Part 2: Moosbach City bei Nacht
Glücklicherweise ersparte sich der praktizierende Arzt äußerst lästige und vielleicht sogar peinliche Fragen der Ursache meiner Verletzung betreffend. Möglicherweise, da er sämtliche weitere Worte als gänzlich überflüssig erachtete, aber vielleicht auch nur, da wir die letzten seiner Patienten waren, die zu dieser doch schon bereits späten Stunde seine Dienste in Anspruch nahmen und er einfach seinem harten und arbeitsreichen Tag ein schnelles Ende bereiten wollte. Ein Partnerlook, konnte man meinen, wenn man nun Stan mit seinen (das heißt meinen – ist ja auch egal ...) erst kürzlich angelegten Verbände und natürlich nun auch meine dick mit Balsam und etlichen schmerzlindernden Salben eingefettet und noch sorgfältig mit schützenden Bandagen umwickelt Hände betrachtete, als wir schließlich und endlich die Räumlichkeiten der Praxis hinter uns ließen.
Wie bereits angenommen, war inzwischen der frühe Abend angebrochen; so erfrischend kühl, dass ich erstmalig den Schmerz, der unter den fest verschlossenen weißen Verbänden dumpf vor sich hin pochte und ziepte und mir mein unerträgliches Dasein als Mensch noch zusätzlich erschwerte, vergessen konnte. Die ruhige, von Pokémon und Mensch verlassene und von den belebten Einkaufspassagen abgeschiedene Seitenstraße lag im taghellen und irgendwie unnatürlichen Schein der vollautomatischen elektrischen Straßenbeleuchtung. Über uns – die funkelnden Sterne Hoenns, neidisch auf den Lichterglanz der Städte der Menschen hinabstarrend. Nicht lange jedoch blieben Colin, Stan und ich unter uns, denn kaum hatten wir einen Fuß zurück auf die Hauptgeschäftsstraße gesetzt, fanden wir uns umringt von Scharen von Zweifüßlern wieder. Auch in Zeiten, in denen sich ein jedes normale Pokémon wohl völlig seiner Müdigkeit hingeben und in sein mollig warmes Nest kriechen oder auf einen abschließenden Becher und Schlaftrunk bei seiner Lieblingsmülltonne vorbeischauen würde, schien Moosbach City und seine Bewohner eben solch banalen und trivialen Dinge wie Müdigkeit nicht zu kennen.
„Und jetzt? Wo soll es jetzt hingehen?“
Colin hatte das Thema angesprochen, welches mir schon seit dem Verlassen der Arztpraxis wie eine würzige Tamotbeere auf meiner menschlichen Zunge brannte. Zurecht eine gute Frage, denn über den weiteren Verlauf unserer Reise hatten wir bislang kein einziges Wort gewechselt. Guter Rat war teuer, denn wie sollte es nun weiter gehen? Ich neigte meinen Kopf zu dem pelzigen, im Halbschlaf versunken Etwas, was in meinen Armen lag und einst mein Trainer war.
„Ist doch offensichtlich, was zu tun ist, oder?“, entgegnete ich Colins Frage schließlich, hielt jedoch meinen Blick auf Stan haften. „Dieses komische Ding finden, damit ich endlich wieder in den mir gehörigen Pokémonkörper komme, was sonst?“
Eine Hand, die ich sofort als die Colins erkannte, packte ruckartig meine Schulter und zog mich grob etwas von dem regen Treiben der Straße zur Seite.
„Hey, was ...?!“
„Shsst! Nicht so laut!“, zischte Colin mit alarmierendem Gesichtsausdruck. „Die anderen gucken schon ...“ Tatsächlich hatten vereinzelte Menschen neugierig ihre Köpfe uns zugewandt und warfen uns, während sie sich langsam immer weiter von uns entfernten, äußerst fragende Blicke zu. „Das kannst du doch nicht so lautstark in der Weltgeschichte herumposaunen!“, meinte Colin, weiterhin mit gedämpfter Stimme auf mich einredend.
