Part 5: Eine Freundschaft zerbricht
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Alles um mich herum war in Dunkelheit gehüllt. Ein helles, nervtötendes und sich immer und immer wieder wiederholendes Piepsen dröhnte mir in die Ohren, und dazu noch Stimmen.
„Noch nichts?“
„Nein, Doktor.“
„Sein Zustand?“
„Weiterhin stabil. Er ist auf dem Weg der Besserung.“
„Gut. Rufen Sie mich bitte sofort, wenn er wieder zu Bewusstsein kommt.“
Ich nahm das markante Geräusch einer Tür wahr, die in ihre Angeln fiel - und noch immer piepte es irgendwo. Wo war ich? Dunkel, alles war dunkel. Ich wollte mich bewegen, mich rühren, spüren, dass ich am Leben war. Da waren Schritte, sie klangen nervös. Hin und her, rauf und runter. Wem gehörten sie? Ich konnte die Augen nicht öffnen.
Ich verlangte meinen übrigen Sinnen alles ab. Ein unnatürlicher Geruch lag in der Luft. Nicht stickig, aber auch keine frische Brise. Es roch ... Woher kannte ich nur diesen Duft? Er war mir bekannt. Sooft hatte ich ihn gespürt, mit Abneigung erwidert. Doch mit jedem Mal war es mir leichter gefallen, diesem Geruch ausgesetzt zu sein. Frische Betttücher, Salbei, so steril und sauber ... Es war ... ein Pokémon-Center? Ja, richtig! So roch es in einem Pokémon-Center, ganz sicher!
Was war passiert? Warum war ich hier?
- Weißt du es nicht mehr? –
Eine Stimme, wem gehörte sie? Ich kannte sie. Etwas Boshaftes, Niederträchtiges und doch Ehrliches lag in ihr. Konnte ich ihr trauen?
- Soll ich dir auf die Sprünge helfen? –
Es war mein Instinkt, die Stimme meiner Seele, sie sprach zu mir.
- Erinnerst du dich? Die Wüste, du warst auf der Suche. Du suchtest einen Weg, deinem Schicksal zu entfliehen. –
Meinem Schicksal zu entfliehen? Welche Wüste ...? Doch, ich erinnerte mich. Die Rose der Wüste ... Ich hatte sie gefunden, hatte sie berührt ... War geschah dann? Ich erinnerte mich nicht.
- Willst du das wirklich wissen? -, flüsterte die Stimme. – Verkraftest du die Wahrheit? –
Die Wahrheit? Warum sollte ich sie nicht verkraften? Es war vorbei! War ich doch in einem Pokémon-Center, war das nicht Beweis genug? Es hatte funktioniert. Mein menschliches Band war gesprengt.
- Armer Sheinux ... So naiv, so dumm ... Wach auf! Hörst du? Wach auf! -
„ ... aufwachen.“
„Er kommt zu sich!“
Ein Stuhl kratzte mit aller Hast über den Boden. Ein schwacher Windstoß erfasste mich. Ich war müde und doch wollte ich um jeden Preis dieser Welt meiner Starre entfliehen. Leben regte sich dort, wo Sekunden zuvor nichts existiert hatte. Weicher Flaum bedeckte meinen Körper. Ich fühlte ihn ganz deutlich, ja, ich musste auf einer Matratze liegen. Doch noch hatte ich kein Gefühl in meinen Gliedern. Die Lider meiner Augen wogen Tonnen. Eine schier millimeterdicke Dreckkruste rieselte von meinen Augen, ich öffnete sie. Alles war verschwommen, wirkte unscharf.
„Ich rufe den Doktor.“
Wer war das? Colin? Hastige Schritte, eine Türklinke wurde in aller Eile gedrückt, sie fiel in ihre Angeln, die Schritte wurden leiser, bis sie verstummten. Nur noch das unaufhörliche Piep! Piep! Piep!
Die Bilder nahmen langsam Form an. Eine Zimmerdecke, mit kleinen Löchern. Wie viele waren es? Zehn, zwanzig, fünfundzwanzig, ... Zu viele, als dass ich sie hätte zählen können. Ich spürte, wie die Gewalt langsam wieder in meinen Körper zurückströmte. Kopf, Beine – und konnte sie wieder bewegen.
