Invention, it must be humbly admitted, does not consist in creating out of void, but out of chaos. - Mary Shelley
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INHALTSVERZEICHNIS
Sonnenblumensinnkernfragen [Startpost] - Drabble
Das Eisflammenmädchen [Startpost] - Kurzgeschichte
Farbenglutgesang [Startpost] - Gedicht, Pokémon
Er schnitt ein rohes Stück Fleisch heraus und steckte es in seinen Mund.
»Ich habe versehentlich eine Meerjungfrau gegessen. Auf dem Weg zum Rübenkanonenfeld verließ ich das Wasser, doch verlief mich in einem halbgaren Hirschgeweih.«
»Du solltest schleunigst ein paar deiner Probleme lösen. Ich habe einen Taschenrechner dabei, falls …«
»Ich rede metaphorisch! Ein stilistischer Kunstgriff.«
»Ja, ins Klo.«
»Was soll denn das? Man schlendert abends über sonnenhalbbesonnte Wiesen, umtänzelt von zänkisch-verdrossenen Windharpyien und immergrün schillernden Feuersalamandern. Da passieren Missgeschicke.«
»Nein, das kann nicht passieren. Man isst keine Meerjungfrauen.«
Er sah von seinem Teller auf. Das ergibt doch keinen Sinn!
Eine warme Brise fuhr durch Raits schulterlanges, weißes Haar. Sie blickte hinab auf die riesige Wolkendecke, die sich unter ihr über den Planeten wälzte, dessen Krümmung sie langsam ausmachen konnte. Nur noch etwas höher!, dachte sie sehnsüchtig mit einem Blick nach oben. Über ihr konnte sie keine Wolken mehr erkennen, lediglich das weite, blaue Feld, in dessen Zenit die große Sonne barmherzig auf das Luftschiff herabschien.
Rait drehte sich um. Vor ihr befand sich der Eingang in die Kajüte, daneben eine Leiter, die zu einer höheren Etage des komplex verschachtelten Schiffes führte, in der sich das Herz der Mechanik befand. Ein dumpfes Wummern drang aus den zahlreichen Rohren, die an allen Wänden und Ecken des Luftgefährts entlangkrabbelten und sich mutig darum bemühten, das Schiff in der Luft zu halten.
Es klingelte. Schnell eilte sie ins Innere des Schiffes, brauchte dort allerdings einen Moment, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Sie legte das Buch mit der Aufschrift »Legendäre Blumen« auf einen Nachtschrank und eilte in die Küche zum Backofen, zog sich dicke Handschuhe an und zog ein mit frisch gebackenen Keksen übersätes Blech aus ihm heraus.
Damit eilte sie hinunter in den Frachtraum – eine Halle, von deren eigentlicher Größe man wegen des riesigen Eisblocks, der sich darin befand, nichts bemerkte. Sie stellte das Blech in eines der zahlreichen Regale an der Wand, an eine freie Stelle, von denen es nur noch wenige gab, da sich die Ergebnisse ihrer Backkünste hier bereits zu Tausenden stapelten.
Rait schritt an den Eisblock heran. Ganz nah, dann zückte sie unter ihrem weiten, weißen Umhang eine Lampe hervor und ließ sie ins Dunkel hineinleuchten. Weit im Inneren konnte sie eine dumpfe, finstere, kaum auszumachende Silhouette ausmachen.
Als sie mit ihrer Nase ans Eis geriet, spürte sie Nässe. Hoffnung keimte in ihr auf.
»Endlich sind wir fertig!«, rief Kallisto enthusiastisch, während sie an einigen ungemütlich wackligen Rohren vom Luftschiff herabkletterte. »Ich habe die letzte Verbindung der Schwebsteine zur Mechanik gesetzt.«
Rait lächelte sie fröhlich an. »Dann lass uns fliegen!«
»Warte. Vorher muss ich noch etwas tun.«
Rait blickte ihre langjährige Freundin fragend an.
»Weißt du noch? Vor ein paar Jahren sagtest du mir, du möchtest ein Liebesgeständnis nur hören, wenn diejenige Person eine Eisblume mitbringt.«
Ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken. Rait errötete, denn die Worte ihrer Freundin hatten sie ins Herz getroffen.
»Ich gehe zum Nordpol und hole eine. Dann fliegen wir zusammen los!«
Daraufhin verschwand Kallisto. Rait nutzte die Zeit, um Kekse für sie zu backen – die, die sie am liebsten hatte, um Kallisto zu überraschen, sobald sie zurückkam.
