholt habe. Und in dieser Röhre wartet endlich der letzte Kampf gegen Bowser. Als Kind habe ich es nie bis hierher geschafft, dafür habe ich den einfachsten Kampf gegen Bowser unzählige Male gespielt, weil ich das Gefühl hatte, in diesem Level so extrem gut zu sein.
Ich springe durch die Röhre und stehe auf einer runden, grün-schwarzen Plattform dem finalen Gegner gegenüber. Sein Kopf ist überdimensioniert groß und die Augenbrauen über seinen kreisrunden Augen sind so comichaft überzogen, dass er mehr süß als gefährlich wirkt. Trotzdem spuckt er erstaunlich große Töne und versucht, mir weiszumachen, dass ich meine Freunde und Peach niemals retten könnte.
Ich renne um Bowser herum, um ihn am Schwanz packen zu können, da springt er hoch und setzt seine Stampfattacke ein. Die Schockwelle erfasst mich und schüttelt mich durch und so verliere ich jetzt schon zwei Hitpoints. Ich lasse mich aber nicht weiter davon beirren, packe meinen Gegner und schleudere ihn herum. Die Kamera ist immer noch seltsam, aber immerhin habe ich jetzt die Zeit, den Winkel so zu positionieren, dass ich mein Ziel, eine Bombe, sehen kann.
„So long, ay Bowser“, ruft Mario, während er die Schildkröte in die Bombe sausen lässt. Ich habe diesen letzten Kampf schon so oft in irgendwelchen Videos gesehen, dass ich genau weiß, wie er ablaufen wird. Ich muss Bowser nur noch zwei weitere Male in eine Bombe werfen. So schwer wird es schon nicht sein, das liebste Spiel meiner Kindheit durchzuspielen.
Neuanfang
Dirk fuhr mit dem Finger über die Zeilen auf dem Papier und warf dann einen Blick auf den Bildschirm. Das Zitat schien korrekt zu sein. Er ging über zum nächsten und stellte fest, dass hier ein „konkret“ stand, wo im Original „concret“ verwendet wurde. Er änderte das Wort in der Datei ab und markierte die Stelle zusätzlich.
Anschließend lehnte er sich zurück und rieb sich die vom vielen Starren schmerzenden Augen. Er war erst halb durch mit allem – ein paar Stunden Arbeit würden wohl noch auf ihn warten. Doch er war auch müde. Er wünschte sich, er könnte sich einfach ins Bett legen und schlafen.
Als er nach seiner Tasse griff, stellt er fest, dass sie leer war. Seufzend stand er auf und schlurfte in die Küche seiner Wohnung, um sich einen neuen Tee zu machen. Während das Wasser kochte, sah er aus dem Fenster hinunter auf die vom Regen nasse Straße. Die Sonne hatte so lange nicht mehr geschienen, aber es sollte ja die nächsten Tage besser werden.
Mit seinem neuen Tee in der Hand setzte Dirk sich wieder an seinen Schreibtisch und scrollte weiter durch die Datei. Kurz darauf wurde der Bildschirm schwarz.
„Was zur …“
Der Laptop war ausgegangen.
„Oh, verflucht, bitte nicht.“
Dirk fuhr den Laptop wieder hoch, was problemlos möglich war, doch wie er erwartet hatte – seine bisherige Arbeit an dem Dokument war nicht gespeichert worden. Dirk vergrub das Gesicht in seinen Händen. „Scheiße.“ Er würde ganz von vorne beginnen müssen.
Sein Handy klingelte. Es war Kai. Manch einer hätte es vielleicht für seltsam halten können, dass sie einfach wieder Freunde hatten werden können, aber im Grunde war das für beide vollkommen in Ordnung gewesen. Sie hatten halt einfach verschiedene Vorstellungen von der Zukunft gehabt.
„Was ist?“, fragte Dirk, missmutiger, als er hatte klingen wollen.
