S A I S O N F I N A L E
- 2015 -
Runde Eins
Informationen / Vote
[Blockierte Grafik: http://fc01.deviantart.net/fs71/f/2011/304/8/1/happy_writing_by_puschnteamarts-d4em118.png]
Ähnlich wie im letzten Jahr gibt es auch dieses Jahr wieder eine bestimmte Anzahl an Punkten, die ihr den Texten geben könnt. Dabei ist es aufgrund der Berechnung der Gesamtpunkte mit der Formel wichtig, dass ihr alle eure Punkte verteilt. Dazu findet ihr weiter unten eine Schablone, die ihr zum Voten nutzen könnt. Des Weiteren sind Sympathievotes sowie Votes für die eigene Abgabe unerlaubt. Begründungen sind keine Pflicht (für die Vote-Medaillen des Bereichs sind Begründungen allerdings notwendig), aber können geschrieben werden, sofern man möchte (ihr könnt euch als Hilfe unser "How-to-vote-Topic" anschauen). Informiert euch ebenfalls in unserem Informations- und Regeltopic der Saison 2015.
ZitatEure Aufgabe in der ersten Runde besteht darin, eine kurze Geschichte zu verfassen, in ihr das Thema Licht und Schatten verwendet. Ob ihr über beide Themen schreibt oder nur über eines, ist euch überlassen.
Euch ist freigestellt, ob ihr in eurer Abgabe einen Pokémonbezug habt; beachtet jedoch, dass in einer der drei Runden eine Abgabe mit dem Thema Pokémon vorkommen muss.
Der Vote läuft bis Sonntag, den 29.11.2015, um 23:59 Uhr.
Ihr dürft 7 Punkte verteilen. Maximal 4 an eine Abgabe. Bitte achtet darauf, dass ihr alle eure Punkte verteilt. Ihr müsst des Weiteren diese Punkte auf mindestens drei Abgaben verteilen.
[tab=Abgaben]
Schwarzer Himmel
„Noch einer, my Lord“, flüsterte es leise, unsicher gar, als hätte der Sprecher Angst davor, was passieren würde, sowenn er auch nur eine Stufe lauter sprach. Sicherlich hoffte er, dass seine Worte nicht zu mir gedrungen waren und mich somit nicht aus meinem Schlaf geweckt hatten, da wohl bekannt war, welche Konsequenzen es mit sich zog, wenn man mich wütend machte.
Zum Glück der armen Seele war ich heute in einer akzeptablen Laune. Dennoch konnte es nicht schaden, sich einen kleinen Spaß zu machen, nicht wahr?
Nur langsam erhob ich mich aus dem Bett, um das zitternde Etwas zu erkennen, das zusammengekauert vor meinem Bett kniete, fast als hoffte er, mir so entrinnen zu können. Nur die Idee an sich war bereits lächerlich, aber gut. Meine Blicke richteten sich auf das Wesen, das nun nicht einmal mehr wagte zu atmen, aus Angst, allein diese Tat könnte mich provozieren. Hätte er aufgesehen, hätte er mein mehr als amüsiertes Grinsen bemerkt, doch so war er nicht darauf gefasst, was ich als nächstes tun würde.
Mit einem Ruck sprang ich aus dem Bett, nur um fast schwebend zu dem – nun fast schon am Boden liegenden – Mann zu gehen. Einen langen Augenblick sah ich ihn nur grinsend an, schüttelte – ein Lachen zurückhaltend – den Kopf, bevor ich mich ihm näherte und ein leises „Buh“ von mir gab, das ihn erzittern ließ. Doch, doch, ich war heute in ausgesprochen guter Laune.
Ohne dem Mann ein weiteres Wort zu widmen, schritt ich an ihm vorbei, um schließlich doch stehen zu bleiben, mich noch einmal umwendend. „Du darfst jetzt gehen“, rief ich ihm zu, jedoch bezweifelte ich, dass er mich gehört hatte. Wäre er nicht schon tot, so hätte ihn mein kleiner Scherz sicher umgebracht. Das schloss ich zumindest aus seiner Haltung und der Tatsache, dass jegliche Farbe aus seinem Gesicht gewichen war.
War ich wirklich so schlimm? Klare Antwort: Nein. Diese Menschen hatten einfach zu viel Fantasie, aber was konnte ich schon tun? Mehr Spaß für mich.
Ergeben verbeugten sich meine Diener vor mir, als ich an ihnen vorbei schritt, mit weniger Angst, als der Arme in meinen Gemächern, und doch mit einer spürbaren Spannung, so, als würden sie sich wappnen, nur für alle Fälle, meine Laune sollte umschwingen. Einerseits genoss ich es ja, wenn sie mich verehrten, doch Angst war dann auch nicht ganz das, was ich mir wünschte. Tja, man konnte nicht alles haben, nicht wahr?
Je länger ich den Weg entlang schritt, der mich zu meinem Ziel führen sollte, desto heller wurden die Wände, desto weicher der Weg, desto kälter wurde die Luft. Ich sollte öfter raus gehen.
Als ich durch die letzte Tür schritt, erreichte ich mein Ziel: Eine leere und kalte Wüstenlandschaft. Die Sonne schien immer noch warm herunter, doch für mich fühlte es sich bei weitem nicht so warm an wie das, was ich gewohnt war. Keine Wolke zierte den Himmel und als ich meinen Fuß in den Sand setzte, spürte ich eine wohltuende Wärme, die von diesem ausging.
Erst dann realisierte ich, dass ich nicht ganz so „allein“ war, wie ich vermutet hatte.
Lächelnd ließ ich meinen Blick auf der weiblichen Gestalt ruhen, die meine Ankunft noch nicht bemerkt zu haben schien.
„Was führt die schönste Frau im Universum hierher?“, rief ich ihr zu. Als sie meine Stimme vernahm, wandte sie sich um, ihr langes schwarzes Haar verführerisch über ihre Schulter werfend, mit einem warmen Lächeln auf den Lippen und einem Blick voll Liebe und doch so viel Unschuld. Obwohl keine einzige Brise die Landschaft durchzog, hätte ich schwören können, dass ihr blutrotes Kleid sacht wehte. Diese Frau war schon seit der Sekunde ihrer Geburt ein mystisches Wesen gewesen und ich liebte jedes Geheimnis, das es an ihr zu entdecken gab. Ich glaubte nicht, dass es je anders sein könnte oder würde.
„Wie bedauerlich, dass sie dich geweckt haben. Ich gedachte, dir später Gesellschaft zu leisten.“ Grinsend traf sie meinen Blick, forderte mich fast heraus, die Zweideutigkeit in ihrer Aussage nicht versteckend. Für den Hauch eines Moments spielte ich damit, mit ihr umzukehren, zurück in meine Gemächer, und die Tatsache, die mich her brachte, zu ignorieren. Und womöglich hätte ich das auch, wenn mich besagter Grund nicht daran erinnerte hätte, dass er behandelt werden wollte.
Gleichzeitig sahen wir auf, als die Gestalt, die neben Lilith zu Boden lag, anfing, sich zu winden, als läge sie auf Kohlen, anfing zu schreien, als würde sie mit Harpunen erdolcht werden, und anfing zu weinen, als wäre dies ein Kind und kein Mann, der sich vor uns am Boden wälzte.
„Ich nehme an, du bist nicht nur gekommen, um deinen Mann zu verführen, meine Teure“. Langsam schritt ich auf sie zu, ihre Aufmerksamkeit schien nicht bei mir zu liegen, doch ich wusste, wie schnell sich das ändern konnte.
„Ich wollte es selbst sehen“, murmelte sie, während sie den Mann nicht aus den Augen ließ, der versuchte, sich aus seinen Ketten zu lösen, die sich in seine Haut einzubrennen schienen, je stärker er sich wehrte.
„Wie du siehst, ist es wahr“. Nun sah sie mich an, mit einem Blick, den ich nicht deuten konnte, doch dessen Bedeutung ich erahnte.
„Wie es scheint, gelten die Regeln nur, solange sie dich betreffen, aber er“, sie spuckte das Wort heraus, als sei es Gift, als sei es das Widerwärtigste, dass sie je gekostet hatte, „kann sich anscheinend alles erlauben.“
Ich antwortete ihr nicht, spürte, dass das ihre Wut nur zügeln würde, und wie sehr ich ihre Leidenschaft auch liebte, so war es wohl gerade unklug, diese zu schüren.
„Der wievielte ist es?“, fragte sie nur kaum hörbar.
„Ich habe aufgehört, sie zu zählen, meine Teure.“
Langsam wand sie sich zu mir um, sich Worte zurecht legend, die sich dann doch nicht aussprach, bevor sie sich langsam entspannte.
„Ich werde in deinen Gemächern auf dich warten“, war das Einzige, was sie von sich gab, bevor sie durch den Weg verschwand, den ich genommen hatte, um herzukommen.
Erst, als ein erneuter Aufschrei die Luft zu zerteilen drohte, wand ich mich dem Mann zu, der mir vor „die Haustüre“ geworfen worden war.
„Sag Seele, wieso bist du hier.“ Ich kannte die Antwort, es war immer dieselbe, seit Tagen, seit Wochen, seit Monaten.
„Weil es in mir nichts Gutes mehr gibt, weil ich des Lichtes nicht wert bin“, weinte er, bevor ihn der Schmerz in Ohnmacht fallen ließ.
Langsamen Schrittes näherte ich mich ihm, bedachte ihn eines langen Momentes, bevor ich mit Leichtigkeit die Fesseln löste, die sie ihm angelegt hatten. Dann warf ich ihn über meine Schulter und trug ihn mit mir hinein.
„Was führt einen solch räudigen Wicht wie dich hierher. Verschwinde in den Schatten, in denen solch Wesen wie du hingehören“, zischte er, als er meine Gegenwart erspürte. Kaum hatte er mich bemerkt, trat ich tatsächlich aus dem Schatten heraus, ohne auf seine Worte einzugehen. Ich musste mich nicht mit ihm streiten, seine Worte hatten keinerlei Bedeutung für mich. Ob es ihm nun Spaß machte, mich zu beleidigen, oder nicht. Wir wussten beide, dass das lediglich sein erbärmlicher Versuch war, sich über mich zu stellen.
„Ich freue mich auch, dich zu sehen, alter Freund.“ Beim Wort „Freund“ zuckte er wütend zusammen, ballte die Fäuste, was mir nur ein amüsiertes Lächeln entlockte.
Dann jedoch verzog ich meine Miene und sah ihn ernst an. Ich war nicht gekommen, um über ihn zu spotten – das tat er schon recht gut allein.
„Irgendwelche besonderen Gründe, mein Lieber, wieso die Hölle in letzter Zeit zu explodieren droht?“, fragte ich ihn so selbstverständlich, als früge ich nach dem Wetter.
„In der Hölle braten die Sünder, all das Schlechte ...“, fing er an, doch ich unterbrach ihn.
„Diese Menschen sind nicht schlecht, wieso schickst du sie zu mir!“ Ich hatte keine Lust, um den heißen Brei herum zu reden. Ich wollte Antworten und ich hatte keine Lust, mich von ihm abwimmeln zu lassen.
„All die Seelen, die ich in den Schatten stoße, haben es verdient. Sie sind unrein und verdienen nicht, die Tore des Himmels zu passieren“, erläuterte Gabriel mir seelenruhig.
„Du redest totalen Blödsinn.“ Seine ruhige Art machte mich wütend.
„Die Menschheit ist schlecht, Lucifer, sie ist verdorben, und dem Schlechten ist das Himmelreich verwehrt. Das weißt du doch, immerhin darfst du es auch nicht betreten“, lächelte er provokant. Ich beschloss, ihm darauf nichts zu entgegnen. Ich würde mich nicht provozieren lassen. Ich war besser als das!
„Ich bin mir bewusst, dass die Menschen nicht alle gut sind! Wer, denkst du, hat Gott das damals gesagt? Wer, denkst du, musste dafür den Preis zahlen?“, setzte ich an. Er schien unbeeindruckt.
„Aber das, was du tust … du schickst mir alle, Gabriel, alle Menschen, die sterben, hinab! Sie sind nicht alle schlecht, ich habe das Licht in ihnen gespürt!“
„Natürlich sind sie alle schlecht! Du kommst ja nie aus deinem Schatten, versteckst dich in der Dunkelheit und siehst nicht, was ich sehe! Sie sind alle verdorben, alle! Selbst die Kinder!“
Ungläubig schüttelte ich den Kopf.
„Darf ich daran erinnern, wer mich in den Schatten verbannt hat? Es scheint, wenn du so weiter machst, bekommen meine Frau und ich bald Gesellschaft!“
„Ich habe nichts Falsches getan! Ich war und bin im Recht! Und jetzt sieh zu, dass du zurückkehrst in das Loch, aus dem du gekrochen bist, Lucifer! Allein dein Anblick lässt mich krank werden!“
Ich hasste diesen eingebildeten Flattermann! Gott hätte besser wählen können, viel besser. Doch für wen entschied er sich? Wen zog er mir vor? Von allen Engeln, wieso ihn?
„Los, fahr zur Hölle, mein Lieber.“ Siegessicher lächelte er mir entgegen. Für ihn gab es nichts mehr zu diskutieren, für ihn war das Thema beendet.
Ich hatte mir immer gewünscht, Gott gleich zu sein, und das war wohl auch der Grund, weshalb ich gefallen war, so tief, dass es kein Zurück mehr gab, doch … Doch war die momentane Situation nicht das, was ich wollte. Sie waren nicht alle schlecht, zumindest nicht nur. In jedem von ihnen steckte etwas Dunkles, es steckte in uns allen. Es war natürlich. Wo Licht herrschte, da musste auch Schatten sein. Sah Gabriel es nicht oder wollte er es nicht sehen? Und Gott? Was tat er? Waren ihm all die Seelen egal, die in der Hölle schmorten? Die er mit mir von sich gestoßen hatte, als seien wir nicht mehr seine Kinder? Ironisch, dass gerade ich es war, der hier mit Gabriel über das Licht der Menschheit stritt. Ein Gespräch, das eigentlich Gott mit ihm führen sollte. Wenn ich so darüber nachdachte, waren sie nicht besser als ich. Im Gegenteil. Vielleicht, nur vielleicht, war der Schatten ja heller, als ich geglaubt hatte. Denn wer entschied schon, was gut und was böse war? Worte, geformt durch die Zeit, geformt durch eine Gesellschaft der im Leben Ertrinkenden. Einer Gesellschaft, die von Liebe sprach und Hass walten ließ ...
„Weißt du Gabriel, es wird der Tag kommen – vielleicht nicht heute, vielleicht nicht morgen –, an dem werde ich der Herrscher des schwarzen Himmels sein. Und wenn der Tag kommt, wird es nichts mehr geben, was du tun kannst, um diesen Fehler zu beheben.“
Damit schritt ich davon, hinab zu den Seelen, die nun meinem Schutz unterstanden.
Ich laufe.
Der schwere Regen klatscht mir auf den Kopf und lässt mich mit einem unangenehmen Gefühl und durchnässten Haaren zurück. Warum muss meine Mutter auch ausgerechnet heute die Brötchen vergessen, sodass ich nochmal zum Markt laufen soll? Einfach ätzend. Dabei habe ich am Samstag Morgen wirklich Besseres zu tun und für Dezember passt das Wetter einfach überhaupt nicht!
Bald schon bin ich in der richtigen Straße angekommen. Jetzt nur noch zum anderen Gehsteig wechseln und ...
Ehe ich mich versehe, läuft mir ein Hund vor die Beine. Ich stolpere und lande der Länge nach auf der nassen Straße. Na wunderbar! Wenn jetzt die neue Hose zerrissen ist, kann sich der Hundehalter was anhören lassen!
Unter Schmerzen versuche ich mich aufzurichten, während der Hund lautstark kläffend das Weite sucht. Den mittlerweile stärker gewordenen Regen ignoriere ich dabei gekonnt und richte meinen Blick auf den Laden. Nur mehr ein paar Schritte, dann bin ich da.
Auf einmal höre ich eine helle Stimme panisch rufen.
„Hey, pass auf!“
Völlig orientierungslos versuche ich die vermutlich weibliche Stimme auszumachen, während ich ein merkwürdiges Geräusch von verdrängtem Wasser wahr nehme. Gerade, als ich mich umgedreht habe, sehe ich zwei Lichter und Schwärze erfüllt mein Sichtfeld.
