Das Siegel der Nebel - Die unvollendete Geschichte Lillis

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  • Mit 13 überkam mich der Wunsch Autorin zu werden und ich beschloss auch schon heimlich mein erstes Bauch zu schreiben. Nachts, unter meiner Bettdecke füllte ich zwei Schulhefte mit dem Rohentwurf dieser Geschichte. Und ich hatte sie fast vollständig in den Computer getippt, als sich die Festplatte verabschiedete und mit ihr die Geschichte. Ich begann ein weiteres mal zu schreiben, doch ich bekam sie nicht fertig. Ich war nun schon älter und hatte festgestellt dass die Geschichte eh zu schlecht war um je als Buch raus zu kommen.
    Doch euch will ich sie nicht vorenthalten. Und Das Ende könnt ihr euch dann ja selber ausdenken, ich weiß wie es ausgeht, aber ich denke in meinen verkritzelten Schulheften ist dieses Ende gut aufgehoben, bis ich die Geschichte vielleicht doch noch einmal umschreibe und eventuell auch vollende.
    Viel Spaß beim Lesen!



    Das Siegel der Nebel
    Von Maria D.


    Schwüle Sommerluft drückte durch das offene Fenster in Lillis Zimmer. Unruhig wälzte sich das Mädchen in ihrem Bett herum, denn obwohl es schon auf Mitternacht zuging, konnte sie nicht schlafen. Durch das Fenster tönte Musik und fröhliche Stimmen zu ihr herauf, im Gasthof ihres Vaters wurde heute eine Hochzeit gefeiert. Lilli stand auf und trat an das Fenster, sie beugte sich hinaus und sah auf die tanzenden Gäste hinunter. Dann blickte sie auf und sah die Berge an über denen der Vollmond wie eine große, helle Kugel stand. Dabei suchten sie wieder die Gedanken heim, die sie schon den ganzen Abend zu verdrängen versuchte. Es waren Gedanken an die bevorstehende Mathearbeit, für die sie, obwohl es in Mathe bei ihr bereits lichterloh brannte, kaum gelernt hatte. Lilli war lieber mit ihrer besten Freundin Melanie ins örtliche Freibad gegangen anstatt bei 30° im Schatten Mathe zu büffeln. So hatte sie irgendwann festgestellt das es nur noch ein tag bis zur Schulaufgabe war und konnte gerade noch das nötigste lernen. Traurig seufzte Lilli, wenn sie die Schulaufgabe vergeigte (was in anbetracht der Umstände äußerst wahrscheinlich war), würde sie durchfallen. Sie konnte sich schon das traurige Gesicht ihres Vaters vorstellen wenn der blaue Brief ankam und in Gedanken hörte sie bereits den ewigen Monolog ihrer Stiefmutter Kirstin. Lillis Vater hatte Kirstin kennen gelernt, ungefähr ein Jahr nachdem ihre Mutter spurlos verschwunden war und nur einen Abschiedsbrief hinterlassen hatte. Damals war Lilli drei Jahre alt gewesen, heute war sie dreizehn und der Brief lag immer noch in ihrer Nachtisch-Schublade. Immer wenn sie traurig war las Lilli ihn:


    Lieber Johann, Liebe Lilli (wenn du alt genug bist um das hier zu lesen),
    ich musste euch leider verlassen. Nicht das ihr das jetzt falsch interpretiert, tot bin ich nicht. Aber ich musste einfach wieder zurück. Johann, du hast es heute Nacht vergessen aber ich bin wieder in meiner Heimat, an dem Ort wo wir uns trafen. Finden könnt ihr mich nicht und ich werde euer Andenken für immer in meinem Herzen tragen. Es tut mir so unendlich Leid! Doch hier würde ich zugrunde gehen, jeder Tag ist hier eine neue Qual für mich. Nun bin ich wieder im TdN.