„Hi, Dirk, ich wollte … Stör ich gerade?“
„Ja, aber soll mir recht sein. Was gibt’s?“
„Nicht viel, das heißt … Hättest du vielleicht mal Zeit, dich mit mir zu treffen? Auf einen Kaffee oder so?“
Dirk zog beide Augenbrauen hoch, auch wenn Kai das nicht sehen konnte.
„Was genau willst du?“
„Naja, ich habe in letzter Zeit nachgedacht und … Ach, verflucht, müssen wir das am Telefon machen?“
„Nein, müssen wir nicht“, sagte Dirk und lächel
Neuanfang
Ich saß in der U-Bahn, starrte auf mein eigenes Spiegelbild in der Fensterscheibe und fragte mich, ob man eine Veränderung sah. Ich meinte fast, dass da nichts zu sehen war, aber vielleicht lag das nur daran, dass die Scheibe so trüb war. Seufzend sah ich auf meine Hände. Sie waren ruhig, zitterten nicht mehr. Ich war geheilt.
Als ich schließlich an einer Haltestelle ausstieg, achtete ich eigentlich gar nicht darauf, wo ich hinging. Nach einigen Minuten fand ich mich trotzdem vor der richtigen Adresse wieder. Ein Mietshaus mit mehreren Wohnungen.
Eine kurze Zeit nachdem ich geklingelt hatte, öffnete sich mit einem Summen die Tür. Ich stieg durch ein kahles und weiß gestrichenes Treppenhaus hoch in den dritten Stock, wo in einem Türrahmen eine Frau mit langen, blonden Haaren stand.
„Hi, Sarah“, sagte ich leise.
„Hi, Eric“, sagte sie. Wir umarmten uns flüchtig, dann folgte ich ihr in die kleine Diele, von der aus es in Wohnzimmer, Küche, Badezimmer und Sarahs Schlafzimmer abging.
„Möchtest du etwas trinken?“, fragte Sarah, bevor sie merkte, was sie da sagte. „Also … du weißt schon, etwas …“
„Schon gut“, sagte ich lächelnd. „Ich trinke jetzt öfter Tee. Hast du grünen da?“
Sie nickte und zusammen gingen wir in die Küche, wo sie den Wasserkocher füllte und zwei Tassen aus einem Schrank holte, in die sie jeweils einen Teebeutel legte.
„Wie geht es Kira?“, fragte ich.
„Oh, gut. Sie wohnt jetzt hier in der Nähe. Wir wollen bald zusammenziehen, in eine größere Wohnung.“
„Das ist schön.“
Sarah erwiderte nichts, nickte aber lächelnd.
„Und wie geht es …“, begann ich, verstummte aber wieder.
„Mama und Papa?“, fragte Sarah.
Ich nickte.
„Gut, denke ich … Sie sind ... darüber hinweg, würde ich sagen.“
Ich biss mir auf die Lippe.
„Hey, du konntest nicht wirklich etwas dafür“, sagte Sarah rasch. „Du warst ja in gewisser Weise krank.“
Ich erwiderte nichts und so trat eine peinliche Stille ein, in der wir nur das Kochen des Wassers hörten. Schließlich nahm Sarah den Kocher und goss Wasser in beide Tassen, bevor sie mir eine reichte. „Musst ihn noch kurz ziehen lassen.“
„Ja, ich weiß“, erwiderte ich mit nur teilweise gespielter Genervtheit.
Sie lächelte nur. „Manche Dinge ändern sich nie.“
„Umso besser, dass es wenigstens einige tun“, sagte ich. „Ich habe jetzt auch einen Job, weißt du?“
„Oh, schön zu hören. Was denn?“
„In einem Supermarkt. Du weißt schon, Kasse, Regale einräumen, was halt alles so anfällt. Wenn das nächste Semester anfängt, will ich hier an der Uni studieren.“
„Hast du denn auch schon eine Wohnung?“
„Ja. Bisschen weiter weg von hier, aber recht nahe an meiner Arbeit und der Uni.“
„Was willst du studieren?“
„Biologie.“
„Du warst gut darin.“
„Danke.“
Wieder peinliche Stille, die Sarah schließlich brach: „Du solltest wirklich mit unseren Eltern reden. Ich meine, sie werden schon nicht … Sie haben immerhin deine Therapie …“
„Sie haben mich nicht einmal besucht. Wenn sie mich nicht sehen wollen, dann will ich auch ni
Neuanfang
Yumi räumte die letzten Kartons in eine Ecke und ließ sich seufzend auf einen Stuhl fallen, bevor sie sich etwas Schweiß von der Stirn wischte, der mehr den für gewöhnlich hohen Temperaturen dieser Region als einer wirklich großen körperlichen Anstrengung zu verdanken war. Sie hatte zwar ihre Sachen alle in die Schränke und Regale geräumt, aber viel war es ja doch nicht gewesen, was sie dabeigehabt hatte. Das meiste würde sie sich wohl erst nach und nach kaufen.