Momente später schlage ich die Augen auf. Verwirrt greife ich mir mit der einen Hand an den Kopf, um zu erfassen, was passiert ist.
Er dröhnt. Nein, nicht der alte VW meines Vaters, sondern mein Kopf. Es fühlt sich an, als würde er gerade von einhundert Wildschweinen beeinträchtigt werden. Solch schlimme Schmerzen hatte ich noch nie.
Ich erkenne jedoch die Decke meines Zimmers. Wie gehabt, wenn ich aufwache. War das also nur ein Traum? Und warum beschäftigt er mich eigentlich so? So bin ich ja sonst nicht!
Mit gekonntem Schwung stehe ich auf und bemerke, dass ich noch meine Klamotten von gestern an habe. So müde kann ich gar nicht gewesen sein, dass ich das vergessen hätte. Vermutlich war einfach die Party zu wild. Das wird’s sein.
Ein Blick auf die Uhr an der Wand verrät mir, dass es bereits Mittag ist. Ohne weiter darüber nachzudenken stehle ich mich durch unser Haus ins Erdgeschoss. Wenn ich schon mal wach bin, kann ich auch kurz zu meiner Mutter guten Morgen - oder eher Mittag - sagen und was essen gehen. Hoffentlich regnet es heute nicht, dann könnte ich sogar draußen was anstellen. Aber dazu hab ich dann ja noch Zeit.
Gerade, als ich in die Küche eintreten will, höre ich Stimmen aus dem Wohnzimmer. Um genau zu sein ein Schluchzen und vermutlich beruhigende Worte meines Vaters. Ja, darin war er schon immer sehr talentiert, anderen Leuten zuzuhören und ihnen beim Suchen einer Lösung für ihre Probleme zu helfen. Auch ich gehe öfters zu ihm, wenn ich mal nicht weiter weiß. Auf seinen Rat ist eben immer Verlass.
Ich befinde mich noch auf dem Gang, die Tür zum Zimmer steht aber weit offen, sodass ich ein paar Worte aufschnappen kann.
„Du musst dir keine Schuld dafür geben. Es konnte niemand ahnen, dass es so kommen würde.“
Mein Vater. Offenbar liegt das Problem aber tiefer, wenn er selbst so vage bleibt und das kommt sehr selten vor.
Mutter schluchzt weiterhin und versucht, ein paar Worte zu formen. Vergeblich. Ich hätte sie gerne in den Arm geschlossen, aber ich weiß selbst nicht, was ich sagen könnte, um ihr zu helfen.
Schließlich schafft sie es doch.
„A-aber warum er? Warum musste es gerade Eric treffen?“
Ich horche auf, als mein Name fällt, darauf bedacht, kein Geräusch zu machen. Auch wenn das auf dem Teppichboden fast eine Unmöglichkeit darstellt, aber man soll ja bekanntlich niemals nie sagen.
„Sie vernehmen gerade den Autolenker, da er wohl betrunken am Steuer saß. Dass du Eric losgeschickt hast, hat nichts damit zu tun.“ Er räuspert sich, wohl um einen Kloß im Hals zu lösen. „Glaub mir, Maria. Wenn er dich so sehen würde, wäre er bestimmt nicht glücklich darüber.“
Erneut möchte sie etwas erwidern, aber ich höre schon gar nicht mehr zu. Mein Herzschlag hat sich binnen kürzester Zeit gefühlt verdoppelt und das Surren in meinem Kopf fängt wieder an.
Autolenker? ‚Wenn er dich so sehen würde?‘
Ich trete einen Schritt zurück, falle dabei fast über meine eigenen Füße. Unbeabsichtigt hole ich mit dem Arm weit aus, um mich irgendwo festzuhalten und küsse dabei die nächste Wand, direkt neben dem kleinen Tischchen im Vorraum.
Verdammt, die Vase!
Verstört blicke ich mich danach um, das Geräusch der berstenden Antiquität jederzeit erwartend, doch es bleibt aus. Sie steht noch immer an derselben Stelle, völlig unberührt.
Ich zittere. Warum eigentlich? Vielleicht habe ich sie ja auch gar nicht getroffen. Aber das ist völlig unmöglich! Meine Eltern scheinen von meinem unglücklichen Vorfall auch nichts mitbekommen zu haben. Als ob ...
Ich strecke meine Hand nach der Vase aus. Langsam, aber mit klarem Ziel. Nichts überstürzen. Ich bilde mir alles nur ein, es sind nur Hirngespinste, die ich gerade nicht loswerde.
Erneut gehe ich zu schnell vor und stoße mit dem Gefäß an. Oder eher, ich hätte es getan, denn meine Finger gleiten problemlos und ohne Widerstand durch, was mich doch überrascht hat. Aber das soll meine geringste Sorge sein.
Meine Gedanken drehen sich um die Worte meines Vaters und das Erlebnis eben. Ich kann nicht klar denken, versuche mich zu erinnern, was passiert ist! Wie kann ich solch ein Detail überhaupt vergessen? Das ist doch unmöglich! Ich kann nicht einfach ... nein, warum?
Die traurigen Worte meiner Mutter dringen an mein Ohr und mit beiden Händen halte ich meinen Kopf fest. Ein Schrei entkommt meinem tiefsten Inneren, ohne dass ich so recht weiß, weswegen. Noch nie zuvor war ich in so einer Situation und meine Erinnerungen überschlagen sich. Was kann ich davon noch glauben? Was ist passiert? Ich weiß es nicht!
Meinen Körper verlässt die Kraft und ich falle auf die Knie, weiterhin dazu versucht, die Migräne abzuschütteln. Erfolglos. Weitere Gedanken strömen auf mich ein, versuchen mich einzunehmen. Schlussendlich überkommt mich in einem Geistesblitz die Erkenntnis.
Ich bin tot.
Kaum dass ich mich aufrichte, glimmt im Augenwinkel ein seltsames Leuchten auf. Mit hastigem Blick erhasche ich, wie sich an der gegenüberliegenden Wand eine merkwürdige Substanz formt. Einem dunklen Nebel gleich breitet sie sich weiter aus und lässt mich zurückschrecken. Was ist das bloß? Das ist doch nur eine Wolke ... oder?
Je weiter sich die Schwärze ausbreitet, desto mehr und mehr fühle ich mich von der Angst eingenommen. Als ob sie mich vor diesem Gebilde warnen möchte. Meine Gedanken überschlagen sich aufs Neue.
Als diese seltsame Substanz schließlich fast meine Hand erreicht hat, springe ich auf und weiche zurück. Dem nicht genug, ich laufe zur Haustür, stoße im Endeffekt aber dagegen und öffne diese schlussendlich mit einer schnellen Handbewegung. Mein Weg führ mich nach draußen in den strömenden Regen. Ich werfe einen Blick über die Schulter und sehe, dass ich von diesem ... Ding verfolgt werde. Ganz egal, was es ist: Ich muss hier weg!
Ohne Orientierung laufe ich durch die Straßen. Sie wirken auf mich völlig fremd, als wäre ich hier das erste Mal. Eine Abzweigung nach links, dann die zweite rechts. Voller Adrenalin spurte ich vorwärts, ohne auch nur einen Blick nach hinten zu riskieren. Ich will nicht wissen, ob ich verfolgt werde oder nicht, solange ich nur weg komme.
Der Regen prasselt unaufhörlich auf mich nieder. Tropfen für Tropfen suchte ihren Weg zum Boden, als wollten sie mich aufhalten und mir den weiteren Weg erschweren. Aber ich gebe nicht auf. Mag dieser Schauer noch so stark sein!
Just in diesem Moment sehe ich eine abgesperrte Stelle auf dem Gehsteig und ein demoliertes Auto, welches sich wohl um den nahen Laternenpfahl gekümmert hat. Rundherum befinden sich noch einige Einsatzfahrzeuge der Polizisten, die mit Blaulicht auf den Unfallort hinweisen und Passanten beständig bitten weiterzugehen. Beim Anblick dieser Szene durchfährt mich ein unwohles Gefühl und verliere plötzlich all meine Kraft. Drei, vier Schritte benötige ich noch bis zum endgültigen Stillstand, bevor ich mich auf meinen Knien abstütze und meine Gedanken ordne.
Dieses Auto. Das habe ich doch im Traum gesehen, gerade als ...
Mit glasigem Blick und kurzem Atem betrachte ich die Umgebung und auch den Supermarkt in der Nähe, welchen ich als den erkenne, den ich angesteuert habe, um die Brötchen zu holen. Es passt alles, es gibt gar keinen Zweifel.
Das ist der Ort, an dem ich mein Leben gelassen habe.
Mit einem schweren Seufzer lasse ich mich nach hinten fallen lande rücklings auf dem Gehsteig. Das Wasser macht sich auf meinem Gesicht breit, versucht mich gar reinzuwaschen von der Anstrengung der letzten Minuten. Aber das hilft mir nicht. Mein Verstand kann keine klare Idee mehr fassen, wie das alles rational zu klären ist. Wie auch. Gibt ja sicher nicht viele Leute, die einfach so mal feststellen, dass sie tot sind. Und wenn doch, dann sind sie schon ... man, was für ein absurder Gedankengang.
Noch immer tief Luft holend, drehe ich meinen Kopf zur Seite und erblicke erneut diesen schwarzen Nebel. Ich habe keine Kraft mehr in meinem Körper und bin nicht imstande, diesem Ding auszuweichen. Mit meiner Feststellung und der mittlerweile verflogenen Panik ist das aber einerlei.
Die dunkle Wolke kommt immer näher auf mich zu, scheint nach mir und meiner Seele greifen zu wollen. Tränen füllen meine Augen; zumindest glaube ich das. Es kann auch der Regen sein, der sich seinen Weg über mein Gesicht sucht, aber egal. Ich will nicht! Lass mich in Ruhe! Wieso muss es ausgerechnet mich treffen? Warum muss ich dieses Pech haben? Ich hätte doch noch so viel vorgehabt und dann ... das.
Resignation macht sich in meinem Körper breit. Es bringt ja doch nichts, etwas zu machen. Ich bin völlig ausgelaugt, was sollte ich also machen? Der schwarze Nebel hat mich fast erreicht, zieht mich immer mehr in seinen Bann.
Das war’s dann wohl.
Auf einmal durchschneidet ein helles Licht das wabernde Ding und lässt mich irritiert zurück. Was war das? Vor mir baut sich jemand mit einem knielangen, dunkelblauen Rock auf, wohl darauf bedacht, zwischen der Masse und mir zu stehen. Meine Sicht ist noch immer verschwommen, sodass mir weitere Details verwehrt bleiben. Jedoch sehe ich, wie sich diese Person erneut auf den Nebel stürzt und ihn zurückweichen lässt.
Reflexartig wische ich mir die restliche Flüssigkeit mit einem Finger aus den Augen, auch wenn sich das als eher schwierig gestaltete. In meinen Körper kehrt die Kraft etwas zurück, sodass ich mich zumindest wieder aufrichten kann. Seltsam; als ob diese schwarze Substanz daran Schuld gewesen wäre.
Die fremde Person von vorhin kommt indes zu mir zurück und hält mir eine Hand entgegen. Wie erwartet handelt es sich um ein Mädchen von vermutlich 16 Jahren. Also in meinem Alter etwa.
„Kannst du aufstehen?“, fragt sie mit schnellem Atem. Ich nicke daraufhin nur und nehme ihre Hilfestellung in Anspruch. Mir fällt es schwer, ein Wort über meine Lippen zu bringen, geschweige denn kann ich mir im Moment ausmalen, um wen es sich bei ihr handelt. Tatsache ist aber, dass sie mich gerettet hat.
„Okay, dann bist du jetzt also hier“, fügt sie mit einem Lächeln im Gesicht hinzu. „Sorry, falls ich dich überrascht habe oder du dir sonst was bei meinem Auftritt gedacht hast, aber ich bin das schon gewöhnt. Wie heißt du?“
Völlig überrascht darüber, wie sie auf mich zukommt, weiß ich keine Antwort darauf.
„Ich, äh, hm.“ Mein Name ... wie war er noch gleich?
„Haben sie dich etwa schon erwischt? Oh, das ist nicht gut“, meint sie daraufhin mit sorgenvollem Unterton. Bevor ich noch nachfragen kann, spricht sie schon weiter. „Weißt du, dieser schwarze Nebel sind ja eigentlich Kreaturen der Finsternis, die dich aus dieser Zwischenwelt ziehen wollen. Weil du ja nicht existierst. Oh, ich hoffe, du weißt bereits, dass du tot bist?“
„Ja, das schon.“ Verdattert kratze ich mich am Hinterkopf. „Ich musste das vorhin leider schmerzlich feststellen und ... ich weiß nicht, tut mir leid.“
Das Mädchen winkt ab. „Ach, ist doch in Ordnung! Mir ging es am Anfang ja auch nicht anders, aber wie du siehst, bin ich jetzt hier bei dir!“ Sie dreht sich einmal im Kreis und zeigt mir damit ihre Freude. Irgendwie faszinierend, wie sie in dieser Situation so ruhig bleiben kann, aber daran hat sie sich wohl schon gewöhnt.
Mit einem Mal wird ihr Blick wieder ernst. „Also, was ich sagen wollte: Wenn dich der Nebel einnimmt, nehmen sie dir deine Erinnerungen. Sei dir bewusst, dass du dich noch im Diesseits befindest, aber auf der Schwelle zum Jenseits stehst. Dass du noch hier bist, hat einen Grund und den musst du finden, ohne wahnsinnig zu werden. Deine Erinnerungen sind somit das wichtigste Gut, das du hast. Sie helfen dir auf die Sprünge zu wissen, wer du bist und was du tust. Wenn du sie verlierst, bist du nicht mehr als ein hirnloser Zombie. Sei dir dem immer bewusst, hörst du?“
Ich nicke bestimmt. „Ja, okay. Aber was machen wir dagegen und was ist mein Grund, noch hier zu sein?“
„Ich heiße übrigens Jaqueline.“ Bevor ich noch etwas sagen kann, winkt sie schon ab. „Und nein, keine Witze über meinen Namen, sonst lass ich dich auf der Stelle sitzen! Den Grund für deine Anwesenheit musst du schon selbst suchen. Aber ich kann dir dabei helfen, wenn du willst. So kann ich dir dann auch gleich erklären, was du in dieser Zwischenwelt machen kannst. Die Lichtklinge vorhin hast du ja schon gesehen, aber das ist dir noch zu hoch. Auf jeden Fall wirst du dir dann auch mal angewöhnen, dass du durch Wände gehen kannst, glaub mir. Sag mal, bist du eigentlich immer so ungesprächig?“
Durch die plötzliche Informationsflut bin ich wohl zu sehr in Gedanken abgedriftet. Ich kann mir nicht vorstellen, dass mich irgendetwas in dieser Welt halten würde, sodass ich nicht gehen kann. Aber es muss wohl so sein.
„Du lässt mich ja auch nicht reden bei deinem Wasserfall an Worten“, sage ich entrüstet, worauf Jaqueline nicht weiter reagiert.
„Wie auch immer. Komm mal mit, wir suchen uns ein geeignetes Versteck. Da kenne ich ein paar, wo uns diese Kreaturen nicht aufspüren können.“
Sie bedeutet mir, ihr zu folgen, was ich gerne annehme. Auch, wenn ich noch nicht weiß, was mich mit ihr erwartet, aber sie ist ulkig. Und ein kleiner Hoffnungsschimmer in der Dunkelheit, die mich noch umgibt, aber ich hoffe, dass wir gemeinsam Erfolg haben werden.
Energisch, doch ohne Überschwang wurde die Küchentür aufgestoßen. Die schmalen, kühlen Lichtkegel zweier Taschenlampen tasteten über das Parkett und entlang der astlochübersäten Möbel. Es roch süßlich, nach alten Textilien und Rosenwasser – doch wer einen Augenblick im Raum verweilte, erkannte unter der dominanten Note einer durchschnittlichen Seniorenwohnung weitere Nuancen. Ein scharfer, erdiger Duft hatte sich unter den behaglichen Flakon der Wohnung gemischt. Eine Hand tastete die blassbeige Tapete nach einem Lichtschalter ab – und fand ihn. Leise surrend tauchte die Glühbirne der Deckenlampe in ein warmes, karamellfarbenes Licht. Es nahm dem Gesicht des vor der Spüle in sich zusammengesackt liegenden Toten ein wenig die gespenstische Blässe.