    Lebt wohl,
    Fiana


    Jahrelang hatte Lilli über die Bedeutung des Briefes gerätselt, vor allem über das „nun bin ich wieder im TdN“, was zum Geier sollte das Bedeuten und wo kam der komische Name ihrer Mutter her? Alles Fragen auf die Lilli wohl nie eine Antwort finden würde. Jetzt gab es Kirstin, ihr Vater hatte sich mit dem verschwinden von ihrer Mutter abgefunden und wieder geheiratet. Lilli hatte ja wirklich nichts gegen Kirstin, aber sie war nun mal nicht ihre Mutter, auch wenn diese so tat und sie von Zeit zu Zeit sogar gebeten hatte „Mama“ zu ihr zu sagen. Wenn es nur das wäre, aber Kirstin schleimte sich nicht nur ein, sie hatte auch noch diesen „Perfect Family- Tick“ alles musste wie in einer dieser Fernsehfamilien laufen, als ob das möglich wäre! Wenn die Mutter abhaut und ein 3-jähriges Kind und ihren Ehemann einfach zurücklässt, dann kann doch keine perfekte Familie mehr draus werden! Aber das schien ihrem, von Liebe geblendetem, Vater nicht aufzufallen, und drauf ansprechen wollte Lilli ihn auch wieder nicht, immerhin war er mit Kirstin endlich wieder glücklich. In diesem Moment hörte Lilli Schritte auf dem Gang und hechtete so schell es ging in ihr Bett zurück. Leider war das Bett schon älter und der Lattenrost schon etwas marode, was bisher allerdings nicht aufgefallen war. Jetzt knackte er verräterisch und kaum eine Sekunde später spürte Lilli wie die Matratze nachgab. In diesem Moment öffnete sich die Tür und Kirstin schaute in ihrer Kellneruniform herein. Lilli versuchte ihren Körper so gut es ging anzuspannen, damit Kirstin den kaputten Lattenrost nicht bemerkte. Tatsächlich bemerkte sie es nicht und ging wieder, Lilli lies sich erschöpft sinken und fand sich sogleich in einer äußerst unbequemen Lage wieder, da wohl der gesamte Mittelteil des Lattenrostes heraus gebrochen war. „Na super, das kann ja eine bequeme Nacht werden!“, flüsterte sie mit vor Sarkasmus triefender Stimme.
    Die Nacht wurde tatsächlich „bequem“ und lang, denn Lilli konnte wohl bis 3 Uhr Morgens nicht einschlafen und als es ihr dann doch gelungen war verirrte sich im Morgengrauen eine Amsel in ihr Zimmer die sich nahezu heißer schrie. Nach einer qualvollen halben Stunde fand der Vogel dann endlich wieder hinaus, doch an Schlaf war für Lilli nicht mehr zu denken. Also nahm sie sich ihr Mathebuch und blätterte noch ein bisschen darin herum, doch die Zahlen gaben vor ihren Augen absolut keinen Sinn und sie hoffte dass sich dies bis zur Schulaufgabe ändern würde.
    Um sechs stand Lilli dann auf und wankte die Treppe hinunter und knallte gegen die verschlossene Küchentür. Grummelnd öffnete sie die Tür und machte sich einen Kakao. Kaum saß sie mit ihrem Becher da, als ihr Vater mit der Zeitung herein kam und es sich neben ihr am Tisch gemütlich machte. Auch er war noch ziemlich müde: „Morgen Maus, gut geschlafen?“ Zerknirscht murmelte sie: „Geschlafen? Was bedeutet dass noch mal? Ich lag nur auf einem kaputten Lattenrost rum und hörte so einer dämlichen Amsel zu.“ Darauf sagte ihr Vater nichts mehr, er war über seiner Zeitung eingeschlafen. Gähnend ging Lilli wieder hoch ins Bad und blickte in den Spiegel. Ihr Blick wurde erwidert, von einem Monster. Das Monster hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Lilli, aber auch nur eine gewisse. Die Feuerroten Haare standen in alle Richtungen und umrahmten ein Schneeweißes Gesicht, in dem die Blutunterlaufenen, verquollenen Augen ziemlich hervortraten. Na toll, dachte sich Lilli, mit den Augenringen lassen sie mich bestimmt noch nicht mal in den Bus.
    Als sie dann aus dem Haus ging hing der Morgennebel noch über den Wiesen und eine kleine Katze huschte über den Dorfplatz. Im Halbschlaf ging Lilli zur Bushaltestelle und lehnte sich müde gegen das Schild mit dem Fahrplan. Beinahe wäre sie schon eingedöst, doch zum Glück kam der Bus gerade noch rechtzeitig. Sie ging nach hinten und fiel wie ein Sack Kartoffeln auf den Platz im hinteren Teil des Busses den Melanie ihr wie immer frei gehalten hatte. Erstaunt sah diese sie an: „Sag mal, was ist denn mit dir los? Sag jetzt nicht dass du die ganze Nacht über Mathe gegrübelt hast?!“ Lilli sagte es nicht, sie konnte es jetzt auch nicht mehr sagen, denn kaum dass sie saß war sie eingeschlafen.