Mit einem leisen Fiepen sprang Fratzi ihr auf den Schoß und schmiegte sich ein wenig an sie. Sie lächelte und strich dem kleinen Pokémon durch sein violettes Fell.
„Wir sind zu Hause, Fratzi“, flüsterte sie, auch wenn es seltsam war, dass sie diesen Ort bereits ihr Zuhause nannte. Nichtsdestoweniger aber würde sie wohl erst einmal hierbleiben – vielleicht irgendwann ein bisschen reisen, vielleicht irgendwann ein bisschen was anderes sehen, aber vorerst war es besser, sich hier einzuleben. Und ruhig zu bleiben.
Yumi trat mit Fratzi im Arm auf die Terrasse des kleinen Hauses. Die Sonne ging bereits unter und tauchte dabei Meer und Himmel in ein leuchtendes Rot. Es war ein wunderschöner Anblick.
Yumi setzte sich in einen Schaukelstuhl, den sie früher am Tag auf die Terrasse gestellt hatte. Irgendwie konnte sie es immer noch nicht so ganz fassen, dass sie jetzt hier war. Und sie fühlte sich ein wenig schuldig – aber wirklich nur ein ganz klein wenig. Das Geld hatte schließlich niemandem rechtmäßig gehört, und hätte sie es nicht genommen, hätte es wohl einer ihrer früheren Kameraden getan, als die gesamte Organisation zusammengebrochen war.
Warum also hatte sie nicht die Chance ergreifen sollen, wo es doch bedeutete, sich anderswo ein neues Leben aufzubauen? Ein Leben, das frei von Sorgen, aber auch frei von jeglichen weiteren Schandtaten war.
Vielleicht waren ihre kleinen Schuldgefühle auch mehr Letzterem geschuldet, dachte Yumi. Sie hatte Trainer bedroht, Pokémon gestohlen und sie dann auch verkauft. Und Fratzi war dabei ihr Gehilfe gewesen – wie auch die anderen Teammitglieder und ihre Pokémon. Zahlenmäßige Überlegenheit war es gewesen, die immer die mangelnde Stärke der Pokémon ausgeglichen hatte.
„Es tut mir leid, Fratzi“, sagte Yumi. Sie merkte, dass ihre Augen ein wenig feucht waren. „Ich habe dich für all diese schrecklichen Dinge benutzt.“
Wie um sie zu trösten, schmiegte sich das Rattfratz etwas enger an sie. Yumi musste lächeln, auch wenn es sie ein wenig traurig machte. Dieses kleine Wesen hatte sie nie hinterfragt und wahrscheinlich auch nie etwas Schlechtes von ihr gedacht. Aber das machte es natürlich nicht besser, eher im Gegenteil. Vielleicht war es daher in Wirklichkeit Fratzi, das diesen Neuanfang verdient hatte.
Yumi hob das kleine Pokémon vor sich in die Höhe, sodass sie ihm in die Augen sehen konnte. Fratzi erwiderte ihren Blick ein wenig verdutzt. Irgendwie fühlte sie sich bei diesem niedlichen Anblick ein wenig besser.
„Weißt du, dass deine Artgenossen hier ganz anders aussehen?“, fragte sie.
Fratzi sah sie nur groß an und erwiderte nichts, auch wenn Yumi sich nicht sicher war, wie eine Antwort überhaupt hätte aussehen können.