Ich zuckte die Schultern, wie ich es schon tausende Male bei den Menschen beobachtet hatte, wenn sie etwas nicht verstanden oder es ihnen einerlei war. „Na und? Sollen sie doch alle ruhig erfahren, mit wem sie es hier zu tun haben.“
„Und weiter? Was glaubst du würde passieren, wenn hier alle wüssten, dass sich mitten unter ihnen ein Pokémon in Menschengestalt herumtreibt?“, fragte mich Colin.
„Weiß nicht. Sag es mir“, entgegnete ich ihm wahrheitsgemäß.
„Käfighaltung ... Die würden euch beide wahrscheinlich in einen Zoo oder vielleicht sogar in ein Forschungslabor stecken und irgendwelche Experimente mit dir oder Stan machen. Mit etwas Glück wird’s aber auch nur die Irrenanstalt ... Und was dann, hm?“
Colins Blick verfinsterte sich immer mehr, während er mir seine blühenden Fantasien präsentierte. Geradezu absurd, wie ich fand. Käfig; Zoo; Labor? Lächerlich ...
„Unter Strom setzen, was sonst?“, antwortete ich fest von meinen eigenen Worten überzeugt.
„Das würde ich nur zu gerne sehen“, spottete Colin. „Schon vergessen, wer du jetzt eigentlich bist?“ Er deutete auf das Fellknäuel, welches in meinen Armen lag und dem Anschein nach unser Gespräch mitverfolgte. Tatsächlich reckte Stan seinen Kopf neugierig lauschend in die Höhe. „Und selbst wenn, kämst du wohl kaum gegen die ganze Welt an, wenn sie sich einmal gegen dich wenden würde“, fügte Colin seinen Ausfertigungen abschließend hinzu.
Okay, Punkt für Colin - musste ich leider zugeben. Allein gegen die ganze Welt? Kein Problem. Nicht aber solange ich in Stans Körper festsaß.
„Wie ist also deine Antwort?“ Colin starrte mir mit flehendem Ausdruck in seinem Gesicht geschrieben entgegen. Verbittert aber zumindest teilweise einsichtig seufzte ich.
„Ein andermal dann ...“
„Endlich zur Besinnung gekommen“, murmelte Colin und setzte sich langsam wieder in Bewegung. „Problem gelöst.“
„Nichts ist gelöst“, erwiderte ich genervt und bemühte mich nicht einmal, meine Stimme zu senken. Colin wandte sich verwirrt um. Im Gegensatz zu ihm, hatte ich mich noch keinen Millimeter vom Fleck bewegt. Ungeachtet des Fellbündels, welches in meinen Armen lag, hatte ich meine in weiße Verbände eingewickelten Hände zu Fäusten geballt und starrte Colin wütend an. „Wir wissen noch immer nicht, wie es weiter gehen soll, oder? Was also schlägst du vor?“
Die Welle von nachtaktiven Menschen, die kontinuierlich an uns vorbeizog und wegen mir und Colin ihren Weg blockierend, einen kleinen Umweg in Kauf nehmen mussten, fluchte während des Vorbeigehens leise. Doch es war mir egal. Sollten sie doch toben und zetern. Ich hatte andere, weit aus wichtigere Dinge im Kopf. Viel zu kompliziert und verworren, als dass sie es mit ihrem kleinen und stark begrenzten Verstand begreifen könnten.