„Wie lange waren Sie mit Lucy verheiratet?“ Er hörte die Worte wie durch Watte. Sie alle hatten sich eingefunden, hier, im Gasthaus zum Grünen Schwalboss. Stadtbeamte und Verwandte, alte Freunde aus den Tagen in Kanto und ehemalige Nachbarn hier aus Wiesenflur – aus allen Himmelsrichtungen waren Sie in das Restaurant geströmt, eine Institution im Ort, rustikal und traditionsreich. Außerdem die einzige Lokalität im Umkreis, die eine solch riesige, pulsierende Menschenmenge fasste. Und selbst hier drohten ihn fast klaustrophobische Beklemmungen zu befallen, wenn er seinen Blick über die vielen ernsten Gesichter schweifen ließ, die – immerhin - langsam, einer nach dem Anderen, den Saal verließen. „41 Jahre“, antwortete er dem Fragesteller, einem Landschaftsgärtner, der seinen Betrieb nahe des Pokémon-Centers hatte. Der Mann hatte sich jahrelang um die Grünanlagen gekümmert, die zum Geschäftsmodell gehörten, das ihn und Lucy überregional bekannt gemacht hatte. „Und die Pension führten wir seit 1996 gemeinsam.“ Im Stimmengemurmel um ihn herum ging seine fast geflüsterte Antwort beinahe unter, und der Gärtner, selbst kurz vor dem Rentenalter, nickte einfach nur stumm. Es war kaum zu ahnen, ob er ihn wirklich verstanden hatte.
Verstehen. Ohnehin war es oftmals leicht daher gesagt, etwas verstanden zu haben. Er selbst war sich nicht sicher, ob er verstanden hatte, dass das, was sich etwas blutrünstig „Leichenschmaus“ nannte, tatsächlich dazu da war, seiner Frau die letzte Ehre zu erweisen. Ein Festessen für Hinz und Kunz war schließlich etwas wenig Andächtiges, fast schon etwas Profanes. Und war wirklich sie es, die verstorben war? Sie war nicht sehr groß und wirkte auch in einem Alter, in dem viele wohlhabende Frauen von Trümmertorte und Kirschkuchen etwas leicht Ballonhaftes bekamen, noch zart und fragil. Aber Zerbrechlichkeit und Gebrechlichkeit waren zwei nur leicht verwandte Eigenschaften. Eigentlich war sie fit gewesen, bis zum Schluss. Nicht der Typ Seniorin, der unglücklich auf der Treppe stürzte. Eigentlich.
Aus müden Augen blickte er sein Dessert an. Das Eis zerfloss wie die Zeit im Raum. Wie lange er hier schon saß? Ungewiss. Sein ältester Sohn hatte irgendwann vor ein paar Minuten noch einmal das Wort ergriffen und mit Bedacht und Entschlossenheit wahrscheinlich die richtigen Worte für diesen Anlass präsentiert. Und dann hatte die Tafel begonnen, sich aufzulösen.
Eine kühle Hand mit langen, feingliedrigen Fingern packte ihn an der Schulter.
„Entschuldigen Sie.“
Der junge Mann lächelte. Er trug einen schicken, grauen Wollmantel und einen abgewetzten, dunklen Lederhut mit breiter Krempe, der nicht ganz zu seinem gepflegten Äußeren passen wollte. Die Finger waren frisch manikürt, das Gesicht gründlich rasiert, um den Hals des Mannes schmiegte sich sanft ein cremefarbener Schal. Der alte Pensionsleiter erhob sich und stützte sich leicht auf seinen Gehstock, mehr Accessoire als Notwendigkeit für ihn. Ihm fiel auf, wie viele Schattierungen die Erscheinung des Herrn aufwies, ohne, dass dieser eine einzige wirkliche Farbe am Leib trug. Selbst sein Gesicht wirkte grau. Nichts an ihm schien unnatürlich, und doch erinnerte die Person ihn an die Schwarz-Weiß-Filme, die er als Kind mit seinen Eltern in den Lichtspielhäusern der Stadt gesehen hatte.
„Wir kennen uns nicht. Mein Name ist Damian Sinclair. Ich bin, wenn ich das so sagen darf, ein alter Freund von Lucy.“
„Das mag sein.“
Seine Frau war stets ein geselliger Mensch gewesen, so viel Zeit sie auch mit den Pokémon in dem kleinen, gepachteten Areal auf Route 117 verbracht hatte. Bevor sie ihn getroffen hatte, den einst jungen, aufstrebenden Absolventen der Handelsschule Seegrasulb, schlug sie sich mit kleinen Auftragsarbeiten als Zeichnerin und Fotografin durch. Ihre Künstlerseele war die Rastlosigkeit nie ganz losgeworden und so hatte sie den Kontakt zu zahlreichen obskuren Gestalten gepflegt, während er selbst mit wenigen engen Freunden und einem geregelten Tagesablauf bereits zufrieden war. Auf dem gräulichen Gesicht des fremden Herrn entfaltete sich ein sanftes Lächeln.
„Nun, ich habe eine Bitte an Sie, die vielleicht etwas unangebracht scheinen mag. Lucy hat viel über Ihre Arbeit für die Pokémon-Pension erzählt. Ich kann verstehen, wenn Sie ob der tragischen Umstände etwas kürzer treten möchten, aber…“
„Nein, das ist kein Problem. Ich kann mir keine bessere Ablenkung als meine Arbeit vorstellen.“
Das stimmte. Die Versorgung der kleinen Monster, die Trainer aus der ganzen Region bei ihm in Pflege gaben, gab ihm zumindest eine sinnvolle Tätigkeit. Sinclair nickte höflich.
„Ich habe beruflich in den nächsten zwei, vielleicht drei Wochen einen leidlich gut gefüllten Terminkalender abzuarbeiten.“
„Als was arbeiten Sie, wenn ich fragen darf?“
„Nun, mein Geschäft ist die Gerechtigkeit.“
Ein Anwalt also. Der Pensionsleiter warf seinem Gegenüber einen anerkennenden Blick zu. Es imponierte ihm, wenn junge Leute noch so etwas wie Fleiß zeigten und etwas aus ihrem Leben machten. Sinclair fuhr fort.
„Jedenfalls wollte ich mein Nachtara für diese Zeit in Ihre Obhut geben. Evolitionen sind recht anspruchsvolle Pokémon, und diese zwei Wochen könnten wirklich entscheidend für mich sein…“
Mit einem flehenden Gesichtsausdruck hielt er dem Alten einen blank polierten Pokéball entgegen. Der Pensionsleiter griff danach und wog die Kugel in der Hand.
„Sie sind über unsere Preise informiert, Herr Sinclair?“
„Natürlich. Das stellt kein Problem dar.“
Der Pokédollar war zu einer ziemlichen Weichwährung verkommen, selbst für wenige Tage musste er inzwischen dreistellige Beträge verlangen. Aber gut, die Inflation in den Griff zu bekommen, war wohl Aufgabe der Politik.
„Dann sind wir uns einig. Wir… Ich hatte schon einmal ein Nachtara zur Pflege, insofern bin ich mit den Futtergewohnheiten und den Ansprüchen an Auslauf und dergleichen vertraut.“
Sinclair bedankte sich. Nur noch einige wenige Angehörige waren im Saal verharrt. Der blasse Gast war schon im Begriff, den Raum ebenfalls zu verlassen, als ihm eine letzte Sache einfiel.
„Hier, meine Festnetznummer. Falls es Komplikationen geben sollte oder wenn Sie meinen Rat brauchen sollten.“
Damit verschwand er und stapfte über den kiesigen Parkplatz davon.
„Los, Nachtara!“ Er wusste, dass er diesen Satz nicht sagen musste, und vielleicht schlug auch schon die berüchtigte Kindsköpfigkeit des Alters durch, aber er genoss es, sich noch einmal wie ein Trainer fühlen zu können.
„Tara!“
Die Stimme der schwarzen Katze war durchdringend und klar. Der Laut des Pokémon ließ ihn unwillkürlich an ein Glockenspiel denken, das lange Zeit in ihrem Garten gestanden hatte, bis ein Novemberunwetter es fortgerissen hatte. Bald war es wieder so weit, die Bäume wurden auch jenseits Laubwechselfelds zusehends kahler. Über den Winter konnte er manchen Pokémon nicht die Weiden und die Freiheit anbieten, wie es ihm eigentlich sein Anliegen war. Nicht nur, aber auch aus diesem Grund schätzte er die hellen, langen Tage des warmen Sommers weit mehr als die kalte Jahreszeit. Es war erst früh am Nachmittag, und er warf schon keinen Schatten mehr auf die steinernen Fliesen der Terrasse.
„Tara!“
Blitzende Augen starrten ihn an.
„Hast du Hunger?“
Das Pokémon legte seinen Kopf schief.
„Komm mit!“
Durch die geöffnete Glastür folgte ihm Nachtara ins Innere des Hauses. Ein Haus, das eigentlich zu groß war für einen Alleinstehenden, sinnierte er niedergeschlagen. In der Küche öffnete er eine kleine Metalldose und kippte ihren Inhalt in eine tiefe Schale. Jonagobeerenbrei. Er stellte die kleine Schüssel auf den Fußboden und ließ Nachtara schnüffeln. Derzeit waren noch ein Voltilamm, ein Noctuh und ein Geradaks bei ihm in Pflege, doch sie alle bevorzugten auch bei diesen Temperaturen die Unterbringung im Freien. Nachtara war die einzige Gesellschaft, die er im Haus die nächsten Tage haben würde.
Auf einem kleinen Schränkchen stand noch ein gemeinsames Foto von ihm und Lucy. Ihm wurde schwer ums Herz beim Gedanken an sie.
Währenddessen beäugte das Pokemon den fruchtigen Brei kritisch.
„Ich kann dir nicht sofort Pokériegel zu fressen geben“, lachte der alte Mann.
Nachsichtig befüllte er eine zweite Schale, diesmal mit Trockenfutter. Nachtara zeigte weiterhin kein Interesse. Mit einem Seufzer zog sich der Pensionsleiter ins Wohnzimmer zurück, um dort zu lesen. Der Schatz vom Silberberg, ein Klassiker. Im Kaminofen bullerte noch das morsche Holz, als er irgendwann am späten Abend auf dem großen, zerknautschten Ohrensessel sitzend einschlief. Und irgendwann begann das Kratzen.
„Vorsicht, treten Sie da nicht rein.“ Die Scherben eines zerschlagenen Bilderrahmens lagen über den Küchenboden verstreut. Jemand schien das Portrait des jungen Paares von der Anrichte gefegt zu haben. Der Raum sah nicht schön aus, das schmutzige Geschirr in der Spülmaschine war inzwischen verkrustet. Der Mann hatte allein gelebt. Auf der Anrichte stand ein altes Telefon, tatsächlich nicht nur mit Schnur, sondern gar mit Wählscheibe. Der Hörer lag neben dem Gerät. Auch ein Gehstock lag ausgestreckt auf dem Boden und wies fast anklagend auf die Leiche.
Der Pensionsleiter schreckte aus seinem Schlaf. Wo war er? Was war passiert? Eine kleine Flamme tanzte vor seinem Augen. Ein Schrei… Nein, kein Schrei. Schlief er noch? Grummelnd setzte er sich im Sessel auf. Er musste wohl eingeschlafen sein. An der Tür kratzte Nachtara fleißig. Der alte Mann stand auf und öffnete. Doch Nachtara kam nicht herein, es stolzierte geradewegs die knarzende Treppe nach oben in den ersten Stock. Der Mann seufzte und tat es dem Pokémon gleich. Er würde sich für den Rest der Nacht in seinem richtigen Bett erholen.
Die nächsten Tage verliefen ruhig. Der Pensionsleiter beantwortete Briefe, schaffte es, sein Buch komplett durchzulesen und kümmerte sich um die Pokémon auf dem Anwesen. Nachtara verfolgte ihn bei all dem wie ein Schatten, strich ihm um die Beine und versuchte sich, am Schreibtisch auf seinen Schoß zu setzen. Es beunruhigte ihn, dass das Pokémon weiterhin nichts aß.
Das Fell der Katze glänzte weiterhin tiefschwarz, auch wirkte Nachtara keineswegs abgemagert, also beließ er es dabei. Wahrscheinlich ging das Pokémon irgendwo in seinem Garten auf Mäusefang. Am zweiten Tag hatte er noch Sinclair deswegen anrufen wollen, doch die Nummer war stets besetzt. Der Mann schien wirklich beschäftigt zu sein.
Dafür hatte er Veränderungen an sich selbst bemerkt. Solche, die ihm gar nicht gefielen. Immer häufiger hatte er für einige Sekunden kleine Blackouts. Er hatte – wie sonst auch – die bitteren Tabletten aus seinem Medizinschränkchen dagegen eingenommen, doch auch danach hatte er diese Momente. Augenblicke, in denen er verzerrte Bilder vor seinem inneren Auge sah. Bilder, in denen die Realität kurz verschwamm.
Und Töne. Das Kratzen. Etwas Kurzes, Dumpfes. Bilder, die nachts kamen, im Schlaf.
Und oft hörte er ein leises „Tara“, kurz, nachdem diese Momente vorüber waren.
Nach einer Woche war er überzeugt, dass das Pokémon ihm nicht wohlgesonnen war. Irgendetwas schien nicht zu stimmen. Es war sanft und es tat nicht viel, außer immer häufiger all die Treppen bis zum Dachboden hoch zu huschen und dort an der Tür zu kratzen. Doch es war immer da. Nachtara und sein urteilender Blick. Wenn er telefonierte, beobachtete Nachtara ihn. Es starrte, wenn er Zeitung lesen wollte. Es kratzte an den Wänden, wenn er morgens duschte. Nie fanden sich Spuren, aber immer war da dieses Geräusch. Das Geräusch, das ihn wahnsinnig machte. Das ihm die Konzentration raubte. Der Effekt hatte sich schleichend ausgebreitet, aber mittlerweile merkte er, wie sich sein Puls beschleunigte, wenn er dem Pokémon nur in seine tiefen, dunklen Augen sah. Erneut griff er zum Telefonhörer und wählte die Nummer.
Das Freizeichen ertönte.
„Sinclair, gehen Sie ran, verdammt! Sonst…“
„Sonst was?“
Da stand er, der Mann, den er als Damian Sinclair kennen gelernt hatte. Leibhaftig. In seiner Küche.
„W-wie sind Sie…“
Perplex legte der Pensionsleiter den Hörer neben das Telefon. Vor Schreck war jede Farbe aus den sonst rosigen Runzeln seines Gesichtes gewichen.
Der Besucher ignorierte die angedeutete Frage. Sinclair war exakt genau so gekleidet wie zu ihrem ersten Treffen. Ein chaotisches Medley aller denkbaren Graustufen. Er setzte sich auf einen der Holzstühle, die um den Küchentisch herumstanden, und kratzte mit den Fingernägeln über die Tischfläche. Seine Mundwinkel verzogen sich über das höchst unangenehme Geräusch zu einem Grinsen.
„So hat es geklungen, oder? Sie wissen genau, dass es so geklungen hat. Als sie sich noch festhalten wollte.“
„Hören Sie auf.“ Der Pensionsleiter hatte seine Hände zu Fäusten geballt. Sinclair hielt das nicht vom Erzählen ab.
„Es ist etwas wirklich Wertvolles, über ein so langes Leben hinweg beständig geliebt und umsorgt zu werden. Es ist vielleicht das größte Kompliment, das wir einem Menschen machen können – ihm gegenüber loyal zu sein. Nicht mit den Jahreszeiten zu gehen. Stets ein scheinendes Licht zu sein.“
Er blickte mitleidig auf die gefüllten Futternäpfe neben den Tischbeinen.
„Sie hätten doch nach zwei Tagen ahnen müssen, dass Sie sich etwas vormachen. Also, noch mehr als ohnehin schon.“
„Verlassen sie unverzüglich mein Haus!“, tobte der alte Mann.
Die Adern an seinem Hals waren in seinem Furor sichtlich hervorgetreten. Sein Atem ging merklich schneller, während Sinclair die Ruhe selbst blieb.
„Ich gehöre genau so zu diesem Haus, wie sie es tun, mein Freund“, erwiderte er kühl. Dann blickte er seinem Gegenüber direkt in die Augen.