Sie nahm das kleine Pokémon wieder auf ihren Schoß und strich ihm durchs Fell. „Bestimmt sehen wir irgendwann demnächst ein paar, dann kannst du das selbst feststellen."
Fratzi piepste leise, als wollte es zustimmen. Gemeinsam sahen sie in den Sonnenuntergang, umgeben von der warmen Luft, die nur durch angenehm kühle Meeresbrisen durchbrochen wurde. Nach einiger Zeit war Fratzi eingeschlafen. Yumi hob ihr Pokémon behutsam hoch und trug es wieder in die Wohnung. In Ihrem Schlafzimmer angekommen legte sie es neben ihrem Bett in ein Körbchen, bevor sie sich selbst in die weichen Laken fallen ließ. Auf eine seltsame Art war sie zufrieden, sie war glücklich.
Ja, dachte sie lächelnd, hier möchte ich bleiben. Wenige Augenblicke später war auch sie in einen ruhigen und tiefen Schlaf gefallen.
Die Sonne verglüht riesig und rot hinter den schwarzen Silhouetten der alten, knorrigen Bäume, deren lange Finger bis zu den Fensterscheiben des Gebäudes reichen. Das Licht hinter jedem einzelnen Fenster schreit stimmlos Einsamkeit in die Endgültigkeit der beginnenden Abenddämmerung.
Das neongrelle Oberlicht gibt ein mehrfaches Klicken von sich, bevor es flackernd erlischt und den Raum dem schwachen Schein der winzigen Nachttischlampe überlässt. Selbst in diesem wärmeren Licht erscheint die Wandfarbe noch zu kalt, die Fliesen zu glatt, der Raum zu riesig für das kleine Mädchen, das beinahe reglos unter dicken, weißen Decken liegt. Das schwarte Haar umrahmt ihr schmales Gesicht, zeichnet feine Linien auf helle Haut. Ihre Augen sind geschlossen und von dunklen Augenringen geprägt.
Finger krallen sich so fest um das kühle Gerüst des Bettes, dass sie totenbleich wirken. Stille liegt wie zäher Nebel auf dem Raum, bis ein einziger pfeifender, dich aufbäumender Atemzug sie durchbricht. Hände schnellen ruckartig zu den schmalen Handgelenken, zeichnen zärtlich Kreise auf durchscheinende Adern. Aber selbst Worte, kaum mehr als Geflüster und so warm wie eine Umarmung, Vermögen nicht mehr das zurückzuholen, was längst verloren ist.
Unnachgiebig und erbarmungslos bohrt sich das raue Gestein in zarte, kleine Fußsohlen. Nebel zieht wie Wolkenschlieren dicht über den zerklüfteten Felsen, formt ihn zu gierigen Zähnen. Der Wind zerrt rücksichtslos am ausgeblichenen Stoff eines viel zu großen Nachthemds. Zitternd schlingt das Mädchen die Arme um sich selbst. Schmerz pocht von ihren bloßen Fußsohlen bis in ihr Innerstes, stetig pulsierend. Sie will fort von hier, überall sein nur nicht hier – allein, klein, gebrochen.
Sturmgepeitscht treiben schwere Wolken kreisend über den Himmel, reißen auseinander ohne auch nur einen Lichtstrahl durchzulassen. Das Mädchen kauert sich tief über den steinigen Boden, aber es gibt kein Entkommen vor dem Wind, der an ihr zerrt und ihre langen Haare zu schwarzen Peitschen formt. Ein Geräusch am Rande ihrer Wahrnehmung lenkt ihren Blick nach oben. Der grauschwarze Himmel über ihr färbt sich noch dunkler, als würde sich jeder Regentropfen der Welt dort oben versammeln. Und dann, wie aus dem Nichts, wird aus einem einzigen, winzigen Geräusch dutzende, hunderte, tausende auf einmal.