Doch als das Mädchen nach einem Monat nicht zurückgekehrt war, hatte Raits Sorge sie so sehr zerfressen, dass sie das Luftschiff in Gang setzte und zum Nordpol flog.
Nach vielen Tagen verzweifelter Suche fand sie einen gigantischen Eisblock, so klar, dass sie, als sie ihn durchleuchtete, die Silhouette ihrer Gefährtin darin ausmachen konnte.
Sofort öffnete sie die untere Frachtluke des Schiffes, lud das Eis auf und flog los. Sie versuchte, das Eis mit ihrem Werkzeug zu zerschlagen, doch das stellte sich als gänzlich unmöglich heraus – nichts konnte einen Kratzer im Kristall hinterlassen, kein Feuer konnte es schmelzen.
»Man lässt Freunde nicht im Stich« dachte Rait, und ihr fiel nur noch eine Möglichkeit ein, Kallisto zu befreien.
Ich muss höher. Rait stand auf dem zweithöchsten Punkt des Schiffes, auf der Bühne vor dem Maschinenraum. Es ist nicht warm genug.
Wenn irgendetwas ihre Freundin retten konnte, dann nur die Hitze der Sonne, die dreist herabstarrte und darauf wartete, das Eis vernichten zu können. Ich muss höher.
Sie zog an einigen Hebeln, schritt dann in den Maschinenraum und überprüfte die Instrumente. Es klingelte. Eilig machte sie sich auf den Weg hinunter in die Küche, holte das Blech heraus und brachte es in den Laderaum. Dann bereitete sie neuen Teig.
Erneut im Eisraum hörte sie unter sich ein Knirschen. So hob ihren Fuß, und musste feststellen, einen Keks zertreten zu haben. Rait blickte sich um – der gesamte verbliebene Platz hatte sich bereits mit Keksen gefüllt. Doch sie konnte nicht aufhören, neue zu backen. Ich werde Kallisto nicht aufgeben.
Mit dem Backen aufzuhören, würde bedeuten, sie im Stich zu lassen.
Langsam näherte sich das Schiff weiter der Sonne, die Temperatur stieg spürbar. Rait legte ihren Mantel ab, Schweiß brach aus ihrer Stirn aus. Sie liebte dieses Gefühl. Je heißer es wurde, das spürte sie, desto näher kam sie Kallisto. Erneut im Laderaum bemerkte sie, dass immer mehr vom Eis dahinschmolz. Eine Lache begann sich am Boden zu bilden. Rait lachte laut über jeden Zentimeter, den sie dem Eis abrang, über jeden vergangenen Augenblick.
Sie backte Kekse, dachte an die vergangenen Jahre, steuerte das Schiff weiter Richtung Sonne, bedachte die Vergangenheit im Laderaum. Immer wieder. Stets und mit weiter keimender Hoffnung, mit Glück in der Seele und heißem Gemüt.
Mit jedem Meter stellte sich die Hitze als unerträglicher heraus, sie genoss, wie die Tropfen an ihrer Haut hinabglitten.
Schließlich konnte sie Kallisto klar erkennen. Die Hitze trübte ihren Verstand, doch nicht ihre Sinne – dort stand sie im Eis, gerade, nachdem sie die Eisblume gepflückt hatte, eine Pflanze, deren Schönheit Rait mit nichts anderem auf der Welt vergleichen konnte.
Kallistos Gefühle hatten sie erreicht, doch sie spürte: je mehr Eis verfloss, desto langsamer schmolz das restliche.
Ich muss … höher.
Sie stieg hinauf in den Maschinenraum und merkte, wie heiß sich das Metall anfühlte. Die Geräte gaben mittlerweile keine verlässlichen Informationen mehr an, denn für eine solche Höhe hatten die beiden Erbauer sie nicht ausgelegt.
Erschöpft ging sie hinaus und legte ihre Hände an das Geländer, das sie vor einen Sturz in die ewige Tiefe rettete. Rait spürte, wie ihre Handflächen verbrannten, nahm sie schnell von der Eisenstange herunter und blickte sie an. Große Blasen bildeten sich. Das Mädchen lächelte.