„Sie hätten Ihre Frau nicht stoßen sollen. Und Sie sollten aufhören, sich selbst zu belügen.“
Der Pensionsleiter stieß einen schrillen Schrei aus. Wie in Agonie griff er nach seinem Stock und versuchte, nach dem graugesichtigen Mann zu schlagen – doch er war allein im Raum. Wild fuchtelnd brachte er Geschirr zum Klirren, stieß gegen Holstühle und fegte das gemeinsame Foto mit Lucy aus seinem Rahmen. Nach einer Viertelstunde etwa brach er weinend zusammen.
Dann fiel sein Blick auf die Medikamentenschachtel, die in einem der Schränke blau leuchtete.
Schweigende Menschen in weißen Schutzanzügen drängten sich am Fundort. Man ging von einem Suizid aus, daher war es kein Tat-, sondern lediglich ein Fundort. Kleine, nummerierte Schilder waren dennoch zur Nachuntersuchung einiger möglicher Indizien aufgestellt worden, so vor den riechenden, nach wie vor gefüllten Futterbehältern, vor dem Stock des Mannes, vor dem Zettel mit der Nummer, die neben dem Telefon lag. Auch die anderen Zimmer des Hauses wurden nun nach und nach durchsucht. Auf dem Dachboden fand man ein Atelier. Einige, wenige Fotos wurden gemacht. Niemand hielt die Bleistiftzeichnung des jungen Mannes in Mantel, Hut und Schal für wichtig.
Als die Nachricht durch den Polizeifunkkommt, hört sie sich eigentlich noch relativ normal an: „Achtung,Mann mit Schusswaffe randaliert auf dem Leipziger Platz, wir braucheneinen Streifenwagen.“
Ich seufze. „Das uns diese Irren aberseit vierzig Jahren auch immer wieder den Feierabend vermiesenmüssen.“ Simon lächelt. „Zur falschen Zeit am falschen Ort. Dakann man nichts machen.“ In fünf Minuten wäre unsere Streife zuEnde gewesen, aber die Pflicht ruft noch ein letztes Mal. Ich nehmeden Funker in die Hand beginne zu sprechen: „Hier Streife 311,befinden uns momentan in der Eisfeldstraße, sind in fünf Minutenda.“ Ich schalte die Sirene an und gebe Gas.
Als wir amLeipziger Platz ankommen, schaut Simon auf seine Armbanduhr. „DreiMinuten und 44 Sekunden. Was werden die nur machen, wenn wir abmorgen in Pension gehen, Frank?“
„Ohne uns wird der Laden aberso was von zusammenbrechen, Simon!“ Wir lachen, aber dann ertöntein Schuss und wir hören Glas splittern. Beinahe hätten wirvergessen, weshalb wir eigentlich hier sind. Sofort sind Simon undich wieder voll bei der Sache, packen unsere Schusswaffen und steigenaus. Als wir den Wagen verlassen haben sehen wir, wie etlicheMenschen in alle Richtungen kreischend flüchten, nur eine Personbleibt wie angewurzelt neben einer Laterne etwa in der Mitte desPlatzes, knapp 150 Meter von uns entfernt, stehen. Wie im Film sindich und Simon die Einzigen, die in Richtung dieser Person laufen,während alle anderen vor ihm wegrennen und uns dabei entgegenkommen.Es dauert dementsprechend länger, bis wir sie endlicherreichen.
Beide haben wir unsere Waffen auf die Person gerichtet,die mit dem Rücken zu uns steht, als wir sie auffordern, sichumzudrehen. Anders als wir es erwartet haben, wird von ihr ohne einWort das getan, was wir von ihr verlangt haben. Uns blickt einfreundlich lächelnder Mann an. Er sieht aus wie Mitte 30. In seinembeigen Trenchcoatund und mit dem Filzhut auf den Kopf sieht er sogar nicht aus, wie jemand, der mit einer Waffe auf einem belebtenPlatz amokläuft, aber der schwarze Gegenstand in seinerbehandschuhten Hand ist definitiv eine Pistole.
„Waffe weg!“,brüllt Simon sofort, das Lächeln des Mannes bleibt trotzdem. „Warumdenn so unhöflich meine Herrschaften? Es ist doch niemandem etwasgeschehen.“
„Immer wenn ich einen Schuss höre,muss ich vom Gegenteil ausgehen“, sage ich, „legen Sie endlichdie Waffe weg!“
„Sie tun mir Unrecht, meine Herren Kommissare!Schauen Sie nach oben und sehen Sie, auf was ich geschossen habe.“Der Mann deutet mit der Pistole auf die Straßenlaterne, die nebenihm steht. Erst bei genauerem Hinsehen erkenne ich, dass sie keineGlühbirne mehr hat. Als mein Blick wieder nach unten wandert, seheich Scherben auf dem Boden rings um die Laterne herum. Ich werfeSimon einen Blick zu, doch er zuckt nur mit den Schultern. Da unserUnverständnis über das Handeln des Mannes im Trenchcoat offenkundigist, setzt dieser zu einer Erklärung an: „Ich schieße keinesfallssinnlos auf Straßenlaternen. Ich handle im Sinne des Schutzesunseres Planeten!“ Unsere irritierten Gesichtsausdrücke bleibentrotz dieser Erklärung, sodass das Lächeln des Mannes im Trenchcoatetwas zurückgeht. Er gibt aber noch nicht auf: „Wir haben jetztgenau 18:36 Uhr und wie Sie selbst sehen ist es noch taghell. Es istja schließlich auch Mitte Juli. Ich frage Sie nun, warum müssendenn dann diese Straßenlaternen brennen? Wissen Sie, wie viel Stromdie Stadt damit verschwendet? Wie viele Atomkraftwerke könnten wirabschalten, nur indem wir die Straßenlaternen etwas später undnicht immer zur gleichen Zeit einschalten. Ich setzte hier lediglichein Zeichen und weise auf einen Missstand hin. Niemand braucht dasLicht dieser Straßenlaternen!“ Ohne weitere Vorwarnung schießt erdanach über unsere Köpfe hinweg, wir hören die nächstenGlühbirnenscherben zu Boden fallen. Ein weiteres Licht weniger. Gut,dass das heute mein letzter Tag als Polizist ist, noch viel mehrsolcher Schrecken könnte ich wahrscheinlich nicht mehr ertragen.Derweil sieht der Mann im Trenchcoat ziemlich selbstzufrieden aus.Aber ich habe genug.
Ich werde diesem Spuk ein Endebereiten. Ich lasse mir doch nicht meinen letzten Tag von so einemsturen Öko-Faschisten ruinieren: „Hören Sie Mann! Ich zählejetzt bis drei. Wenn ihre Waffe bis dahin nicht auf dem Boden liegt,schieße ich!“ Jetzt grinst der Mann im Trenchcoat und Simon blicktungläubig zu mir herüber. „Sie wissen genau so gut wie ich, dassSie nicht auf mich schießen werden, Herr Kommissar.“
Mir ist egal, was er denkt. Ich fangean, zu zählen: „Eins“ - ein Schuss und wieder ein Licht weniger,„Zwei“ - erneut zersplittert eine Glühbirne, „Sie haben esnicht anders gewollt, DREI!“ Wieder ein Schuss – nur einer. Ichwar schneller als er.
Ich schlendere hinüber zu dem HäufchenElend, das nun da auf dem Boden liegt und sich den rechten Arm hält.Da ist kein Grinsen mehr im Gesicht des Mannes im Trenchcoat, nurnoch der pure Schock, welch eine Genugtuung! „S-Sie haben auf michgeschossen!“ „Nie hätte ich an einem normalen Tag wegen einersolchen Kleinigkeit geschossen, aber Sie meinten ja, unbedingtheute, an meinem letzten Tag im Dienst, einen auf Rebell machen zumüssen. Und jetzt stellen Sie sich nicht so an, Sie Weichei! Das istnur ein Streifschuss da an Ihrem Arm. Hoch mit Ihnen!“ Ich zieheden Möchtegern-Weltretter hoch und führe ihn zum Streifenwagen.Simon kann sich ein Kichern nicht verkneifen. Vom Mann im Trenchcoatkommt weder Widerstand noch irgendein weiteres Wort.
So endet alsoder Dienst der Polizisten Frank und Simon, auf dem Leipziger Platzbrennen nur noch zwei von sechs Straßenlaternen ab 17:30 Uhr und esgibt einen Irren mit Waffe weniger.
„Ich geh mit meiner Laterne …“ Fröhlicher Kindergesang tönte die Dorfstraße entlang.
„Und meine Laterne mit mir.“ Ein kleines Lichtel saß auf einer alten Eiche und wartete.
„Dort oben leuchten die Sterne
Und unten leuchten wir.“
Ein Laternenumzug kam an dem kleinen Waldstück vorbei. Die Jungen und Mädchen hatten die schönsten Laternen gebastelt. Feurigel und Hoothoot, Mauzi und Glumanda waren zu erkennen. Alle leuchteten in den dunklen Abendstunden und die Kinder sangen fröhlich ihre Lieder. Von der seinem Baum aus beobachtete Lichtel das bunte Treiben. Es saß gerne auf einem der niedrigen Äste und sah den Menschen bei ihren seltsamen Bräuchen zu. Sein sichtbares Auge schimmerte im Schein der Laternen. Das Lichtel mochte freundliche Kinder sehr. Aber nur aus der Ferne. Ganz geheuer waren ihm die Menschen nicht, vor denen es seine Eltern immer gewarnt hatten. Trotzdem schlich es sich jedes Jahr um diese Zeit auf die alte Eiche, um den lachenden, singenden Kindern zuzusehen.
Nur eines der Kinder lachte und sang nicht. Ein Junge mit dunklem Haar blieb mitten im Laternenzug plötzlich stehen, sodass die Kinder hinter ihm beinahe in ihn hinein gelaufen wären. Doch das war dem Jungen egal. Er stampfte mit dem Fuß und fluchte auf eine Art, die man von einem Kind nie erwartet hätte. Seine Laterne leuchtete nicht mehr.
„Ach komm schon, du blödes Teil!“, schrie er die kaputte Lampe an. „Das kann doch nicht wahr sein! Wieso funktioniert diese bedepperte Technik nie? Jetzt geh endlich wieder an!“
Einige Kinder warfen dem Jungen ängstliche Blicke zu, andere versuchten auffällig, ihn nicht anzusehen. Die Erwachsenen, die diesen Zug begleiteten, schienen den Wutanfall des Jungen überhaupt nicht zu bemerken. Einer lief an der Spitze der Gruppe, einer in der Mitte, einer am Ende, aber keiner drehte sich auch nur für eine Sekunde zu dem Jungen um. Dem Lichtel gefiel dieser Anblick gar nicht. Die Menschen müssten ihre Kinder doch besser erziehen. Es selbst war schließlich auch gut von seinen Eltern erzogen worden. Es wusste, dass es sich von den Menschen fern halten musste, um in Frieden mit ihnen Leben zu können. Das war jedem Lichtel, Laternecto und Skelebara bewusst. Nur an diesem Tag machte das Lichtel eine Ausnahme. Nur zu diesem Laternenzug. Auch wenn die Regel immer galt.
Der Junge stand immer noch an der gleichen Stelle und starrte seine Laterne böse an, als würde sie dadurch wieder zu leuchten beginnen. Doch das tat sie nicht. Das Kryppuk blieb dunkel. Der Junge hatte sich beim Basteln extra für sein Lieblingspokémon entschieden. Es hieß, die Geister, aus denen Kryppuk besteht, hätten viel Unsinn getrieben und wären deshalb gebannt worden. Aber nur dadurch waren sie zu diesem unglaublich starken Pokémon geworden. Und das hatte den Jungen schon immer fasziniert. Jetzt aber ließ ihn die Technik im Stich und am liebsten hätte er seine Laterne gegen den nächstbesten Baum geschleudert. Als er sich jedoch nach einem passenden Ziel umsah, entdeckte er das Lichtel, das still und unbeleuchtet auf der alten Eiche vor ihm saß. Das war die Lösung. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Dem Lichtel, welches jenes sah, wurde selbst als Pokémon vom Typ Feuer und Geist kalt. Dies war kein freundliches Lächeln. Es war eher eines, das Giovanni aufsetzten würde, wenn er wieder einen neuen finsteren Plan für Team Rocket ausgeheckt hatte. Entschlossen stapfte der Junge auf den Baum zu.
Lichtel zog sich der Magen zusammen. Was sollte es nur tun? Es sollte sich von den Menschen fernhalten. Es sollte friedlich neben ihnen leben und den Wald nicht verlassen. Hätte es sich doch nur an die Warnungen gehalten! Dann müsste es jetzt nicht solche Angst haben.
Immer noch lächelnd griff der Junge nach dem Geist und zog ihn vom Baum. Lichtel war immer schon sehr freundlich gewesen, aber das war zu viel. Die Finger des Jungen waren direkt vor seinem Mund, also biss es zu. Doch das schien den Jungen nicht zu stören, er verzog noch nicht einmal eine Miene. „Netter Versuch, Viech, aber so leicht wird das nicht“, kommentierte er, während er das Lichtel in die Laterne setzte. Zu gerne hätte Lichtel eine Attacke gegen ihn eingesetzt, aber das Risiko, dass seine Flamme zu brennen begann, war zu hoch. Es war ein gut erzogenes, freundliches Lichtel. Das würde es nicht tun.
So saß das Pokémon in der Laterne. Es war ein unbehagliches Gefühl. Beinahe konnte es die Wände mit seinen Ärmchen berühren, so eng war es darin. Durch das Transparentpapier schimmerte alles in einem unheimlichen, dunklen Lila. Lichtel kannte die Legende von Kryppuk; sie wurde jungen Geisterpokémon erzählt, damit sie brav blieben. Es hatte immer daran geglaubt, gewusst, dass es keinen Unsinn machen sollte, um nicht gebannt zu werden. Doch dies fühlte sich genau so an.
„Also, du dumme Kerze“, drang die Stimme des Jungen nun durch die Öffnung der Laterne. Sein Gesicht beugte er dabei so nahe darüber, dass es für Lichtel eher wie eine verzerrte Fratze aussah. „Jetzt leuchte endlich!“ Was immer dieser Junge auch sagen würde, Lichtel hatte sich fest vorgenommen, sich an seine Vorsätze zu halten. Doch davon wusste er nichts. Er wollte nur, dass seine Laterne wieder leuchtete, egal zu welchem Preis. Noch nie hatte dem Jungen irgendjemand etwas abgeschlagen. Und selbst wenn man es ihm nicht sofort gab, so holte er es sich eben selbst. Das war der Lauf der Welt. Er bekam, was er wollte. Andere waren dabei nicht wichtig.
Das Lichtel schwieg, seine Flamme blieb erloschen. Noch immer drangen die Laternenlieder der anderen Kinder an sein Ohr. Es verstand nicht, wie sich niemand um diesen Jungen scheren konnte. Unter Pokémon wäre ein solches Verhalten schon längst aufgefallen. Und dennoch konnte es nicht zulassen, eines der Kinder durch seine Flamme zu gefährden. Auch wenn die Lieder für es inzwischen eher gruselig als fröhlich klangen.
„Hörst du mich nicht?“, schrie der Junge nun das Lichtel an und begann seine Laterne mitsamt Pokémon hin und her zu schaukeln, sodass Lichtel schon Angst bekam, herauszufallen und schmerzhaft auf dem Boden aufzukommen. Doch das interessierte den Jungen nicht. Er wurde immer wütender und immer lauter. „Leuchte, verdammt!“
Als das Schaukeln langsam weniger wurde, hatte Lichtel das Gefühl, sich übergeben zu müssen, aber auch jetzt entzündete es seine Flamme nicht. Es atmete ein paar Mal tief, um sowohl seinen Magen als auch sein Gemüt zu beruhigen. Es war ein gutes Lichtel. Gute Lichtel taten so etwas nicht. Und bald würde der Junge sicher auch aufgeben. Irgendwann wäre das Ende des Laternenzuges an der alten Eiche angekommen und er würde mit den anderen mitgehen müssen.