Ihr Körper ist so starr vor Schreck, dass sie nicht einmal mehr zittert, als der Himmel seine Tore öffnet und rasend schnell auf sie zu kommt. Schwarz löst sich aus den schweren Wolken, schnellt unausweichlich wie ein Pfeilhagel auf die am Boden kauernde Gestalt. Und dann
gibt es nur noch
tausend Stimmen
ein rauer Schrei,
erstickt in beißender Verzweiflung.
Das Mädchen reißt die Arme hoch, ein vergeblicher Versuch, sich selbst zu schützen. Alles, was ihre angsterfüllten Augen sehen ist dunkles, ölig glänzendes… Gefieder? Schneller, als ihr Verstand begreifen kann, löst sich ein Vogelkörper aus der Menge, so schnell, dass er droht sie zu verschlingen. Das Mädchen wimmert, krümmt sich, ihre Gedanken nichts als spitze Schnäbel und messerscharfe Klauen, die sich in ihre dünne Haut graben.
Doch anstelle des Schmerzes, den sie erwartet hat, ist es Leere, die sie erfüllt; eine alles umfassende, wohltuende Leere, die jegliche Angst aus ihrem kleinen Körper drängt. Der nächste Vogel streift sie so sanft, dass ihr ein zittriges Seufzen entfährt, und mit ihm der Schmerz, den sie in sich trägt, seit sie denken kann.
Voller Unglauben richtet sie sich langsam auf, strauchelt, dreht sich langsam um die eigene Achse, den Mund zu einem winzigen, staunenden o geformt. Nie hat sie etwas Schöneres gesehen als diese Vögel, die sie umkreisen, streifen, sie in einer vollkommenen Choreografie wie ein scheues Wesen in ihrer Mitte halten. Im Licht ihrer vergessenen Angst schimmert jedes Tier in einer anderen Schattierung von Blau und Grün. Lachend streckt das Mädchen seine kleinen Hände nach ihnen aus und noch im selben Moment ziehen sich die Kreise enger, schützender um sie. Wann hat sie sich jemals so leicht, so schwerelos gefühlt? Frei von den Geißeln ihres des Schmerzes und der Angst, der Dunkelheit, die sie begleitet hat.
Vollkommen eins mit sich schließt sie die Augen, gibt sich dem Singen von hundert Flügelpaaren und den Liebkosungen der weichen Vogelfedern hin. Immer enger, immer näher umkreisen sie sie, bis ihr schwarzer Schopf mit glänzendem Gefieder verschmolzen ist. Ein letztes Mal streifen die Vögel das Mädchen, machen sie mit jedem Flügelschlag mehr zu einer von ihnen. Schwarz vereint sich mit dem Glanz von Saphir und Smaragd und dem violetten Schimmer der Morgendämmerung, und nur einen Augenblick später streben tausend Seelen wie ein Wesen der Sonne entgegen.
Jedem Moment wohnt ein Anfang inne
Tick. Tack. Tick. Tack. Tick. Es war doch immer dasselbe. Tack. Sekunde um Sekunde verstrich, ohne dass sich etwas veränderte. Tick. Das Geschirr war nicht gespült. Tack. Der Müll stapelte sich im Eingangsbereich. Tick. Die Schmutzwäsche wanderte nicht von selbst in die Waschmaschine. Tack. Die Fenster waren nicht geputzt, das Zimmer nicht aufgeräumt. Tack, tack. Überrascht blickte er auf und sah zu der altmodischen Wanduhr. Tack, tack. Der Sekundenzeiger schien einen aussichtslosen Kampf zu kämpfen. Er zuckte vor und zurück und kam doch nicht vorwärts. Tack, tack, tack.
Wie hypnotisiert starrte er den Sekundenzeiger an. Bewusst ignorierte er den Stapel, der ihn wütend anstarrte. Immer und immer wieder hatte er sich vorgenommen, ihn abzuarbeiten. Wieder und wieder sich eingeredet, es sei genau die richtige Zeit dazu. Wieder und wieder Ausreden gefunden, es nicht zu tun. Ausreden, spaßigere Dinge zu tun. Spaßigere Dinge, die seine ganze Aufmerksamkeit von dem Stapel ablenkten. Der Stapel, der seit seinem Einzug in die kleine Wohnung schon wartete.