    „Lilli! Lilli! Wach jetzt gefälligst auf! Wir müssen aussteigen!“ Unsanft rüttelte Melanie an Lillis Schultern, der Bus stand nun schon seit zwei Minuten an der Schule, und der Busfahrer wartete ungeduldig darauf, dass Lilli endlich aufwachte und ausstieg. Verschlafen öffnete sie die Augen und torkelte auf die Bustür zu. Melanie hob Lillis Schultasche hoch, verdrehte die Augen und folgte ihrer, im Moment leicht unzurechnungsfähigen, Freundin.
    Im Klassenzimmer konnte Lilli endlich halbwegs die Augen offen halten und wunderte sich erstmal warum sie als einzige ein Mathebuch auf ihrer Bank liegen hatte, bis her Mullmann das Klassenzimmer betrat und lauthals verkündete: „Guten Morgen liebe Klasse! Hoffentlich habt ihr alle gut gelernt. Ihr werdet es nötig haben!“ Solche demotivierenden Ankündigungen waren bei Herrn Mullmann schon Normalität geworden, doch Lilli durchfuhr es wie ein Blitz: Die Schulaufgabe! Vor lauter Müdigkeit hatte sie es schon wieder total vergessen, das konnte ja heiter werden!
    Herr Mullmann teilte die Blätter aus und Melanie beugte sich zu Lilli und flüsterte: „ Keine Sorge, wenn du was nicht weißt dann schau einfach zu mir hinüber.“ Lilli nickte ohne auch nur ein Wort verstanden zu haben, sie stand völlig unter Schock und als Herr Mullmann verkündete, das die Schulaufgabe nun begann und sie 45 Minuten Zeit hätten starrte Lilli nur auf ihr Blatt und die Zahlen verschwammen vor ihren Augen. Sie las die Aufgabenstellungen immer wieder durch, doch die Wörter gaben keinen Sinn und was bedeutete noch mal das kleine Kreuz zwischen zwei Zahlen? War das ein Geteilt- Zeichen oder ein Minus? Etwas mit P musste es gewesen sein, doch Lilli hatte ein völliges Blackout. Melanie deutete immer wieder auf ihr eigenes Blatt und versuchte Lilli zu zeigen was sie schreiben musste, tippte sogar die Lösungen der einzelnen Aufgaben auf ihrem Taschenrechner ab und schob ihn Lilli zu. Alles zwecklos. Irgendwann hielt es Melanie nicht mehr aus und griff nach Lillis Blatt, um ihr immerhin die Ansätze zu schreiben. Bis plötzlich Herr Mullmann vor ihr stand und sie bedeutungsvoll ansah. Erst versuchte Melanie noch ihn mit einem Engelslächeln und einem „Ist doch nur praktische Nachhilfe“ die Situation zu retten, aber bei Herrn Mullmann hätte sie sich das sparen können, denn er lächelte ebenso und sagte: „Ist doch nur eine praktische sechs.“ Dann nahm er die Blätter und ging wieder nach vorne ans Pult. Lilli hatte die ganze Zeit teilnahmslos daneben gesessen, doch jetzt begann sie zu schluchzen. Melanie nahm sie in den Arm und wollte sie trösten, doch Lilli war am Boden zerstört. Alles war verloren. Dann gongte es und das Schweigen in der Klasse war gebrochen, sofort begannen die Jungs Lilli nachzuahmen und jammerten gekünstelt herum: „Oh nein! Jetzt habe ich doch glatt eine sechs bekommen! Buhuu! Ich renne sofort zu Mami und heule mich bei ihr aus!“ Das war zu viel. Lilli begann hemmungslos zu weinen und konnte sich gar nicht mehr beruhigen, dass die Jungs jetzt auch noch auf die Tatsache losgingen, dass Lilli keine Mutter mehr hatte, war zu viel. Erbost sprang Melanie auf und ging mutig auf Moritz, den Anführer der Jungs zu, sagte betont freundlich: „Du hast es so voll nötig andere runter zu machen.“ Und dann verpasste sie ihm eine schallende Ohrfeige. Moritz war so überrascht dass er kein Wort sagte. Er tastete bloß nach seiner Wange, auf der sich jetzt ein roter Handabdruck befand. In diesem Moment kam die Deutschlehrerin Frau Millbrand herein und der kleine Freddi lief sofort zu ihr hin und rief: „Die Melanie hat den Moritz geschlagen, die Melanie hat den Moritz geschlagen!“ Melanie schob sich schnell wieder auf ihren Platz, doch Frau Millbrand funkelte sie schon drohend an und verkündete dann: „Tja Melanie, dann haben wir wohl am Freitag ein Date zum Nachsitzen.“ Verärgert grummelte Melanie vor sich hin, doch Lilli war ihr dankbar.