Aber der Junge dachte nicht daran, aufzugeben. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, dieses Lichtel anzuzünden. Hätte er doch nur ein Feuerzeug oder so etwas. Das würde alles vereinfachen. Da erinnerte er sich, dass irgendjemand mal erwähnt hatte, dass Lichtel ihre Flamme entzünden, um Attacken auszuführen. Oder so ähnlich. Der Junge hörte eigentlich selten jemandem zu. Nur dieses Mal könnte es tatsächlich nützlich sein. Er musste also das Lichtel nur dazu bringen, eine Attacke einzusetzen. Also brach er einen Ast von der Eiche ab und begann, ihn dem Lichtel ins Gesicht zu stechen, als dieses gerade gehofft hatte, dass es endlich vorbei wäre. Der Schmerz brannte überall, wo sich das spitze Holz in Lichtels Körper fraß. Noch nie zuvor hatte das Lichtel solche Schmerzen gespürt. Es war allseits beliebt und hatte seine Attacken bisher nur in harmlosen Trainingskämpfen mit seinen Freunden eingesetzt. Warum wurde es also nun vom Schicksal in Gestalt dieses grausamen Jungen so misshandelt?
„Na, du kleines Mistvieh? Wie sieht’s jetzt aus?“, zischte der Junge in einer etwas längeren Pause, nur um im nächsten Moment noch einmal zuzustechen. Er würde solange weitermachen, bis er hatte, was er wollte. Nur Geduld war nie seine Stärke gewesen. Gereizt verstärkte er den Druck, den er auf das Pokémon ausübte.
Immer schwieriger wurde es für das Lichtel, ruhig zu bleiben. Der Schmerz pochte durch seinen gesamten Körper und ließ jede Alarmglocke läuten. Es musste etwas unternehmen. Es atmete schwer, als der Junge seine Tirade unterbrach, um die Laterne noch einmal heftig zu bewegen, als wollte er sie auf den Boden schlagen. „Jetzt mach schon!“, schrie er so laut und ungeduldig, dass es vermutlich jedes Pokémon im Wald gehört hatte. Als sich der Stock dann noch einmal auf Lichtels Kopf zu bewegte, hielt es das Pokémon nicht mehr aus.
Mit einem leichten Zischen, entzündete sich eine lila-blaue Flamme und verbrannte den dünnen Ast in Sekunden, sodass ihn der Junge nicht mehr rechtzeitig fallen lassen konnte. Mit einem Aufschrei ließ er Stock und Laterne los, um sich die verbrannten Finger zu halten, wodurch Lichtel hart auf dem Boden aufschlug. Aber damit hatte es gerade erst begonnen.
„Du unnützes Vieh!“, schrie der Junge. Sein Ärger vergrößerte sich noch, als er seine zerknitterte Laterne auf dem Boden liegen sah; ohne eine Spur von dem Lichtel. Wütend blickte er sich um und entdeckte es zwischen den Bäumen hocken. Seine Flamme leuchtete. Ohne seiner Laterne oder den anderen Kindern noch einen Blick zuzuwerfen, ging er auf das Pokémon zu. Alles andere war egal. Jetzt wollte er Rache. Doch als er nach dem kleinen Geist griff, fuhr er mit den Händen nur durch Luft und die Projektion des Lichtels löste sich auf. Stattdessen entdeckte der Junge einige Meter weiter ein erneutes Abbild der Kerze, welches, als er mit dem Fuß dagegen trat, ebenso verschwand. So ging das noch einige Meter weiter, bis die Dorfstraße und die anderen Kinder nicht mehr zu sehen waren. Nur ihre Stimmen bildeten noch immer eine leise Hintergrundmusik. Doch sie waren dem Jungen nicht wichtig. Er hatte die anderen Kinder noch nie gemocht, genauso wenig wie sie ihn. Die meisten hatten Angst vor ihm, während er sie einfach nur für Weicheier hielt, wenn sie so etwas sagten, wie dass Pokémon Gefühle hätten. Pokémon sollten den Menschen dienen. Und was passierte, wenn sie es nicht taten, würde er nun diesem elenden Lichtel zeigen.
Das Lichtel saß währenddessen in einem hohlen Baum am Rande der Lichtung, auf die es den Jungen gelockt hatte, und konzentrierte sich, um erneut eine Doppelteam-Attacke einzusetzen. Sein Körper schmerzte noch immer, doch seine Flamme verlieh ihm neue Kraft. Es musste den Jungen nicht angreifen, um ihm zu zeigen, dass er falsch gehandelt hatte. Es musste ihn nur lange genug von sich selbst ablenken. Das bläuliche Flackern auf seinem Kopf würde den Rest übernehmen.
Mit einem Mal war der Junge von einer ganzen Scharr Lichtel umringt. Sie tanzten um ihn herum und das Feuer, das auf dem Kopf jedes einzelnen brannte, schien ihn zu verspotten. Immer wieder trat und schlug er nach den Trugbildern, doch sie entstanden immer wieder erneut und mit jeder Bewegung schien dem Jungen die Kraft zu schwinden. Seine Tritte wurden langsamer und mit seinen Schlägen gelangte er nicht einmal mehr in die Nähe der Abbilder. Das Atmen fiel ihm mit jeder Runde, die die Lichtel um ihn drehten, schwerer, bis er schließlich zusammenbrach und kaum noch die Augen offen halten konnte.
Wie sehr genoss Lichtel die Energie, die durch seinen Körper strömte und es die Stiche fast vergessen ließ. Die Flamme, die auf seinem Kopf thronte, war fast schon doppelt so groß, wie es selbst. „Du musst aufhören“, flüsterte eine kleine Stimme im Kopf des Geistes. Es war dieselbe Stimme, die sonst für jede seiner Handlungen verantwortlich war. Nur heute hatte sie der Schmerz übertönt. „Hör auf. Oder du tötest ihn.“
Die tanzenden Lichtel verschwanden und gaben den Blick auf einen reglosen Körper frei. Ungläubig starrte das Lichtel darauf und konzentrierte sich auf seine Flamme. Als der Junge das Bewusstsein verlor, drehte es sich weg. Den Anblick seines Hasses konnte es nicht länger ertragen. Wenn es jetzt ging würde der Junge überleben. Und wenn er nach Sonnenaufgang immer noch hier lag, würde Lichtel den Menschen helfen, ihn zu finden; aber es konnte nicht bleiben. Die Gefahr, dass es noch mehr Schaden anrichtete, war zu groß. Niemals würde es das verzeihen, weder dem Jungen, noch sich selbst. Und trotzdem empfand es keine Reue. Dieser Junge hatte es verdient. Die Flamme eines Lichtels war das Gefährlichste, was es besaß. Aber auch die Quelle seiner Energie.
„Mein Licht ist aus …“ Eine Stimme erklang im Wald, die von überall und nirgends gleichzeitig zu kommen schien.
„Ich geh’ nach Haus’.“ Ein einsames Lichtel verschwand im Wald. Seine Flamme war erloschen.
„Rabimmel, Rabammel, Rabum.
Bum bum.“
Seine Augen waren von einem Grün, als hätte man Smaragde darin eingelassen. Sie fingen das Licht auf und reflektierten es, und je nachdem, wie man hinsah, schimmerten sie golden oder silbern.
Sein Lächeln glich der Sonne. Wann immer er mir eines schenkte, fühlte ich mich, als wäre der Sommer gekommen. So warm und hell strahlte er mich an.
Seine Bewegungen waren meist hektisch und unüberlegt, und manchmal schien es, als hätte er einen endlosen Vorrat an Energiereserven, die er stets hinauslassen musste, um nicht zu explodieren.
Er war eine leuchtende Person.
Der Regen prasselt unaufhörlich auf meine Haut. Ich spüre ihn nicht, spüre überhaupt kaum etwas. Ich möchte denken, mich fragen, wie es hierzu gekommen ist, aber ich kann es nicht, nicht jetzt, niemals wieder.
Auf dem dreckigen, matschigen Boden liegt er, sein Blut kaum sichtbar auf dem dunklen Grünbraun. In der Ferne meine ich, Donner zu hören. Es ist mir egal. Alles, was ich noch kann, ist, ihn anzustarren.
Warum? Von allen Menschen dieser gottverdammten Welt, warum unbedingt er?
Warum nicht ich?
„Rede nicht sowas“, würde er sagen, wenn er es könnte. „Du hast es noch weniger verdient als ich, auch, wenn du das nicht glaubst, hörst du?“
Aber er kann es nicht mehr sagen.
Ich werde diese laute, klare Stimme niemals wieder hören.
Seine Lider sind geöffnet, aber seine Augen haben jeglichen Glanz verloren. Es ist, als saugten sie das Licht, das sie einst widerspiegelten, in sich auf und ließen nichts als Leere.
Meine Hände sind zu Fäusten geballt und ich zittere. Bruchstücke seines Namens fließen mir immer wieder und wieder über die Lippen.
Wieso? Wieso? Wieso, verdammt?
„Bedauernswert.“
In jeder anderen Situation hätte ich mich zu der Stimme umgedreht, aber mein Blick ist noch immer auf ihm fixiert. Werde ich mich je von ihm losreißen können? Was denke ich denn, dass er wieder aufsteht, wenn ich ihn lange genug anschaue?
„Aber leider notwendig. Er stand im Weg. Und jetzt diese Szene zu sehen, macht es besser – ich wüsste nicht, wann du das letzte Mal geweint hast.“
Ich will sie umbringen.
Ich werde sie umbringen.
„Elys.“ Ihr Name fühlt sich falsch an. Wie ein Eindringling, der versucht, die Sicherheitsmauern niederzureißen. Wie eine dunkle Wolke am sonst klaren Sommerhimmel.
Sie tritt erst neben mich. Dann vor mich. Endlich schaffe ich es, sie anzusehen, wenn auch nur, weil sie mir die Sicht auf ihn nimmt.
Weiße Haut, wie Elfenbein. Weiße Haare, wie aus Silber gesponnen. Weiße Augen, wie ein Monster. Dieses Mädchen ist Weiß.
Aber es leuchtet nichts an ihr. Stattdessen wirkt es eher, als hätte sie sich aus dem Licht der Welt eine Verkleidung gemacht, um ihre eigene Dunkelheit zu verstecken. Hinter dieser winzigen, fragil scheinenden Gestalt verbirgt sich ein wahrer Teufel.
Sie lächelt.
Ein Raubtier.
Dann schnipst sie mit der linken Hand und eine schwarze Klinge manifestiert sich darin. Ich kann sie nicht anschauen, schon allein das Pulsieren der Schatten, die darin leben, ist genug, um einen normalen Menschen zu Boden zu zwingen. Ich unterdrücke meinen eigenen Würgereiz, ignoriere so gut wie möglich die Schmerzen, die sich sogleich in meinem Kopf ausbreiten. Ein Pochen. Meine Gedanken hämmern von innen gegen meinen Schädel, um sich ihren Weg nach draußen zu bahnen.
Aber für ihn – für ihn muss ich kämpfen. Für ihn darf ich nicht aufgeben.
Das ist das Mindeste, was ich für ihn tun kann, nachdem er mich wieder und wieder gerettet hat. Vor banalen Dingen, wie einem wilden Bär. Vor den Monstern, die sich in dieser Welt ausgebreitet haben. Vor mir selbst.
Immer und immer wieder.
Und ich habe ihn sterben lassen.
Also werde ich ihn wenigstens rächen.
Elys stößt ein glockenklares Lachen aus, das seltsam verstimmt klingt. „Du stehst ja noch! Amüsant. Er war doch immer derjenige, der meine Monster erledigt hat, soweit ich mich erinnere, hast du nicht einmal das Potenzial, etwas gegen uns auszurichten. Aber sieh’s als einen Triumph, wenn du’s so unbedingt willst.“ Obwohl sie kleiner ist als ich, fühle ich mich, als würde sie auf mich herabsehen. Und das tut sie wohl auch. Sie mag diese Form angenommen haben, aber ich weiß genau, dass ich es hier mit einem göttlichen Wesen zu tun habe.
Ein göttliches Wesen, dem nicht einmal er, der als der beste Lichtkrieger galt, auch nur einen Kratzer zufügen konnte.
Ich lasse mich zu Boden fallen – kämpfe mit aller Kraft dagegen an, dort auf immer bleiben zu wollen – und meine Hand schließt sich um das Schwert, das neben ihm liegt. Seine Waffe. Bis vor kurzem hat sie gestrahlt, geschimmert wie mit Sternen besetzt, aber nun ist ihre Klinge stumpf und matt.
„Ha, wie niedlich“, kommentiert Elys mit einer besonders abartigen Form von Spott in der Stimme, aus der man deutlich heraushört, wie viel Freude sie daran haben wird, mich zu töten. „Na gut, wenn du das unbedingt willst. Mumm hast du, das muss man dir lassen! Ich denke, ich halte mich ein wenig zurück, sonst macht das ja gar keinen Spaß … Hätte ich bei ihm auch tun sollen. Da reichte ja ein gezielter Treffer mit dem Bogen ins Herz und …“
Sie weicht meinem Schwerthieb aus.
Lacht.
Ich hole erneut aus.
Einmal, zweimal, dreimal schlage ich auf sie ein, und sie weicht meinen Angriffen mit der Grazie einer Spinne aus. Ich werde sie treffen. Ich werde sie treffen, zumindest einmal. Für ihn.
Für ihn.
Dumpf höre ich jemanden schreien und bemerke erst spät, dass ich es selbst bin. Mein Körper wird von reiner, ungezügelter Wut angetrieben, aber in meinem Kopf hat sich eine Wand aus Watte gebildet, die alle Emotionen von mir fernhält.
Ich sehe die Welt wie in Zeitlupe, doch Elys bewegt sich in normaler Geschwindigkeit. Ich dränge sie rückwärts, aber ihr falsches Grinsen zeigt mir, dass sie das hier nur als ein Spiel sieht – wie lange sie es aushält, ohne mich zu töten.
„Wie niedlich!“, ruft sie aus, nicht im Geringsten außer Atem, während ich bereits keuche. „Du gefällst mir ja doch irgendwie. Vielleicht mache ich es schnell, dann sind du und dein Freund da bald wieder vereint.“
Ein tröstender Gedanke. Ich wünschte, es wäre so einfach, ich flehe im Stillen die Götter an, dass es nach dem Leben nicht vorbei, ist, dass ich ihn erneut sehen werde. Lebendig. Leuchtend. Aber das wäre zu schön um wahr zu sein. Ich glaube nicht an ein Leben nach dem Tod, und selbst wenn es eines gäbe … Ich würde ihn nie wieder ansehen können.
Mir ist übel und es braucht alle meine Selbstkontrolle, nicht hier und jetzt zusammenzubrechen. Die bloße Anwesenheit ihrer … Ihrer Waffe und dieser abstoßenden Aura reicht eigentlich aus. Ich weiß nicht ganz, wie ich noch stehen kann. In diesem Moment bin ich fast so weit, die Götter um Hilfe zu rufen. Lasst das Schwert leuchten, gebt mir zumindest die Kraft …
Vielleicht würde ich sie fragen, worauf sie wartet, wenn ich es könnte. Vielleicht auch nicht, denn ich weiß es ja selbst. Ich bin ein Vogel im Käfig, der sich manchmal Hoffnungen macht, frei zu sein, aber dem schlussendlich ein Kind nur alle Federn ausreißt.
So war es auch bei ihm. Seine leuchtende Klinge verschaffte ihm einen Schutz gegen die Ausstrahlung ihrer Waffen und einen Moment lang sah es aus, als hätte er sie in die Ecke gedrängt. Sie lächelte nicht mehr, betrachtete ihn nur mit etwas, das aussah wie Angst – bis sie so schnell, dass man sie nicht einmal mehr sehen konnte, ihre Waffe in seine Brust bohrte.
Ich habe seine letzten Worte nicht hören können.
Zu laut waren meine Schreie.
Zu laut sind sie.
Ich bin am Boden, umklammere meinen eigenen Oberkörper, bohre meine Nägel in meine Oberarme und schreie.
Er ist tot. Er ist tot, und ich konnte nichts dagegen tun, und ich würde mein Leben dafür geben, dass er wieder seine Augen aufschlägt aber es geht nicht es geht nicht es geht nicht denn diese Welt ist einfach falsch und unfair und im Endeffekt ist es doch alles für nichts.
„Halt den Rand! Hör auf, dich selbst zu bemitleiden und steh auf, du Idiot!“
Meine Stimme verstummt.
Meine Kehle brennt so sehr wie meine Augen und ich bin mir mittlerweile sicher, dass ich mich eher früher als später übergeben werde. Elys lacht ihre verabscheuungswürdige Lache und als ich es schaffe, meinen Kopf zu heben, sehe ich, dass sie ihre Klinge zu einer Sense ausgefahren hat. In diesem Moment ist sie der Tod selbst.
Der Tod, der ihn geholt hat.