Abermals die Türklinke, sie wurde geschlossen, Schritte in meine Richtung.
„Junger Mann? Können sie mich hören?“
Eine Hand berührte mich – sie war kalt.
„Wie sagten Sie, war sein Name?“
„Ähm ... Stan, sein Name ist Stan!“
„Stan? Hören Sie mich?“
„Stan ...“, kam es mir über die Lippen. Ich wandte meinen Kopf. Sein Gesicht, ich wollte sehen, wer mit mir sprach. Es war ... ein bärtiger Mensch, ganz in weiß, ein Fremder. Ich kannte ihn nicht. Wer war er?
„Junger Mann, würden Sie uns bitte allein lassen? Es wird nicht lange dauern, keine Sorge.“
„Mhmm, okay ...“
Das war Colin, ich erkannte seine Stimme. Er klang besorgt, aber warum? Was war mit Stan? Abermals rief die Dunkelheit nach mir. So müde ...
Wie lange hatte ich geschlafen? Wie hatte ich überhaupt bei diesem infernalen Krach ein Auge zubekommen? Wesentlich schneller fand ich wieder die Gewalt über meinen Körper, die Zimmerdecke nahm vage ihre durchlöcherten Umrisse an, meine Glieder wollten mir wieder gehorchen. Ich wandte meinen Kopf nach rechts und fühlte Zufriedenheit mich durchströmen. Jetzt war jeglicher Zweifel gebrochen – ich befand mich in einem Pokémon-Center. Da gab es schneeweiße Betten, Behandlungswagen und ein Tisch, an dem bereits mein Trainer auf mich wartete, mein in Kummer und Sorge gefangener Trainer. Jedes Detail stimmte, auch wenn es noch verschwommen war.
Ich reckte die Hand nach ihm aus. „Stan ...“
Hand? Wieso Hand? Das war nicht richtig, ganz und gar nicht. Warum hatte ich Finger?
Ein Stuhl kratzte über den Boden. „Sheinux!“
Es war nicht Stans Stimme, soviel war klar. Die schemenhafte Gestalt verformte sich – es war ...
„C-Colin?“ Er sah schrecklich aus – müde und erschöpft. Tiefe Furchen, von Sorgen umspielt, durchzogen sein Gesicht. Doch es kümmerte mich nicht, nicht im Geringsten.
Warum Colin? Wo war Stan? Warum hatte ich Hände? Wo war mein Schweif? Warum war da Haut, wo eigentlich Fell hätte sein müssen? Wieso durchströmte mich nicht meine alte Kraft, die mich zu dem machte, der ich doch eigentlich war? Ich fühlte, Verzweiflung, Verständnislosigkeit und ... Hass.
- Ich wusste, du würdest die Wahrheit nicht ertragen. -
„Lass mich, geh weg ...“ Diese Stimme, sie war so arglistig, so gemein. Sie tat mir weh, meine Seele, mein Herz, mein Verstand.
„Endlich!“, rief Colin. Seine Stimme donnerte in meinen Ohren. „Ich dachte schon, du seiest hinüber, ehrlich.“
Verständnislos sah ich den Menschen vor mir an. „Warum, Colin, warum?“
Wieso nur, wieso hatte ich es mir nicht verkniffen? Ich wusste doch, wie er war. Ein Idiot, er hatte nicht die leiseste Ahnung, was ich eigentlich sagen wollte. Stattdessen fing er an zu reden wie ein Wasserfall. Davon, dass ich in der Wüste umgekippt sei, er mich in den Schatten geschleppt und danach Hilfe geholt hatte, wir jetzt im Krankenhaus von Malvenfroh City waren. Er laberte einfach weiter, mich interessierte es nicht. Es war Geschwätz, sinnloses Geschwafel. Die Wahrheit hatte mich eingeholt: wir hatten versagt. Die Rose der Wüste ... war nichts weiter als eine Illusion? Ein Ammenmärchen, um kleine Kinder das Einschlafen zu erleichtern? Hoffnung, Zuversicht, Glaube – sie alle waren von der schrecklichen Realität in Stücke geschlagen. Ich war noch immer ein Mensch, noch immer in Stans Körper gefangen.