Tack, tack. Ein ewiger Moment, dachte er. Er könnte aufstehen und das Problem beheben. Oder einfach sitzen bleiben. Nach ein paar weiteren Sekunden oder Minuten, die nicht verstrichen, wandte er den Blick ab und sah aus dem staubigen Fenster. Keine Wolken zogen am Himmel vorüber. Vielleicht war es ein schöner Tag da draußen. Sein Nacken kribbelte unangenehm, als spürte er den Stapel in seinem Rücken. Also stand er auf und verließ das Zimmer. Verließ seine Wohnung.
Tack, tack hallte es in seinem Kopf nach. Plötzlich fiel ihm auf, wie viele Uhren es gab. Parkuhren, Bahnhofsuhren, Kirchturmuhren, Uhren in Geschäften und Apotheken, in Banken und Wartezimmern, Armbanduhren und natürlich zeigte jedes Handy, jedes Smartphone und jedes Tablet und jeder Laptop die Zeit an. Hier draußen lief die Zeit ungehindert weiter. Viel zu schnell, wie er fand. Jede Uhr ließ ihn schneller laufen. Ein Tick-Tack, das sein Herz rasen ließ. Nirgendwo konnte er hingehen, ohne dass eine Uhr dort war.
Rastlos wanderte er durch die Stadt, von Uhr zu Uhr, bis es ihm zu viel wurde und er sich hastig wieder in seiner Wohnung verkroch. Tack, tack. Eine gähnende Leere breitete sich in ihm aus. Tack. Er ließ seine dreckigen Schuhe achtlos im Flur zurück. Tack. Seine Jacke blieb unweit davon auf dem Boden liegen. Tack. Er saß wieder in seinem Zimmer. Tack, tack. Er starrte auf den flimmernden Bildschirm. Tack, tack. Der Stapel wirkte unüberwindbar. Nichts, was man je würde schaffen können.
Aus einer seltsamen Regung heraus nahm er den Controller in die Hand. Er war kalt wie seine Hände. Fühlte sich hart und glatt an. Tack. Sein Daumen lag auf dem Startknopf. Seine Augen hatten sich daran gewöhnt, den Namen wieder und wieder zu lesen. Derselbe Name, der sich irgendwo da draußen auf einem Stein fand. Wie auch die letzten Jahre schon. Falls der Stein noch existierte. Das Zeichen einer Verbindung.
Für mehrere Tacks rührte er sich nicht. Tack, Tick. Es fuhr wie ein Blitzschlag durch ihn. Seine Finger schienen sich von selbst zu bewegen. Sie erinnerten sich an die geheime Tastenkombination, die alles auslöschte, was je existiert hatte. Wieder erschien eine kleine Uhr. Ihr Zeiger drehte schnelle Kreise und ließ den Namen für immer verschwinden. Tack, Tick. Es klang, als hätte die Uhr mit der falschen Sekunde angefangen.
Tack. Er stand auf und hängte seine Jacke auf. Tick. Die Schuhe wanderten in das Schuhregal. Tack, tick, tack, tick. Licht schien in die Wohnung durch ein sauberes Fenster. Die Schmutzwäsche seufzte erleichtert, als sie endlich den Weg in die Waschmaschine fand. Tack. Er nahm die Bilder und Briefe und stopfte sie in den Müll. Tick. Der Müll landete vor der Tür. Tack – Er nahm die Uhr von der Wand und schloss sie in der kleinen Besenkammer ein, begraben unter alten Decken.
Stille. Mit einem Lächeln atmete er die Luft in seiner Wohnung ein. Ruhe überkam ihn. Eine heitere Ruhe. Als er in sein Zimmer zurückkehrte, spürte er keine Blicke mehr. Er nahm den Controller wieder in die Hand und startete das Spiel. Überrascht musste er feststellen, dass es ganz anders war als in seiner Erinnerung. Es fühlte sich an, als spielte er es zum ersten Mal. Stille. Der Moment war vorbei. Und noch einer. Noch einer. Stille.
Viel Spaß beim Voten!