Der Tod, dem ich es nicht erlauben werde, mich auch noch zu holen. Denn wenn ich jetzt aufgebe … Das würde er mir niemals verzeihen.
Ich bin kein Lichtkrieger. Die Götter haben mich nicht auserwählt so wie ihn, schützen mich nicht vor der Dunkelheit, die unsere Welt schon lange eingehüllt hat. Ich bin einfach ein Mensch, der das verloren hat, was ihm am wichtigsten war.
„Liebe ist ein mächtiges Ding“, hat er mal gesagt. „Die Leute sagen immer, sie heilt, und das stimmt auch. Wenn du auf dem Boden liegst, in Scherben, dann kann dich Liebe wieder aufheben und zusammensetzen. Was dir die Leute aber nicht sagen, ist, dass Liebe auch töten kann.“
Es ist furchtbar kitschig. Damals habe ich ihn dafür ausgelacht.
Aber jetzt verstehe ich es.
Ich bin über den Punkt hinaus, an dem man mich zerbrochen hat. Ich bin die Scherben auf dem dreckigen Boden. Aber die Erinnerung an ihn allein ist genug, um mich zumindest wieder so zusammenzukleben, dass ich stehe.
Und verdammt, ich fühle mich, als wäre ich gestorben.
Wie gut, dass man nicht zweimal sterben kann.
Zitternd stehe ich auf. Meine Beine drohen, unter mir zusammenzubrechen, aber ich lasse es nicht zu. Ich war nie eine starke Person, habe ihn immer gebraucht, um mich zu stützen.
Aber er ist nicht mehr da.
Ich muss jetzt meine eigene Stütze sein.
Er würde es so wollen.
Elys trägt einen überraschten Ausdruck auf dem unschuldigen Monstergesicht. Anscheinend habe ich sie beeindruckt. Ich muss es, denn bald schon schleicht sich Wut in ihre Züge. „Du. Ich weiß nicht, wieso du noch nicht kotzend auf dem Boden liegst, aber langsam, aber sicher gehst du mir auf die Nerven. Ich sollte dich umbringen. Nein, erst sollte ich dich foltern.“
Ich zweifle nicht daran, dass sie es tun würde.
Aber ich werde sie nicht lassen, wenn es auch nur im Entferntesten in meiner Macht steht.
„Na los.“ Meine Stimme ist kaum hörbar. Ich klinge, als hätte man meine Stimmbänder in rostige Drahtseile verwandelt und fühle mich ähnlich. Bestimmt sehe ich aus wie ein getretener Straßenhund, die schwarzen Haare zerzaust, der Körper über und über mit Schmutz und Blut bedeckt. „Worauf wartest du?“, frage ich nun endlich.
Sie holt aus und mein Schwert trifft auf ihre Klinge, hält sie von mir fern. Der Kraftaufwand ist unmenschlich. Wie ich es überhaupt geschafft habe, ihren Schlag abzublocken, weiß ich selbst nicht.
Nicht, bis ich in der finsteren Welt einen Lichtschimmer bemerke.
Und die scheinbar tausenden von Sternen, die auf meinem Schwert schillern.
Seine Stimme war wie ein Donnerknall in einem Wärmegewitter. Immer so laut, egal, was passierte und wo man sich befand. Doch konnte er auf ruhig klingen. Ich hörte ihm gern zu.
Seine Haut erinnerte an Strände und heiße Sommertage. Geküsst von der Sonne, scheinbar immer perfekt. Wenn ich seine Hand hielt, fühlte ich mich zuhause.
Sein Herz schlug im Gleichschlag mit meinem. Manchmal hatte ich das Gefühl, ich befände mich am Meer, wenn ich an seiner Brust lehnte, die sich gleichmäßig hob und senkte.
Er war eine leuchtende Person.
Die letzte Hoffnung der Menschheit in Zeiten der Verzweiflung. Die Hand, die nach mir gegriffen hat, als ich drohte, in den dunklen Wellen zu versinken.
Immer und immer wieder.
Und vielleicht lag ich falsch. Vielleicht gibt es doch ein Leben nach dem Tod. Ich werde wohl nie daran glauben, aber sollte es doch so sein, dann will ich so zu ihm zurückkehren, dass er stolz auf mich ist.
Liebe ist ein mächtiges Ding.
Es ist Zeit.
Zeit, für ihn zu kämpfen.
Zeit, nach vorne zu sehen.
Zeit, die Schatten zu durchbrechen.
Zeit, selbst das Licht zu sein.
Erlebe die Schönheit der Natur und lerne dich dabei selbst kennen. So sagt man in meinem Dorf. Eigentlich dachte ich, ich hätte den Sinn dieser Weisheit verstanden, doch jetzt, da ich die Weite des Waldes unter mir sehe, weiß ich, dass ich eine Unwissende war. Pfirsichfarbenes Licht fällt auf die sich endlos aneinander reihenden Baumwipfel. Die Stunde des Drachen neigt sich dem Ende zu, die Zeit, in der die Sonne aufgeht und uns ihren goldenen Schimmer schenkt. Beinahe kommt es mir so vor, als würden mir die Bäume Geschichten aus längst vergangenen Zeiten zuflüstern. Ich schließe für einen Moment die Augen und lasse mir den frischen Wind ins Haar fahren.
„Wunderschön“, sage ich hingerissen.
„Das ist meine Familie“, fügt die Stimme eines Kindes hinzu.
„Ihr habt wirklich eine stolze Familie, o großer Kiki“, erwidere ich und sehe nach rechts. Neben mir steht ein kleiner Junge, der einen sehr schlichten braunen Kimono trägt. Ich kenne den Waldgeist nicht, und er zieht es vor, seine wahre Gestalt nicht zu offenbaren, aber er folgt mir, seit ich den Bergwald betreten habe. Offenbar sieht er es als seine Aufgabe an, mich sicher zum Berggipfel zu bringen. Man muss den Waldgeistern viel Respekt entgegenbringen, sonst wirken sie einen Fluch. Zumindest heißt es in den Geschichten so.
„Ja, die habe ich“, sagt er laut, und ich muss lächeln, weil mich der kindliche Stolz in seiner Stimme an meinen kleinen Bruder erinnert.
„Wenn es Euch nichts ausmacht, würde ich gerne weitergehen“, schlage ich vor.
„Schreite voran. Ich schütze dich!“
Ich nicke und wende mich dann ab. Ein weiter Weg liegt vor mir. Wir verlassen die Klippe und werden von dichten Baumreihen empfangen, durch die sich, einer Schlange gleich, ein kleiner Pfad windet. Die Dunkelheit des Blätterdickichts umschließt uns. Dank Kikis Gesellschaft fühle ich mich auf meiner Reise sicherer, denn der Soldat, den mir unser Dorfältester zum Schutze mitgab, hatte sich verletzt und musste in einem der Dörfer bleiben, die wir passierten. Allein habe ich gegen böse Geister keine Chance. Mein letztes heiliges Seil habe ich vor einer Woche im Yamato-Königreich benutzt, um Takashi und mich vor einem Fuchsgeist zu beschützen. Es stellte sich heraus, dass der Fuchsgeist uns nur helfen wollte. Mit einem unguten Gefühl erinnere ich mich an die Worte des Dorfältesten: „Eine weise Priesterin handelt vorausschauend und niemals überhastet.“
Beinahe kann ich seinen durchdringenden Blick auf mir spüren. Ich weiß, dass ich noch eine Menge zu lernen habe. Umso wichtiger ist es mir, dass ich die mir gestellte Aufgabe erfülle, vor allem, da die Zukunft des Dorfes von meinem Erfolg abhängt. Kikis Stimme reißt mich aus meinen Gedanken.
„Menschenfrau, das Metall auf deinem Rücken ist gefährlich“, sagt er ernst und ohne jeden Zusammenhang. Ich sehe den kleinen Waldgeist verdutzt an. Das Schwert ist mit Stoff umwickelt und damit vor seinen Blicken verborgen. Kann er fühlen, was ich bei mir trage?
„Nein, ist es nicht. Es ist eine Opfergabe“, sage ich beruhigend, „Und bitte sagt Harue zu mir, Ihr kennt meinen Namen doch.“
„Es verbrennt dich“, murmelt er leise und ignoriert meinen Einwand. Mein Herz sagt mir, dass ich auf Kiki hören soll. Waldgeister sind für ihr großes Wissen bekannt. Andererseits ist er noch ein sehr junger Waldgeist. Das habe ich festgestellt, als ich kurz nach unserem Aufeinandertreffen meine sonstige Zurückhaltung aufgab und ihn nach den Geheimnissen der Geister fragte. Er wusste nicht viel zu sagen. Außerdem muss ich das Schwert der Großen Sonnengöttin opfern. Die Legende besagt, dass es im Königreich Ise einen Schrein der Großen Sonnengöttin gibt, und nur sie kann mein Dorf retten. Nur darum bin ich hier.
„Erlaubt mir die Frage, ist das Metall der Grund, wieso Ihr mich beschützt?“, frage ich. Über uns krächzt eine Krähe im Blätterdickicht. Krähen sind die Boten der Götter. Ein gutes Omen.
„Ja“, erwidert Kiki schlicht. Danach schweigen wir uns eine Weile an, und ich habe das Gefühl, es wäre besser, das Thema zu wechseln.
„Wie alt seid Ihr eigentlich?“ Er antwortet nicht sofort. Stattdessen sieht er sich um, als würde er etwas suchen.
„So alt“, sagt er dann, und zeigt auf einen Baum, der am Wegesrand steht. Die Eiche ist in etwa zweimal so hoch wie ich.
„Ihr seid älter als ich dachte.“
„Ja“, bestätigt er. Wir setzen unseren Weg fort. Nach kurzer Zeit aber verhält Kiki sich merkwürdig. Er wirbelt herum, die grünen Augen blicken wachsam in die Richtung, aus der wir gekommen sind. Kiki hebt einen Arm und bedeutet mir still zu sein.
„Gefahr ist im Verzug. Wir müssen uns beeilen. Rasch!“, drängt er und schubst mich weiter voran. Meine Haut fängt dort, wo er mich berührt hat, an zu kribbeln, doch ich achte nicht weiter drauf. Wir laufen wieder ins Unterholz hinein. Da der Weg sich schon nach wenigen Metern im Wald verliert, sehe ich die Gefahr nicht. Außer den Vögeln und dem Wind höre ich auch nichts.
„Wer kommt?“, frage ich beunruhigt. Das ungute Gefühl in meinem Magen kehrt wieder. Falls uns ein böser Geist verfolgt sieht es schlecht aus, denn meine verbliebenen Talismane sind nicht stark genug. Mit jedem Schritt schlägt das Schwert gegen meinen Rücken.
„Ich weiß es nicht genau, aber die Grashalme berichten von Verfolgern. Kannst du nicht schneller rennen?“, ruft Kiki in vollem Lauf.
„Nein“, keuche ich. In meinem Dorf helfe ich ab und zu bei der Ernte, aber davon abgesehen kam die körperliche Ertüchtigung zu kurz. Ich bin keine Kriegerin. Die Hetzjagd durch den Wald wird immer anstrengender. Wir rennen durch einen Tunnel aus Blättern, Zweigen und Schatten. Plötzlich schlägt mir der tief hängende Ast einer Buche ins Gesicht, den ich nicht kommen sah. Ich kann nicht rechtzeitig ausweichen. Mit einem Aufschrei stürze ich zu Boden und spüre, wie ein schwerer Gegenstand gegen meinen Hinterkopf prallt. Das Schwert hat sich von seinem Band gelöst.
„Rasch!“, ruft Kiki mit angespannter Miene, also beiße ich die Zähne zusammen, packe das Schwert und kämpfe mich auf die Beine.
„Könnt Ihr die Verfolger nicht verfluchen... a... auf dass sie uns in Frieden ziehen lassen?“, frage ich, nun völlig außer Atem. Schmerz frisst sich durch meine Brust, doch ich renne weiter, um nicht zurück zu bleiben. Meine Kehle trocknet aus.
„Dafür brauche ich Zeit“, entgegnet Kiki.
„Verwandelt mich in einen Vogel, damit ich wegfliegen kann“, schlage ich vor. Ich bin fast am Ende meiner Kräfte.
„Das kann ich noch nicht.“
„Wie... wie... wollt Ihr mich denn dann beschützen?“
„Indem wir weglaufen.“
Der Waldgeist erinnert mich wirklich immer mehr an meinen Bruder. Dennoch zügele ich meine Zunge, denn ich will nicht selbst diejenige sein, die er verflucht. Unser Weg führt uns tief in den Wald hinein. Ein paar Vögel fliegen erschrocken davon, als wir sie passieren, und ich glaube, in der Ferne einen Hirsch zu sehen, der uns beobachtet. Kurz darauf laufe ich an einem Baum vorbei und verliere ihn aus den Augen.
„Sie sind schneller als wir“, vermeldet Kiki irgendwann. Um Kraft zu sparen gehen wir wieder im normalen Tempo. Weiter konnte ich beim besten Willen nicht rennen.
„Wie haben die uns gefunden? Der Wald ist so dicht, dass man keine zwanzig Schritte weit sehen kann“, keuche ich erschöpft.
„Ich weiß es nicht“, erwidert der kleine Geist. Wir verlassen den Schatten des Waldes und gelangen auf eine Lichtung, auf der ein riesiger Baum steht. Er überragt die umstehenden Bäume, seine Blätter funkeln smaragdgrün. Es ist beinahe totenstill hier.
„Ist das der Herr des Waldes?“, frage ich Kiki. Mein Begleiter ist stehen geblieben und hat eine Hand an den Stamm des Baums gelegt. Er schüttelt den Kopf.
„Nein, der ist noch größer. Von hier an bist du allein. Meine Aufgabe ist erfüllt. Ich muss gehen.“
Ich glaube, mich verhört zu haben.
„Ihr wolltet mich doch beschützen“, sage ich mit schwacher Stimme.
„Das Licht wird dir den Weg weisen, Menschenfrau.“ Mit diesen Worten verwandelt Kiki sich in einen Wolf und rennt davon. Am Rande der Lichtung dreht er sich noch einmal kurz um und nickt mir zu. Dann ist er verschwunden. Einfach so.
Kraftlos sinke ich zu Boden. Habe ich ohne Kiki überhaupt noch eine Chance? Ein kleiner Teil meines Geistes hofft, dass Kiki sich einfach geirrt hat. Vielleicht kommt ja auch niemand.
Bevor ich allerdings irgendetwas tun kann, bricht ein kleiner Trupp Reiter aus dem Unterholz hervor. Ich weiß nicht, mit was für einer Gefahr ich gerechnet hatte, aber mit gut ausgerüsteten Kriegern sicher nicht. Sie alle tragen bronzene Brustpanzer, auf ihren Köpfen sitzen runde Helme aus Eisen. Der Anführer besitzt einen wallenden roten Umhang, der seine Position kennzeichnet. Jeder der Männer ist mit Schwert und Bogen bewaffnet. Ich richte mich hastig wieder auf und versuche, mich würdevoll gerade zu halten. Zeit für ein wenig Diplomatie.
„Seid gegrüßt, o Samurai. Mein Name ist Harue und ich komme von weit her. Was ist Euer Anliegen?“
„Übergib uns das Schwert und zieh von dannen“, befiehlt der Anführer ohne jeden Funken Anstand. Eine lange Narbe durchzieht sein Gesicht. Mir wird kalt, aber ich lasse mir nichts anmerken.
„Ich weiß nicht, wovon Ihr redet“, erwidere ich fest.
„Ich rede von dem Schwert auf deinem Rücken. Gib es heraus, Mädchen, sonst muss ich Gewalt anwenden.“
„Das hier ist heiliger Boden, o Samurai. Wer hier Hand an mich legt, erfährt die Strafe der Götter!“ Es ist ein gewagter Bluff, aber ich sehe nun Unsicherheit in den Augen meiner Verfolger aufblitzen.
„Hört nicht auf ihre Lügen“, knurrt der Anführer und zieht sein Schwert. Die Pferde schnauben beunruhigt. Unauffällig schiebe ich mich ein Stückchen weiter nach rechts. Vielleicht kann ich am Baum vorbei und dann ins Unterholz rennen. Ich muss mir irgendwie Zeit kaufen.
„Mit Verlaub, wir greifen sie nicht wirklich an, oder? Sie ist eine Priesterin“, sagt einer der Männer. Der Anführer wendet verärgert den Kopf. Das ist meine Chance.