    Als Lilli nach Hause kam sah sie schon von weitem den großen Touri-Bus mit einem Frankfurter Kennzeichen. Was das bedeutete wusste sie bereits: Eine volle Gaststube, herumhetzende Kellner und Spiegeleier zum Mittagessen. Lilli schlich sich durch die Hintertür in die große Küche und rempelte prompt einen der Köche an. Dieser schubste sie ärgerlich beiseite und Lilli verdrückte sich schnellstmöglich. In der kleinen Privatküche ihres Vaters machte sie sich ein paar verbrannte Spiegeleier.
    Sie wollte gerade das dreckige Geschirr in den Geschirrspüler stecken als Kirstin hereinkam. Sie war ziemlich aus der Puste, aber offensichtlich bester Laune. Sie lies sich auf einen Küchenstuhl plumpsen und fragte Lilli: „Und, wie lief Mathe?“ Lilli schluckte, was sollte sie sagen, fieberhaft suchte ihr Gehirn eine Ausflucht „:Ging schon irgendwie. Ähhh… Aber es hat mich ganz schön geschlaucht, ich glaube ich leg mich hin.“ Das war schwach. Aber Kirstin nahm diese offensichtliche Lüge mit einem Nicken hin und Lilli trollte sich in ihr Zimmer. Sie legte sich aufs Bett und nahm dass Buch zur Hand, welches Aufgeschlagen auf dem Nachtkästchen auf sie wartete. Es handelte von einem Mädchen das von zu Hause weglief. Warum hatte Lilli nicht ganz begriffen, vermutlich einfach damit der Autor eine Geschichte hatte. Sie war gerade in die Geschichte eingetaucht als unten das Telefon läutete. Sie hörte Kirstin rennen, kurz darauf hörte sie wie sie sich am Telefon meldete und dann rief: „Lilli! Telefon!“ Mit einem dumpfen Aufprall rollte sich Lilli von ihrem Bett und ging nach unten. „Hi Mela. Was gibt’s?“, nuschelte sie in den Hörer, Kirstin stand wartend neben ihr. Wenn Lilli jetzt zu wach reagierte würde Kirstin den Braten riechen. Melanie hingegen klang mehr als aufgeregt: „Pass auf, dass wirst du jetzt vielleicht nicht glauben, aber es ist wirklich passiert! Also, schau ich geh so nach Hause und- Lilli? Hörst du noch zu? Na egal, ich geh jedenfalls so nach Hause und plötzlich hör ich wie hinter mir jemand meinen Namen ruft! So, und jetzt rate mal! ... Jonas! Er hat mir gesagt dass er das was ich heute in der Schule zu Moritz gesagt habe und so total cool fand! Ist dass zu fassen?
    Lilli? He kleines, was ist denn los?“ Lilli hatte am Telefon wieder zu schluchzen begonnen, nicht wegen Kirstin, die war längst Richtung Gaststube davon gewuselt, über ihr brach gerade alles herein.
    Es hatte auch nicht damit zu tun dass Melanie offensichtlich nun das Herz ihres Schwarms gewonnen hatte, zumindest nicht direkt. Es war einfach alles. Doch zum Glück war Melanie feinfühlig genug um sofort aufs Fahrrad zu steigen und zu Lilli zu fahren die sich inzwischen schluchzend auf der untersten Treppenstufe zusammengekauert hatte. Kaum war Melanie über die Türschwelle gestolpert schon saß sie neben Lilli und nahm sie in den Arm. Sie musste gar nicht erst fragen was denn fehlte, als beste Freundin wusste sie es einfach. Doch sie wusste auch dass Lilli, wenn man sie nicht schleunigst ablenkte, sich den ganzen Nachmittag in ihrem Kummer verkriechen würde. Trotz der, von Schluchzern unterbrochenen, Proteste zerrte sie die Freundin ins Wohnzimmer, packte sie mit einem knuffigem Kissen auf die Couch und legte Lillis Lieblingsfilm, Fluch der Karibik 2, ein. Und tatsächlich: nach dem ersten viertel stellte Lilli ihren kleinen Wasserfall ab und als sie an ihre Lieblingsstelle kamen wo die Piraten in dem runden Käfig den Hügel hinunter rannten und rollten vergaß sie sogar das Schluchzen. Und Melanie beglückwünschte sich selbst zu ihrer tollen, psychologisch ausgefeilten Aktion.