Colin, wesentlich entspannter als ich es war, schlang lässig seine Hände auf den Hinterkopf. „Für heute erst mal nichts mehr; ist schon spät. Stan ratzt uns auch schon weg ...“
Tatsächlich harte Stan nun völlig regungslos in meinen beiden schützenden Armen. Den Kopf auf meinen schmächtigen aber weichen Oberarm abgelegt und seine Augen geschlossen, atmete er ruhig und gleichmäßig. Stan war eingeschlafen. Die Strapazen des Tages, denen er ausgesetzt war, hatten seinen Preis gefordert; viel mehr als es von Außen und auf den ersten Blick den Anschein machte. Doch auch ich spürte mittlerweile immer mehr die Müdigkeit, wie sie sich mehr und mehr meiner Glieder einverleibte und mich meinen eh kümmerlichen Kräften beraubte. Wenn auch der Abend noch jungfräulich und einladend war – ich hatte für heute genug Aufregung. Ein Unglück doch, jagt bekanntlich das nächste, denn wo sollten wir verbleiben? Wegen diversen, nicht erwähnenswerten Zwischenfällen fiel natürlich die Möglichkeit, die Nacht im hiesig gelegenen Pokémon-Center zu verbringen und dort die Kost und Logis auf Kosten des Hauses zu genießen, ins Wasser. Auch Colin schien mit diesem Problem leicht überfordert zu sein. Hausverbot in der lebensrettenden Oase eines jeden verirrten, hungrigen oder einfach nur müden Wanderers war wohl für ihn eine völlig neue Erfahrung, die es nun zu bewältigen galt.
„Wir werden schon etwas finden ...“, meinte Colin, jedoch ohne falsche Zuversicht in seiner Stimme zu heucheln.
Inzwischen hatte sich das wirklich allerletzte bisschen Abendrot des zuneige gehenden Tages verabschiedet. Kühl und düster lag der nächtliche Vorhang über den mit seinen unzähligen taghellen Straßenlaternen bepflasterten Straßen Moosbach Citys und seinen erbittert Widerstand leistenden, nimmermüden Bewohnern. Zumindest meine, in ihre engen Schuhe eingepferchten Füße, fühlten sich bleischwer an. Wie es Colin erging, konnte ich nur mutmaßen, doch auch er machte nicht gerade das, was man den frischesten Eindruck nennen durfte. Im Zehn-Sekunden-Takt begrüßten uns das grelle Scheinwerferlicht vorbeifahrender Autos und verhinderte so ein jähes vor Müdigkeit aus den Latschen kippen meinerseits. Obgleich die Zahl der Passanten, die unseren Weg kreuzten, kaum abgenommen hatte, merkte man im Vergleich zu dem Treiben tagsüber einen deutlichen Unterschied. Vielleicht war es der kalte und eisige Griff der Nacht, der ihren Widerstand schwinden ließ, vielleicht aber auch nur die leicht verkommene Gegend, in die wir uns auf unserer endlosen Odyssee verirrt hatten. Von den prächtigen Wolkenkratzern und den pikobello aufgeräumten und mit vielen bunten Lichtern geschmückten Schaufenstern fehlte inzwischen jede Spur. Vielmehr waren die meisten Häuser nun eher heruntergekommen und sogar leicht baufällig; von den leicht maroden Straßen ganz zu schweigen. Jeder, der flüchtig unseren Weg kreuzte, schien so schnell wie nur möglich aus dieser verkommenen Gegend herauszukommen, oder aber – ihrem eigentümlichen, schreckhaften oder abweisenden Verhalten zu urteilen – in irgendwelche düsteren Machenschaften verwickelt zu sein, von denen man sich besser fern halten sollte. Colins mulmiges Gefühl war förmlich ansteckend. Selbst in meiner wahren Gestalt, würde ich mich hier nicht unbedingt das fühlen, was ich „geborgen“ nennen würde.