Ich umfasste mit meiner verhassten Hand eines von drei Kabeln, das von einer in meiner unmittelbaren Nähe zu mir aufgebauten Maschine zu meiner nackten Brust führte. Eine Art von Saugnapf hielt sie an mir haften. Ich wollte sie abreißen, fand aber nicht die Kraft dazu. Auch mein rechtes Handgelenk war verkabelt, eine Kanüle in meiner Haut - sie steckte fest. Fesseln? Sollte dies eine Form der Bestrafung sein? Buße für mein Versagen?
Und Colin redete und redete. Er schien kein Pardon zu kennen. Er hatte noch nicht einmal bemerkt, dass ich mich ihm schon lange abgewendet hatte und ihm und seiner langweiligen Predigt nicht mehr zuhörte.
Es wollte mir einfach nicht in den Kopf, ich konnte es nicht begreifen. Warum? Warum war ich hier? Miriam, die Rose, sie ...
- Ein dummes Mädchen, nichts weiter. -
„Sie hatte gewusst, dass ich ein Pokémon bin ... Sie hatte es gewusst.“
- Sie hat euch belauscht, eins und eins zusammengezählt. Ein Kind, ein dummes, albernes Kind. Du hättest ihr alles erzählen können – sie hätte es dir geglaubt. -
„Nein, das kann nicht sein ... Die Geschichte, sie ...“
- War nur eine Geschichte. –
„Ich kann das nicht ... ich will das nicht ...“
- Du willst es nicht einsehen, oder? Deine Pein, sie soll weitergehen, und du weißt, wer Schuld daran zweckt. So verlogen, so falsch.. Gib ihm einen Namen, du kennst ihn, du weißt ihn! Die Niedertracht in Person. -
„Ich will nicht, lass mich in Ruhe - bitte ...“
- Sag seinen Namen, los! –
„Lass mich ...“
- SAG IHN! –
„Stan ...“
„Was?“
Es war, als wäre ich aus einer ewiglichen Trance erwacht, hätte hunderte von Jahren geschlafen, aus einem furchtbaren Albtraum gestürzt. Unzählige Fragen, eine Antwort, so klar, so deutlich, so scharf vor Augen.
Warum war ich auf dieser Reise? – Stan. Wieso hatte ich mein wahres Selbst verloren? – Stan. Weshalb konnte Deoxys entkommen? – Stan. Warum war ich in einem Bett in Ketten gelegt? – Wieder Stan. Und da saß er ... mein Freund ... als ob er kein Wässerchen hätte trüben können. Unschuldig sah er mich von einem Tisch aus an, falsch und verlogen war er. Er genoss es ...; genoss, mich leiden zu sehen. Er sah mich an, heuchelte mir Unschuld vor. Das Piepen im Raum – es wurde schneller, und so auch mein Abscheu gegen alles hier. Gegen Colin, gegen diesen Raum, die Maschinen, die Lichter an der Decke, das Glas in den Fenstern, das ganze Haus und all die Menschen, die es beherbergte, und besonders er – Stan.
Mein Herz raste, das Blut kochte, selbst mein Trommelfell vibrierte.
„Hau ab!“, flüsterte ich.
„Was? Was ist los?“, meinte Colin. Fragend sah er mich an, doch ich hatte nur Augen für eines, besser gesagt, jemanden.
„Hörst du nicht, du sollst verschwinden!“ Ich hatte ihm meinen Kopf nun direkt zugewandt, betrachtete sein Gesicht, sah ihm direkt in die verlogenen Augen, die Augen, die eigentlich mir gehörten. Ich fand kaum Kraft, mobilisierte jedes Quäntchen, das ich finden konnte. Meine linke Hand tastete fieberhaft auf dem mobilen Rollwägelchen zu meiner Seite. Sie umschloss eine Zahl Dinge, deren Zweck ich nicht wusste, aber auch nicht wissen wollte. Ich warf sie, mit aller Gewalt – und ich traf. Stan war wie gelähmt, konnte den Schrapnellen nicht ausweichen und ließ sie über sich ergehen. Wirkungslos prallten sie an ihm ab und prasselten auf den Boden, Kugelschreiber, Stifte, zerknülltes Papier.