Vor ihr schrie der Himmel mit einer Helligkeit, die ihre Netzhaut versengte, von ihrem Heimatplaneten konnte sie unter sich nichts mehr erspähen. Das Grinsen auf ihrem Gesicht zuckte ein wenig, als sie fast das Gleichgewicht verlor. Beim Taumeln spritzte der Schweiß auf die Rohre, Geräte und Drähte, an denen die Tropfen sofort verdunsteten. Ein überwältigendes Gefühl überkam sie. Sie wird aufwachen!, wusste sie mit einem Mal, und schrie es laut ins Nichts hinaus: »SIE WIRD AUFWACHEN!«
Auf einmal überkamen sie Zweifel. Sie blickte sich um und erkannte das Flackern der Luft, die von der Hitze motiviert hinaufstieg, spürte die heiße, trockene Luft in ihren Lungen kratzen. Würde sie erst schmelzen müssen, damit Kallisto tauen konnte?
Auch wenn es ihr Schmerzen bereitete, so wünschte sie sich nichts sehnlicher, als ihre Freundin noch einmal zu sehen, doch allein die Vorstellung, Kallisto könnte wieder erwachen, trieb sie weiter an.
Rait wankte, dann drehte sie sich um und schritt auf die Leiter zu. Das Mädchen befand sich bereits auf der zweiten Etage, diese Leiter führte zum höchsten Punkt des Luftschiffes. Sie stieg auf. Der heiße Stahl der Leiter fraß sich in ihre Hände und Füße, doch das kümmerte sie kaum. Mehr Sonne!, rief es in ihr.
Oben angelangt setzte sie sich an die Kante des Turms. Rait ließ ihre Beine hinunterbaumeln, kein Wind fuhr über ihre nasse Haut, lediglich die aufsteigende, heiße Luft vom erhitzten Holz, Kupfer und Messing unter ihr ließ ihre Haare tänzeln. Sie hatte keine andere Wahl, als ihre Lider ob des alles durchdringenden Lichts zu verschließen, denn sonst hätte die Hitze ihre Augen verbrannt. Sie drehte ihr Gesicht Richtung Sonne. Ihre Haut spannte sich und begann zu kratzen.
»Rait?«, hörte sie Kallisto rufen. »Rait, ich bin hier, wo bist du? Geht es dir gut?«
Ihre Stimme klang besorgt. Das Mädchen auf dem Turm wusste nicht, ob ihr der erhitzte Verstand einen Streich spielte, ob Kallisto aus dem Jenseits nach ihr rief, um sie zu sich zu holen, oder ob sie aufgetaut war und nun zu ihr zurückkam.
Sie ließ sich rücklings auf das Turmplateau fallen und spürte das heiße Brennen des Metalls auf ihrem Rücken.
Rait entfuhr ein glückseliges Kichern. Ein inneres, tiefes Wohlbefinden breitete sich in ihr aus.
Sie ist bei mir. Egal, wo sie sich befindet, sie ist hier, bei mir!
»Kallisto!«, rief sie, »Ich kann dich hören! Danke für die Blume. Möchtest du einen Keks?«
Ich hör’ dem Gras beim Wachsen zu,
lichterloh und bunt, so klingt der Tau.
Tapfer tapsen Hufe durch den Wald,
im Himmel schreit ein düsterstummes Blau.
Ich kann euch hören!, denke ich,
und setze mich ins Grün, das für uns alle mutig singt.
Eilig krachen Schwingen aus der Nacht,
der Ton der Rufe färbt mich munter.
»Ohrdoch, schnell, komm mit!«, ermahnt es mich,
doch geh’n die Worte in der Lärmpalette unter.
Oh, ich höre euch, denke ich,
und öffne meine Augen, die ein Lichtermeer erblicken.
Feuerrot und grün und hell, so klagt der Wald,
die Melodie der Angst und Flucht wird hier gespielt.
Der Trubel goß sich weiter in die Ferne,
als mich die Stimme der Natur am Platze hielt.
Bald verstummt das Gras, denke ich,
und weiß, dann muss ich auch von Dannen zieh’n.
Jetzt rufen Flammen vor mir züngelnd aus,
vom Feuerpferd gezähmt sie lodernd schweigen.
»Warum bist du noch hier?«, klagt es mich an,
und redet sanft: »Ich werde dir den Weg ins Blaue zeigen.«
Muss darauf hören, denke ich,
und kehre dieser lichten, leisen Welt für den Moment den Rücken zu.
Ich hör’ dem Gras beim Wachsen zu,
hungrig schluchzt es heimlich aus dem Schwarz.
Stille Hufe stapfen wankend durch die Asche,
aus dunklen Bäumen spricht das gold’ne Harz.
Der Wald hat lang genug geschwiegen, denke ich,
und werfe bunte Früchte, Licht und Lob, ihn zu erwecken!