    Eine Woche später gab Herr Mullmann die Schulaufgaben zurück. Melanie und Lilli mussten gar nicht erst auf ihre Blätter sehen, es war ja klar. Trotzdem begann Lilli wieder zu weinen, sie hatte in der letzten Zeit wirklich nah am Wasser gebaut. Herr Mullmann nahm sich noch für ein paar tröstende Worte Zeit, dann ging er weiter. Toll, dachte sich Melanie, ein bisschen weniger Mitgefühl hätte es auch getan. Doch nun war endgültig nichts mehr zu drehen denn heute war Notenschluss. Während des restlichen Schultages starrte Lilli apathisch aus dem Fenster und auch Melanies Angebot sie nach Hause zu begleiten und es zusammen ihrem Vater zu sagen lehnte sie ab. Lilli hatte keine Ahnung wie sie es machen sollte, doch sie musste unbedingt ihrem Vater die sechs verheimlichen. Toll. Als sie aus dem Busch ausstieg beschloss Lilli sich erst mal in ihr Zimmer zu schleichen. Dort konnte sie sich dann erst mal hinsetzen und in Ruhe Nachdenken. Gesagt getan. Auf Zehenspitzen lief sie die Treppe hoch und in ihr Zimmer. Dann setzte sie sich an ihren Schreibtisch, wo sie immer am besten denken konnte und versuchte erst einmal durchzuschnaufen. Ihr blick fiel auf das Buch auf ihrem Nachttischchen, sie hatte es seit letzter Woche nicht mehr gelesen. Mehr zum Spaß überlegte sie wohin sie gehen würde um abzuhauen. Zu Melanie? Ne, ihre Eltern würden Lilli sofort nach Hause kutschieren. Verwandte? Nö, lebten alle in Österreich oder sonst wo. In diesem Moment fiel Lilli etwas auf was ihr schon viel früher hätte auffallen müssen: Sie kannte gar keine Verwandten ihrer Mutter. Ihre Großeltern gehörten zu ihrem Vater ebenso wie sämtliche Tanten, Onkel und so weiter. Wo aber waren die Verwandten ihrer Mutter? Vielleicht leben sie ja in einer Höhle im Wald, dachte Lilli ironisch. Und da fiel es ihr wieder ein: Sie hatte letzten Sommer mit Melanie eine Höhle im Wald entdeckt! Sie hatten schauen wollen ob es im Wald leckere Beeren gab und hinter einem Strauch wilder Johannisbeeren hatten sie den schmalen Felsspalt entdeckt der in eine geräumige Höhle führte, die von oben durch einen Spalt beleuchtet war! Das perfekte Versteck! Und jetzt reifte in Lilli ein kühner Plan: warum sollte sie nicht wirklich abhauen? Nur für einen Tag damit sich ihr Vater Sorgen machte, und wenn sie wieder kam wäre die sechs in Mathe und die Tatsache dass sie das Klassenziel nicht erreichen würde nur noch Nebensache! Ha! In diesem Moment war Lilli tatsächlich egoistisch und dumm genug um die Sache durchzuziehen. Entschlossen zog sie ihren Rucksack unter dem Bett hervor und Packte einen Warmen Pulli, Sonnenbrille, Käppi und ein Buch ein. Auf ihrem Schreibtisch hinterließ sie einen kurzen Brief für ihren Vater und Kirstin:


    Lieber Papa (und Kirstin),
    du hattest schon genug Kummer mit Mama, deswegen will ich dir nicht noch mehr davon bereiten. Leider war Mathe aber nicht ganz so toll. Deswegen bin ich weggelaufen, du brauchst dir keine Sorgen machen, vielleicht finde ich ja Mama.
    Ich hab dich super-mega-doll lieb,
    Lilli


    Diesen Brief lies sie zusammen mit ihrer Mathe Schulaufgabe auf ihrem Schreibtisch liegen.