„Bist du übergeschnappt? Was ist mit dir los?!“, rief Colin.
Ich ignorierte es, unsinniges Geschwätz. Ich wollte nur eines: Stan für alles büßen lassen. Alles, war er getan hatte; alles, was er tat; alles, was er noch tun würde.
In aller Eile hatte Colin den Wagen weggerollt, doch hatte ich im letzten Moment etwas gefunden, was meiner Wut Ausdruck verlieh. Es war fest, hart und schwer – ein Glas, ich warf es, und Stan ... er wich aus – dieser Feigling.
„Hör auf! Um Gottes Willen ...“, bettelte Colin. Es war mir egal.
„Du bist für mich gestorben, hörst du, gestorben!“, brüllte ich. Der Raum erbebte, Stans Miene versteinerte sich. Ihn so perplex und am Boden zerstört zu sehen – es erfreute mein Herz und machte mich gleichzeitig nur umso wütender. „Mir ist es egal! Ich pfeif auf den Kodex, mein Heim – und auf dich!“
„Was für ein Kodex, welches Heim? Beruhig dich!“
Colins Ahnungslosigkeit ... Noch mehr Wut, noch mehr Hass.
„Der Ehrenkodex!“, brüllte ich, dass die Glasscherben des zerbrochenen Gefäßes auf dem Boden vibrierten. Doch es war Zeitverschwendung, wie auch alles, was ich Colin begreifbar machen wollte. Er war die Mühe nicht wert.
„Zieh Leine! Ich kenne dich nicht mehr!“ Es gab nichts mehr, was ich werfen konnte, nur noch mich selbst hätte ich ihm entgegen schleudern können. Ich spuckte ihn an, ihm mitten in sein versteinertes Gesicht, es tat gut. „Ich will dich nie mehr wieder sehen!“
„Was um Himmels Willen ist hier los? Die anderen Patienten brauchen Ruhe ...“
„Lassen Sie die Tür zu!“, brüllte Colin.
„Hey! Passen Sie doch auf!“
Im rechten Augenblick hatte eine Pflegerin das Zimmer betreten und Stan in ihrer Unwissenheit den Weg geebnet. Unter ihren Beinen war er getürmt, Colin hechtete ihm nach.
Er war weg – endlich. Ich war zufrieden. Zumindest mochte ich das von mir behaupten. Mit Stans Türmen verebbte meine Wut und ließ nichts weiter als eine innere Leere in mir, ein Vakuum. Er war weg, mein Zorn, und auch er war weg, Stan. Nichts weiter als ein leerer Platz.
War es Zufall ...? Konnte es sein ...? Ich sank zurück in mein weiches Kopfkissen, wiederholte die meinigen Worte – und mir wurde plötzlich klar: Es waren dieselben, die mir einst mein Ex-Trainer bei meiner Entlassung entgegen geschleudert hatte, kurz bevor ich Stan überhaupt getroffen hatte. Ich war wie er; Stan war wie ich: Genauso dickköpfig, genauso stur, genauso eigenwillig – und ich war wie mein Ex-Trainer: Genauso widerlich, genauso ekelerregend. Ich fühlte mich in meiner eigenen Haut nicht mehr wohl, widerte mich selbst an. Und die Leere breitete sich aus, und der Parasit in meinem Kopf - er sprach zu mir, ein letztes Mal.
- Gratuliere, Sheinux. Ein Mensch mit Leib und Seele. -
Ich fühlte, wie das Vakuum mir meinen Verstand raubte, mein Herz von der Finsternis ummantelt wurde, ich abermals in die Dunkelheit stürzte. Ich hatte endgültig einen Teil von mir verloren.
„Es tut mir Leid, Stan! Komm zu mir zurück!“