Eine Anzeigetafel weckte nach inzwischen einstündiger Irrfahrt unser Interesse und lenkte zumindest mich von dem beklommenen Gefühl, das sich mit jedem weiteren meiner Schritte unaufhaltsam in meinem in meiner Magengegend ausbreitete, ab. „Zimmer frei“ hieß es laut Colin auf einer hell leuchtenden Reklametafel, bei der jedoch so manch ein Buchstabe bereits seinen Lebenswillen verloren hatte, hin und wieder hell aufleuchtete, bevor er, ein Augenzwinkern später, wieder erlosch. Auch das Gebäude an sich machte nicht gerade den besten Eindruck. Hier und da löste sich bereits der graue Putz ab und offenbarte somit die blanke und äußerst schmutzige Fassade, die darunter lag. Die von Wind von Wetter gezeichneten Fenster erweckten den Eindruck, als hätten sie schon lange nicht mehr das Licht der Außenwelt in das Innere des Gebäudes gelassen. Colin und ich tauschten leicht skeptische Blicke, woraufhin er auf „besser als gar nichts“-Manier die Schultern zuckte und ihm dabei ein müder Seufzer entwisch. Mir persönlich war es ja im Grunde einerlei, wo ich die Nacht verbringen würde. Ich hätte mich im Gegensatz zu den unzivilisierten Zweibeinern auch gut mit dem Gedanken anfreunden können, die Nacht in der nächst besten abgelegenen Mülltonne zu verbringen, oder aber auch unter dem freien Sternenhimmel zu schlafen – allerdings fern von den neugierigen Augen und dem Großstadtsmog, versteht sich. Aber das wäre wohl für Kleincolin überhaupt nicht in Frage gekommen.
Ohne falsche Scheu folgte ich Colin die wenigen Treppenstufen hinauf ins Innere der Absteige. Allzu spät konnte es wohl nicht gewesen sein, denn die Tür gab ohne weiteres unserem Verlangen, das Haus zu betreten, nach. Das äußere Erscheinungsbild dieses Rastplatzes für müde oder gestrandete Reisende spiegelte haargenau das heruntergekommene Innenleben wieder und ergänzte somit meine insgeheim gehegte Vermutung. Die stellenweise schon recht stark zerfledderten grün gemusterten Tapeten hatten sich bereits hier und da von der Wand gelöst, wie es bei dem Mörtel an der Hauswand der Fall war. Der Fußboden war mit einem äußerst hässlichen kastanienbraunen Teppich überzogen, der von seiner Sauberkeit den Eindruck machte, als sei bereits halb Moosbach bei schlechtem Wetter über ihn hinweggestiefelt – ganz zu Schweigen von den unsäglich vielen Krümeln, die unter meinen Füßen lagen und bei jedem einzelnen Schritt so hässlich knirschten, dass es mir mein spärliches Fell in die Höhe trieb. An den Seiten stapelten sich unzählige alte Zeitschriften und Magazine, die bei genauerer Betrachtung wohl bereits seit Dekaden nur so da lagen und keine wirkliche Beachtung mehr fanden. Das Ganze wurde dann noch von einem widerlich im Hals kratzenden Rauchgeruch abgerundet, der in der Luft lag. Um es also mit einem Wort zu beschreiben: schäbig.
„Was wollt ihr hier?“
Das Geräusch der in ihre Angeln gefallene Tür hatte die Aufmerksamkeit des – seines Zeichens – Haus- und Bruchbudenmeisters geweckt. Aus einem weit geöffnetem Nebenraum trat ein recht korpulenter und ungepflegter Mann mit lichtem Haar und einem bekleckerten und auch noch viel zu engem T-Shirt hervor und tastete die beiden fremden Besucher aus der Ferne mit seinen trüben Augen ab.
„Was ihr hier wollt?“, wiederholte er unwirsch.
„Wirklich gastfreundlich ...“, schoss es mir schlagartig durch den Kopf, entschloss allerdings, Colin für mich reden zu lassen.
„Wir – also, äh, hätten gern ein Zimmer für die Nacht.“
„Ein Zimmer?“ Schlurfenden Schrittes näherte sich der Pensionsbesitzer, während er mit uns sprach. Seine Augen huschten von Colin zu mir neben ihm stehend hinüber und blieben dann kurzzeitig auf Stan halbwach in meinen Armen liegend kleben, bevor er sich stirnrunzelnd an Colin wandte.
„Habt wohl Ärger am Hals, ehh? Soll mir aber egal sein - solange ihr zahlen könnt.“