    Auf Zehenspitzen schlich sie in den Keller und holte dort noch eine 1,5 Liter Flasche Wasser die sie auch in den Rucksack packte. Dann zog sie ihre Turnschuhe an und schlich nach draußen. So schnell sie konnte rannte sie vom Haus weg und wurde erst langsamer als sie aus dem Ort draußen war. Sie musste nur noch eine große Wiese überqueren und schon hatte sie den Waldrand erreicht. Von hier führte ein Forstweg ins innere des Waldes. In Gedanken ging sie den Weg zur Höhle noch einmal: Den Forstweg entlang, dann nach dem zweiten Hochsitz in den Trampelpfad links einbiegen. Der Pfad verlief bis zu einem dreistämmigen Baum, dort musste sie dann rechts, oder? Lilli war sich nun nicht mehr ganz sicher und so tief in ihrer Grübelei versunken dass sie den Baum erst bemerkte als sie mit ihrem Kopf dagegen stieß. Erschrocken taumelte sie zurück. Und schaute sich um, welche Richtung jetzt? Einige Krähen im Baum schienen sie auszulachen. „Ach seid doch still ihr dämlich Vögel!“, knurrte Lilli in Richtung Baumkrone woraufhin das Krächzen nur noch Lauter zu werden schien. Nachdenklich schaute Lilli nach rechts, dieser Weg wirkte eher wenig einladend. Der linke sah schon besser aus, nur welcher war der Richtige? Lilli entschied sich für links. Sie folgte mehr oder weniges einem Trampelpfad, zumindest sah er so aus wie einer oder war es einfach eine zufällige Lücke in den Büschen? Lilli merkte nicht dass sich hinter ihr die Büsche wieder schlossen und folgte dem Weg. Doch bald verwandelten sich die Büsche in Brombeersträucher die Lillis Beine zerkratzten und ihre Kleider zerrissen. „Oh verdammt! Wieso musste ich nur so eine dämliche Shorts anziehen? Hätte es eine Lange Hose nicht auch getan?“, brummelte Lilli vor sich hin während sie weiter lief. Dann tat sich vor ihr plötzlich eine Lichtung auf die von hohem Gras bewachsen war. Langsam wurde es Lilli etwas komisch, beim letzten Mal war da keine Lichtung gewesen. Na gut, dann war das halt der falsche Weg, dachte sich Lilli, ich geh halt dann einfach wieder zurück. Doch als Lilli sich umdrehte hatte sich der Pfad geschlossen. Sie wollte gerade in Panik geraten als eine äußerst starke Böe aufkam und nicht unweit des verschwundenen Pfades eine Schneise ins Unterholz fegte. „Was ist denn jetzt los, heute ist es doch gar nicht windig!“, rief Lilli erstaunt aus. Doch dann dachte sie sich dass sie, wenn sie dieser Schneise folgte wohl auch wieder zum Forstweg gelangen würde, und dann ab nach Hause, Lilli hielt das abhauen jetzt doch nicht mehr für so schlau. Vorsichtig ging Lilli durch die Schneise, denn links und rechts von ihr ragten Brenneseln und Brombeeren durchs Unterholz. Sie ging immer weiter, doch nach einer halben Stunde begriff sie langsam dass sie so wohl nicht mehr zum Hauptweg kommen würde. Ihr anfänglicher Verdacht war Tatsache geworden, sie hatte sich hoffnungslos verirrt. Flüsternd sprach Lilli sich Mut zu, wenn sie zurück ging würde sie nur wieder auf der Lichtung stehen und nicht weiter wissen, so konnte sie immerhin hoffen dass sie irgendwo raus kam, jeder Wald hatte doch auch ein Ende? Plötzlich hielt Lilli inne, gerade eben noch waren Vogelgesang und viele tierische Laute an ihr Ohr gedrungen, nun war es still, Mucksmäuschen still. An diesem windstillen Tag raschelten noch nicht mal die Blätter der Bäume. Moment, Blätter? Lilli sah sich verwirrt um, bis eben war sie doch noch durch einen Laubwald gegangen, nun waren nur noch Tannen um sie herum, auch das Unterholz war nahezu verschwunden, nur noch ein dicker Teppich aus Tannennadeln dämpfte ihre Schritte. Lilli sah zurück, müsste hinter ihr nicht noch der hellgrüne Laubwald sein oder zumindest sein Übergang in den schattigen, bräunlichen Nadelwald? Nein, auch hinter ihr standen Tannen, überall! Hektisch begann Lilli zurück zu laufen, doch der Nadelwald nahm kein Ende. Zu dumm dass sie noch nicht einmal daran gedacht hatte ihre Armbanduhr anzulegen, sie hatte keine Ahnung wie spät es bereits war. Sie sah nach oben doch die kahlen Stämme entfalteten dort dichte Äste so dass Lilli den Himmel nicht sehen konnte. Völlig entmutigt sank sie auf die Knie, was sollte sie nur machen? Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht, oder war sie so in Gedanken gewesen dass sie sich selbst so gnadenlos verfranst hatte? „Ok, ich darf jetzt nur nicht in Panik geraten. Ja, ich habe mich verirrt, aber das ist ja wohl kein Grund gleich aufzugeben, oder? Ich muss mich jetzt zusammenreißen und weitergehen, irgendwo wird schon mal ein Wanderweg mit Wegweisern oder so was kommen. Hoffe ich.“ Nachdem Lilli sich selbst Mut zugesprochen hatte stemmte sie sich hoch und ging zügig weiter. Zwischen den Tannen war es ein wenig dämmrig, aber die Sonne konnte noch nicht untergegangen sein, das hätte Lilli doch bemerkt? Dann trat Lilli plötzlich auf eine Lichtung. Überrascht sah sie sich um, sie hatte gar nicht bewerkt dass sie den Wald verlassen hatte. Die Lichtung war klein und schattig, der Boden war von Moos überzogen. Immerhin, als Lilli nun nach oben sah war der Himmel noch hellblau also konnte es noch nicht allzu spät sein. Dann, ganz plötzlich waberten Nebelschwaden zwischen den Tannen hervor. Erst war es nur ein kleiner Dunsthauch, doch der Wald schien immer mehr Nebel auszuspucken bis Lilli schließlich kaum noch etwas erkennen konnte. Dann vernahm sie ein Flüstern. Sie konnte die Worte nicht verstehen doch es waren eindeutig Frauenstimmen die immer wieder irgendwelche Silben sagten. Dann formten sich die Silben plötzlich zu einem Namen: „Lilli, Lilli, Lilli!“, wisperten die Stimmen. Jetzt, dachte sich diese, ist Zeit für Panik! Und dann begann sie zu schreien: „Aaaaahh! Was ist das hier? Wer immer da ist soll verschwinden! Hiiiiilfee!!“ Dann rannte sie, immer noch schreiend los, einfach irgendwo hin. Sie spürte noch Tannenzweige über ihr Gesicht streichen und da verlor den Boden unter ihren Füßen. Dann reichte es nur noch für einen letzten, verzweifelten, Aufschrei.


    „Wer oder was ist das?“
    „Schau doch hin, eindeutig ein Mensch!“
    Eine dritte Stimme sagte: „Von der haben wir nichts mehr zu befürchten, die ist hinüber:“ Jetzt mischte sich eine vierte, ein wenig zaghafte Stimme ein: „Sei doch nicht so gemein, Cassina. Sie ist doch noch fast ein Kind.“ Jetzt schwiegen die Stimmen und Lilli wagte es vorsichtig ein wenig durch die Augenlieder zu blinzeln und erschrak sich beinahe zu Tode. Um sie herum standen einige Frauen in langen Gewändern, doch sie waren weiß, schneeweiß und Lilli konnte ein wenig durch sie hindurch sehen. Auch ihre Kleider sahen aus wie aus Nebel geformt. Vor Schreck riss sie die Augen weit auf, was die seltsamen Frauen natürlich sofort bemerkten. „Oh nein! Jetzt wacht sie auf!“ Eine der Frauen wich erschrocken zurück. Lilli war nicht minder erschrocken und versuchte sich aufzurichten, doch sofort wurde ihr schwindelig und sie musste sich übergeben. Die anderen Frauen, die vorher Lilli noch neugierig betrachtet hatten wichen nun auch angeekelt zurück. Beinahe wäre Lilli wieder ohnmächtig geworden als plötzlich eine der Frauen sagte: „Wartet, sieht sie nicht ein wenig aus wie Fiana?“
    „Wer sieht so aus wie ich?“, eine weitere weiße Frau war hinzugekommen und schaute sich suchend um. Lilli hätte schwören können dass sie sie kannte, doch ihr Gehirn war von dem Sturz noch so benebelt dass sie nicht wusste woher. Nun hatte die Frau Lilli entdeckt, erstaunt rief sie aus: „Nein! Aber, das darf nicht wahr sein! Wie kann dass sein? Schnell, bringen wir sie in meine Hütte!“