Ich hechte nach links. Im selben Moment höre ich ein scharfes Sirren, dann bohrt sich ein heißer Schmerz in meine Wade. Mein Bein trägt mich nicht mehr, ich stürze erneut und stoße mir den Kopf an einem Baumstamm.
„Wenn sie so selbstsicher wäre, wäre sie nicht gerannt“, brummt eine tiefe Stimme.
„Verflucht seid Ihr!“ Ich wälze mich herum und packe das Schwert. Der Pfeil ist halb durch meinen Unterschenkel gefahren. Ein dünnes, rotes Rinnsal läuft meine Haut herab.
Mein Dorf. Ich darf mein Dorf nicht im Stich lassen.
Die Männer steigen von ihren Pferden ab und kommen näher. Als ich hoch sehe, stockt mir der Atem. Ich habe den großen Baum nur von einer Seite gesehen, jetzt aber sehe ich ihn von vorn. Der Stamm ist in der Mitte geteilt und bildet ein Oval, durch welches das Sonnenlicht direkt auf mich hinab scheint.
Ein Sitz der Götter.
Das Licht wird dir den Weg weisen.
Erlebe die Schönheit der Natur und lerne dich dabei selbst kennen.
Erkenntnis flammt in mir auf.
Mit zitternden Gliedern erhebe ich mich und strecke das Schwert mit beiden Armen hoch in die Luft. Der Stoff fällt herab und offenbart das glänzende Metall. Es ist ein zweischneidiges Schwert, uralt, und in den Griff sind kleine Edelsteine eingearbeitet. Mein Bein schmerzt ungeheuerlich, und es kostet mich viel Mühe, aufrecht stehen zu bleiben.
„O große Amaterasu, nehmt dieses Schwert als mein Opfer an und erlöst mein Dorf von dem Sturm, den Euer Bruder entfesselt hat!“, rufe ich laut. Danach gehe ich in die Knie und lege das Schwert vor mir auf den Boden, schließe die Augen und klatsche zwei Mal in die Hände. Der scharfe Klang durchschneidet die Stille der Lichtung. Ich bin zwar nicht am Berggipfel angekommen, aber die Götter kommen durch Bäume wie diese auf unsere Erde, das muss genügen.
„Glaubst du wirklich, dass du jetzt von deiner Göttin gerettet wirst?“, fragt der Samurai mich. Ich öffne die Augen und sehe ihn direkt vor mir stehen. Ich sehe ihm trotzig in die Augen. Dann packe ich den Pfeil, der in meinem Bein steckt, und ziehe ihn mit einem Ruck heraus. Kein Ton kommt über meine Lippen. Innerlich krümme ich mich.
„F-fasst das Schwert nicht an. Es ist der Göttin geweiht“, rufe ich.
„Deine Mühen waren umsonst, Priesterin.“ Seine Hand packt den edelsteinbesetzten Griff.
Licht.
Die Welt versinkt in einem alles überstrahlenden, überirdischen Licht, das aus dem Göttersitz kommt. Ich kneife geblendet die Augen zusammen und wende mich mit einem Aufschrei ab. Vor mir rufen die Samurai durcheinander. Pferde wiehern in Panik. Das Geräusch von sich entfernenden Hufen erfüllt die Lichtung. Dann wird es wieder still.
Als das Licht wieder verschwindet, wage ich einen Blick in die Richtung, aus der es kam. Was ich sehe, raubt mir den Atem. Eine Frau, schöner als alle, die ich je gesehen habe, steht vor den Samurai und lächelt sie an. In ihrer Hand befindet sich das Schwert, das ich eben noch in der Hand hielt. Sie trägt einen blutroten Kimono mit goldenen Stickereien darauf. Ihr schwarzes Haar reicht ihr bis zur Ferse. Lange Perlenketten sind darin eingeflochten.
„Dieses Schwert gehört mir, ihr Samurai“, sagt sie. Ihre Stimme klingt wie eine leise Melodie. Die Samurai aber sind verschwunden, stattdessen sehe ich fünf weiße Tauben, die sich in schnellem Flug entfernen. Die Göttin richtet den Blick ihrer golden strahlenden Augen auf mich. Ich verbeuge mich so tief, dass meine Stirn den Boden berührt. Das Gras kitzelt meine Nase. Mein Herz pocht so schnell wie nie zuvor.
„Erhebe dich, junge Priesterin“, gebietet Amaterasu mir. Ich gehorche sofort und versuche, den Schmerz zu ignorieren.
„Erhabene Amaterasu-ohomikami, Herrscherin des Hohen Himmels, bitte hört mich an: Mein Dorf wird von einem fürchterlichen Sturm heimgesucht, und ich fürchte, dass Susa-no-wo-no-mikoto, der Windgott, dahinter steckt“, sage ich und achte darauf, so respektvoll wie möglich zu sprechen.
„Ich habe dich gehört. Und ich muss dir danken. Das Schwert von Kusanagi war viel zu lange schon verschollen. Wie bist du in seinen Besitz gelangt?“
„Mein Dorfältester hat es mir gegeben, auf dass ich es Euch opfere und mein Dorf rette.“
„Ich verstehe. Oh... Du bist verletzt.“ Als sie sich mir nähert, fühle ich einen Kraftstrom durch mich hindurch fließen. Ich kann meinen Blick nicht von ihrem Gesicht abwenden. Diese reine Haut, diese ebenmäßigen Züge, alles an ihr ist von einer Schönheit, wie ich sie noch nie zuvor sah. Sie lächelt mich an und berührt meinen Unterschenkel. Ein Kribbeln schießt mein Bein herauf. Überrascht werfe ich den Kopf zurück und keuche auf. Danach ist der Schmerz weg.
„Habt Dank“, sage ich ehrfürchtig. Amaterasu neigt den Kopf und wendet sich dann zum Gehen.
„Nun denn, es ist an der Zeit, meinen Bruder zur Vernunft zu bringen.“
Bevor ich ihr folge, knie ich vor dem großen Baum nieder und lege die Hand an die Rinde.
„Danke, Kiki“, flüstere ich leise, und ich bin sicher, dass er mich hört. Der Wind wird stärker und zerzaust mein Haar, als ich mich umdrehe und Amaterasu nachlaufe.
Haltet durch. Ich bringe euch das Licht.
Zerrissen.
Ich will schreien. So laut, dass die ganze Welt es hört, so lange, bis meine Kehle brennt und ich nichts mehr höre außer einem hellen Klingen in den Ohren. Aber ich bringe keinen Ton heraus. Mein Innerstes scheint zu bersten, aber alles, was ich fühle, ist Leere. Endlose Leere, die mich zu verschlingen droht, mich mitreißen will in unendliche Tiefen. Vor meinen Augen – nichts als undurchdringliche Dunkelheit. Ich bin blind, blind vor Schmerz, der aus meinem Innern zu kommen scheint, mir die Luft zum Atmen nimmt, auf meiner Brust sitzt und seine Krallen in meine Kehle rammt. Ich brenne in rasender Verzweiflung. Ein dunkles, alles verzehrendes Feuer, das jeden einzelnen Lichtstrahl auffängt und verschlingt.
Zerbrochen.
Tränen in den Augen, auf den Wangen, auf der Zunge. Brennend heiß und salzig wie der Schmerz. Fingernägel auf meiner Haut, kratzend, Halt suchend. Kühler Boden an meiner Wange. Lähmende Angst und Hilflosigkeit, die mich erstickt. Und der Schrei, dem ich keine Stimme geben kann. Ich bin allein und niemand kann mich aus den Fängen der Schatten zurückholen, die an mir kleben und mich mit kreischenden Gelächter verhöhnen. Meine Glieder sind schwer wie Blei, ich fühle mich wie festgenagelt – unfähig, auch nur einen Finger zu bewegen. Zu Stein erstarrt.
Zerfressen.
Mein Kopf ist kurz davor zu bersten. Alles pocht und zittert, Wut in meinem Innern, der Schrei in meinen Lungen. Ich sauge gierig Luft zwischen meine Zähne, aber es ist nicht genug da. Nicht genug für mich und das Etwas in mir, das ich nicht freilassen kann. Die Tränen hören nicht auf zu fließen, sie hinterlassen Spuren wie Narben auf meinen Wangen. Eiskalte Krallen graben sich in meine Haut. Mein Herz rast in meiner Brust, schlägt verzweifelt gegen sein eisernes Gefängnis aus bleichen Knochen. Ich hole keuchend Luft - und wieder bin ich stumm.
~
Die nachtschwarze Dunkelheit hält mich schon so lange gefangen, dass sie längst ein Teil von mir geworden ist. Manchmal denke ich, dass ich mich an ihre Anwesenheit gewöhnt habe. In diesen kostbaren Momenten fühle ich nur Leere. Nichts. Ich dachte, ich kann damit leben, dass die Finsternis sich in mir eingenistet hat wie ein Parasit. Bis sie aus mir herausbricht wie ein Raubtier, das nach den verbliebenen Staubkörnern meines Lebenswillens lechzt. In manchen Momenten bin ich nur einen Lufthauch davon entfernt, in die Schlucht zu stürzen an deren Rand ich mich mit allerletzter Kraft festklammere. Es wäre so viel einfacher, loszulassen und die Schatten willkommen zu heißen, anstatt vergeblich gegen sie anzukämpfen. Warum also kämpfe ich noch? Vielleicht ist es der beißende Schmerz, der mir für einen Moment das Gefühl gibt, am Leben zu sein.
~
Sanft umfängt mich ein warmer Wind, federzart. Ein Zittern durchläuft mich, doch anders als die Berührung der Schatten hinterlässt es mich nicht vollkommen ausgelaugt. Die Sanftheit der Berührung treibt mir die Tränen in die Augen. Schon lange habe ich keine Wärme mehr gespürt, doch nun breitet sie sich in meinem Innern aus wie ein glühender Funke. Langsam durchdringt sie jede Zelle meines Körpers, erfüllt mich mit einem flüsternden Feuer, das ich nie wieder gehen lassen will. Und endlich, endlich kann ich wieder atmen. Ich bin so überwältigt von diesem Gefühl, dass mein Mund sich unwillkürlich zu einem Lächeln verzieht; es fühlt sich fremd an auf meinen Lippen. Mit einem Mal höre ich das Lachen. Es klingt wie eine vor langer Zeit vergessene Melodie, so volltönend, dass sie beinahe im Raum greifbar ist. Plötzlich will ich um jeden Preis sehen, welches Geschöpf diesen wundervollen Laut von sich gegeben hat, und ich reiße die Augen auf. Mein Herz macht einen Satz, als ich begreife, dass sie für eine Ewigkeit verschlossen waren. Wie konnte ich das nicht bemerken? Mein Blick fällt auf ein strahlendes Etwas vor mir, eine winzige Kugel aus wirbelndem Licht. War sie etwas die ganze Zeit schon da, ohne dass ich sie auch nur bemerkt habe? Voller Staunen strecke ich die Hand danach aus - das Licht ist warm und weich. Die Berührung erfüllt mich mit einer unglaublichen Energie, noch nie in meinem Leben habe ich mich so lebendig gefühlt. Das Strahlen breitet sich erst langsam, dann immer schneller in alle Richtungen aus, bis jegliche Dunkelheit verschluckt ist. Mit ihr flieht die Angst, die mich beinahe vollkommen aufgefressen hätte - und knisternde Hoffnung bleibt.
Vor nicht allzu langer Zeit lebte in einem kleinen Dorf irgendwo in der Kalos-Region ein Evoli. Es war jedoch nicht einfach irgendein Evoli. Vielmehr war es das niedlichste kleine Geschöpf, dass die Menschen im Dorf je gesehen hatten und je sehen würden. Sein Fell war so unfassbar flauschig, dass man gar nicht mehr aufhören wollte, das Evoli zu streicheln und es zu knuddeln. Seine Augen waren so ungewöhnlich groß und braun, dass sie einem direkt in die Seele zu starren schienen und den Leuten hingerissene Seufzer entlockten. Und sein Fiepen, Kläffen und Winseln rührte das Herz eines jeden, der es hörte.
Das kleine Pokémon tollte stets fröhlich durch das Dorf, jagte zur Belustigung aller seinen eigenen Schwanz und wann immer ihm nach einer Verschnaufpause zumute war, rollte es sich zu einem knuffigen Fellknäuel zusammen. So verbrachte das zarte, kleine Geschöpf eine glückliche Zeit, über die Maßen verwöhnt und gehätschelt von den Menschen. Ein ganz bestimmtes Mädchen freundete sich besonders mit dem Evoli an, fütterte es mit süßem Backwerk und spielte fast den ganzen Tag mit ihm, sodass es andere Dinge darüber ganz vergaß. So vernachlässigte es seine frühere Lieblingspuppe, die immer öfter nur noch in einer schmutzigen Ecke lag und schließlich, als das Mädchen endgültig das Interesse an ihr verlor, weggeworfen wurde.
So dauerte es nicht lange, dass mit der Puppe genau das geschah, was mit allen lieblos weggeworfenen Puppen passierte: Sie erwachte zum Leben und wurde zu Banette, einem rachsüchtigen und missgünstigen Geisterpokémon, traumatisiert und hasserfüllt aufgrund der Tatsache, dass es für seinen ehemaligen Besitzer nur Abfall gewesen war.
Sogleich war das Banette nur von einem Wunsch beseelt: Rache zu nehmen an dem Pokémon, dass für sein Schicksal verantwortlich war.
Eines Nachts erschien es vor dem Evoli, welches zu der Zeit in dem Haus des Mädchens übernachtete. Es schreckte aus dem Schlaf hoch und war über das Erscheinen des Geisterpokémon mehr erstaunt als verängstigt, hatte es in seinem Leben doch nie auch nur die kleinste Bösartigkeit erfahren. Jetzt sollte sich dies jedoch ändern.
Das Banette nahm all seine Rachsucht und seinen Hass zusammen und legte einen fürchterlichen Fluch auf das kleine Pokémon. Es wusste nicht, wie ihm geschah, doch merkte es, wie das helle Licht des Mondes, welches durch die Fenster des Hauses schien, verschwand und nichts außer düsterer Dunkelheit an dessen Stelle trat. Mit Entsetzen begriff es, dass es nichts mehr sehen konnte. Voller Verzweiflung heulte es so herzzereißend auf, dass das Mädchen und seine Eltern aufwachten. Sie sahen, dass die Augen des armen Geschöpfes weiß und blind geworden waren. Während das Mädchen seine Eltern anflehte, das Evoli behalten zu dürfen, vermuteten diese nun den Teufel in diesem. Und so wurde, entgegen der jammernden Proteste des Mädchens, das Evoli am nächsten Tag aus dem Dorf gejagt, denn auch alle anderen sahen in dem Evoli nun eine verdammte Seele, welche durch eine göttliche Macht bestraft und gebrandmarkt worden war und alle durch den Zauber seiner Niedlichkeit zum Bösen hatte verführen wollen.
Aus den leeren Augen des Evoli kullerten bittere Tränen, während es ohne Orientierung voran stolperte. Ohne es zunächst wirklich zu bemerken, gelangte es in einen Wald, wo es jedoch schon nach wenigen Metern vor einen Baum stieß. Vorsichtiger geworden tastete es sich weiter, bis es schließlich entkräftet, halb verhungert und voller sowohl seelischer als auch körperlicher Schmerzen zusammenbrach. Es stieß gequälte Schreie aus, weinte mitleiderregend und verlor schließlich das Bewusstsein.
Angelockt durch sein Geschrei erschien ein hungriges Pyroleo. Es betrachtete das kleine Pokémon und dachte sich, dass es eine vorzügliche Mahlzeit für seine Kinder und sich selbst abgeben würde. Mit seinem Maul hob es das bewusstlose Evoli auf und wollte sich auf den Weg zu seiner Höhle machen, als es vor sich in der Dunkelheit zwei glühende Augen sah, die es mit Furcht erfüllten. Sogleich ertönte ein ebenso markerschütternder wie angsteinflößender Schrei, der dazu führte, dass das Pyroleo seine kraftlose Beute fallen ließ und panisch die Flucht ergriff.
Aus den Schatten der Bäume trat nun mit kleinen, bedachten Schritten Noctuh hervor, der sanfte und weise Wächter des Waldes und seiner Geheimnisse. Es beugte sich über das kleine Pokémon und drehte gedankenvoll den Kopf. Anschließend hob es das Evoli mithilfe seiner übernatürlichen Kräfte in die Luft und flog zu seinem Baum in der Mitte des Waldes. Dort wartete es, bis das traurige Geschöpf erwachte und fütterte es anschließend mit frischen, süßen Beeren, bevor es zu ihm sprach: „Über dir hängt der Schatten eines Fluches, der dir dein Augenlicht nimmt. Er kann nur auf eine Art gebrochen werden: Du musst dich entwickeln. Du musst ein gänzlich neues Pokémon werden.“
Das Evoli verstand nicht ganz: „Aber wie kann ich zu einem anderen Pokémon werden?“
Noctuh nickte verständnisvoll. „Ich weiß, dass das für dich verwirrend und auch beängstigend sein muss. Aber es ist der einzige Weg. Und was die Entwicklung betrifft, so bist du schließlich ein Evoli, ein Pokémon, welches sich leicht entwickeln kann, wenn die richtigen Umstände gegeben sind. Du kannst zu einem anmutigen Aquana, einem bildschönen Blitza, einem flauschigen Flamara, einem prächtigen Psiana, einem niedlichen Nachtara, einem grazilen Glaziola oder zu einem famoosen Folipurba werden.“
Es ließ, verschmitzt grinsend, seine Worte für einen Moment wirken, bevor es weitersprach: „Für die letzte Möglichkeit gibt es ganz in der Nähe einen Stein. Wenn du ihn berührst, so wirst du dich verändern.“
Als es diese Worte vernahm, erschien in den weißen und verweinten Augen des Evoli zum ersten Mal seit langem ein Hoffnungsschimmer.
„Hilfst du mir, diesen Stein zu finden?“, fragte es flehend.
„Gewiss“, antwortete Noctuh freundlich. „Aber zunächst solltest du dich ausruhen. Du musst schlafen; es ist ein weiter Weg bis zum Stein. Keine Sorge, ich werde solange auf dich aufpassen.“
Erst jetzt bemerkte das Evoli, wie erschöpft es war. Es hatte nicht einmal die Gelegenheit, seinem dankbaren Herzen mit Worten Ausdruck zu verleihen, bevor es auch schon einschlief.
Noctuh wartete, bis das kleine Pokémon einige Minuten geschlafen hatte. Dann drehte es nachdenklich den Kopf zur Seite und nach einem langen Augenblick des Überlegens ließ es ein kurzes und krächzendes Kichern vernehmen, bevor es davon flog und das Evoli allein seinem Schicksal überließ.
Laut knackende Äste waren es, die das Evoli schließlich weckten. Es rief in die Dunkelheit hinein nach Noctuh, zunächst wie ein Kind, welches sich sicher ist, dass seine Eltern gleich kommen und es beruhigen werden, dann jedoch, als Noctuh nicht antwortete, verwandelten sich seine Rufe in panische Schreie. Es lief blind los, stolperte jedoch über eine Wurzel und fiel schmerzhaft hin. Erneut brach es in Verzweiflung aus, Verzweiflung über die Dunkelheit, Verzweiflung über sein Schicksal, Verzweiflung darüber, dass es wieder allein gelassen worden war.
In Todesangst wimmerte es kläglich und befürchtete, im nächsten Augenblick von grausamen Klauen und brutalen Fängen zerfetzt zu werden, doch schlossen sich nur zwei warme und weiche Hände um seinen Körper, während es eine beruhigende Stimme vernahm, die es seit einer Ewigkeit nicht mehr gehört zu haben schien. Und plötzlich erkannte es die zärtlichen Liebkosungen, die sanfte Stimme und auch den süßen Geruch von etwas, das sich vor seiner Schnauze befand. Mit Freude biss es in die Süßigkeit, die ihm das Mädchen zum Essen hinhielt und fiepte freudig.
Da geschah es plötzlich, dass die blinden Kulleraugen des kleinen Geschöpfes die Augen des Mädchens wie von selbst fanden und es in sich eine tiefe Wärme spürte, verbunden mit einem deutlichen Schmerz, der jedoch keine scharfe Empfindung war, sondern es eher an den Schmerz erinnerte, als man ihm einmal einen Dorn aus der Pfote hatte entfernen müssen. Das Evoli empfand dieses erlösende Gefühl, während es spürte, wie sich sein Körper veränderte, wie es größer wurde und wie schließlich ein Strahl hellsten Lichts die finstere Dunkelheit durchbrach, in der es hatte leben müssen. Und obwohl seine Augen eine blasse Farbe behielten, so wurden sie doch auch erfüllt mit neuem Leben.
Das erste, was es sah, war das Gesicht des Mädchens, in welchem sich Überraschung, aber auch Freude spiegelte. Mit Tränen des Glücks in den Augen umschlang es das Pokémon, welches seinerseits die Hand des Mädchens mit seinen zarten Bändern umwickelte, sodass beide ihrer Freude über das Wiedersehen und die Heilung des Pokémon Ausdruck in einer Weise verliehen, wie sie stärker nicht hätte sein können. Und während das Feelinara den Arm seiner geliebten Freundin weiter mit seinen Fühlern umschlang, wanderten beide ohne jede Furcht aus dem dunklen Wald hinaus und in die Welt hinein, die ihnen nun, da sie glücklich vereint und zusammen waren, vollkommen offen stand.
Man mag es gewiss als grausam ansehen, dass ich das einsame Evoli seinem Schicksal überließ, das ist mir klar. Wenn mich nun einer fragen würde, ob ich wusste, was geschehen würde, so müsste ich wohl eingestehen, dass selbst für mich die Wege des Schicksals nicht immer klar erkennbar und sehr oft unergründlich sind. Trotzdem weiß ich mit Sicherheit, dass jeder von uns, über dem der Schatten der Dunkelheit liegt, seist du es oder ich oder eben das ehemals elende Evoli, das wir jetzt ein fröhliches und feinfühliges Feelinara nennen müssen, irgendwo in der Welt einen engen Freund hat, welcher ihm immer helfen wird, wieder ins Licht zu finden.
Nach einer wahren Geschichte.
Ich schleppe mich von der Bushaltestelle nach Hause. In der Schule ist nichts Nennenswertes passiert, ein Tag, den man vergessen kann. Zumindest bis jetzt.
Die Sonne grinst mich breit an, während ich mich langsam unserem Haus nähere. Viel zu hell lacht sie mir ins Gesicht, sie will mich auslachen, denn sie weiß, was kommen wird. Ich drehe den Schlüssel im Schloss herum und atme noch einmal durch. Ich muss wirklich dahin zurück, in diese Hölle, die von so vielen Menschen als mein Zuhause bezeichnet wird. Am liebsten würde ich umdrehen, wegrennen, für immer von hier verschwinden ... Ich weiß, ich kann es nicht. Ich werde immer wieder hierher zurückkehren müssen, so lange ich noch nicht volljährig bin. Wie sehr ich das alles doch hasse ...
Langsam drücke ich die Tür auf. Vielleicht sind sie gerade nicht da, vielleicht schlafen sie oder sind beschäftigt und bekommen nicht mit, dass ich jetzt erst ankomme. Vielleicht ... Ich kann es zumindest hoffen.
Selbstverständlich war die Hoffnung vergebens.
"Wo kommst du so spät her? Wo hast du dich herumgetrieben?" Meine Mutter sieht mich böse an. Ich trete einen halben Schritt zurück. Sie soll mir nicht näher kommen. Bitte ... Sie soll mir fernbleiben, dann ist alles gut.
Das Licht der Abendsonne fällt durch den Türspalt weit in unser Haus hinein und erhellt den ganzen Flur.
Ich höre schwere Schritte. Aus dem Schatten seines Schlafzimmers tritt nun auch er in den Hausgang und funkelt böse in meine Richtung. "Wir müssen uns auf dich verlassen können, Melanie", sagt er und kommt mir bedrohlich nahe. "Du kannst dich nicht einfach so ohne Vorankündigung bis spät abends in der Stadt herumtreiben!" Sein Gesicht ist gezeichnet von Wut und Hass. Es schockiert mich schon gar nicht mehr, er mochte mich nie. Er, mein ... nein, er ist nicht mein Vater. Er ist ... nichts.
"Ich ... ich habe den Bus verpasst und musste auf den nächsten warten", murmle ich und sehe zur Seite. Er packt mich am Arm und zieht mich von der Tür weg, während meine Mutter sie zustößt, sodass sie laut schallend ins Schloss fällt.
Ich will hier weg. Ich will einfach nur weg.
"Dein Abendessen steht in der Küche", sagt meine Mutter, als sie sich umdreht und ins Wohnzimmer verschwindet. Ihr Mann wirft mir noch einen letzten hasserfüllten Blick zu und verschwindet dann ebenfalls. Fast erleichtert atme ich durch. Heute bin ich noch einmal so davongekommen. Zumindest vorerst.
Ich hole mir meine Scheibe Brot aus der Küche ab und verschwinde dann die Treppen hinauf in mein Zimmer. Hier bin ich zumindest ein Stück weit in Sicherheit. Es ist düster darin, ich habe die Jalousien schon seit Ewigkeiten fast immer verschlossen. So kann ich endlich das Gefühl haben, die böse Welt da draußen ausgesperrt zu haben. Hier kann sie mir nichts.
Ich stelle meinen Laptop vor mich auf mein Bett und klappe ihn auf. Bitte, sei da, flehe ich innerlich, als ich Skype öffne und unruhig darauf warte, dass meine Kontakte geladen werden. Ich klicke auf ihren Namen. Neben ihrem Profilbild ist ein kleines, grünes Symbol. Hoffnung?
"Hikari, bist du da?", tippe ich in das Nachrichtenfeld ein. Gebannt starre ich den Bildschirm an. Eine gefühlte Ewigkeit später ertönt der Signalton. Ein schlagendes rotes Herz zeigt mir an, dass sie tatsächlich da ist. Ich spüre, wie sich zu den Tränen in meinen Augen Freudentränen mischen.
"Hikari, ich brauch dich", schreibe ich ihr. "Ich dreh hier noch durch." Sie, das einzige Licht in meinem Leben. Sie wird schon einen Weg finden, mich aufzumuntern, das tut sie doch immer. Bitte, sie darf heute nicht ...
"Ich bin immer für dich da. Auch, wenn ich nicht in deiner Nähe sein kann." Ihre Nachricht bringt mich zum Lächeln, doch gleichzeitig will ich wieder weinen. Warum muss sie nur hunderte Kilometer entfernt wohnen? Wenn sie näher da wäre, dann wäre doch alles ganz einfach. Ich will sie endlich wieder im Arm halten.
"Ich brauch dich hier", schreibe ich. Ich muss mir die Tränen aus den Augen wischen, um wieder klar sehen zu können. Was ist nur los mit mir? Ich habe doch sonst nie so oft geweint. "Ich will mit dir kuscheln können, ich will dich küssen können ..." Sie ist die Einzige, die auf meiner Seite steht. Warum um alles in der Welt muss sie am anderen Ende derselbigen leben? Das ist nicht fair!
"Eines Tages ..." Ich starre auf den Bildschirm und warte auf das, was noch folgt.
"Eines Tages werden wir uns in den Armen liegen können, in dem Wissen, dass wir uns erst wieder voneinander trennen müssen, wenn wir es wollen." Die Tränen lassen meine Sicht schon wieder verschwimmen.
"Melanie, du weißt doch: Am Ende wird alles gut." Ich schluchze. Damit ... damit kriegt sie mich immer.
"Wenn es nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende", schreibe ich.
"Aber bis zum Ende werden wir es gemeinsam durchstehen. Seite an Seite, egal, was noch kommt." Erneut muss ich mir die Tränen abwischen. Ich stelle es mir so schön vor. Mit ihr zu leben, bis nur noch Staub von uns übrig ist. Es ist das, was ich will. Mein einziger Wunsch. Und ich weiß, dass er eines Tages wahr werden wird. Eines Tages, dann sind wir vereint.
Ich höre Schritte vor meiner Tür und sehe, dass etwas unter ihr hindurchgeschoben wird, irgendein Zettel. Der muss von meiner Mutter kommen. Wunderschön prangt darauf die Überschrift "Ich fordere". Solche Briefe bekommt man doch gern. Ich überfliege den Inhalt. Es wird von mir gefordert, dass ich grüße, dass ich Fragen beantworte, dass ich zum Essen erscheine, dass ich im Haushalt helfe, dass ich mich mehr bewege ... Ich sehe den letzten Abschnitt. "Bei Nichterfüllung". Das kann ja nur richtig tolle Neuigkeiten bedeuten. "Bei Nichterfüllung gebe ich am 1. März 2016 die Obsorge an das Jugendamt ab; diese wird automatisch an den Vater übertragen."
Ich lasse den Zettel fallen. Ist das deren Ernst? Die wollen mich zu einem Arbeitslosen abschieben, der bei mir als Kind psychosomatische Symptome ausgelöst hat, damit ich ihn nicht sehen musste? Ernsthaft? Was sind das nur für beschissene Eltern? Ich falle auf meine Knie und weine. Wo ist nur meine Mama hin? Die Frau, die immer hinter mir stand, wenn es mir dreckig ging, die für mich da war, wenn ich krank war, die mich bedingungslos geliebt hat? Wo ist sie hin? Ich vermisse sie. Ich vermisse sie so sehr.
Ich habe keine Mama mehr. Ich habe nur noch eine Mutter.
Ich schnappe mein Handy von meinem Bett, fotografiere den Zettel und schicke das Bild an Hikari. "Siehst du diesen Mist?" Wenige Sekunden vergehen und ich werde von einem schockierten Smiley angestarrt, der "WTF" zu sagen scheint.
"Sie haben die schellende Ohrfeige bei der Nichterfüllung vergessen." Als die Nachricht ankommt, erschaudere ich für einen Moment. Aber sie hat doch recht, sie hat so verdammt recht.
"Hikari, ich will zum Jugendamt", schreibe ich. Meine Finger zittern, als ich die Nachricht abschicke und weiterschreibe. "Es gibt nur ein Problem. Das ist in der nächsten Stadt. Und da werden sie mich wohl kaum freiwillig hinbringen. Anrufen trau ich mich nicht. Könnte ja jemand mithören." Tränen überströmen schon wieder mein Gesicht. Ja, sie könnten mithören. Ich würde ihnen inzwischen alles zutrauen. Vermutlich hören sie mich jetzt im Moment weinen und schluchzen und erfreuen sich an dem Geräusch.
Na, klingt es schön? Ist es ein erfüllendes Gefühl, zu wissen, dass ihr mich so weit gebracht habt? Wenn es das ist, was ihr erreichen wolltet, dann ... Herzlichen Glückwunsch! Ziel erreicht!
"Wie kannst du da hinkommen?" Tja, gute Frage.
"Ich weiß es eben nicht", tippe ich auf die Tastatur ein. "Am naheliegendsten wäre, nach der Schule den entsprechenden Bus zu nehmen. Aber was ich mir wieder anhören muss, wenn ich nicht heimkomme ..." Dann wäre es wieder so eine lustige Situation wie heute. Oder schlimmer. Wer könnte mir schon versichern, dass sie mich nicht wieder schlagen, wenn ich das nächste Mal zu spät nach Hause komme?
"Erfinde irgendeine Geschichte, was sich an dem Tag in der Schule abgespielt hat?" Wenn es doch nur so einfach wäre ... Meine Eltern strecken ihre Fühler überallhin aus. Sie würden auf jeden Fall mitbekommen, dass ich nicht so lange in der Schule war. Und versteht sie es einfach nicht? Ich will nicht ...
"Schau, ich möchte eigentlich nicht heimlich den Bus nehmen. Ich möchte das nicht allein machen. Ich hab Angst." Und ich will dich sehen, verdammt. Das letzte Mal ist schon so lange her.
"Ich weiß nicht, ob es mir möglich wäre, zu dir zu kommen ..." Bitte, es muss dir einfach möglich sein. Es muss doch irgendwie gehen.
Minutenlang kommt nichts mehr von ihr. Dann eine unsinnige Zeichenkombination. Anscheinend ist sie auf irgendetwas wütend. Wenige Sekunden später folgt die Auflösung.
"Diese verdammten öffentlichen Verkehrsmittel! Einmal, wenn man sie braucht, fahren sie nicht! Ich hasse diese ganzen verdammten Scheißvereine!" Wäre die Situation eine andere, würde ich jetzt lachen. Aber so ... So kann ich nur noch mehr weinen.
Ich gebe eine Nachricht ein.
"Und ich liebe dich."