    Als Lilli dass nächste mal aufwachte spürte sie sofort einen stechenden Schmerz in ihrem Kopf, ihre Augen lies sie besser gleich geschlossen. Und sobald sie sich bewegte verspürte sie sofort wieder einen Würgereiz, vorsichtig tastete ihre Hand nach ihrem Kopf, sofort zuckte Lilli zusammen. An ihrer Stirn befand sich eine große, schmerzende Beule. Es war still und sie lag in einem weichen, warmen Bett. Was war geschehen? Sie erinnerte sich nur noch an weiße Frauen und an einen Namen: Fiana. Der Name ihrer Mutter. In diesem Moment kam Lilli ein schrecklicher Gedanke: War sie etwa tot? Waren die Wesen vorhin vielleicht Todesengel gewesen? Doch diesen Gedanken verwarf Lilli wieder, der Tod fühlte sich bestimmt nicht wie eine Gehirnerschütterung an. Vorsichtig öffnete Lilli die Augen: Sie befand sich in einem Raum aus hellem Holz und trotz der geschlossenen Vorhänge war es in dem Raum hell. Nicht grell, genau Richtig. Er schien in sich selbst zu leuchten. Die Einrichtung war einfach, sie bestand aus einem Bett in dem sie lag, einem kleinen Tischchen daneben und einem Stuhl. Dort lagen ihre Kleider, Lilli selbst trug nur ein einfaches weißes Nachthemd. Irgendjemand hatte ihre Sachen gewaschen und die Risse ausgebessert. Obwohl alles in dem Raum recht einfach war, hatte es doch etwas schönes an sich, eine gewisse Heimeligkeit die Lilli nicht mit Worten beschreiben konnte. Nur fühlen konnte sie es, sie fühlte sich an diesem fremden Ort zuhause. In diesem Moment öffnete sich die Tür und eine der weißen Frauen trat leise ein. Lilli war etwas unbehaglich zu Mute als diese Frau an ihr Bett trat, falls es überhaupt eine solche war. Doch es war ihr als würde sie Sie kennen. Wie eine längst vergessene Erinnerung aus ewig vergangener Zeit. „Hallo, da bist du ja endlich. Du hast lange geschlafen.“, begrüßte sie Lilli. Zaghaft antwortete Lilli: „Hallo. Wer sind sie?“
    Die Frau setzte sich an das Fußende ihres Bettes und lächelte Lilli etwas wehmütig an: „Erkennst du mich denn wirklich nicht mehr? Aber es ist wohl schon zu lange her dass ich euch verlassen habe.“ Langsam ahnte Lilli es, auch wenn sie es nicht glauben konnte. „Lilli, ich bin deine Mutter.“
    Sprachlos schaute Lilli sie an. Das konnte doch nicht sein! Dieses Wesen, es war wohl noch nicht einmal ein Mensch, sollte ihre Mutter sein? Diese Situation warf so viele Fragen auf, und trotzdem gaben auf einmal auch einige Ungereimtheiten ihren Sinn. Und als Lilli an den Wald zurück dachte, so kam ihr in den Sinn dass „TdN“ wahrscheinlich für „Tal der Nebel“ stand. „Lilli? Ist…ist etwas nicht in Ordnung?“, fragte ihre Mutter zaghaft als Lilli nicht sagte. Diese antwortete: „Gar nichts ist in Ordnung! Du kannst nicht meine Mutter sein, und überhaupt, wo bin ich hier? Weshalb bist du hier? Dass alles ist doch wie ein Traum und wenn es einer ist, dann will ich sofort aufwachen! Lass mich los!“ Beschwichtigend hatte das Wesen versucht Lilli in den Arm zu nehmen, doch diese hatte sie weg gestoßen. „Lilli, bitte, reg dich doch nicht so auf! Glaub mir doch! Ich bin deine Mutter!“
    „Schön für dich, aber eine gute Mutter lässt nicht einfach ihr Kind und ihren Mann sitzen! Und ich sag es noch mal: Du bist nicht meine Mutter! Denn, was für eine Überraschung, meine Mutter war und ist vielleicht auch noch ein Mensch!“ Das Wesen war den Tränen nahe, sie hatte oft daran gedacht wie es wäre ihrer Tochter zu begegnen, was sie in ihrer Situation für ausgeschlossen hielt, und nun war es soweit und ihre Tochter wollte ihr einfach nicht glauben. Es war zum verzweifeln. Sie hatte solchen Ärger noch nie vertragen können, deswegen stand sie auf und ging. Im Nebenzimmer brach sie in Tränen aus.
    Lilli hörte das Weinen und wusste dass es ihretwegen war. Und wäre die ganze Geschichte nicht so absurd, hätte sie sicher ein sehr schlechtes Gewissen gehabt. Heute aber wollte sie weghören, sie ahnte dass sie langsam aber sicher in irgendein Abenteuer oder so was verstrickt wurde, doch darauf hatte sie ausgerechnet jetzt keine Lust.